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Amor hat vier Pfoten – und klaut Toupets! Der 2. Katzen-Roman von Melinda Metz über den kleptomanischen Kater MacGyver, der nicht nur Herzen stiehlt Der samtpfötige Amor MacGyver darf vier Wochen mit Katzen-Sitterin Briony verbringen, während sein Frauchen Jamie auf Hochzeitsreise fährt. Natürlich wittert MacGyver sofort ein neues Abenteuer, denn Briony riecht ziemlich streng – nach Einsamkeit! MacGyver macht sich auf die Suche nach dem passenden Menschen für sie und stößt bei seinen Streifzügen durch Hollywood auf ein idyllisch gelegenes Seniorenheim. Dessen netter junger Leiter Nate würde gut zu Briony passen, findet der Kater, und unternimmt allerhand, um die beiden zusammen zu bringen. Doch die Lage des Seniorenheims hat bei einigen Immobilienmaklern Begehrlichkeiten geweckt, und das lässt Nate kaum Zeit für die Liebe. Dann kommt es auch noch zu allerhand seltsamen Zwischenfällen im Heim, dem schließlich sogar die Schließung droht. MacGyver hat bald alle Pfoten voll zu tun, um das zu verhindern, wobei ein geklautes Toupet eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Mit diebischem Vergnügen und detektivischem Spürsinn wird Kater MacGyver erneut zum Liebes-Boten in diesem charmanten Katzen-Roman. Das Liebes-Abenteuer von MacGyvers Frauchen Jamie mit dem Hunde-Besitzer David hat Melinda Metz in ihrem ersten Katzen-Roman »Eine Samtpfote zum Verlieben« aufgeschrieben.
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Melinda Metz
Ein Katzenroman
Aus dem amerikanischen Englisch von Sigrun Zühlke
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Amor hat vier Pfoten – und klaut Toupets!
Der 2. Katzen-Roman von Melinda Metz über den kleptomanischen Kater MacGyver, der nicht nur Herzen stiehlt
Der samtpfötige Amor MacGyver darf vier Wochen mit Katzen-Sitterin Briony verbringen, während sein Frauchen Jamie auf Hochzeitsreise fährt. Natürlich wittert MacGyver sofort ein neues Abenteuer, denn Briony riecht ziemlich streng – nach Einsamkeit! MacGyver macht sich auf die Suche nach dem passenden Menschen für sie und stößt bei seinen Streifzügen durch Hollywood auf ein idyllisch gelegenes Seniorenheim. Dessen netter junger Leiter Nate würde gut zu Briony passen, findet der Kater, und unternimmt allerhand, um die beiden zusammen zu bringen. Doch die Lage des Seniorenheims hat bei einigen Immobilienmaklern Begehrlichkeiten geweckt, und das lässt Nate kaum Zeit für die Liebe. Dann kommt es auch noch zu allerhand seltsamen Zwischenfällen im Heim, dem schließlich sogar die Schließung droht. MacGyver hat bald alle Pfoten voll zu tun, um das zu verhindern, wobei ein geklautes Toupet eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Mit diebischem Vergnügen und detektivischem Spürsinn wird Kater MacGyver erneut zum Liebes-Boten in diesem charmanten Katzen-Roman. Das Liebes-Abenteuer von MacGyvers Frauchen Jamie mit dem Hunde-Besitzer David hat Melinda Metz in ihrem ersten Katzen-Roman »Eine Samtpfote zum Verlieben« aufgeschrieben.
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Ein Jahr später
Für Robin Rue – so klug, so nett und so lustig –, ich danke dir vielmals,
und in Erinnerung an meinen Vater,
den großartigen Limerick-Erfinder.
MacGyver nahm die silberne Lasche zwischen die Zähne und zog den Reißverschluss auf. Mit einer Kombination aus Pfotenschlagen und -schnippen klappte er den Koffer auf und streckte sich auf dem Stapel zusammengelegter Kleidung aus. Schöner Platz für ein Nickerchen. Könnte aber noch besser sein. Er konnte einfach nicht verstehen, warum Menschen immer alles glatt haben wollten. Mit einem verärgerten Schnaufen stand Mac auf, wühlte ein wenig in den Kleidern herum und legte sich wieder hin. Dann streckte er die Krallen aus und versenkte sie in einen weichen Seidenpullover. Süße Sardinchen, fühlte sich das gut an!
»Mac! NEIN!«, schrie Jamie, sein Mensch. Sie fegte ihn von dem perfekten Schlafplatz, den er sich gerade geschaffen hatte, und brachte ihn mit einem Klapp und einem Ssst zum Verschwinden. Als könnte er den Koffer nicht genauso leicht wieder aufmachen. »Ich gehe auf meine Hochzeitsreise. Hoch-zeits-reise! Und da möchte ich romantisch aussehen und nicht voller Haare wie eine verrückte Katzen-Lady herumlaufen!«
Er ignorierte ihr Blabla. Er verstand, dass Menschen es zum Kommunizieren benutzten, aber das lag nur daran, dass ihre Nasen im Grunde völlig nutzlos waren. Seine Nase dagegen erzählte ihm mehr als tausend Blablas, und in diesem Moment informierte sie ihn darüber, dass Jamie glücklicher war als je zuvor. Und wem hatte sie das zu verdanken? Ihm. MacGyver. Sie brauchte einen Gefährten – er hasste es, das sagen zu müssen, aber darin war sie wie ein Hund –, und er hatte einen für sie gefunden.
Er fing an, vor Stolz zu schnurren. »Es ist dir ganz egal, was ich sage, oder?« Sie wandte sich zur Tür, und Mac sah David hereinkommen, den Gefährten, den er für sie gefunden hatte. »Mac hat eine Stilberatung in meinem Koffer durchgeführt. Alles, was ich eingepackt habe, ist jetzt mit schönem braun getigertem Fell verziert«, sagte Jamie zu ihm.
»Deshalb hat mein Koffer ein Schloss«, antwortete David. Mac spürte, wie Jamies Körper bebte, als sie anfing zu lachen. »Was ist denn so …«, fing David an. Dann griff er nach unten und ließ seine Finger über eine der drei Krawatten gleiten, mit denen Mac gespielt hatte, bevor er bereit für sein Nickerchen gewesen war.
David sah sich den Koffer genauer an. »Immer noch abgeschlossen. Dein Kater hat den Reißverschluss weit genug aufbekommen, um die Krawattenenden herauszuziehen.«
»Nicht mein Kater. Wir sind jetzt verheiratet. Was meins ist, ist deins. Und das schließt Mac ein«, sagte Jamie.
»Ich habe unserem Kater gerade diese Okto-Maus mit acht raschelnden Beinen gekauft, die stundenlange Katzenunterhaltung garantiert.« David sah Mac böse an. »Acht Raschelbeine, und du konntest trotzdem die Pfoten nicht von meinem Koffer lassen.« Kopfschüttelnd versuchte er, mit dem Finger eine Krallenspur in einer Krawatte glatt zu streichen.
Mac ignorierte Davids Blabla und seinen bösen Blick genauso. Er hatte David gerochen, bevor er beschlossen hatte, die Sache in die eigenen Pfoten zu nehmen, und David hatte genauso schlecht gerochen wie Jamie, manchmal sogar noch schlimmer. Er hatte verzweifelt eine Gefährtin gesucht, ob er es nun wusste oder nicht, und Mac hatte eine für ihn gefunden. Jetzt war er so glücklich, als hätte er sich in Katzenminze gewälzt.
»Mac findet sein Geschenk toll. Er möchte nur gern ab und zu auch kreativ sein«, sagte Jamie, während David mit seinem nutzlosen Zahlenschloss hantierte.
Die Türklingel schellte, und Diogee fing sofort an zu bellen. Der Schwachkopf hatte nie verstanden, dass Schlauheit der Schlüssel für einen erfolgreichen Angriff war. So, wie er es anfing, wusste doch derjenige da draußen vor der Tür sofort, dass der Hund da war. Mac sprang von Jamies Arm. Diogee gehörte jetzt zu seinem Rudel, ein Opfer, das für Jamies Glück hatte gebracht werden müssen. Deshalb musste Mac alles in seiner Macht Stehende tun, um den Hund vor seiner eigenen Dummheit zu schützen.
