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Jamie ist frisch mit ihrem Kater MacGyver in eine traumhafte kleine Wohnsiedlung in Hollywood gezogen. Nach einigen Liebespleiten und einem anstrengenden Jahr möchte sie einen kompletten Neustart wagen – als glücklicher Single. Doch MacGyver hat andere Pläne! Er weiß, dass sein Mensch einsam ist. Er kann es riechen! Und Jamie ist nicht die Einzige, die diesen Geruch an sich trägt. Es gibt da auch noch David, der gut zu Jamie passen würde. Aber wie bringt man zwei Menschen zusammen, die die Liebe gar nicht suchen? MacGyver muss sich etwas einfallen lassen und wird schon bald zum Dieb auf Samtpfoten …
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Melinda Metz
Ein Katzenroman
Aus dem Amerikanischen von Sonja Rebernik-Heidegger
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Jamie ist frisch mit ihrem Kater MacGyver in eine traumhafte kleine Wohnsiedlung in Hollywood gezogen. Nach einigen Liebespleiten und einem anstrengenden Jahr möchte sie einen kompletten Neustart wagen – als glücklicher Single.
Doch MacGyver hat andere Pläne! Er weiß, dass sein Mensch einsam ist. Er kann es riechen! Und Jamie ist nicht die einzige, die diesen Geruch an sich trägt. Es gibt da auch noch David, der gut zu Jamie passen würde …
Doch wie bringt man zwei Menschen zusammen, die die Liebe gar nicht suchen? MacGyver muss sich etwas einfallen lassen und wird schon bald zum Dieb auf Samtpfoten …
Eine zauberhafte Geschichte nicht nur für Katzenliebhaber.
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Ein Jahr später
Für Gary Goldstein als Dank für die Inspiration und die Chance, die er mir gegeben hat.
Und in Erinnerung an Al und Marie Defrancisco – die besten Nachbarn der Welt.
MacGyver öffnete die Augen. Er lag auf seinem Lieblingsplatz in Jamies Bett, schmiegte sich an ihre warmen, weichen Haare und schnurrte zufrieden. Jamies Duft war eines der wenigen vertrauten Dinge in diesem neuen Haus, und er beruhigte ihn.
Aber da war immer noch der unsägliche Geruch … Jamie roch zwar nicht wirklich krank, aber irgendwie erinnerte ihr Geruch MacGyver daran. Mac glaubte zu wissen, warum. Er gab es nicht gerne zu, aber Menschen waren da eher wie Hunde als wie Katzen – zumindest manchmal. Sie brauchten andere Menschen um sich herum – ein Rudel.
Mac war mehr als zufrieden damit, die einzige Katze im Haus zu sein. Er brauchte bloß sein Futter, sein Wasser, sein Katzenklo, sein Spielzeug und seinen Menschen. Aber Jamie tickte in dieser Hinsicht anders.
Dabei musste sie bloß rausgehen und sich einen anderen Menschen suchen. Es liefen doch überall welche herum, von denen sie sich einfach einen aussuchen konnte. Aber manchmal war Jamie anscheinend blind. Genauso, wie sie nicht verstand, dass man eine Zunge hatte, um sich zu waschen. Es war überhaupt nicht nötig, sich einem Strahl Wasser auszusetzen.
Macs Schnurren wurde leiser. Jetzt, wo er den Geruch wahrgenommen hatte, störte er ihn von Sekunde zu Sekunde mehr. Er richtete sich auf und verließ seinen bequemen Schlafplatz. Zeit, etwas zu unternehmen!
Er rieb seinen Kopf einige Male an Jamies Haaren, damit jeder sofort wusste, dass sie ihm gehörte, sprang aus dem Bett und tappte durch das Wohnzimmer auf die Veranda an der Vorderseite des Hauses. Dort hatte er vorhin einen kleinen Spalt im Insektenschutzgitter entdeckt.
Er starrte in die Dunkelheit hinaus. Es musste an diesem unbekannten Ort doch jemanden geben, der zu Jamie passte, so wie Jamie zu Mac passte. Aber sie würde diesen Jemand wohl nicht alleine finden.
Das roch nach einem Fall für MacGyver!
Mac zwängte sich durch den Spalt und hielt inne. Er war zum ersten Mal draußen in der großen weiten Welt – zumindest ohne ein Autofenster oder Gitter dazwischen. Natürlich lauerten hier überall Gefahren, aber darüber machte er sich keine Sorgen. Er war sicher, dass er in jeder Situation klarkommen würde.
Die Ohren gespitzt, den Schwanz in die Höhe gestreckt, schlich er in die Nacht hinaus und erschnupperte die verschiedensten Gerüche – würzige Tomatensoße, Schokoguss, Thunfisch und noch ein Dutzend weitere Köstlichkeiten; der Duft der violetten Blumen, die entlang seines Hauses wuchsen; ein süßlicher, ranziger Dunst, der von den Mülleimern herüberwehte; ein anregender Hauch Mäusedreck – und der überwältigende Gestank nach Hundepisse!
Mac fauchte angewidert.
Offensichtlich gab es in der Nachbarschaft einen Köter, der einfach alles anpinkelte. Dieser Dummkopf dachte wohl, dass ihm dieser Ort automatisch gehörte, wenn er alles markierte. Falsch gedacht!
MacGyver trabte zu einem Baum, den der Hund erst vor Kurzem bewässert hatte, und schärfte ausgiebig seine Krallen daran. Als er fertig war, war sein Geruch sehr viel stärker als der des Köters. Zufrieden öffnete er das Maul und atmete noch einmal tief ein. Er konnte die verschiedenen Düfte beinahe schmecken!
Jamie war nicht der einzige Mensch in der Umgebung, der den scharfen Geruch der Einsamkeit verströmte. Mac beschloss, seinem Instinkt zu folgen, und entschied sich für die stärkste Fährte. Er legte zwar ab und zu eine kurze Pause ein, um den ekelerregenden Gestank des Hundes zu übertünchen, doch schon bald war er an seinem Ziel angekommen. Es war ein kleines Haus mit einem runden Dach.
Mal abgesehen von dem Geruch nach Einsamkeit, gefielen ihm die anderen Düfte, die er rund um das Haus wahrnahm – Speck, Butter, ein wenig Schweiß, frisch gemähtes Gras – und keine Spur von dem scharfen Zeug, das Jamie so gerne in der Küche versprühte und das sein leckeres Futter verdarb.
Hm … – wie sollte er Jamie bloß klarmachen, dass hier ein geeigneter Gefährte lebte? Mac dachte einen Augenblick lang nach. Dann beschloss er, ihr einfach irgendetwas aus dem Haus mitzubringen. Jamies Nase war zwar nicht annähernd so fein wie seine, aber er war sich sicher, dass sie, wenn sie erst mal an dieser Explosion von Gerüchen geschnuppert hatte, sofort wissen würde, was zu tun war.
Es gab hier zwar keine Veranda wie bei seinem neuen Zuhause, doch das kümmerte ihn nicht. Mac kräuselte die Oberlippe, während er seinen Rundgang fortsetzte. Es war offensichtlich, dass der Köter ebenfalls hier gewesen war. Er schaffte es, den Gestank zu ignorieren, indem er sich in Erinnerung rief, dass er sich auf einer wichtigen Mission befand. Sein Blick wanderte suchend umher, und endlich entdeckte er es: ein kleines, rundes Fenster im ersten Stock, das einen Spaltbreit offen stand.
Da hochzukommen? – Kein Problem! Der große Baum neben dem Haus war als Leiter wie für Mac geschaffen. Er kletterte eilig hinauf, stupste das Fenster mit dem Kopf weiter auf und sprang hinein.
Er landete auf etwas, das perfekt war, um es Jamie mitzubringen. Mit anregenden Düften gesättigt, verströmte es unter anderem den Geruch nach Einsamkeit. Jamie würde sofort wissen, dass es von einem Menschen stammte, der wie sie auf der Suche nach einem Gefährten war.
Mac schnappte sich das Stoffbündel und genoss den Geschmack, der mit den Düften einherging. Dann sprang er triumphierend auf das Fensterbrett und verschwand mit flatternder Beute in der Nacht.
Am nächsten Morgen wurde Jamie von einem schrillen, fordernden Miauen geweckt.
»Ich komme ja schon, Mac«, murmelte sie, kletterte verschlafen aus dem Bett, machte zwei Schritte und knallte gegen die Schranktür. Gut. Jetzt war sie zumindest halb wach.
