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Ein Mord in Londons High Society. Zwei verbotene Liebesgeschichten. Drei Monate, um den wahren Schuldigen zu finden – und nur eine Chance auf Rettung.
Isabelle bleiben drei Monate, um zu beweisen, dass ihre Schwester Vee unschuldig ist, und herauszufinden, wer wirklich hinter dem Mord an Maxwell Davenport – dem einflussreichen Sprössling der Londoner High Society – steckt. Als Holly begibt sie sich in eine Welt, in der Macht und Geld alles bestimmen. Dort trifft sie auf Carter, den Bruder von Max – ihr perfekter Zugang zu der Familie, die Vee vernichten will. Je näher sie ihm kommt, desto schwieriger wird es für Holly, zwischen vorgetäuschten Gefühlen und echter Zuneigung zu unterscheiden. Und hinter der perfekten Fassade der Davenports lauern Lügen, Verrat – und eine Vergangenheit, die nie ans Licht kommen sollte. Zwischen gefährlichen Wahrheiten und einem Mann, der sie zu durchschauen droht, muss Holly sich fragen, was sie bereit ist zu opfern. Vor allem, wenn die Wahrheit tödlich ist.
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Isabelle bleiben drei Monate, um zu beweisen, dass ihre Schwester Vee unschuldig ist, und herauszufinden, wer wirklich hinter dem Mord an Maxwell Davenport – dem einflussreichen Sprössling der Londoner High Society – steckt. Als Holly begibt sie sich in eine Welt, in der Macht und Geld alles bestimmen. Dort trifft sie auf Carter, den Bruder von Max – ihr perfekter Zugang zu der Familie, die Vee vernichten will. Je näher sie ihm kommt, desto schwieriger wird es für Holly, zwischen vorgetäuschten Gefühlen und echter Zuneigung zu unterscheiden. Und hinter der perfekten Fassade der Davenports lauern Lügen, Verrat – und eine Vergangenheit, die nie ans Licht kommen sollte. Zwischen gefährlichen Wahrheiten und einem Mann, der sie zu durchschauen droht, muss Holly sich fragen, was sie bereit ist zu opfern. Vor allem, wenn die Wahrheit tödlich ist.
Die Autorin
Josi Wismar ist SPIEGEL-Bestsellerautorin und wurde bei den TikTok Book Awards 2024 als #BookTok Autor:in des Jahres ausgezeichnet. Sie studierte Buchwissenschaft in Mainz, und fast ihr gesamtes Leben ist mit der Buchbranche verknüpft. Auf ihren Social-Media-Kanälen tauscht sie sich gerne mit ihren Leser*innen aus, schreibt in Livestreams gemeinsam mit der Community an ihrem neuesten Buch und verbringt einen gefährlich großen Teil ihrer Bildschirmzeit auf BookTok. Wenn sie nicht gerade versucht, für ihren Buch-Podcast #Ausgelesen mehr zu lesen als ihre Podcast-Partnerin Sarah, steht sie auf dem Fußballplatz oder vermisst die Berge, in die sie ganz dringend mal wieder fahren muss.
Lieferbare Titel
Words I Keep
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Wandering Hearts
Wildest Dreams
JOSI WISMAR
Fractured
FATES
Roman
Band 1 der Fallen Grace-Dilogie
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 09/2025
© Josi Wismar 2025
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.
Copyright © 2025 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Silvana Schmidt
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-33369-0V002
www.heyne.de
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich hier eine Contentwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Josi Wismar und der Heyne Verlag
Für alle, die verstehen, wer das wahre Opfer in dieser Geschichte ist.
Für alle, die ihr ganzes Leben daran gearbeitet haben, sich nicht mehr die Schuld zu geben.
Für alle, denen unsere Welt etwas genommen hat.
Ihr seid nicht allein.
Ich habe mir den Tod immer anders vorgestellt.
Ich hatte Großeltern vor Augen, die man nach einem langen Leben beerdigt. Onkel, die dem Kampf gegen tragische Krankheiten erliegen. Mütter, die von einem auf den anderen Tag aus dem Leben gerissen werden.