An der Tür angekommen, gab Mac Diogees Schwanz einen kleinen Hieb, teils um ihn aus dem Weg zu schubsen, und teils, weil es einfach Spaß machte. Er öffnete das Maul weit und benutzte seine Zunge, um Luft einzuziehen. Das verschaffte ihm Zusatzinformationen. Vor der Tür stand eine Frau. Und sie war unglücklich. Sehr unglücklich.
Jamie öffnete die Tür einen Spalt weit. »Briony, hallo. Ich muss die Katze hochnehmen. MacGyver ist ein richtiger Ausbruchsspezialist, der gerne den Rauchfang hochklettert. Wir mussten den Kamin zumauern. Außerdem springt dich Diogee garantiert gleich an. Ich weiß, ich sollte ihm das verbieten. Und das kann ich auch, es hat nur überhaupt keine Wirkung. Aber er ist lieb. Okay, mach dich einfach bereit.« Sie klemmte sich Mac unter den Arm, machte die Tür auf und trat zurück.
Sobald die Frau hereingekommen war, hatte der Schwachkopf auch schon beide Pfoten auf ihre Schultern gestemmt. Aber bevor er ihr mit seiner Riesenzunge das Gesicht waschen konnte, griff David ihn am Halsband und zog ihn weg. Er schleifte Diogee nach oben, und ein paar Sekunden später war das Haus von leidendem Heulen erfüllt. Sogar mit den elementarsten Fähigkeiten ließ sich die Schlafzimmertür leicht öffnen. Aber Diogee verfügte eben nicht einmal über diese.
Mac atmete noch einmal tief ein. Ja, diese Frau war schrecklich traurig. Sie brauchte seine Hilfe. Er hatte eigentlich zu tun, musste Ausbrüche planen, Nickerchen halten und so etwas, aber hier lag ein Notfall vor. Die Frau musste eigentlich klüger sein als Diogee, aber offenbar war sie nicht so klug, dass sie eine Lösung fand, was auch immer das Problem war. Dazu brauchte es einen Meister.
Zu ihrem Glück hatte sie an MacGyvers Tür geklopft.
Fünf Minuten nachdem sie an der Tür ihrer Cousine Jamie geklingelt hatte, fand sich Briony Kleeman am Küchentisch wieder. Jamie füllte den Teekessel, während ihr Kater MacGyver auf der Anrichte saß und Briony aus seinen goldenen Augen anstarrte.
Briony war sich nicht ganz sicher, wie sie hierhergekommen war. Sie wusste auch nicht ganz genau, wie sie überhaupt nach Los Angeles gekommen war. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden war sie in der kleinen lutherischen Kirche Prince of Peace in Wisconsin auf dem Weg zum Altar gewesen. Ihre Hand hatte auf dem Arm ihres Vaters gelegen. Ihre Füße waren über Rosenblätter geschritten, die ihre dreijährige Cousine gestreut hatte. Ihre Schleppe, verziert mit Spitzen vom Hochzeitskleid ihrer Großmutter, war von Calebs Nichte getragen worden. Alles war genau so gewesen, wie sie es geplant hatte.
Sie hatte Caleb angesehen. Er hatte gelächelt, als er sie auf sich zukommen sah. Und dann war alles ins Wanken geraten. Der Boden. Der Arm ihres Vaters. Die Gesichter der Gäste. Caleb. Eine Mischung aus Schwindel und Übelkeit, und alles war erst dämmrig und dann dunkel geworden.
»Briony«, sagte Jamie, und ihre Stimme riss sie aus der Erinnerung an diesen schrecklichen Morgen. »Welchen Tee möchtest du? Ich habe Orange Spice, Zitronengras, schwarzen Chai, Earl Grey, Pfefferminz und noch ein paar andere. In letzter Zeit bin ich zur Teetrinkerin geworden. Nicht dass ich den Kaffee ganz aufgegeben hätte. Du kannst auch Kaffee haben, wenn dir das lieber ist. Außerdem habe ich Saft. Cranberry und Orange. Und Mineralwasser. Und stilles Wasser. Also, was möchtest du?«
Zu viel Auswahl. Briony konnte sich nicht einmal an die Hälfte erinnern, wahrscheinlich weil ein Teil von ihr sich immer noch fühlte, als wäre er in der Kirche und als würde ihr gerade die Welt unter den Füßen weggezogen. »Such du aus.«
»Bist du sicher? Manche Teesorten sind nicht, du weißt schon, jedermanns Geschmack«, antwortete Jamie, ihre blauen Augen voller Besorgnis.
»Ich meine nur … Irgendwie …« Briony schüttelte hilflos den Kopf. »Ich kann keine Entscheidung treffen. Nicht einmal darüber, was ich trinken soll. Ich weiß, das ist dumm.«
»Das ist nicht dumm. Du musst todmüde sein«, sagte Jamie.
»Ja, ich dachte, ich würde während des Flugs schlafen, aber ich konnte nicht«, gab Briony zu. Anstelle eines Kinofilms hatte sie wieder und wieder diesen Gang zum Altar durchlebt, den sie nicht aus ihrem Hirn verbannen konnte.
»Keine Sorge. Ich suche was für dich aus.« Jamie stand auf, öffnete den Schrank über der Kaffeemaschine und sah die Schachteln mit Teesorten durch.
Briony stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. Jamie machte da weiter, wo ihre Eltern aufgehört hatten. Seit dem Vorfall in der Kirche, wie Briony das Ereignis inzwischen insgeheim nannte, waren alle Entscheidungen für sie getroffen worden. Sie war im Handumdrehen zum Flughafen gebracht worden, und ihre Eltern hatten versprochen, sich um alles zu kümmern. Dann saß sie im Flugzeug. Dann gab sie einem Taxifahrer einen Zettel mit Jamies Adresse. Und jetzt war sie hier, und Jamie tat so, als wäre es völlig normal, dass sie sich um Briony kümmerte, obwohl sie sich seit einem Familientreffen, das wahrscheinlich so um die elf Jahre zurücklag, nicht mehr gesehen hatten.
Jamie stellte einen Becher Tee vor sie ihn. »Das ist Entspannungstee. Ich weiß nicht, warum, aber es kommt mir vor, als könntest du den gebrauchen. Mein Bauchgefühl ist unschlagbar«, witzelte sie.
Der Becher zitterte in Brionys Hand, als sie ihn an die Lippen hob. Sie stellte ihn ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Du hast recht. Ich bin immer noch … ein bisschen aufgewühlt.« Die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie fühlte sich wie ein Turnschuh im Schleudergang einer alten, verbeulten Waschmaschine. »Dank dir ganz herzlich, dass du mich hier wohnen lässt. Ich …«
»Halt. Halt, halt, halt. Nach meiner Zählung hast du dich schon einhundertdrei Mal bedankt.« Jamie legte ihre Hand auf Brionys. »Du bist hier ganz herzlich willkommen. Manchmal muss man einfach woandershin. Und Storybook Court ist ein guter Ort dafür. Vertrau mir. Außerdem hätten wir die Fellnasen sonst in Pension geben müssen, und so können sie hierbleiben.«
Briony stiegen Tränen in die Augen. Jamie war so nett zu ihr, als wüsste sie nicht, was für ein schrecklicher Mensch Briony war.