Okay. Alles klar. Sie befand sich in ihrem neuen Haus, und der Schrank war auf der anderen Seite des Bettes.
Miiiauuu!!!
»Ich! Komme! Ja! Schon!«, rief Jamie und machte sich auf den Weg in die Küche. Mac stieß ein weiteres Ich-will-mein-Futter-Heulen aus. Offensichtlich hatte er ihr Verhalten genauestens studiert und war auf das Geräusch in seinem Repertoire gestoßen, das ihre Ohren am effektivsten malträtierte. Das nutzte er jetzt, um sein Futter einzufordern.
»Wie oft soll ich es dir noch sagen: Wenn du endlich mal lernen würdest, wie man die Kaffeemaschine bedient, könnten wir beide sehr viel entspannter in den Tag starten«, erinnerte sie ihn. Sie dachte nicht einmal daran, sich einen Kaffee zu kochen, bevor sie Seine Majestät bedient hatte. Dafür hatte MacGyver Jamie viel zu gut erzogen.
Zwar lechzte sie nach Koffein, musste aber jetzt doch unwillkürlich grinsen, als Mac ihr um die Beine strich. Ihr Kater war brillant, aber es gab ein paar Dinge, die er einfach nicht kapierte. Wie zum Beispiel, dass er sehr viel schneller an sein Futter käme, wenn er ihr nicht ständig vor die Füße laufen würde.
»Hier, bitte sehr.« Sie schaffte es mit Müh und Not, dass nichts von dem Futter auf seinem Kopf landete. Er schnupperte skeptisch und nahm einen kleinen Bissen. Und dann gleich noch einen. Anscheinend war Alli-Cat immer noch seine bevorzugte Sorte. Verrückt, dass sie ihrem Kater tatsächlich Alligatorenfleisch fütterte, aber der Tierarzt hatte gemeint, Fleisch von Wildtieren sei gesund. Und es schmeckte ihm – zumindest vorläufig. Sie stellte sich grinsend vor, wie sich der etwa dreieinhalb Kilo schwere Kater um die stämmigen Beine seines Frühstück-Alligators wand, bis dieser schließlich zu Boden ging und er sich über ihn hermachen konnte.
Jamie machte einen Schritt auf die Kaffeemaschine zu, die zu den wenigen überlebenswichtigen Dingen gehörte, die sie bereits am Vorabend ausgepackt hatte. Dann sank sie jedoch erst mal vollkommen überwältigt auf einen der Küchenstühle.
Sie hatte gerade ihr ganzes Leben zum Fenster hinausgeworfen. Sie hatte ihren Job gekündigt und war so weit von zu Hause fortgezogen, wie es innerhalb der USA nur möglich war. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Sie schlang die Arme um ihre Knie. Mit vierunddreißig Jahren sollte man sesshaft sein und keinen Neuanfang starten. Zumindest, wenn es nach ihren Freunden ging, die mittlerweile alle – und zwar wirklich alle – verheiratet waren und zum Großteil auch schon Kinder hatten. Samantha war sogar schon Mutter eines Teenagers.
»Hör auf damit! So beginnt man doch kein neues Leben!«, ermahnte Jamie sich selbst. Aber wie denn dann? Sie dachte einen Augenblick lang nach.
Zuerst einmal musste sie aufstehen. Sie stemmte sich hoch. Und jetzt?
Aber dann wusste sie es auch schon: Sie würde einen Spaziergang machen! Und das bedeutete, dass sie sich anziehen musste.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, eilte sie ins Wohnzimmer, öffnete ihren Koffer und holte ihre Lieblingsjeans und ein aufgepimptes Shirt heraus, das sie im Internet entdeckt hatte. Sie liebte das Shirt, hatte es aber erst einmal getragen. Es hatte einfach nicht nach Avella, ihrem winzigen Heimatort in Pennsylvania, gepasst. Und es war ja auch wirklich ein wenig verrückt: korallenrot mit schwarzen Rosen und einem Saum aus willkürlich kombinierten, farbenfrohen Stoffstreifen, auf dem da und dort grüne Blätter aufgenäht waren.
Jamie fand, dass das Oberteil perfekt nach L.A. passte. Und was spielte es schon für eine Rolle, wenn sie sich irrte? Sie hatte 2018 zu »Jamies Jahr« ausgerufen. Zwar nur im Stillen und ganz für sich, aber immerhin. Sie hatte mittlerweile »das Jahr des selbstverliebten Mannes«, »das Jahr des Mannes, der vergessen hat zu erwähnen, dass er verheiratet ist«, »das Jahr der Klette« und »das Jahr des beziehungsunfähigen Mannes« hinter sich. Doch am schlimmsten war »das Jahr der kranken Mutter« gewesen.
»Jamies Jahr« würde keinerlei Männer egal welcher Art beinhalten. Stattdessen würde sie Klamotten tragen, die sie toll fand, auch wenn niemand sonst ihrer Meinung war. Und sie würde ihren Traum verwirklichen – sobald sie herausgefunden hatte, wovon sie träumte. Sie wusste lediglich mit Sicherheit, dass sie nicht mehr an einer Highschool Geschichte unterrichten wollte.
Sie würde »Jamies Jahr« an einem Ort verbringen, wo sie niemanden kannte und wo an jeder Ecke ein neues Abenteuer wartete. »Jamies Jahr« würde ihr Leben verändern! Sie schüttelte den Kopf. Gleich würde sie noch lauthals zu singen anfangen, so wie Maria in The Sound of Music beim Verlassen des Klosters.
Sie nahm ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zur Haustür. Doch dann hielt sie inne. Vielleicht sollte sie sich vorher noch die Haare bürsten und die Zähne putzen?
Sobald beides erledigt war, trat Jamie vor die Haustür. Ihr Blick fiel auf einen Gegenstand, der zusammengeknüllt auf der Fußmatte lag. Sie hob ihn hoch. Ein einfaches weißes Frotteehandtuch. Das hatte am Vortag bestimmt noch nicht hier gelegen, und ihres war es auch nicht. Sie besaß nichts, was schlicht und weiß war.
Sie öffnete die Verandatür, um das Handtuch hinauszuwerfen, da tauchte Mac plötzlich hinter ihr auf und schlüpfte ins Freie. Warum musste sich dieser verdammte Kater auch nur immer so leise anschleichen?
Jamie stürzte hinter ihm her. Mac war noch nie im Freien gewesen! Ihr fielen auf Anhieb Dutzende schreckliche Dinge ein, die ihm zustoßen könnten.
»MacGyver!«, schrie sie – doch er trabte einfach weiter. Das war ja klar! Sie versuchte es noch einmal, obwohl sie wusste, dass es sinnlos sein würde. »MacGyver!«
»Das nenne ich mal Autorität!«, schnaubte jemand hinter ihr. Sie wandte sich um und entdeckte Al Defrancisco, der gerade das Unkraut aus dem kleinen Blumenbeet neben seiner Eingangstreppe entfernte. Sie hatte ihn und seine Frau Marie bereits am Vortag kennengelernt. Sie lebten ebenfalls in einem der dreiundzwanzig Bungalows im Storybook Court.
Bungalow, das klang so glamourös und nach dem Hollywood vergangener Zeiten … Und Storybook Court – dieser Name war eine Anspielung auf den Architekturstil aus den 1920er-Jahren. Die Häuser hier sahen wie aus einem Märchen aus. Aufgrund seiner Architektur stand der Storybook Court unter Denkmalschutz, und das war wohl der einzige Grund, warum er noch nicht abgerissen und durch ein Hochhaus ersetzt worden war. Jamie hatte Glück gehabt, eines der begehrten Häuschen zu ergattern.
»Er kommt eigentlich, wenn man ihn ruft … zumindest manchmal. Wenn ich eine Dose Futter in der Hand habe. Oder wenn ich gerade ein Thunfischsandwich esse«, stammelte Jamie. Mac war nicht allzu weit gekommen – noch nicht. Der braun getigerte Kater benutzte gerade eine der Palmen in der Nähe des Springbrunnens vor ihrem Haus als Kratzbaum.
Vor ihrem Haus wuchsen tatsächlich Palmen! Wie cool war das denn? Es erschien wie ein Traum, doch das Ganze war real! Dank des Geldes, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, konnte sie ein ganzes Jahr lang hierbleiben. Sie musste sich nicht einmal einen Job suchen. Nicht für dieses eine Jahr, zu dem man nur einmal im Leben die Gelegenheit bekam.