Ich habe mir Menschen vorgestellt, die in Särgen auf dem Friedhof oder in gekühlten Leichenhallen liegen, vielleicht sogar Seelen, die im Himmel auf Wolken sitzen und auf die Hinterbliebenen hinabblicken.
Ich habe mir den Tod immer anders vorgestellt.
Als ein unausweichliches Ende, das uns allen bevorsteht.
Als ein Thema, über das man nicht spricht.
Als etwas, das wehtut. Für immer.
Aber ich habe mir nie vorgestellt, für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich zu sein.
Ich habe mir nie vorgestellt, einen anderen Menschen zu töten.
Und doch habe ich es getan.
Und ich würde es wieder tun.
Mord im Claridge’s: Die High Society trauert um Maxwell Davenport – Nanny unter VerdachtLondon – Ein Verbrechen erschüttert die britische Elite: Der 29-jährige Maxwell Theodore Davenport, Sohn einer der einflussreichsten Familien des Landes, wurde im Luxushotel Claridge’s tot aufgefunden. Der aufstrebende Jurist und zukünftige Erbe der angesehenen Anwaltskanzlei Davenport & Sterlingfiel einem grausamen Mord zum Opfer. Veronica Mae Abbot, die als Nanny für die Davenports arbeitete, wird verdächtig und ist bereits inhaftiert. Maxwell Davenport galt als junger Hoffnungsträger, brillanter Anwalt und hingebungsvoller Familienvater. Er sollte die Kanzlei seines Vaters übernehmen und den Namen Davenport in der Anwaltswelt zu neuen Höhen führen. Stattdessen muss sich seine Familie nun mit einem unvorstellbaren Verlust auseinandersetzen. Ein Verlust, der seine schwangere Witwe Florence Davenport und die kleine Geneviève seine fünfjährige Adoptivtochter, ohne ihren geliebten Ehemann und Vater zurücklässt. Die Umstände des Todes lassen unzählige Fragen offen: Abbot soll eine Affäre mit Maxwell gehabt haben. Eifersucht? Leidenschaft? Oder einfach nur eine Tragödie, die aus dem Ruder lief? Sicher ist nur, dass Maxwell im Claridge’s starb – einem Ort, an dem die Londoner High Society normalerweise Feste feiert, nicht aber ihre größten Verluste erleidet. »Maxwell war ein außergewöhnlicher junger Mann«, äußerte sich Harrison Davenport, angesehener Seniorpartner von Davenport & Sterling und Vater des Verstorbenen. »Er war mein Sohn, mein Erbe und ein herausragender Anwalt, der sich nicht nur um seine Familie, sondern auch um die Belange unserer Mandantschaft mit größter Sorgfalt gekümmert hat. Sein Verlust ist unermesslich. Florence und Gene haben das Zentrum ihres Lebens verloren – und auch mir wurde mein größtes Geschenk genommen.« Die Familie Davenport zeigt sich schwer getroffen, und die Gesellschaft trauert mit ihnen. Maxwell Theodore Davenport war mehr als nur der künftige Erbe einer Kanzlei. Er war ein Symbol für Integrität, Verantwortung und die Werte, die die britische Oberschicht so hochhält. Veronica Abbot hingegen – eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen, die die Gunst der mächtigen Familie offenbar missbraucht hat – steht nun in drei Monaten vor Gericht. Bis dahin verbringt sie die Untersuchungshaft in Bronzefield, die Kaution in Höhe von einer Million Pfund wird sie wohl kaum aufbringen können. »Wir stehen vor einem Scherbenhaufen«, erklärte Harrison Davenport weiter. »Diese grausame Tat hat unserer Familie alles genommen. Sein Tod ist ein Verlust für uns alle, und wir werden keine Ruhe finden, bis die Wahrheit ans Licht kommt.« Die Wahrheit. Ein Wort, das in dieser Tragödie mehr Bedeutung hat als alles andere. Die erschütternde Geschichte von Maxwell Davenport und die Verstrickungen der ehemaligen Nanny der Familie werden noch lange durch die Gesellschaft hallen. Der junge Mann, der eine glänzende Zukunft vor sich hatte, ist nun zum Symbol für das unvorhersehbare Leid geworden, das auch die Reichen und Mächtigen trifft. Und in Zukunft wird wohl etwas genauer hingesehen, welche Nanny man sich ins Haus holt.