»Willst du darüber sprechen?«, fragte Jamie. »Ich weiß, wir kennen uns nicht so gut. Ihr seid nach Wisconsin gezogen, als du … zehn warst? Aber erinnerst du dich doch noch daran, als ich auf dich aufgepasst habe, als ich sechzehn war und ich dich mit zu meinem total schrecklichen Freund mitgenommen habe, weil ich wusste, dass er und seine Familie nicht da waren, und …«
»Wir sind eingebrochen! Du hast mich Salz auf seine Zahnbürste streuen lassen. Und Klebestreifen auf das Klopapier in seinem Badezimmer. Das war einer der besten Abende meines Lebens! An dem Abend habe ich mich gefühlt, als wäre ich richtig krass cool. Eine krass coole Neunjährige!«, rief Briony, und die Erinnerung lenkte sie einen Moment lang ab. Sie musste lächeln. »Was hatten wir für einen Spaß!«
»Aber deine Eltern waren so sauer auf mich!«, rief Jamie. »Und sie wussten nicht einmal, was wir getan hatten. Sie wussten nur, dass ich dich mitgenommen hatte. Ich hatte deiner Mutter erzählt, wir wären zum Dairy-Queen-Laden gelaufen. Was auch stimmte. Hinterher. Und allein deswegen ist sie schon ausgeflippt!«
»Ja, sie waren ein bisschen überängstlich«, antwortete Briony.
»Ein bisschen? Ich wette, du durftest nicht mal allein über die Straße gehen, bis du aufs College kamst.« Jamie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Also, möchtest du darüber sprechen?«
Die Rosenblätter. Ihr Vater. Caleb lächelnd. Einen Moment lang kam es Briony vor, als hätte sie vergessen, wie man atmet. »Nein«, presste sie hevor. »Wenn das in Ordnung ist«, fügte sie schnell hinzu.
»Natürlich ist das in Ordnung«, antwortete Jamie.
»Also, die Tiere«, sagte Briony. Sie wollte ein nettes, sicheres Thema. »Was fressen die? Wo schlafen sie? Was muss ich machen? Ich hatte noch nie ein Haustier.«
»Tatsächlich? Ich dachte, du hättest einen Hamster gehabt.«
Briony schüttelte den Kopf.
»Da hast du aber was verpasst«, sagte Jamie zu ihr.
»Du erinnerst dich sicher nicht mehr an mein Zimmer. Ich hatte jedes Spielzeug, das jemals erfunden wurde. Zumindest die pädagogisch wertvollen, ohne scharfe Kanten oder Teile, die man verschlucken könnte, oder sonst etwas Gefährliches«, sagte Briony.
»Wie ich schon sagte, reichlich was verpasst.« Jamie stand auf und ging zum Kühlschrank. Sie nahm einen Zettel unter einem Magneten heraus, auf dem stand »Give Peas a Chance«, und gab ihn Briony. »Das ist eigentlich alles, was du wissen musst, gib dem Frieden eine Chance. Ich muss dich warnen, Mac will sein Frühstück immer um halb acht, und er lässt sich das auch nicht ausreden. Es ist in Ordnung, wenn du versuchst weiterzuschlafen, aber dabei wird es bleiben, bei dem Versuch. Er frisst abends auch um halb acht, aber da kannst du ihn früher füttern, wenn du wegwillst. Früher zu füttern ist nie ein Problem. Und Diogee kaut nicht richtig. Er saugt sein Fressen eher auf. Was bedeutet, dass er manchmal kotzt. Nicht häufig. Aber ich will nicht, dass du dir Sorgen machst, wenn es passiert. Und Mac ist übrigens ein hinterlistiges kleines Aas.«
Mac gab etwas von sich, was teils wie ein Miauen und teils wie ein Knurren klang. »Ja, von dir rede ich«, sagte Jamie zu ihm. Sie lehnte sich zurück und kraulte ihn unter dem Kinn. »Es ist wahrscheinlich am sichersten, wenn du ihn in ein Zimmer sperrst, bevor du rausgehst. Nicht dass man ihn wirklich einsperren könnte, aber das verschafft dir einen Vorsprung. Oh, und Diogee macht etwas, das David den Schulterauskugler nennt. Wenn du ihn an der Leine hast und er ein Eichhörnchen oder so was sieht …«
»Du machst ihr noch Angst«, sagte ein dunkelhaariger Mann, der in der Tür stand. Er sah ein bisschen aus wie Ben Affleck, nur jünger. »Denk einfach immer daran, du bist Alpha. Du hast die Macht«, sagte er zu Briony. Jamie prustete. Er ignorierte sie. »Du gibst das Futter. Das bedeutet, du hast das Sagen«, fügte er hinzu, dann grinste er und streckte die Hand aus. »Ich bin David, Jamies Mann.«
»Das hört sich noch so komisch an«, sagte Jamie. »So komisch und erstaunlich und wundervoll und zum Anbeißen.« Sie ging zu David und legte den Arm um seine Taille. Ihr Gesicht leuchtete, wenn sie ihn ansah, genauso wie seines, wenn er sie anblickte.
Briony musste den Blick senken. Sie freute sich für ihre Cousine. Aber es schmerzte, ein Paar zu sehen, das so verliebt war. Sie hatte gedacht, sie wäre in Caleb verliebt. War es nicht auch so gewesen? Aber man lässt jemanden, den man sehr liebt, nicht am Altar stehen. Man hat keine Panikattacke, wenn man ihm im Kirchenschiff entgegengeht.
»Ich gehe das Auto holen«, sagte David. »Tut mir leid, dass wir wegmüssen, wo du gerade erst angekommen bist. Wenn wir zurückkommen, gehen wir zusammen essen«, sagte er zu Briony, bevor er hinausging.
»Du hättest hier nicht mit mir sitzen und Tee trinken müssen«, sagte Briony mit einem Anflug von Schuldgefühlen. Ihre Cousine wollte auf Hochzeitsreise gehen. »Ich möchte nicht schuld sein, wenn ihr euren Flug verpasst.«
»Das werden wir nicht. Mach dir keine Sorgen. Also, du hast die Anleitung für die Tiere. Das Gästezimmer ist oben links. David hat dir außerdem eine Liste mit den besten Restaurants und anderen interessanten Sachen in der Gegend zusammengestellt. Obwohl ich glaube, dass du L.A. mindestens genauso gut kennst wie er. Ich habe die Gegend gründlich erkundet, als ich hergezogen bin.«
»Ich weiß«, rief Briony aus. »Ich habe dein Buch!« Jamie hatte ein Buch mit Fotos von Leuten aus ganz L.A. und Geschichten über ihre Jobs veröffentlicht.
»Das hast du? Oh, das ist aber süß«, sagte Jamie. »Hier sind die Schlüssel. Okay, was noch? Wir lassen dir auch eine Liste von Nachbarn da, die dir Fragen beantworten können. Ich bin mir sicher, dass Ruby anruft und fragt, ob du etwas brauchst. Wenn Diogee zu viel für dich ist, wenn du ihn ausführst, dann macht das Zachary von gegenüber. Du kannst ihn auch einfach in den Garten lassen. Früher hatte er eine Hundetür. Aber Mac und eine Hundetür – nein. Die ist jetzt permanent zu.« Sie nahm einen tiefen Atemzug und fuhr eilig fort: »Du hast Davids und meine Handynummer, richtig? Was noch? Was noch?« Jamie starrte umher.
»Okay, Jamie, du betrittst die Zone des Wahnsinns«, sagte David, als er zurück in die Küche kam. »Du hättest sie in den letzten Wochen vor der Hochzeit sehen sollen! Wo sie ging und stand, hat sie überall Listen hinterlassen und war ständig – und gleichzeitig – am Telefon und am Computer und hat dabei noch Selbstgespräche geführt«, erzählte er. Briony war es nicht so gegangen. Caleb hatte die beste Hochzeitsplanerin im ganzen Staat aufgetan, und die hatte das Kommando übernommen wie ein General vor der Schlacht. »Ich gehe unsere Koffer holen«, sagte David.
»Kann ich helfen?«, fragte Briony. Sie wollte, dass sie endlich losfuhren. Die beiden hatten sie wirklich nett willkommen geheißen, aber sie war nicht mehr allein gewesen, seit sie sich gestern für ihre Hochzeit angekleidet hatte – gestern! Sie trug immer noch ihre Hochzeitsfrisur und das Maxikleid, das sie auf dem Flug in die Flitterwochen hatte anziehen wollen. Sie brauchte jetzt Privatsphäre, um zu weinen, zu schreien, zusammenzubrechen oder sonst irgendetwas.