Sie hatte allerdings nicht vor, auf der faulen Haut zu liegen. Zwar wusste sie im Moment lediglich, dass sie nicht mehr unterrichten wollte, aber sie würde schon bald herausfinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte – und dann würde sie sich diesen Traum erfüllen!
»Al, ich habe dir doch gesagt, dass du einen Hut aufsetzen sollst.« Marie trat aus dem Haus nebenan und warf ihrem Mann einen Strohhut zu. Sie war klein und zart, und Al und sie waren vermutlich bereits über achtzig, doch ihre Stimme war immer noch laut und herrisch.
Al setzte den Hut auf. »Das nenne ich Autorität«, murmelte er und deutete mit dem Kopf in Maries Richtung.
»Was haben Sie denn vor?«, fragte Marie Jamie.
»Sobald ich meine Katze eingefangen habe, hole ich mir einen Kaffee aus dem Coffee Bean & Tea Leaf, das sieht recht nett aus«, erwiderte Jamie.
Marie stieß ein missbilligendes Schnauben aus und kehrte ins Haus zurück. Jamie war es aus Avella gewohnt, dass die Nachbarn über alles Bescheid wussten. Das Städtchen hatte nicht einmal tausend Einwohner. Sie war sich zwar sicher gewesen, dass es in L.A. anders werden würde – aber offensichtlich hatte sie sich geirrt.
Jamie warf einen schnellen Blick auf Mac und versuchte so zu tun, als würde sie ihm nicht nachspionieren. Sie kannte ihren Kater und wusste, dass er am ehesten wiederkommen würde, wenn sie ihn ignorierte. Mac hatte es sich neben der Palme in der Sonne gemütlich gemacht.
»Ich kann ihn nicht draußen lassen. Er ist eine Hauskatze. Er hat überhaupt keine Ahnung von Autos«, erklärte sie Al. »Aber der Platz mit dem Springbrunnen scheint ihm zu gefallen. Vielleicht sollte ich eine Leine besorgen und ihn spazieren führen?«
Al grunzte bloß.
Jamie überlegte, ob sie eine Dose Katzenfutter holen sollte. Aber Mac hatte gerade erst gefressen. Vielleicht das Spielzeug mit der Feder …? Bevor sie sich entscheiden konnte, kehrte Marie zurück.
»Kaffee«, meinte sie und reichte Jamie eine Tasse über den Zaun. »Siebenundzwanzig Cent die Tasse. Und er ist vermutlich zehn Mal besser als im Café.«
»Danke. Das ist wirklich nett von Ihnen«, erwiderte Jamie und nippte an dem Kaffee. Er war perfekt.
»Bring den hier zu Helen.« Marie gab Al die zweite Tasse, und er schlurfte damit zum Nachbarbungalow.
»Helen, Kaffee!«, rief er und machte sich gar nicht erst die Mühe, die beiden Stufen zur Veranda hochzusteigen.
Kurz darauf erschien eine Frau, die etwa zehn Jahre jünger als Al und Marie war. Helen nahm den Kaffee entgegen, probierte einen Schluck und funkelte Marie wütend an.
»Du hast den Zucker vergessen. Schon wieder.«
»Du brauchst keinen Zucker«, erwiderte Marie bestimmt. »Davon wirst du bloß dick.« Helen sah Marie mit durchdringendem Blick an. »Nessie hat immer noch eine wunderbare Figur. Du könntest …«, begann Marie.
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass du nicht über sie …«, unterbrach Helen Marie, doch dann hielt sie inne. »Ich gebe jedenfalls Zucker in meinen Kaffee«, verkündete sie, bevor ihr Blick auf Jamie fiel. »Sie! Sie sind doch Jamie Snyder, nicht wahr? Ich war schon sehr gespannt auf Sie. Ich habe einen Patensohn in Ihrem Alter. Allerdings sind Sie nicht unbedingt sein Typ. Er mag exotische Frauen und nicht das blonde Mädchen von nebenan. Aber er ist auch Lehrer. Ich werde ihm Ihre Nummer geben.«
Das blonde Mädchen von nebenan? Sah sie tatsächlich so aus? Sie wusste zwar, dass sie nicht gerade exotisch war, aber »das blonde Mädchen von nebenan« klang so mustergültig und auch extrem langweilig. Okay, sie war mustergültig, aber nicht in extremem Ausmaß. Und sie …
»Ihre Nummer?«, drängte Helen.
»Nein. Ich meine, danke, aber ich will ihn nicht kennenlernen. Oder sonst irgendeinen Mann«, protestierte Jamie zu schnell und zu laut, um noch als höflich durchzugehen. »Ich meine, ich bin doch gerade erst angekommen. Ich will mich erst mal eingewöhnen.« Sie sah erneut zu Mac hinüber, der sich immer noch sonnte. »Woher wissen Sie eigentlich, dass ich Lehrerin bin – ich meine, war?«, fragte sie. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie Al und Marie am Vortag nichts davon erzählt hatte, und außer mit ihnen hatte sie noch mit keinem der Nachbarn gesprochen.
»Wenn es in Ihrer Bonitätsprüfung oder im Mietvertrag steht, dann wissen es die beiden auch«, erklärte Al und wandte sich wieder seinem Unkraut zu.
Jamie war sich sicher, dass es illegal war, wenn Vermieter derartige Informationen weitergaben, doch sie beschloss, nicht weiter darauf einzugehen.
»Helens Patensohn ist ohnehin nichts für Sie«, erklärte Marie. »Er wechselt nicht einmal eine Glühbirne in ihrem Haus, wenn es mal nötig ist. Ich musste Little Al – unseren Sohn – hinüberschicken. Er kommt jeden Sonntag zum Essen.« Sie deutete mit einem knochigen Finger auf Helen. »Außerdem ist dein Patensohn zu jung.«
»Aber er ist doch nur fünf Jahre jünger als sie«, entgegnete Helen.
»Mein Großneffe ist drei Jahre älter. Und der Mann sollte auch älter sein. Männer werden doch erst viel später erwachsen.« Marie wandte sich erneut an Jamie. »Er würde vermutlich gut zu Ihnen passen.«
Jamie wich instinktiv einen Schritt zurück. In diesem Moment erhob sich MacGyver und trottete auf sie zu, als hätte er gespürt, dass sie sich unwohl fühlte. Er gab sein »Heb-mich-hoch«-Miauen von sich, was sanfter und sehr viel angenehmer war als das Miauen, mit dem er sein Futter einforderte. Jamie nahm ihn dankbar in die Arme und zeichnete mit einem Finger das M auf seinem Kopf nach. Die braune Fellzeichnung war einer der Gründe, warum sie den Kater »MacGyver« genannt hatte.
»Hat dein Patensohn nicht eine Katzenallergie?«, rief Marie Helen triumphierend zu.
»Ich hole jetzt den Zucker«, murmelte Helen und verzog sich ins Haus.
»Lassen Sie die Tasse einfach auf der Veranda stehen, wenn Sie fertig sind«, meinte Marie zu Jamie und verschwand ebenfalls.
»Ich möchte wirklich mit niemandem verkuppelt werden«, erklärte Jamie Al.
Al stieß ein weiteres Grunzen aus. »Und Sie glauben, das interessiert eine der beiden?«
Nun, Jamie interessierte es auf jeden Fall. Sie würde sich in »Jamies Jahr« sicher nicht auf peinliche Verabredungen mit Großneffen, Patensöhnen oder sonstigen Männern einlassen.
»Du hast ihr von Clarissa erzählt, oder?«, fragte Adam, als sich David wieder an den Tisch setzte.
David antwortete nicht, sondern nahm lieber einen Schluck von dem säuerlichen IPA-Bier, das Brian, der Besitzer des Blue Palm, ihm empfohlen hatte. Normalerweise trank er am liebsten Corona, aber das war in einem Lokal wie diesem tabu.