1Isabelle
»Mein Gott, Vee!« Ich stürzte auf sie zu, doch noch während meines ersten Schritts bemerkte ich den scharfen Blick des Sicherheitsmannes, der mich abrupt stoppen ließ. Zur Vorschrift angemessene Kleidung gehörte wohl auch ein gewisser Abstand. Aber woher sollte ich das wissen? Immerhin war es mein erstes Mal im Gefängnis. Hochsicherheitsgefängnis für Frauen, verbesserte ich mich selbst. Montagmorgen hatte ich uns noch Pancakes zum Frühstück gemacht, heute googelte ich den Weg nach Ashford in ein Category A Frauengefängnis und konnte mich laut Google glücklich schätzen, dass Vee nicht hinter einer Plastikscheibe saß, die verhinderte, dass ich ihre Hand greifen konnte.
»Vee«, flüsterte ich, während ich mich auf den harten Plastikstuhl setzte. Der Person gegenüber, die schon wie eine kleine Schwester für mich war, noch bevor sie wirklich meine kleine Schwester wurde.
»Hi.« Ihre Stimme war kratzig, und die dunklen Ringe unter ihren Augen machten mir Sorgen. »Ist schon gut.« Vees Mundwinkel zuckten, während sie sich ihre strähnigen schwarzen Haare hinter die Ohren schob. Wie hier drin wohl die Duschsituation war?
»Wie … wie geht es dir?« Die wohl beschissenste Frage, die ich stellen konnte. Ich rutschte auf dem blauen Plastikstuhl hin und her. Vee holte tief Luft, sah sich um und seufzte angestrengt.
»Ich bin komplett am Arsch, so geht es mir.« Sie zuckte mit den Schultern und sank noch etwas tiefer in ihren Stuhl. »Ich werde verdächtigt, einen Mann ermordet zu haben, mit dem ich eine Affäre hatte, und werde vermutlich für eine sehr lange Zeit hinter Gitter wandern.«
Ich suchte in ihrem Blick nach der Entschuldigung, die ich so dringend hören wollte. Und nach einer Erklärung, die endlich Licht ins Dunkel bringen würde.
»Warum hast du mir das mit Max nicht erzählt?« Ich ließ meine Finger knacken und setzte mich etwas aufrechter hin.
»Was hätte ich sagen sollen? Hey, Belle, also übrigens, ich schlafe mit meinem Boss, obwohl er verheiratet ist? Wir wissen beide, was du gesagt hättest.«
»Ja, und jetzt guck an, wo du sitzt, weil ich keine Möglichkeit hatte, es dir zu sagen.« Ich schluckte schwer und schob ein schnelles »Sorry« hinterher.
»Schon gut, das hab ich verdient.« Sie lachte leise, und ich schüttelte nur den Kopf. Wo zur Hölle war sie da nur hineingeraten? Ich starrte Vee an, mitten in die dunklen Augen, die schon immer so viel erzählt und noch mehr verschwiegen hatten.
»Frag schon«, forderte sie mich auf. Ich kaute noch einen Moment länger auf meiner Unterlippe herum, dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Aus Angst vor der Antwort hielt ich kurz die Luft an, bevor ich die Worte herauspresste.
»Hast du Maxwell Davenport umgebracht?«
»Nein.«
»Okay.« Ich nickte erleichtert und legte mir die flache Hand auf das pochende Herz, das sich endlich beruhigte. Vee log mich nicht an. Sie log viele Menschen an. Ehrlich gesagt war sie sogar ziemlich gut darin. Aber mich log sie nicht an. »Warum glaubst du trotzdem, dass du verurteilt wirst?«
»Es spielt keine Rolle, ob ich unschuldig bin, Belle.« Sie schnaubte und sah nach oben an die Decke. Die grelle Lampe flackerte unregelmäßig. Vielleicht sollte ich am Ausgang Bescheid geben, dass die Birne getauscht werden musste.