»Nein, danke, ich mach das schon.« David ging wieder.
»Mein Auto!«, rief Jamie. »Ich wusste doch, dass ich was vergessen hatte. Du kannst mein Auto nehmen, giftgrüner Käfer. Ist in der Gower geparkt. Das ist die Straße, die am Brunnen auf dem Vorplatz vorbeiführt. Du kannst den Wagen von hier aus sehen. In der Anlage ist Parken verboten.« Jamie nahm einen Schlüsselbund aus der Schrankschublade und legte ihn auf den Tisch.
»Toll. Danke. Dank dir ganz herzlich. Es tut mir leid, dass ich gerade jetzt auftauche, wo …«
Jamie hob die Hand. »Stopp! Ich sage dir doch, dein Timing ist perfekt.«
»Okay, wir sind fertig, Jam!«, rief David.
»Manchmal nennt er mich Jam«, sagte Jamie. »Er ist so süß.«
Sie stand auf und nahm Mac auf den Arm. »Okay, bestes Kätzchen der Welt. Sei lieb zu Briony. Ich sehe dich bald wieder und bringe dir ein Geschenk mit.« Sie vergrub ihr Gesicht einen Augenblick lang in seinem Fell und knuddelte ihn. »Ich bringe ihn nach oben und sage Diogee Auf Wiedersehen, aber du kannst dich drauf verlassen, dass Herr MacGyver in ein paar Minuten wieder hier unten sein wird«, sagte sie.
»Okay«, antwortete Briony. Sie ging mit Jamie aus der Küche und dann nach draußen, wo David neben dem Auto wartete. Er war genauso nett zu ihr gewesen wie Jamie, aber was würde er wohl von ihr halten, wenn er erfuhr, was sie Caleb angetan hatte? Sie schob den Gedanken weg. Es drehte sich nicht alles um sie. »Also ein Monat Marokko. Wow.« Ihre Mutter hatte sie über Jamies und Davids Pläne unterrichtet.
»Das habe ich einem Filmproduzenten zu verdanken, der meine Mojito-Cupcakes liebt«, erklärte David. »Als er gehört hat, dass ich heirate, hat er mir und Jamie sein Ferienhaus in Essaouira angeboten.«
»Darf ich zugeben, dass ich nicht weiß, wo das liegt?« fragte Briony.
David lachte. »Ich wusste das auch nicht. Es liegt an der Atlantikküste, ungefähr drei Autostunden von Marrakesch entfernt. Wir wollten …«
»Marokko, wir kommen!«, rief Jamie, als sie zur Tür hinauslief. Sie hüpfte auf David und Briony zu. »Ich hoffe, du findest Storybook Court genauso wunderbar wie ich. Dass ich hierhergezogen bin, hat mein Leben verändert.« Jamie hob den Kopf und lächelte David an.
Fahrt, dachte Briony, fahrt doch bitte einfach los. So viel Glück tat körperlich weh. Sie sollte jetzt selbst auf dem Weg in die Flitterwochen sein. Mit dem perfekten Mann. Was stimmte bloß nicht mit ihr?
Endlich saß das glückliche – das ach so glückliche – Paar im Auto. Der Wagen fuhr los. Briony sah ihm nach, bis er hinter der sanften Kurve am Ende der Straße verschwand.
Dann ging sie hinein.
Machte die Tür hinter sich zu.
Schloss sie ab.
Zog die runden Holzfensterläden zu, die zu dieser niedlichen Hobbithöhle von einem Haus passten und die helle südkalifornische Sonne ausschlossen.
Dann legte sie sich aufs Sofa.
Sie wollte nur vergessen. Doch ihr Kopf hörte einfach nicht auf, sich im Kreis zu drehen und ihr Bilder entgegenzuwerfen – Caleb, wie er ihr von seinem Platz neben dem Altar aus zulächelte, wie sich der Mund ihrer Urgroßtante MeMe öffnete, als Briony hinfiel, wie ihre Eltern so taten, als wären sie nicht fürchterlich enttäuscht von ihr, als sie sie zum Flughafen brachten.
Etwas plumpste auf ihren Bauch und riss sie aus ihrem mentalen Horrorfilm. Briony öffnete die Augen einen Spalt weit. Der Kater – MacGyver – starrte zurück und fing dann an zu schnurren. Es war … schön. Die Wärme des Katers breitete sich in ihr aus, und die Vibrationen des Schnurrens entspannten ihre Muskulatur.
Ein paar Minuten später kam der Hund – Diogee – herbeigeschlendert und schaffte es, seinen Riesenkörper ans Fußende des Sofas zu quetschen. Sofort bildete sich oberhalb ihres Knies ein warmer Speichelfleck. Das hätte eigentlich nicht tröstlich sein sollen. War es aber – eklig und tröstlich zugleich. Und das Geräusch seines Schnarchens, als er einschlief, schien den Schlaf auch zu ihr einzuladen. Sie schloss die Augen wieder, sie war den beiden Tieren dankbar, obwohl sie nicht einmal ihre kleinen Tröstungen verdiente. Nicht nach dem, was sie getan hatte.
Der Atem der Frau ging langsam und regelmäßig. Der Schwachkopf gab diese keuchenden Faucher von sich, die bedeuteten, dass er ebenfalls schlief. Aber Mac war voller Energie. Es war Zeit für Abenteuer.
Er sprang auf den Boden und gab dem Köter mit eingezogenen Krallen einen Pfotenschlag aufs Hinterteil. Mit einem Schnaufen schreckte Diogee aus dem Schlaf hoch, zwei lange Sabberfäden hingen von seinem Maul. Der Schwachkopf war ekelhaft, konnte aber nützlich sein. Mac trabte in die Küche, sprang auf die Anrichte und löste geschickt die Lasche von Diogees Glas mit Leckerchen. Mit einer Pfote fischte er einen Keks heraus. Diogee stand unter ihm und winselte bereits. Keine Katze würde jemals winseln. Oder etwas fressen, das nach Staub roch.
Mac sah zu dem runden Fenster hinüber, das für ihn zu hoch war – dachten jedenfalls seine Menschen. Er zielte und schnippte den Keks von der Anrichte auf den Boden genau unterhalb des Fensters – wupps, abgeschossen. Diogee rannte hin, um das zu fressen, was für ihn ein Leckerbissen war. Perfekt. Mac sprang ihm auf den Kopf. Diogee riss überrascht den Kopf hoch. Und allez-hopp saß Mac auf dem Fensterbrett. Er stieß das Fenster mit dem Kopf auf und entkam in die Nacht.
Auf dem Rasen hielt er einen Augenblick inne und genoss jeden Duft. Mac liebte die vertrauten heimatlichen Gerüche, aber er war bereit für Spannung und Abenteuer, und die würde er in seinem eigenen Hinterhof nicht finden. Nicht heute Nacht. Er lief durch Storybook Court, an all den Häusern vorbei, die er inzwischen so gut kannte. Die meisten Menschen rochen zufrieden. Sein Verdienst. Er hatte geholfen, wo er konnte. Das war die Pflicht eines jeden höher entwickelten Wesens.
Mac blieb abrupt stehen, seine Nasenflügel zuckten. Sardinchen. Sardinchen in der Nähe. Er fing an zu rennen, flitzte auf den köstlichen Geruch zu. Er ließ die Anlage hinter sich und betrat neues Terrain. Ungewohnte Gerüche, die alle untersucht werden wollten. Dazu würde er schon noch kommen. Später.
In diesem Moment war seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Geruch der Sardinen gerichtet. Er nahm die Spur auf und blieb erst stehen, als ihm ein Bungalow den Weg zu seinen heiß geliebten Sardinen versperrte. Aber nicht lange. Die erstbeste Einbruchsgelegenheit, die Mac wahrnahm, war der Schornstein. Es gab vermutlich einen leichteren Weg, aber Mac hatte keine Zeit zu verlieren. Er kletterte auf eine Palme an der Seite des Hauses, die ihm Zugang auf das Dach verschaffte. Dann ging es den Schornstein hinunter, jeweils mit einer Vorder- und Hinterpfote auf der Seite des Schachtes abgestützt. Dann, eins, zwei, drei, vier, und er war drin.