»Du musst gar nicht antworten«, fuhr Adam fort. »Ich weiß auch so, dass du es getan hast. Ich habe es gesehen. Den exakten Augenblick, als du es getan hast. Du bist hinüber zur Bar, hast dir einen Platz neben ihr und ihrer Freundin gesichert und einen witzigen und vermutlich selbstironischen Kommentar abgelassen. Sie hat gelächelt. Es sah gut aus. Ihre Freundin ist auf die Toilette verschwunden – vermutlich, um euch ein paar Minuten alleine zu lassen. Sie hat die Hand auf deinen Arm gelegt. Sie hat die Hand auf deinen Arm gelegt, Mann! Und ich dachte mir: Hey, das ging ja sehr viel einfacher als erwartet! Doch dann begann sie, deinen Arm zu tätscheln. Mitfühlend. Und ich wusste – ich wusste –, dass du genau in diesem Moment die tote Ehefrau ins Spiel gebracht hast.«
David spürte, wie sich seine Schultern verkrampften, doch er zwang sich zu lächeln und seinem Freund zuzuprosten. »Du hast es erfasst.«
»Entschuldige. Das war jetzt zu hart, oder?« Adam schob sich einen Snack in den Mund. »Aber du kannst doch nicht jeder Frau schon nach fünf Minuten von Clarissa erzählen«, fuhr er mit vollem Mund fort. »Nicht, wenn du willst, dass sich etwas daraus entwickelt.«
»Aber ich weiß ja nicht einmal, ob ich das überhaupt will. Das habe ich dir doch schon so oft gesagt.« Er klang wütender als beabsichtigt, aber er hatte Adam bereits unzählige Male erklärt, dass er sich nicht sicher war, ob er schon wieder mit jemandem ausgehen wollte. Auch wenn Clarissas Tod mittlerweile drei Jahre her war.
»Also, ich bin dein Freund. Ich kannte dich schon, als du noch grün hinter den Ohren warst. Und ich sage dir: Tief in dir drin willst du es!«
Adam wollte sich einen weiteren Snack nehmen, doch David schlug seine Hand fort. »Meiner!«, erklärte er.
Sein Freund versuchte es von der anderen Seite, schnappte sich den Snack und sprach weiter: »Und wenn du es jetzt nicht tust, dann wird es immer seltsamer und schwerer, und am Ende wirst du es nicht mehr auf die Reihe bekommen, selbst wenn du dann hundertprozentig willst, und dann endest du als trauriger, einsamer alter Mann.«
»Ich ende als trauriger, einsamer alter Mann? Das klingt, wie ein Dialog aus dem Drehbuch für deine Serie«, erklärte David.
»Ich meine es ernst«, erwiderte Adam. »Es ist lange genug her. Lucy meint, du solltest es auf Counterpart.com versuchen.«
»Darüber redet ihr beide also, wenn die Kinder endlich schlafen? Kein Wunder, dass ihr nie Sex habt«, entgegnete David.
»Online-Dating ist sinnvoll! Da kann man es langsam angehen. Einander kennenlernen, bevor man sich trifft. Und du kannst dir vorher überlegen, welchen Eindruck du vermitteln willst. Ich verlange ja nicht, dass du Clarissa verschweigen sollst. Du sollst nur nicht in den ersten fünf Minuten über sie reden. Willst du noch mehr davon?« Adam deutete auf den leeren Teller.
»Mehr?«, protestierte David. »Du meinst wohl, ob ich ausnahmsweise auch mal etwas davon probieren möchte?«
»Ich besorge uns mehr.« Adam gab der Kellnerin ein Zeichen, deutete auf den Teller, warf ihr einen flehenden Blick zu und schlug sich auch noch die Hände vor die Brust. Sie lachte und nickte. »Und dazu noch ein paar Drinks. Und bevor wir hier abhauen, melden wir dich bei Counterpart an. Ich bin Schriftsteller. Ich finde sicher einen Weg, dass sogar du anziehend wirkst.« Er musterte David. »Die Leute sagen dauernd, dass du wie Ben Affleck aussiehst, aber das ist nicht die Assoziation, die wir haben wollen. Immerhin hat er seine Frau betrogen und ist angeblich auch noch spielsüchtig. Und nachdem es ja so klingen soll, als hättest du den Text selbst geschrieben, wirkt es vielleicht sowieso zu eingebildet, wenn du dich mit einem Star vergleichst. Also bleiben wir bei den Basics: dreiunddreißig, braune Haare, braune Augen, einen Meter fünfundachtzig und – wie viel? – etwa achtzig Kilo?«
David nickte. Sein Freund hatte gerade einen Lauf. Im Moment konnte ihn nichts und niemand aufhalten.
»Wir müssen unbedingt anmerken, dass du Bäcker bist. Darauf stehen die Frauen. Sie bekommen nicht nur dich, sondern auch noch eine Ladung warmer Karamell-Cupcakes. Vielleicht solltest du auf deinem Profilbild Teig kneten. So wie bei der Szene in Ghost, bloß, dass es Teig wäre und kein Ton.«
»Ich frage dich jetzt nicht, warum du Ghost gesehen hast …« Natürlich kannte David den Film ebenfalls. Clarissa hatte ihn sich mit zwölf Jahren zum ersten Mal angesehen, und er hatte einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen. Jedes Mal, wenn er im Fernsehen lief, war sie wie hypnotisiert und blieb bis zum Ende dabei.
Die Kellnerin brachte einen weiteren Teller mit Snacks an den Tisch und nahm auch gleich die Bierbestellung entgegen. »Okay, was sonst noch? Was sonst noch?«, murmelte Adam. »Hol schon mal das Handy raus und richte einen Account ein, während ich nachdenke.«
David zog sein Handy aus der Tasche, denn Adam war nun mal Adam, und man konnte ihn ohnehin nicht von seinem Vorhaben abbringen. Doch dann starrte er nur mit leerem Blick auf das Display.
»Wir schreiben auf jeden Fall, dass du einen Hund hast. Das zeigt, dass du dich um andere Lebewesen kümmern kannst, ohne dass sie eingehen.« Adam kritzelte ein paar Notizen auf eine Serviette.
»Was glaubst du eigentlich, wie verzweifelt diese Frauen sind?«, fragte David.
Adam ignorierte ihn. »Dafür lassen wir deine Leidenschaft für Stummfilme am Anfang lieber mal beiseite, denn das würde deinen Radius zu sehr einschränken. Aber dir gefallen lange Spaziergänge am Strand, oder?«
David versuchte, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal am Strand gewesen war. Mit Clarissa vermutlich. Das Meer lag zwar – je nach Verkehr – weniger als eine Stunde entfernt, doch das interessierte ihn eigentlich nicht mehr.
»Du kannst doch nicht schreiben, dass ich auf lange Strandspaziergänge stehe! Das ist das größte Klischee überhaupt. Ich würde keine Frau wollen, die einen Mann will, der auf so etwas abfährt.«
Adam grinste. »Ich wollte bloß sichergehen, dass du mir auch zuhörst. Langsam gefällt dir die Sache. Gib es zu.«
War es so? Ja, vielleicht war es so. Ein bisschen zumindest. Womöglich hatte Adam recht, und er musste es einfach mal versuchen, auch wenn er es im Grunde gar nicht wollte. Und es sollte vermutlich ein ernsthafterer Versuch werden als bei der Frau an der Bar, die ohnehin Adam für ihn ausgesucht hatte. »Könnten wir vielleicht schreiben, dass ich als Freiwilliger Häuser für Menschen in Not baue?«, schlug David vor.
»Ja, das gefällt mir. Du bist ein Mann mit Herz, der auch noch anpacken kann, falls es im Haushalt etwas zu reparieren gibt.« Adam kritzelte weiter. »Wir sollten aber auch eingrenzen, nach welcher Art Frau du suchst.«
Wonach suchte er denn? Er suchte nach einer Frau, die immer bereit für etwas Neues war. Nach einer Frau, die uneingeschränkt daran glaubte, dass es dort draußen noch Unglaubliches zu entdecken gab. Nach einer Frau, die …
Ihm wurde klar, dass er in Wahrheit nach Clarissa suchte.
David hatte das Gefühl, als wäre ihm einer der Snacks im Hals stecken geblieben. Er konnte nicht glauben, dass das gerade passierte. Er versuchte mit aller Kraft, die Trauer zu verdrängen, die ihn nun mit voller Wucht überrollte. Es war, als sei Clarissa erst gestern gestorben.
»Hör zu, du hast natürlich recht. Es wäre sicher sinnvoll, jemand Neues kennenzulernen. Aber ich bin noch nicht so weit«, erklärte er Adam. David war zwar der Meinung, dass seine Stimme ziemlich emotionslos klang, doch anscheinend hatte Adam ihm seine Gefühle trotzdem angesehen. Sein Freund knüllte die Serviette zusammen und stopfte sie in die Hosentasche.