»Natürlich, Vee. Wenn du unschuldig bist, wird das vor Gericht rauskommen.«
Ein erneutes Schnauben. »Du hast ja keine Ahnung.«
»Richtig.« Mein Ton war schnippischer als beabsichtigt. Oder auch nicht. »Du erzählst mir ja nichts mehr, so wie es aussieht. Woher soll ich also wissen, dass es scheinbar keine Rolle spielt, ob du diesen Mann umgebracht hast oder nicht, hmm?« Ich verschränkte die Hände in meinem Schoß und schob meinen Unterkiefer hin und her.
Vee war meine beste Freundin. Sie war mehr als das, sie war meine Schwester, nachdem meine Eltern das Sorgerecht für sie übernommen hatten. Ich kannte diese Person in- und auswendig, konnte sie lesen, genau wie sie mich. Aber gerade fragte ich mich, wer hier vor mir saß. Wer war diese Person, die sich auf eine Affäre mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte? Die in einen Mordfall verwickelt war? Den Mordfall ebenjener Affäre.
»Belle, diesen Menschen ist die Wahrheit egal, solange alles genau so läuft, wie es soll. Solange keine schmutzigen Geheimnisse ans Licht kommen. Solange die ganze beschissene Elite genau so weitermachen kann wie bisher.« Sie spuckte die Worte förmlich aus, und in ihren Ausdruck trat eine Bitterkeit, die ich so von ihr nicht kannte. »Die Wahrheit ist, dass ich Max nicht umgebracht habe. Aber die Wahrheit ist auch, dass man mich für diesen Mord verurteilen wird.«
Ich starrte sie an, öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Das hier war nicht Vee. Zumindest nicht die Vee, die vor wenigen Monaten zu den Davenports gezogen war. Meine kleine Schwester sprach nicht so kühl. Ihrer Stimme fehlte jede Wärme, jeder Hauch von Empathie, und ich fragte mich, wer sie ihr genommen hatte.
»Ich hol dich hier raus.« Ich griff nach ihrer Hand und drückte ihre kühlen Finger. Sie lächelte mich an, aber ihre Augen behielten den gleichen stumpfen Ausdruck.
»Danke. Aber bitte mach dich nicht selbst fertig, wenn du verstehst, dass das nicht möglich ist, okay?«
Vee lachte leise. Eine kühle Gänsehaut kroch über meine Arme, beginnend dort, wo ihre Finger mit meinen verschränkt waren.
»Sobald der Prozess beginnt, habe ich verloren, Belle. Dieser Familie gehört die größte Anwaltskanzlei Londons. Die Besten der Besten, die Elite des Rechts.« Sie fuchtelte mit ihrer freien Hand in der Luft herum, als würde sie Slogans in den Raum schreiben. »Es ist ganz egal, was ich getan habe und was nicht. Das muss dir bewusst sein. Sie sind die Elite Londons, und ich bin nur … ich.« Vee senkte den Blick, und in diesem Moment wollte ich nichts sehnlicher, als sie hier rausholen. Sie sollte mit mir durch diese Tür gehen, in mein Auto steigen und mit nach Hause kommen. Ich würde uns Pancakes machen. Auch wenn nicht Montag war.
»Okay«, sagte ich nur und presste die Lippen fest aufeinander, während ich tief Luft holte. »Dann hole ich dich da wieder raus.«
»Das ist nicht möglich, das habe ich dir doch schon gesagt. Wie genau stellst du dir das vor?«
»Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden. Immerhin habe ich drei Monate Zeit.« Angst mischte sich mit der Euphorie beim Gedanken an Vees Freiheit. Drei Monate waren verdammt wenig Zeit, wenn ich nicht einmal wusste, wo ich anfangen sollte.
»Aber erst einmal musst du mir alles erzählen. Jedes Detail. Von Anfang an, wieso …«
»Ich kann nicht«, Vee zog ruckartig ihre Hand zurück.