Die Sardinen waren nah, so nah. Aber nah war auch ein Mensch. Ein Mann saß mit dem Rücken zu ihm da und schaute Fernsehen. Auf dem Tisch neben dem Sessel stand eine offene Dose mit den Leckerchen. Mac duckte sich, bis sein Bauch den Teppich berührte. Der Schwachkopf wäre herangaloppiert und hätte zu jaulen angefangen, um einen Krümel abzubekommen. Mac bettelte nicht. Mac nahm sich, was er wollte. Er kroch auf den Mann zu, stellte sich auf die Hinterbeine und wollte die Dose vom Tisch zu sich ziehen.
»Hey! Was hast du denn vor?«, schrie der Mann, schnappte die Lieblinge und brachte sie außer Reichweite. Mac fühlte sich mit einem Mal erniedrigt. Den Schwanz zwischen den Beinen, schlich er zurück zum Kamin. Wie ein geprügelter Hund. Er wollte keinen Moment länger am Ort seines monumentalen Versagens bleiben.
Der Mann stieß einen Seufzer aus. »Was soll’s, wenigstens einer könnte ja einen schönen Abend haben.« Der Geruch nach Sardine wurde ein wenig stärker. Mac sah sich um. Zwei glänzende kleine Schönheiten lagen auf der ausgestreckten Hand des Mannes.
Er drehte sich um und stellte den Schwanz auf Halbmast. Er legte die Ohren an und schätzte die Lage ab. Die kleinen Augen der Sardinen schienen ihn förmlich anzuflehen. Der Mann rührte sich nicht. Es könnte eine Falle sein. Aber Mac hatte keine Angst vor Fallen. Es war noch keine erfunden worden, der er nicht entkommen konnte.
Ein paar Sekunden später rutschte der erste kleine, ölige Fisch Macs Kehle hinunter. Er konnte fast spüren, wie der kleine Fischschwanz sich bewegte. Perfekt.
»Das magst du, hm?«, blah-blahte der Mann. »Ich mag sie auch. Besonders wenn ich sie in guter Gesellschaft essen darf. Anders als im Speisesaal.« Er aß eine Sardine, während Mac die kleinen Gräten seines zweiten Fischchens zerbiss.
Mac war ganz und gar mit Sardinenessensfreude erfüllt, die sich noch steigerte, als der Mann ihm eine dritte gab. Aber sobald er sie hinuntergeschluckt hatte, fiel ihm auf, dass der Mann nicht dieselbe Wonne verspürte. Selbst wenn er tausend Leben hätte, glaubte Mac nicht, dass er die Menschen jemals völlig verstehen könnte. Er nahm einen tiefen Atemzug und strengte sich an, den Sardinenduft nicht zu beachten. Dann stieß er ein leichtes Schnauben aus. Er hatte schon einen unglücklichen Menschen zu Hause, um den er sich kümmern musste. Aber als der Mann ihm noch eine Sardine überreichte, wusste Mac, dass er einen Weg finden musste, um auch diesem Menschen zu helfen. Er hatte es verdient.
Nate Acosta ging in den Speisesaal. Er wurde von den dezenten Düften von Zitrone und Bergamotte empfangen, ätherischen Ölen, die im Lüftungssystem verdampften. Sein Großvater hatte solche Systeme in Casinos in Vegas kennengelernt und eines installiert. Er wollte, dass der Speisesaal und der Rest des Gemeinschaftszentrums wie ein elegantes Luxushotel wirkten. Für ihn war Wohlgeruch genauso wichtig wie Dekoration.
Der Saal sah gut aus. Die Kellner waren aufmerksam. Die Senioren und ihre Gäste erfreuten sich an den Feta-Truthahn-Burgern und dem Pfirsichmus. Er durfte nicht vergessen, in der Küche vorbeizugehen und LeeAnne, die Chefköchin, zu beglückwünschen. Es war ein gelungener Coup gewesen, sie vom Suncafé abzuwerben.
Sein Blick blieb an der Geigenfeige in der Ecke hängen. Sie wurde buschig. Er musste sie irgendwann stutzen, vielleicht zurückschneiden. Juli war eine gute Jahreszeit dafür. Die Pflanze hatte ein paar gute Kraftreserven aufgebaut. Er blinzelte und stellte sich die Schirmform vor, die er anstrebte, während er gleichzeitig versuchte zu entscheiden, wohin sie austreiben sollte.
Lautes Gelächter lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Tisch am Fenster. Der neue Mieter, Archie Pendergast, schien sich einzugewöhnen. Er aß mit Peggy Suarez, Regina Towner und Janet Bowman zu Abend, drei der beliebtesten Damen in The Gardens. Rich Jacobs, der ansässige Limerickschreiber – so stand es auf seinen Visitenkarten – saß mit am Tisch und schrieb in ein Notizbuch, während er in der anderen Hand einen Burger hielt, von dem er immer wieder abbiss.
»Wollen Sie meinen neusten hören?«, rief Rich ihm zu, als Nate auf die Gruppe zuging.
»Immer«, antwortete Nate. Er setzte sich auf den leeren Stuhl, wo gewöhnlich Gib Gibson saß. Gib war schon seit drei Tagen nicht zum Essen in den Speisesaal gekommen. Nate hatte den Verdacht, dass es Gib den Magen umdrehte zu sehen, wie Peggy mit Archie flirtete. Für Nate war nicht zu übersehen, dass Gib eine Schwäche für Peggy hatte, aber sie bemerkte es anscheinend nicht.
Rick hielt das Notizbuch hoch, räusperte sich und fing an zu lesen: »Es war einmal Herr Pendergast / der saß auf einem dünnen Ast. / Er machte alle Damen schwach / sie seufzten lange weh und ach / doch keine hat ihn je gefasst.«
Archie strich sich mit der Hand über das sich lichtende weiße Haar. »Da höre ich mich ja an wie ein Stenz, Rich.«
»Ein was?«, fragte Peggy und beugte sich mit einem Lächeln, wobei ihre Grübchen zum Vorschein kamen, dicht zu ihm. Ja, das war genau das, was Gib nicht mochte.
»Sie wissen schon, ein Schürzenjäger«, antwortete Archie. »Ich war fünfzig Jahre lang mit derselben Frau verheiratet. Sie war mein Ein und Alles.«
Peggy, Regina und Janet seufzten unisono. Sie waren ihm vollkommen verfallen. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich alle besondere Mühe mit ihrem Aussehen gegeben hatten. Peggy trug einen Tellerrock, von dem Nate sich ziemlich sicher war, dass er neu war, gesäumt mit einem breiten Blumenmuster. Reginas blonde Kurzhaarfrisur sah aus, als hätte sie neue, wenn auch dezente Strähnchen, und Janet hatte ihre Haarfarbe komplett verändert, von einem unaufdringlichen Burgunderrot zu einem eher aufdringlichen, leuchtenden Kirschrot mit dazu passendem Lippenstift.
Archies Zuneigung für seine verstorbene Frau machte ihn für die Damen ganz eindeutig noch attraktiver. Dass er für jemanden Ende siebzig noch recht fit war und auf seine äußere Erscheinung achtete, schadete auch nicht. Bisher war er jeden Abend im Anzug zum Essen erschienen, mit gebügeltem weißem Hemd und Fliege. Nicht wie zum Beispiel Rich, der wild gemusterte Jogginganzüge mit Turnschuhen in ebenso wilden Farben bevorzugte.
»Mein herzliches Beileid.« Regina streckte die Hand über den Tisch und legte sie auf Archies Arm.