»Das muss ja nicht so bleiben.« David fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Vielleicht passt es ja nächstes Jahr.«
Okay, heute war also der zweite Tag von »Jamies Jahr«. Der Tag, an dem sie eingezogen war, zählte nicht, denn da war sie erst ziemlich spät angekommen. Würde er zählen, wäre heute bereits der dritte Tag – und das bedeutete, dass sie langsam in die Gänge kommen musste. Am zweiten Tag war es allerdings durchaus in Ordnung, dass sie noch keine Ahnung hatte, wie es weitergehen würde.
Jamie schnappte sich ihre Tasche. Sie wirkte zwar irgendwie altmodisch und großmütterlich, aber auf eine gute Art: mit Blumenstickerei, Weidengriff und genug Platz für das Notizbuch, in dem Jamie ihre Pläne notierte – oder besser gesagt: notieren wollte. Sie liebte ihren Laptop, aber wenn es um lebensverändernde Listen ging, bevorzugte sie Papier und Bleistift.
»Ich bin mal kurz raus, Mac. Aber verrate Marie nicht, dass ich ins Coffee Bean gehe.« Sie kraulte den kleinen Kater unterm Kinn. »Ich habe dir auch eine Überraschung dagelassen.« Jamie versteckte immer eine Kleinigkeit, wenn sie gehen musste, damit Mac nicht langweilig wurde.
Sie schaffte es aus der Tür, ohne dass Mac darauf zustürzte. Und dann schaffte sie es auch noch um die Ecke, ohne dass Marie sie fragte, wo sie hinwollte. Heute war ihr Glückstag! Sie beschloss, noch ein Weilchen durch den Storybook Court zu spazieren und sich die anderen Häuser anzusehen.
Das erste Haus entlang des Bürgersteigs sah aus wie das Haus einer Disney-Hexe: ein spitzes Dach, dazu passende Fenster und ein Türklopfer in Form einer großen schwarzen Spinne mit riesigen roten Glasaugen. Eine Frau trat aus dem Haus und hängte eine lange Zuckerstange auf eines der Spinnenbeine. Sie trug ein kurzes grünes Elfenkleid, und auch ihre schwarzen Haare erinnerten an eine Elfe. Sie waren kurz geschnitten, doch die Stirnfransen reichten bis zu den Augenbrauen. Als die Frau Jamie sah, winkte sie ihr zu und rief: »Ich liebe Weihnachten, Sie nicht auch?«
»Ähm, ja, schon«, erwiderte Jamie, auch wenn es eine seltsame Frage für Mitte September war.
»Ich beginne gerade mit dem Dekorieren.« Die Frau hängte eine weitere Zuckerstange an ein kleines Zitronenbäumchen auf ihrer Veranda.
Jamie fragte sich, wie alt sie wohl war. Schwer zu sagen.
»Ich habe auch schon mit dem Backen begonnen«, fuhr die Frau fort. »Wollen Sie reinkommen und einen Lebkuchenmann probieren?«
Jamie überlegte, ob sie womöglich in einen Kaninchenbau gefallen war. Sie hatte das Gefühl, in einer vollkommen anderen Welt gelandet zu sein.
»Keine Angst«, lächelte die Frau, die offensichtlich Jamies Unsicherheit spürte. »Ich weiß, dass es erst September ist. Aber ich finde Weihnachten so herrlich, dass ich es nicht nur ein oder zwei Monate lang feiern möchte. Ach, ich bin übrigens Ruby Shaffer. Wollen wir ›Du‹ sagen? Ich hab ganz vergessen, mich vorzustellen. Also, Lebkuchen? Er ist echt lecker!«
»Klar, gerne.« Jamie trat zu Ruby auf die Veranda und stellte sich ebenfalls vor. »Ich bin gerade erst eingezogen. Mein Haus ist gleich um die Ecke.«
»Das Haus neben Al und Marie«, vermutete Ruby, und Jamie nickte.
Aus der Nähe sah sie nun auch die grauen Strähnen in Rubys schwarzen Haaren und nahm an, dass sie knapp über fünfzig war.
»Sind die beiden nicht furchtbar lustig? Ich liebe sie«, fuhr Ruby fort. »Marie tut immer so, als wäre sie eine harte Nuss, aber in Wirklichkeit sorgt sie sich um alle, die ihren Weg kreuzen.«
Jamie trat ins Haus und wurde im nächsten Moment von einer Explosion aus Rot, Grün, Silber und Gold empfangen.
»Wie gesagt, ich habe gerade mit dem Dekorieren begonnen, daher das Chaos«, erklärte Ruby und führte sie den schmalen Weg zwischen aufgetürmten Lichterketten, Weihnachtsschmuck, Kränzen und einigen Dutzend ausgestopften Tieren in Weihnachtskostümen entlang.
»Begonnen?«, murmelte Jamie.
»Ich bin kein Messi oder so. Vom 15. Januar bis zum 15. September befindet sich der ganze Weihnachtsschmuck in einem Lagerraum«, erklärte Ruby. »Setz dich doch.« Sie deutete auf einen der Stühle am Küchentisch. Das einzig Weihnachtliche in diesem Zimmer war das Backblech, auf dem die rot und grün glasierten Lebkuchenmänner lagen. Ruby nahm es von der Arbeitsplatte und stellte es vor Jamie auf den Tisch.
»Eigentlich mag ich Lebkuchenmänner nicht besonders«, gestand Jamie. »Ich fühle mich dann immer wie ein Kannibale.«
»Beginne einfach mit dem Kopf, dann starrt er dich wenigstens nicht mehr an«, riet Ruby, nahm einen Lebkuchenmann und köpfte ihn mit einem einzigen Bissen. Jamie lachte und biss ebenfalls zu. Sie mochte diese seltsame Frau. Immerhin war Jamie auch ein wenig verrückt – sie versteckte es nur besser. Vor allem im Klassenzimmer.
»Also, bist du bereit für eine Frage?«, wollte Ruby wissen. »Es gibt da nämlich etwas, das ich alle Menschen frage, die mich interessieren. Es ist der einfachste Weg, sie besser kennenzulernen.«
»O-kay …«, antwortete Jamie. Was sollte sie auch sonst sagen?
»Wenn es einen Film über dein Leben geben würde – wie wäre dann der Filmtitel?«
»Das ist schwer zu sagen, weil ich das Ende noch nicht kenne«, erwiderte Jamie. »Ich weiß nicht, ob mein Film inspirierend, beängstigend oder witzig ist.«
»Das ist ein gutes Argument«, erklärte Ruby. »Tatsächlich habe ich diese Antwort noch nie bekommen.«
»Der Arbeitstitel wäre im Moment wohl ›Jamies Jahr‹«, platzte Jamie heraus. Ruby hatte etwas an sich, das ihr das Gefühl gab, offen sprechen zu können, ohne verurteilt zu werden.
»Warum das?« Ruby biss ihrem Lebkuchenmann ein Bein ab.
»Ich habe einfach eine sehr lange Zeit hinter mir, in der meine Entscheidungen von den Menschen beeinflusst wurden, mit denen ich zusammen war. Hauptsächlich von Männern natürlich. Doch dann wurde meine Mom krank, und ich traf sämtliche Entscheidungen mit Rücksicht auf sie, aber jetzt …« Jamie atmete zitternd ein.
»Aber jetzt beginnt ›Jamies Jahr‹«, half Ruby aus. »Sehr schön! Mein Film würde ›Meine unglaublichen, unwahren Abenteuer‹ heißen. Ich arbeite als Bühnenbildnerin und erschaffe künstliche Welten. Meine Fantasie ist dabei mein bester Freund, und mir wird einfach nie langweilig. In meinem Kopf erlebe ich ganz viele Abenteuer – und ein paar auch im echten Leben.«
»Dann würdest du also sagen, dass dein Beruf deine Leidenschaft ist?«, fragte Jamie.
»Ja, eine davon. Absolut«, erwiderte Ruby, ohne zu zögern. »Ich liebe es zu überlegen, was zum Beispiel eine bestimmte Filmfigur in ihrer obersten Nachttischschublade haben könnte. Und ich arbeite gerne als Teil eines Teams. Na ja, meistens jedenfalls. Es ist unglaublich toll, wenn alle – der Regisseur, die Schauspieler, die Kostümbilder und alle anderen – zusammenarbeiten, um etwas Unglaubliches zu erschaffen.«
Genau das will ich!, dachte Jamie. So soll es klingen, wenn ich jemandem von meinem Job erzähle!