»Vee, du …«
»Ich kann nicht darüber reden, Belle.« Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die sie nun nervös unter dem Tisch knetete.
»Vee«, sagte ich mit etwas mehr Nachdruck, und sie blickte überrascht auf.
»Es ist mir scheißegal, was du glaubst, nicht zu können.« Ich sah in Vees dunkle Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und sah doch den Schmerz meiner eigenen darin. Ich würde nicht zulassen, dass diese Familie auseinanderbrach.
»Du musst. Also reiß dich zusammen.«
2 Vee
»Ich erinnere mich nicht an viele Details der ersten Tage. Alles war so neu, so groß, so beeindruckend. Aber ich erinnere mich daran, wie er mich das erste Mal ›meine Schönheit‹ genannt hat.«
15.07.24
Ich strich meinen engen schwarzen Rock glatt und lief zielstrebig Richtung Bar. Belle lernte genug für uns beide, also hatte ich beschlossen, mir einen freien Abend zu genehmigen. Zumal ich mein Studium sowieso schmeißen würde. Diesen Scheiß konnte ich mir nicht länger geben.
»Hallo, meine Schönheit.« Der Fremde sah mich aus dunkelbraunen Augen an. Er strich sich über die perfekten Konturen seines kurzen Barts und lächelte mich leicht an.
»Kommt da auch noch eine Frage, oder wolltest du nur ungefragt mein Äußeres kommentieren?«
Er riss die Augen auf, und dieser kleine Sieg verschaffte mir Genugtuung. Natürlich konnte er nichts dafür, dass ich heute meinen Praktikumsplatz im Business Development verloren hatte. Weil ich eine Frau war. Und ein Mann für meine Position nun mal besser geeignet war. Ein Mann wie der gut aussehende Fremde vor mir, der mich nun mit offenem Mund anstarrte.
»Du kannst deine eloquenten Flirtversuche gerne bei jemand anderem ausprobieren, ich bin heute gar nicht in Stimmung. Und versteh das nicht als Aufforderung, das zu ändern.« Es war eine Lüge. Ich war in Stimmung. Ich hatte Lust auf Sex, sonst hätte ich mich nicht für das unbequemste Outfit entschieden, das mein Kleiderschrank hergab.
»Ich denke, ich muss mich entschuldigen.« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Das sollte keineswegs eine billige Anmache sein, und mein Kompliment hat wohl sein Ziel verfehlt. Lass mich dich als Wiedergutmachung auf einen Drink einladen.« Als ich seine Hand nicht ergriff, zog er einen der Barhocker zu sich und grinste verschmitzt. Wir beide wussten, was er hier tat. Und, dass ich nicht gerne für Drinks zahlte, die bei achtzehn Pfund losgingen.
»Das klingt nur fair«, säuselte ich also und rutschte seitlich auf einen Barhocker. »Ich bin übrigens Veronica.« Nun streckte ich ihm meinerseits die Hand hin, die er sofort ergriff.
»Maxwell«, raunte er so tief, dass es in meinem Bauch kribbelte, »aber du kannst mich auch einfach Max nennen.«
»Max«, flüsterte ich und hielt immer noch seine Hand. »Ich glaube, das ist der Beginn von etwas ganz Wunderbarem.«
3 Isabelle
Ich strich den engen schwarzen Rock glatt, den ich aus Vees Kleiderschrank genommen hatte, und hoffte, es würde nicht auffallen, dass ich weder in diesen Rock noch in diese Bar gehörte. Wann immer Vee mich hatte überreden wollen, mit ins The Sketch zu kommen, hatte ich gelernt oder gearbeitet. Während sie sich von reichen Männern Drinks spendieren ließ, schrieb ich Texte für die Cambridge Refugee Resettlement Campaign. Ich setzte Newsletter zusammen, die über die Integrations-Initiative in Cambridge aufklärten, und Vee flirtete mit Männern, die später mal ihre Vorgesetzten sein würden. Das Leben konnte so einfach sein, nur nicht für uns – als Frauen. Jetzt stand ich vor dem Eingang der Bar, über dem die Statue eines Windhunds senkrecht festgeschraubt war, und fragte mich, ob es das wert gewesen war. All das hier zu verpassen, für ein paar gute Zeilen im Lebenslauf. Auf der anderen Seite saß eine Person von uns nun im Gefängnis und die andere versuchte verzweifelt herauszufinden, was zur Hölle passiert war.