»Reggie, möchtest du diese tolle neue Creme ausprobieren, die ich kürzlich entdeckt habe?«, fragte Janet und durchwühlte ihre Tasche. »Heute Morgen hast du gesagt, wie schrecklich du es findest, dass deine Haut so schuppig geworden ist.« Sie hielt eine kleine Tube vor Reginas Gesicht, die es fertigbrachte, Janet wütend anzusehen und gleichzeitig Archie zuzulächeln.
»Unfug!«, sagte Archie. »Ihre Hände sind seidenweich.«
»Danke«, antwortete Regina und zog ihre Hand langsam zurück. Jetzt lächelte sie Janet an, es war ein triumphierendes Lächeln.
»Wie wundervoll, eine solche Ehe. Die arme Regina hier war vier Mal verheiratet«, legte Janet nach.
Nate hoffte, dass sich der Wettbewerb um Archies Aufmerksamkeit nicht zu einem Problem entwickelte. Es war schon ein paarmal vorgekommen, dass ein neuer Bewohner die Balance in der Residenz gestört hatte. Er würde die Senioren im Auge behalten müssen. Bevor Regina sich an Janet rächen konnte, sagte er: »Ich habe gehört, dass die drei Damen eine Kunstausstellung planen.«
»Das stimmt. Wir wollen mit dem angeben, was wir im Kunstunterricht gelernt haben«, antwortete Peggy. »Wir haben sogar einen hiesigen Kunstkritiker eingeladen.«
Archie wackelte mit den buschigen, grauen Augenbrauen. »Ich bin sicher, dass auf der Ausstellung nichts Hübscheres zu sehen sein wird als unsere drei Damen.« Das führte zu Erröten und Gekicher. Nate war froh, dass er alle drei angesprochen hatte.
»Sei vorsichtig, Großvater. Du willst doch bestimmt keine Herzen brechen.«
Nate blickte in Richtung der hohen, lieblichen Stimme und sah Eliza, Archies Enkelin, auf sie zukommen. Ihre weiße Bluse war bis zum Hals zugeknöpft, und ihr geblümter Rock reichte bis unter die Knie. Sie erinnerte ihn an eine altmodische Lehrerin, in die alle Jungen der Klasse sich verguckten.
Peggy warf ihren dicken, silbernen Zopf über die Schulter. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich bin die, die hier die Herzen bricht.« Sie zwinkerte Archie zu, und er zwinkerte zurück. Noch etwas, das Gib nicht gefallen würde. Nate würde nach ihm sehen. So wie er Gib kannte, lebte der von Bohnen, Sardinen und allem möglichen anderen Dosenfood. Und ein paar Bieren. Es war nicht schlimm, wenn einer der Senioren ab und zu ein paar Mahlzeiten im Speisesaal verpasste, aber es sollte nicht zur Gewohnheit werden.
»Eliza, setzen Sie sich nur.« Nate stand auf. Seit Archie hier wohnte, kam seine Enkelin jeden Tag in The Gardens vorbei. Es gefiel ihr bestimmt, dass es Archie so gut ging. In eine Seniorenresidenz zu ziehen war oft eine große Umstellung, aber Archie hatte sehr schnell seinen Platz gefunden. Nach etwas mehr als einer Woche war er bei einer Kinofahrt dabei gewesen, hatte einen Vortrag der Sozialversicherung angehört und war zum Star des Spieleabends geworden.
»Darf ich mich neben Großvater setzen?«, fragte Eliza Peggy.
»Das ist nicht …«, fing Archie an, aber Peggy war bereits auf den Stuhl umgezogen, auf dem Nate gesessen hatte.
»Danke schön.« Eliza setzte sich und richtete Archies Fliege. Er drückte ihre Hand.
»Ich seh’s gern, wenn sich eine Enkelin um ihren Großvater kümmert.« Rich steckte sich eine Gabel voll Krautsalat in den Mund. »Ich habe drei, aber sie leben überall im Land. Wir schreiben uns Nachrichten auf Facebook und machen FaceTime. Aber das ist nicht dasselbe. Wenigstens ist mein Enkelsohn in der Nähe, drüben an der UCLA. Ich habe angeboten, den Mädchen eine Fahrt hierher zu bezahlen, aber daraus wird nichts. Sie sind alle zu beschäftigt.« Ein Leuchten trat in seine Augen. »Ich glaube, da steckt noch ein Gedicht drin.« Er zog einen kleinen Bleistift hinter seinem Ohr hervor und schlug eine neue Seite in seinem Heft auf.
»Ich finde es wunderbar, dass du Facebook und FaceTime nutzt, um in Kontakt zu bleiben«, meinte Regina.
»Da lasse ich doch glatt den Bleistift fallen«, sagte er zu ihr. »Und ich hatte den Eindruck, du könntest nicht einen einzigen bewundernswerten Zug an mir finden.«
»Viele hast du nicht«, gab sie zu. »Diese Schuhe, Rich.«
Nate betrachtete die Turnschuhe. Heute hatten sie ein Gepardenmuster, lila, mit neonorangen No-Tie-Schnürsenkeln.
»Ich finde es auch toll, dass Sie bei der Technologie auf dem Laufenden sind«, sagte Eliza. Rich stieß ein Grunzen aus, wobei er bereits in sein Heft schrieb. »Mein Großvater will nicht einmal einen Computer.«
»Zu verdammt kompliziert. Und unnötig«, insistierte Archie, dann glättete er mit zwei Fingern seinen Schnurrbart.
»Ich könnte Ihnen das Grundlegende beibringen«, bot Peggy an. »Ohne Google könnte ich nicht leben.«
»Google glotzen«, murmelte Rich und radierte eine Zeile aus.
»Vielleicht komme ich bei Gelegenheit auf das Angebot zurück«, sagte Archie zu Peggy.
»Wenn Sie lernen wollen, einen Computer zu benutzen, dann sollte ich diejenige sein, die es Ihnen beibringt. Ich war fast vierzig Jahre lang Programmiererin.«
»Du weißt zu viel, um eine gute Lehrerin zu sein«, sagte Janet. »Du würdest ihm viel zu viele Informationen geben.«
»Ich brauche wahrscheinlich Hilfe von Ihnen allen dreien, wenn ich jemals eine von diesen Maschinen verstehen will«, antwortete Archie.
Er verstand etwas von Diplomatie. Das war gut, dachte Nate. Er sah auf die Uhr. Er wollte in die Küche gehen und LeeAnne beglückwünschen. Komplimente waren ihr Kryptonit, hatte er entdeckt. Als er versucht hatte, sie vom Suncafé abzuwerben, war ihm das weder mit einem höheren Lohnangebot noch mit der Aussicht auf mehr Personal gelungen. Was sie schließlich umgestimmt hatte, war seine Wertschätzung gewesen. »Ich gehe. Einen netten Abend allerseits. Schön, dass Sie da sind, Eliza. Haben Sie schon gegessen? Ich hätte früher fragen sollen. Ich kann Ihnen einen Teller holen.« Nate ermutigte die Familienangehörigen immer, zu den Mahlzeiten zu bleiben.
»Nein, danke. Ich kann mir den Burger mit Großvater teilen.« Sie griff nach seinem Hamburger und biss hinein.
Das war ein bisschen komisch. Aber auch wieder süß. Es war wahrscheinlich etwas von früher, als sie sich als kleines Mädchen ein Erdnussbutterbrot mit ihrem Großvater geteilt hatte.
»Okay. Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder.«
»Sicher«, erwiderte Eliza.
Nate winkte der Gruppe zu und verließ mit einem Blick auf die Geigenfeige den Speisesaal. Es juckte ihn in den Fingern. Vielleicht sollte er eine Schnur nehmen, damit sie in die richtige Richtung wuchs … Aber jetzt hatte er dafür keine Zeit. Eine Tonne Papierkram wartete auf ihn.
Sobald er die Küche betrat, wusste er, dass es kein guter Moment war. LeeAnne und ihre Crew waren gerade dabei, den Nachtisch fertig zu machen. Kein guter Augenblick, um ein paar Komplimente loszuwerden. Er setzte sich an den großen Tisch, wo das Personal seine Mahlzeiten zu sich nahm, und Hope stellte ohne zu fragen einen Teller mit einem Burger und Krautsalat vor ihn hin. Einen Moment später kam sie mit Eistee zurück, mit Zitrone und Diätsüße, seinem Lieblingsgetränk.