»Was ist mit dir? Womit verdienst du deine Brötchen?« Ruby aß das zweite Bein ihres Lebkuchenmannes. »Gibt es eigentlich ein Wort für die Entfernung eines Beines? Entbeinung?« Sie schüttelte den Kopf. »Egal. Ich will mehr über dich erfahren!«
»Ich habe Geschichte unterrichtet. An der Highschool. Das habe ich geliebt. Die Kinder waren auch toll. Aber ich habe die Disziplin gehasst, die in der Schule notwendig ist, und die Tatsache, dass ich meinen Schülern bloß den Stoff beibringen sollte, den sie für ein paar standardisierte Tests beherrschen mussten. Und dann auch noch die Eltern! Die meisten waren unerträglich. Gib dem Kind eine Eins, und sie wollen wissen, warum es keine Eins plus bekommen hat. Und ein Kind, das eine Drei verdient hätte? Vergiss es! Eltern sind mittlerweile echt irre«, erklärte Jamie. »Ähm, hast du Kinder?«, fügte sie etwas verspätet hinzu.
»Nein. Ich habe vergessen, meinen Ex-Mann vor der Hochzeit zu fragen, ob er welche will. Ich ging einfach davon aus. Schön blöd! Als ich herausfand, dass er keine Kinder wollte, und wir uns schließlich trennten, war es zu spät für mich. Aber nicht für ihn. Sein älteres Kind ist mittlerweile sechs, sein jüngeres trägt noch Windeln.
Männer haben doch so viele Vorteile, müssen sie auch noch über einen unbegrenzten Vorrat an frischen Samenzellen verfügen?«
Ruby hatte all das in einem einzigen Atemzug gesagt, und nun holte sie tief Luft.
Sie spielt fair, dachte Jamie. Sie fragt nicht nur, sondern erzählt auch.
»Also, wenn du nicht mehr Geschichte unterrichtest, was machst du dann?«, fragte Ruby.
»›Jamies Jahr‹ wird von meinem Erbe finanziert«, erklärte Jamie. »Ich möchte herausfinden, was ich machen will.« Sie zog das Notizbuch aus ihrer Tasche. »Ich wollte gerade mal eine Runde brainstormen.«
Ruby erhob sich. »Na dann mal los! Ich will dir und deiner Inspiration nicht im Weg stehen. Wir können uns ein anderes Mal weiter unterhalten, es sei denn, du hältst mich bereits für die Verrückte vom Storybook Court.«
»Nein, bestimmt nicht. Das können wir gerne machen!«, erwiderte Jamie und steckte das Notizbuch wieder in ihre Tasche.
»Die ist ja toll!«, meinte Ruby mit einem Blick darauf.
Ja, Jamie mochte ihre seltsame neue Nachbarin auf jeden Fall!
Sie nahm sich vor, die restliche Nachbarschaft später zu erkunden – jetzt wollte sie sich endlich an die Arbeit machen. Sie verließ den Storybook Court, trat auf den Sunset Boulevard und hielt auch gleich wieder an, um ein Foto vom Gower Gulch Einkaufszentrum zu machen.
Das Einkaufszentrum war an sich nichts Besonderes. Abgesehen von dem alten Medizinwaggon in einer Ecke des Parkplatzes, hätte es sich mit seinen billigen Fast-Food-Restaurants und der Drogerie eigentlich überall befinden können. Doch Jamie hatte gelesen, dass es früher ein Treffpunkt der Cowboys gewesen war, die in die Stadt gekommen waren, um Arbeit in der Filmindustrie zu finden. Sie unterrichtete zwar nicht mehr, aber das bedeutete nicht, dass sie solche Dinge nicht mehr interessierten, und ihre neue Heimatstadt hatte einige tolle Anekdoten zu bieten. Am Vortag hatte sie sogar an einer Stadtführung teilgenommen; sie brauchte einfach einen Tag Ruhe, bevor sie entschied, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen wollte.
Sie spazierte einige Blocks weiter und blieb schließlich vor einer Palme stehen, um deren Stamm sich violette Blumen schlangen. Sie musste einfach ein Foto davon machen. Eigentlich war sie nicht so. Ihre Freunde fotografierten ja jede Mahlzeit und schossen eine Million Babyfotos. Doch Jamie waren solche Dinge bisher immer egal gewesen. Vielleicht, weil sie zu Hause jeden Tag dieselben Dinge gesehen hatte. Doch hier war plötzlich alles neu.
Gerade als sie das Foto schoss, bemerkte sie einen Schatten, der den Stamm hochhuschte. Eine Ratte. Igitt!
Aber eigentlich ergab das gar kein schlechtes Foto. Wunderschöne Blumen, eine schicke Palme und eine Ratte mit leuchtenden Augen. Ein netter Kontrast. Sie machte einige Fotos, sah sie durch, ob eines davon etwas taugte, und machte sich dann auf den Weg ins Coffee Bean.
Dort bestellte sie einen kalten Black-Forest-Kaffee. Wenn sie sich ernsthaft Gedanken über den Rest ihres Lebens machen wollte, würde sie vermutlich viel Koffein und noch mehr Zucker brauchen – und was den Zucker betraf, hatte der Lebkuchenmann sicher nicht gereicht. Sie suchte sich einen Tisch, holte ihr Notizbuch aus der Tasche, bereitete zwei ihrer violetten Lieblingsstifte vor und dann … saß sie einfach bloß da.
Zucker und Koffein!, rief sie sich in Erinnerung und nahm mehrere große Schlucke von ihrem Eiskaffee. Aua! Die Kälte zog schmerzhaft in ihren Kopf.
Sie rieb sich die Schläfen, um den Schmerz zu vertreiben. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die leere Seite in ihrem Notizbuch.
Sie schrieb »Jamies Jahr« in die oberste Zeile, strich es aber sofort wieder durch. Es hatte ganz gut geklungen und wäre auch ein toller Filmtitel gewesen, doch auf einem leeren Blatt Papier sah es einfach bescheuert aus. Sie überlegte kurz, dann schrieb sie: »Dinge, die ich mag.« So fand man heraus, wofür man brannte. Indem man Dinge aufschrieb, die man gerne tat und mit denen man hoffentlich irgendwann mal Geld verdienen konnte.
Sie unterstrich die Überschrift und starrte dann erneut auf die leere Seite. Schließlich schrieb sie, so schnell sie konnte:
Mit Mac und dem Laserpointer spielen
Alte Filme ansehen
Recycelte Möbel und Kleider
Zucker und Koffein
Den Duft des Regens auf heißem Asphalt
Die Art, wie sich die Laken auf meinen Beinen anfühlen, wenn sie frisch rasiert sind
Garagenflohmärkte
Alte Postkarten mit alten Nachrichten
Alte Puppen – egal, ob gruselig oder nicht
Geschichte – aber ohne sie zu unterrichten
Biografien
Wonder Woman
Wonder Woman? Woher kam das denn jetzt plötzlich? Mochte sie Wonder Woman überhaupt? Na ja, sie hatte jedenfalls ganz sicher nichts gegen Wonder Woman. Aber sie hätte nicht erwartet, Wonder Woman so weit oben auf ihrer Liste zu finden.
Vielleicht, weil sie auf ihrer Sightseeing-Tour am Vortag vor dem Grauman’s Chinese Theater eine Frau gesehen hatte, die sich als Wonder Woman verkleidet hatte? (Jamie wusste natürlich, dass das alte Kino nicht mehr Grauman’s hieß, aber die Hand- und Schuhabdrücke der Filmstars vor dem Eingang blieben einfach für immer mit diesem Namen verbunden.)
Verdiente diese Frau als Wonder Woman ihren Lebensunterhalt? War das ihre Leidenschaft? Vielleicht. Wenn man Wonder Woman von ganzem Herzen liebte und respektierte, war es vielleicht wirklich das Schönste, den ganzen Tag wie sie herumzulaufen. Außerdem machte die Frau andere Menschen glücklich. Jeder wollte ein Foto mit ihr und lächelte, wenn er sie sah. Jamie hatte zwar kein Foto mit ihr gemacht, aber sie hatte Fotos von den Menschen gemacht, die gerade Fotos mit Wonder Woman machten. Wonder Woman hatte ausgesehen, als würde sie jede Sekunde genießen.