Hope behandelte ihn nicht so, weil er der Boss war. Ihr größtes Talent bestand darin zu merken, was gebraucht wurde, und es zu tun. Sie half überall aus, nahm die Bestellungen für die Bewohner auf, die ihre Mahlzeiten nicht mehr im Speisesaal einnehmen konnten, führte Gesprächen mit Verkäufern und kümmerte sich um den Einkauf.
»Was gibt’s zum Nachtisch?«, fragte er.
»Kalte Sauerkirschsuppe«, gab Hope zur Antwort. »Mit frischen Sauerkirschen.«
»Auch bekannt als ungarische Meggyleves!«, rief LeeAnne von einer der Kücheninseln.
Die Kellner fingen an, die Schalen hinauszubringen, und LeeAnne sprach mit ihm, also dachte Nate, dass es an der Zeit war, ihr Komplimente zu machen, völlig aufrichtige Komplimente, denn schließlich sollte der Betrieb in der Küche reibungslos laufen.
»Wie hast du denn frische Sauerkirschen aufgetrieben?« Er erinnerte sich an eine Kirschkuchenkrise und daran, dass es in ganz Südkalifornien beinahe unmöglich war, welche zu finden.
»Man muss vor Sonnenaufgang schon auf dem Bauernmarkt sein. Man muss schnell sein. Und gewieft. Das mit vor Sonnenaufgang war eine Herausforderung. Der Rest ergibt sich dann von allein.« LeeAnne grinste. »Hope hat mich daran erinnert, dass Gertie heute Geburtstag hat. Sie liebt ihr ungarisches Essen so, also wollte ich ihr einen Gefallen tun.«
Nate würde Hopes Gehalt erhöhen. Sie hatte es verdient. Sie arbeitete schwer und gab sich Mühe und schaffte es irgendwie, fast Vollzeit an der UCLA zu studieren und gleichzeitig auch beinahe Vollzeit zu arbeiten.
»Hope, würde es dir etwas ausmachen, mir mein Essen einzupacken? Ich muss ins Büro.«
LeeAnne fuhr zu ihm herum und funkelte ihn aus ihren dunklen Augen an. »Kommt nicht infrage, Hope! Wenn er mein Essen will, dann soll er ihm gefälligst die Beachtung schenken, die es verdient.«
Anfängerfehler, dachte Nate. Er führte den Laden und musste weder von LeeAnne noch von irgendjemand anderem Befehle entgegennehmen, aber ihrer Küche keine Aufmerksamkeit zu zollen, war schlechtes Management. Wer wusste, wie lange er brauchen würde, LeeAnne wieder zu beruhigen, wenn er ihr Essen nicht genügend schätzte. »Tut mir leid. Hab nur einfach viel zu tun. Aber du hast recht. Ich muss mir die Zeit nehmen, es zu genießen.«
»Darauf kannst du dein süßes Hinterteil verwetten«, sagte LeeAnne zu ihm.
Nate fragte sich, ob er mit ihr noch einmal die Regeln zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durchgehen sollte. Aber er hatte sie noch nie so etwas zu jemand anderem sagen hören, und deshalb ließ er es durchgehen. Er spürte, wie sie ihn ansah, als er den ersten Bissen des Pfirsichkrautsalats aß. »Ein Geschmackserlebnis«, meinte er.
»Wenn Leute älter werden, verlieren ihre Geschmacksknospen an Sensibilität. Deshalb mach ich das.« Er bemerkte, dass LeeAnne versuchte, nicht zu lächeln. Ego gestreichelt. Auftrag ausgeführt. Nate unterdrückte auch ein Lächeln. Er war es nämlich gewesen, der LeeAnne den Hinweis mit den Geschmacksknospen gegeben hatte.
»Hope wird das Abräumen beaufsichtigen. Ich gehe jetzt.« LeeAnne zog ihre weiße Chefjacke aus. Das limonengrüne Muskelshirt, das sie darunter trug, betonte die Tätowierung eines Baumes, der Küchenwerkzeuge anstelle von Blättern trug.
»Viel Spaß. LeeAnne und Amber gehen ins Black Rabbit Rose, es ist ganz toll da«, fügte Hope für Nate hinzu.
»Das wollte ich mir auch mal ansehen«, sagte Nate.
LeeAnne schnaubte, während sie sich die Silberringe ansteckte, die sie an jedem Finger trug, wenn sie nicht arbeitete. »Aber sicher. Mensch, das hat schon vor zwei Jahren aufgemacht!«
»So lange ist das schon her? Mein Problem ist, dass ich, wenn ich von der Arbeit komme, nur noch ins Bett will«, gab Nate zu. »Wie schaffst du das?«
»Indem ich nicht den ganzen Tag und die halbe Nacht arbeite«, sagte LeeAnne zu ihm. Sie zog ihre Bandana vom Kopf und schüttelte ihr Haar aus, das oben dunkellila war und sich langsam zu Lavendel aufhellte. »Im Gegensatz zu dir habe ich ein Leben. Du bist achtundzwanzig und lebst, als wärst du einer der Senioren hier. Oh, nur dass die Bewohner hier viel mehr Sozialleben haben als du.« Sie ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um und nagelte Nate mit einem strengen Blick fest. »Wann war das letzte Mal, dass du auch nur mit einer Frau gesprochen hast?«
»Ich dachte, ich würde gerade …«
LeeAnne zeigte auf ihn. »Nein, du weißt ganz genau, was ich meine.«
»Zählt die Enkelin unseres neuesten Bewohners?«, fragte Nate. Eliza war ungefähr in seinem Alter. Hübsch. Ihrem Großvater treu ergeben und offensichtlich verantwortungsbewusst. Sie nahm sich die Zeit und vergewisserte sich, dass er gut aufgehoben war.
»Würdest du mit der Tochter eines Bewohners ausgehen?«
Sie hatte ihn erwischt. »Nein.«
»Dann nicht.«
Nate überlegte, wann er das letzte Mal mit jemandem ausgegangen war. »Dieser Laden nimmt eine Menge Zeit in Anspruch.« Es hörte sich sogar in seinen Ohren jämmerlich an.
Kopfschüttelnd ließ LeeAnne die Tür hinter sich zuschlagen. Hope richtete das Band, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt. »Wenn es dich tröstet, ich bin zwanzig, und wenn ich heute Abend mit meinem Unikram fertig bin, gehe ich auch nur noch ins Bett.«
»Arbeitest du zu viel? Wir können deinen Arbeitsplan ändern.«
»Nein!«, rief sie. »Nein«, wiederholte sie leiser. »Ich brauche das Geld. Ich habe ein Stipendium, aber …« Sie machte eine hilflose Handbewegung.
»Du kannst so viel arbeiten, wie du willst. Hier läuft alles glatter, wenn du da bist«, versicherte ihr Nate.
Sie lächelte, ein schönes Lächeln. Sie war toll, verantwortungsbewusst, verlässlich. Wenn Hope ein paar Jahre älter wäre … dann würde er gar nichts tun. Weil sie seine Angestellte war. Er nahm seinen Teller und stand auf. »Erzähl es nicht LeeAnne«, flüsterte er laut, während er zur Tür ging, was Hope zum Lachen brachte.
Zehn Minuten später war er schon in die Monatsabrechnung vertieft.
Drei Stunden später streckte er sich und versuchte, die Schultern zu entspannen. Vielleicht konnte er jetzt in den Speisesaal zurückgehen und sich überlegen, was er mit der Geigenfeige machen sollte. Aber er hatte seit Tagen nicht nach seiner Post gesehen. Er nahm den ersten Umschlag zur Hand und riss ihn auf. Jemand wollte ihm Fitnessgeräte für Senioren verkaufen. Papierkorb. Er hatte das Fitnessstudio vor etwas mehr als zwei Jahren erneuert. Noch ein Brief von diesem Makler, der die Einrichtung kaufen wollte, wahrscheinlich um ein paar luxuriöse Apartmentgebäude zu bauen. Der schickte schon seit Monaten E-Mails, Briefe und rief außerdem noch an. Nate würde sich nicht damit aufhalten. Er hatte bereits Nein gesagt. Papierkorb.
Ungefähr eine halbe Stunde später war er mit der Post durch. Aber wenn er nicht zumindest damit anfing, die monatlichen Briefe zu schreiben, die die Familie jedes Bewohners bekam, würde er nie rechtzeitig damit fertig. Sein Handy spielte das Geigenkreischen aus Psycho, den Klingelton seiner Schwester. Er liebte sie und so weiter, aber sie konnte ihn, nun ja, in den Wahnsinn treiben, und der Klingelton half ihm, die richtige Einstellung zu behalten.
Nate zögerte. Wenn er dranging, konnte es Stunden dauern, Stunden, die er brauchte. Aber eines der Kinder könnte krank sein, oder … Er ging ans Handy. »Was gibt’s, Nathalie?«, fragte er seine Zwillingsschwester.
»Ich habe mit Christian gesprochen und ihn gefragt, ob er Kinder haben will«, fing sie an.
»Warte mal. Du warst zweimal mit diesem Kerl aus, richtig?« Es war manchmal schwierig für Nate, auf dem Laufenden zu bleiben.
»Dreimal. Wie auch immer, ich finde es wichtig, so etwas durchzusprechen. Und er hat Nein gesagt. Was okay für mich ist. Die beiden Kinder, die ich habe, sind toll. Aber ich wollte wissen, ob er ein leibliches Kind haben will. Also haben wir darüber geredet, und dabei kam heraus, dass er keine Kinder will. Überhaupt. Keine. Und obwohl ich in meinem Partnersuchprofil angegeben habe, dass ich Kinder habe, wollte er sich mit mir treffen. Wann hätte er mir von seiner Keine-Kinder-Regel erzählt? Und was meint er wohl, was ich mit meinen Kindern machen soll?«
Nate verdrehte die Augen. Sollte seine Schwester nicht eigentlich eine Freundin haben, mit der sie über solche Sachen sprach? Oder mit ihrer Mutter! Das würde zwei Probleme auf einmal lösen. Ihre Mutter brauchte mehr Aufmerksamkeit. Sie wohnte auf dem Grundstück von The Gardens, in dem Haus, das seit Generationen der Familie gehörte. Nate ging fast jeden Tag bei ihr vorbei, aber sie brauchte sehr viel Aufmerksamkeit. Sie wäre begeistert, wenn Nathalie ihre Beziehungsprobleme mit ihr durchdiskutieren würde.
»Vielleicht wäre Mom die Richtige, um …«, fing er an.
»Mom?«, wiederholte Nathalie. »Mom? Ich erwähne nur irgendwas von einem Mann, und sie fängt an zu weinen. Es ist Jahre her, dass Dad sie verlassen hat. Man sollte meinen, dass sie langsam darüber hinweg wäre, aber offensichtlich ist das nicht der Fall. Außerdem denkt sie, dass ich jetzt, wo ich Kinder habe, sowieso keinen Mann mehr brauche.«
Nate öffnete ein Word-Dokument. Er beschloss, zuerst an Gerties Sohn zu schreiben. Er konnte ihm von der … Wie hatte LeeAnne die Kirschsuppe bezeichnet? Ma… irgendwas.
»Was soll ich mit Christan machen? Soll ich ihn zur Rede stellen? Oder es mit einer Art Desensibilisierung versuchen? Er könnte anfangs nur ein wenig Zeit mit den Kindern verbringen, und dann würde ich es immer mehr steigern.«
Nein. Meh… irgendetwas. Meh… Meh… »Meggyleves!«
»Du arbeitest doch nicht etwa, während du mit mir telefonierst, Nate, oder? Das ist eine Krise. Ich brauche deine volle Aufmerksamkeit.«
Er überlegte, ob er sie darauf hinweisen sollte, dass ein Tornado eine Krise war oder ein Blinddarmdurchbruch oder eine Kündigung. Aber dann würde Nathalie weinerlich werden und sich beklagen, dass niemand sie und das Leben einer alleinerziehenden Mutter verstand, und das würde das Telefonat wahrscheinlich um weitere vierzig Minuten verlängern.
Nate klappte den Laptop zu, ließ den Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen. »Jetzt hast du meine volle Aufmerksamkeit. Sprich weiter.« Er begann, im Kopf den ersten Brief zu verfassen, während seine Schwester weiterredete. Sich um Nathalie zu kümmern bedeutete häufig, ihr zuzuhören, während sie Dampf abließ.
Viel Dampf.
Und noch mehr Dampf.
Plötzlich hörte er ein leises Rascheln. Er öffnete die Augen und setzte sich gerade hin. Eine braun getigerte Katze saß auf seinem Schreibtisch. Sie sah ihm ins Gesicht und wischte einen Stapel Rechnungen mit der Pfote zu Boden. Sie sah Nate noch einmal an, dann schlug sie nach seinem Kalender.
»Nathalie, ich muss jetzt auflegen. Wir können morgen weiterreden. Eine Katze ist in meinem Büro und bringt alles durcheinander.« Er legte auf, bevor sie protestieren konnte. Als ein paar Sekunden später die Geigen wieder zu quietschen anfingen, ignorierte er den Anruf. Er wusste, dass er nicht gebraucht wurde, um eines der Kinder in die Notfallaufnahme zu fahren oder die Feuerwehr zu rufen.
Die Katze haute die Miniaturrose vom Tisch, die Nate mühsam aufgepäppelt hatte. Blumenerde fiel auf den Teppich. Verdammt. Er hatte gerade den pH-Wert richtig eingestellt. »Hey. Hör auf damit!« Die Katze sah ihn an, zwinkerte langsam, lehrte seinen Tacker das Fliegen und verschwand dann durch einen Riss im Fenstergitter. Vor dem Abendessen war der Riss noch nicht da gewesen. Er hätte ihn bemerkt. Ein Großteil seines Jobs bestand darin, solche kleinen Dinge zu bemerken.
Nate stand auf und kümmerte sich um die Nachwirkungen des Katzentornados. Er wollte sich gerade wieder hinsetzen, aber verdammt noch mal, es war fast zehn, er würde nach Hause gehen. Vielleicht sogar ein Bier trinken. Er hatte die letzten drei Tage bis nach Mitternacht im Büro gesessen. Er würde morgen den Rest aufholen.
Ja, das hatte er sich verdient.
Brionys Vater tippte ihr auf die Nase. »Was tun wir, wenn wir über die Straße gehen?« Tipp. »Was tun wir, wenn wir über die Straße gehen?«
Das Tippen wurde etwas stärker. Die Falten im Gesicht ihres Vaters vertieften sich, und er sah auf einmal wütend aus. »Und was tun wir, wenn wir einen Antrag annehmen?« Tipp. »Wir.« Tipp. »Heiraten!« Tipp.
Das ist nicht passiert, sagte Briony sich. Ich träume. Ich muss aufwachen.
»Wir heiraten!«, schrie ihr Vater sie an, und ihr Vater schrie niemals. Sein Gesicht war dunkelrot geworden, beinahe lilafarben. Er sah aus, als würde er gleich einen Schlaganfall bekommen. Tipp, tipp, tipp.
Wach auf, wach auf, wach auf, dachte Briony. Sie schaffte es, die Augen zu öffnen, und starrte einen gestreiften Kater an. Er saß auf ihrer Brust und tippte mit seiner weichen Pfote auf ihre Nase. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden. Sie war im Haus ihrer Cousine Jamie. Es war MacGyver, der Kater ihrer Cousine Jamie. Er tippte ihr noch mal auf die Nase.
»Was?«, murmelte sie. »Es kann doch nicht schon wieder Essenszeit sein.«