Genau genommen hatte Jamie in den letzten beiden Tagen mehr Fotos gemacht als in den ganzen beiden letzten Jahren. Früher hatte sie an der Highschool als Fotografin für die Schülerzeitung gearbeitet und auf dem College zum Spaß einige Fotokurse besucht, aber dann hatte sie es irgendwie aufgegeben. Vermutlich hatten die vielen neuen Eindrücke ihre Leidenschaft jetzt wieder neu entfacht.
Sie fügte ihrer Liste drei weitere Punkte hinzu:
Fotos machen
Glücklichen Menschen zusehen
Menschen glücklich machen
Mehr fiel ihr im Moment einfach nicht ein. Aber es musste doch mehr als diese … sie zählte rasch die Punkte … fünfzehn Dinge geben, oder? Andererseits war fünfzehn zumindest ein Anfang. Sie ging die Liste noch einmal langsam durch und machte sich auf die Suche nach Gemeinsamkeiten, Verbindungen, einer Inspiration.
Offensichtlich mochte sie alte Dinge. Alte Filme, alte Puppen, alte Postkarten. Geschichte. Garagenverkäufe. Sogar Sachen, die aus anderen Gegenständen recycelt wurden, denn oft waren diese ebenfalls alt.
Als sie die Anzeige für das Haus im Storybook Court gesehen hatte, hatte sie sofort gewusst, dass sie dort unbedingt wohnen wollte, denn der gesamte Komplex schien aus einer anderen Zeit zu stammen. Schon damals, als die Häuser gebaut worden waren, hatten sie alles andere als modern gewirkt. Sie sahen aus, als wären sie aus einem Märchen in die echte Welt gebeamt worden. Wie zum Beispiel Rubys kleines Hexenhäuschen. Als und Maries Haus sah hingegen aus wie ein kleines Schloss mit Türmchen, und Helens Haus wirkte wie eine Mischung aus einem gemütlichen Tierbau und einer menschlichen Behausung.
Demnach hatte Jamies Leidenschaft sie also zu ihrem neuen Zuhause geführt, auch wenn es ihr gar nicht bewusst gewesen war. Vielleicht führte sie sie ja auch jetzt zu einer neuen Karriere …
Manche Menschen verdienten gutes Geld damit, alte Gegenstände auf eBay zu verkaufen, aber das klang für Jamie nicht sehr attraktiv. Sie wollte nicht bei jedem hübschen Fundstück sofort überlegen, wie viel es wert war.
Leider war sie auch handwerklich nicht begabt genug, um alte Kleidungsstücke aufzupeppen und so etwas wie ihr Lieblingsshirt zu nähen. Sie hatte es versucht, aber das Resultat war … eine Katastrophe gewesen.
Sie hatte tatsächlich mit Superkleber zwei ihrer Finger mit ihren Haare zusammengeklebt – und zu diesem Zeitpunkt war sie schon längst kein Kind mehr gewesen.
Jamie saß da und starrte vor sich hin, während sie überlegte. Der Kälteschmerz in ihrem Kopf schien wieder stärker werden, dabei hatte sie ihren Kaffee in der Zwischenzeit nicht mehr angerührt.
»Denk nach!«, murmelte sie in bester Frankenstein-Manier. Vielleicht konnte sie sich hier in Hollywood mit ihrer ziemlich passablen Frankensteinimitation ihren Lebensunterhalt verdienen?
Nein, wohl eher nicht.
Sie schlug das Notizbuch zu und steckte es in ihre Tasche. Noch so ein alter Gegenstand, den sie mochte. Sie würde das Brainstorming fortsetzen, sobald es ihrem Kopf wieder besser ging.
Als sie in die Sonne hinaustrat, beschloss sie, Mac eine Leine zu kaufen. Er sollte ebenfalls die neue Nachbarschaft erkunden, statt ständig nur im Haus eingesperrt zu sein.
Armer kleiner Kater.
Diogee begrüßte David mit der Leine im Maul und wedelte kräftig mit dem Schwanz. Oder besser gesagt, mit dem gesamten Hinterteil.
»Okay, Big D! Okay!« David nahm dem Hund die vollgesabberte Leine aus dem Maul und befestigte sie am Halsband. Im nächsten Moment drängte sich Diogee auch schon an ihm vorbei und schleifte ihn die Verandatreppe hinunter.
Natürlich war David der Alpharüde in ihrem kleinen Rudel und nicht Diogee, weshalb David eigentlich auch als Erster durch die Tür gehen sollte – allerdings hatte er irgendwann beschlossen, dass dieser endlose Kampf gegen einen übergroßen Hund in die Kategorie »Das Leben ist zu kurz für diesen Scheiß« fiel.
Ihr erster Halt war die Zeder neben dem Haus. Diogee bewässerte sie ausgiebig. Das bedeutete allerdings nicht, dass er nun fertig war. Sein Urin war ein wertvoller Rohstoff, und so verbrachte er den Rest des Spazierganges damit, ihn überall zu verspritzen und seine Nachrichten zu hinterlassen: »Das hier gehört mir«, »Das hier gehört mir«, »Und das dort drüben gehört mir übrigens auch.«
»Nicht an den Zaun!«, warnte David seinen Hund, während er das Gartentor öffnete. Er hatte den Zaun eigenhändig aufgestellt und dafür besonders knorrige Äste verwendet, die seiner Meinung nach perfekt zu seinem Hobbithaus passten.
»Nicht an den Zaun!«, wiederholte er. Er zog ein Stück gefriergetrocknete Leber aus seiner Tasche, um Diogee wegzulocken, bevor er den Zaun markieren konnte. Ja, er bestach seinen Hund regelmäßig …
Diogee galoppierte stattdessen auf den Ligusterstrauch neben dem Nachbarhaus zu und machte sich an die Arbeit, wobei wieder mal seine Spezialtechnik zum Einsatz kam: Er lehnte sich so weit wie möglich von seinem Ziel fort, sodass er das Bein weiter nach oben halten und dadurch höher spritzen konnte. Als Promenadenmischung war Diogee zwar etwa so groß wie ein Pony, aber er wollte scheinbar aller Welt zeigen, dass er ein riesiges, Furcht einflößendes Ungeheuer war.
»Exzellente Arbeit«, lobte David, bevor sie weiter den gepflasterten Bürgersteig entlanggingen.
»Hey Diogee!«, rief Zachary Acosta ihnen von der anderen Straßenseite aus zu.
Diogee wollte sich auf den Jungen stürzen, doch David hielt ihn zurück, bis er nachgesehen hatte, ob auch kein Auto kam. Dann ließ er sich von seinem Hund über die Straße zu Zachary schleifen. Diogee legte die Pfoten auf die Schultern des Jungen, und dieser boxte ihm in die Seite – was für die beiden einer freundschaftlichen Umarmung gleichkam.
Als Diogees Pfoten endlich wieder auf dem Bürgersteig gelandet waren, erhaschte David einen Blick in Zacharys Gesicht. Zwischen den Augen des Jungen prangte ein leuchtend roter Kreis.
David konnte den Blick nur mühevoll abwenden. Der Kreis war wahnsinnig rot und vollkommen symmetrisch. »Was geht ab?«, fragte David, der beschlossen hatte, Zachary nicht darauf anzusprechen.
»Schule halt. Nichts Besonderes«, antwortete dieser.
Manchmal konnte David kaum glauben, dass der Junge bereits vierzehn war. War es wirklich schon zehn Jahre her, seit sie zum ersten Mal zusammen durch die Nachbarschaft gejoggt waren?
David und Clarissa hatten damals erst eine Woche in Storybook Court gelebt, als David beschloss, nun regelmäßig joggen zu gehen. Er wollte die Kostproben abarbeiten, die er verdrücken musste, wenn er an einem neuen Rezept arbeitete. David hatte gerade die Straße überquert, als die Haustür der Familie Acosta aufgerissen wurde und Zachary herausstürzte. Er trug ein T-Shirt der Oakland Athletics, eine Sporthose und winzige Puma-Sneakers und sah damit wie eine jüngere Ausgabe von David aus. Die Sneakers hatten sogar die gleichen Farben – Rot und Weiß.
»Warte! Warte! Ich komme mit«, rief er.
Seine Mom, Megan, schloss zu Zachary auf, bevor er den Bürgersteig erreicht hatte, und hob ihn hoch. Der Junge versuchte strampelnd, sich aus ihrem Griff zu befreien. »Entschuldigen Sie, David! Er hat Sie neulich beim Laufen gesehen und redet seitdem von nichts anderem mehr. Ich dachte, es würde reichen, wenn ich ihm das richtige Outfit besorge.«
»Hey, ich könnte tatsächlich einen Kumpel brauchen, der mit mir läuft«, erklärte David ihr.
»Sind Sie sicher?«, fragte Megan.
»Auf jeden Fall! Los geht’s, Zachary.« Der Junge bestand damals wie heute darauf, dass man ihn mit vollem Namen ansprach. Es gab kein »Zach«.
Megan stellte ihren Sohn ab, und er schoss auf David zu. Und von diesem Tag an liefen sie gemeinsam – wobei sie in den letzten paar Jahren eher mit Diogee spazieren gingen, und zwar mindestens drei bis vier Mal die Woche.
»Schule halt. Nichts Besonderes«, wiederholte David. »Willst du das vielleicht näher ausführen?«
Zachary hatte gerade sein erstes Jahr an der Highschool begonnen, und David war sich sicher, dass es mehr zu erzählen gab.
»Eichhörnchen auf vier Uhr«, verkündete Zachary, und David wickelte sich vorsorglich die Leine um die Hand. Kurz darauf entdeckte Diogee das Eichhörnchen ebenfalls und zog ruckartig an der Leine. David nannte diesen Vorgang insgeheim immer den »Schulterausrenker«.
Das Eichhörnchen kletterte auf das Rankgitter des nächstbesten Hauses, und Diogee begann wie verrückt zu bellen, um dem Nager klarzumachen, was er getan hätte, wenn er nicht angeleint gewesen wäre.
Als er sich wieder beruhigt hatte, meinte Zachary: »Ich habe mich für die Leichtathletikmannschaft eingeschrieben. Geländelauf. Ich wollte eigentlich Football spielen, aber Mom bekam beinahe einen Nervenzusammenbruch.«
Und da hatte sie vermutlich gar nicht unrecht. Zachary war über den Sommer in die Höhe geschossen und schien nur noch aus Armen, Beinen und Füßen zu bestehen. David konnte sich selbst noch gut an diese Phase erinnern. Er konnte kaum das Zimmer durchqueren, ohne etwas umzustoßen. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für das Footballfeld. Aber das hätte er Zachary natürlich niemals gesagt.
»Du läufst, seit du fünf bist. Du bist ein Naturtalent«, meinte er stattdessen und verbat sich, einen weiteren Blick auf den roten Kreis zwischen den Augen des Jungen zu werfen. War er tatsächlich kreisrund? Hatte ihn womöglich ein Golfball am Kopf getroffen?
David war sich ziemlich sicher, dass Zacharys Vater Golf spielte, allerdings war es nicht sehr wahrscheinlich, dass er Zachary auf den Platz mitgenommen hatte. Zachary und sein Vater verbrachten jedes zweite Wochenende miteinander, obwohl es viel zu oft zu einer einzigen Nacht verkürzt wurde. Demzufolge, was Zachary erzählt hatte, gingen sie normalerweise in ein trendiges Restaurant, das der aktuellen Freundin seines Vaters zusagte und wo es nichts gab, was Zachary essen wollte. Wobei Zachary auch ziemlich wählerisch war. Er schien sich mehr oder weniger nur von Erdnussbutter, Snacksalami und Weingummis zu ernähren.
Sie hielten an, während Diogee einen Ginkgo-Baum beschnüffelte. Um »nach der Piss-Post zu sehen«, wie Zachary es nannte. Nachdem Diogee sich zur Seite gelehnt und seine entsprechende Antwort hinterlassen hatte, ging es weiter. Als sie an der Ecke ankamen – oder besser gesagt an der Stelle, die einer Ecke am ehesten glich, da es im Storybook Court praktisch nichts gab, was einen rechten Winkel besaß –, bog Diogee nach links ab. Der Alpharüde gab schließlich immer die Richtung vor.
Sie waren erst einige Schritte weit gekommen, als sie Addison Brewers Geschrei hörten. Wie Zachary hasste auch Addison Spitznamen. Sie wollte Addison genannt werden, sonst stellte sie sich taub. Ihre Stimme wurde lauter, je näher sie kamen. »Du hast gesagt, dass du vorbeikommst! Und du stehst weder in unserer Küche und isst direkt aus dem Kühlschrank, noch hockst du vor unserem Fernseher. Oh, warte mal. Du könntest auch gerade unser Klo vollstinken. Nein, auch nicht! Also, du bist nicht hier, obwohl du es versprochen hast. Schon wieder! Und du hast beim Sportunterricht überhaupt nicht krank ausgesehen. Ich hab dich beobachtet. Also versuche erst gar nicht, dich rauszureden!«
»Sie ist eine echte Kratzbürste«, murmelte Zachary und drehte den Kopf zur Seite, sodass nur sein Hinterkopf von Addisons Haus aus zu sehen war.
»Besucht ihr beide dieses Jahr wieder gemeinsame Kurse?«, fragte David.
»Ja, Englisch«, antwortete Zachary angewidert.
»Sie hat ein eindrucksvolles Lungenvolumen. Sie musste gerade kein einziges Mal Luft holen«, staunte David. Doch Zachary ging einfach schweigend und mit abgewandtem Kopf weiter.
Das wütend keifende Mädchen verstummte einen Augenblick lang, dann ging es weiter: »Wie viel Verkehr kann schon sein? Ich bin immerhin schon zu Hause, und ich bin mit dem Bus gefahren. Du hast gesagt, dass du bloß kurz bei dir vorbeischauen musst. Was bedeutet, dass du seit zwanzig Minuten hier sein solltest. Es ist aus! Ehrlich! Komm nie wieder hierher. Es ist mir egal, ob du schon fast da bist. Dreh wieder um.«
Eines der Fenster des Rosen-Bungalows – wie das Haus der Brewers wegen der aufgemalten gelben Rosen auf den Fensterläden allgemein genannt wurde – öffnete sich. Eine Sekunde später flog ein violettes Handy mit einem Totenkopf aus Strasssteinchen auf der Hülle heraus.
Zachary warf einen schnellen Blick hinüber, bevor er das Gesicht erneut abwandte. »Kratzbürste.«
»Erinnerst du dich daran, wie du ihr zum Geburtstag Blumen vorbeigebracht hast?«, fragte David, und Zachary sah ihn wütend an. Manchmal vergaß David, wie empfindsam Teenagerjungen sein konnten. Und manchmal erinnerte er sich sehr wohl daran, konnte aber nicht widerstehen, den Jungen ein wenig aufzuziehen.
»Ich war noch im Kindergarten, und meine Mom hat mir die Blumen von der Arbeit mit nach Hause gegeben, weil sie sie dort alle paar Tage austauschen.«
»Ach ja, genau«, erwiderte David und beschloss, Zachary besser in Ruhe zu lassen.
Sie kamen an dem Haus mit der Zugbrücke und dem funkelnden Burggraben vorbei. Manchmal hatte David das Gefühl, als würde er auf einem Minigolfplatz leben. Clarissas Großmutter hatte ihnen das Haus als Hochzeitsgeschenk vermacht, nachdem sie beschlossen hatte, in ein luxuriöses Seniorenheim in Westwood zu ziehen. David hatte den Storybook Court zuerst zu kitschig gefunden, doch er und Clarissa waren Mitte zwanzig gewesen und hatten es sich nicht leisten können, das Geschenk auszuschlagen. Mit der Zeit war ihm die Wohnsiedlung jedoch ans Herz gewachsen, und mittlerweile war sie so eng mit seinen Erinnerungen an Clarissa verknüpft, dass er sich nicht vorstellen konnte, irgendwo anders zu leben.
Das Thema Minigolf lenkte Davids Gedanken wieder zurück zu dem Kreis auf Zacharys Stirn, und er warf unwillkürlich einen weiteren Blick darauf.
Zachary ertappte ihn dabei. »Ich hab mein Gesicht irgendwie vermurkst.«
»Was? Ich habe nicht …« David brach ab. Es hatte keinen Sinn, den Jungen anzulügen. »Was zum Teufel hast du denn angestellt?«
»Kennst du diese Dinger mit der rotierenden Bürste, mit denen man sich das Gesicht reinigt?«
David nickte.
»Meine Mom hat so etwas. Und als ich aus der Schule kam, beschloss ich, etwas gegen meine Pickel zu unternehmen. Aber wenn man zu lange an einer Stelle schrubbt, dann bekommt man so etwas.« Zachary tippte mit dem Finger auf den roten Kreis zwischen seinen Augenbrauen.