Schnell schob ich den Gedanken beiseite und betrat den dunklen Flur, während ich dem Türsteher zunickte. Sein roter Anzug wirkte im schwachen Schein der Straßenlaternen von draußen fast so schwarz wie der unbeleuchtete Flur, auf dessen Boden die Zeichnung eines Himmel-und-Hölle-Spiels klebte. Ich überlegte gerade, ob das einer Einladung glich, durch den Eingangsbereich zu hüpfen, als sich eine junge Frau mit elegantem, eng anliegendem Zopf in mein Blickfeld schob. Ich hob den Kopf und war beeindruckt von ihrer makellosen Erscheinung.
»Guten Abend, Miss.« Sie strahlte mich mit zahnpastaweißen Zähnen an, und ich war mir fast sicher, dass das Voraussetzung für die Bewerbung gewesen war. »Was kann ich für Sie tun?« Sie faltete die Hände locker vor ihrer Taille und lächelte mich an.
»Guten Abend.« Ich nickte und versuchte, ihre sanfte Stimme zu imitieren. Hatte Vee auch immer so kultiviert geklungen, wenn sie hier war? Mit diesem Selbstverständnis in der Stimme, das einen gar nicht zweifeln ließ, dass die Frau vor mir genau hierhin gehörte. Ganz egal, was sie außerhalb ihrer Schichten tat. Ob sie sich auch mit ihrer besten Freundin eine winzige Zweizimmerwohnung teilte, weil das Geld hinten und vorne nicht reichte?
»Ich … ehmm …« Schnell räusperte ich mich. Du gehörst hierher, Isabelle. »Ich habe für eine Person in der Bar reserviert.« Ich hob meine Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln. Allein für die Reservierung musste ich eine belastbare Kreditkarte hinterlegen. Was man nicht alles tat, um herauszufinden, in was die beste Freundin hineingeraten war.
»Das klingt wundervoll, ein Abend allein, das muss man sich auch manchmal gönnen.« Sie klang aufrichtig, aber das lernte man bestimmt schnell, wenn der gewahrte Schein das Trinkgeld beschaffte. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Noch mit ihren letzten Worten schwebte sie auf ihren High Heels davon, um die Ecke und in den Hauptraum der Bar, die ich nur aus Vees Erzählungen kannte. Ich wollte nicht hier sein, zwischen all den rosa Polstern und blauen Lichtern. Zumindest nicht allein. Nicht ohne Vee. Aber ich musste. Weil sie mir gesagt hatte, dass hier alles angefangen hatte. Die Frau, deren Namen ich immer noch nicht kannte, weil Namensschilder hier offensichtlich nicht üblich waren, brachte mich zu meinem kleinen Tisch und ließ mich allein. Ich sah mich um, ließ meinen Blick über die unzähligen kleinen Lampen schweifen, die den Raum ins perfekte Licht tauchten. Hier hatte Vee gesessen. Hätte ich sie damals begleitet, wäre das alles nicht passiert. Und jetzt saß ich hier, so naiv, dass es mir fast schon peinlich war. In der Hoffnung … ja, in der Hoffnung auf was eigentlich? Menschen zu finden, die Vee kannten, die Max kannten und dann auch noch mit mir über ihn reden wollten. Mit einer Wildfremden, die ganz offensichtlich nicht hierhergehörte.
»Ich kann Ihnen den Sign of Love empfehlen, oder, wenn es etwas fruchtiger sein darf, gerne auch der Cosmopolitalicious.« Eine neue Kellnerin reichte mir die schmale Karte und lächelte mich ebenfalls an. Service wurde hier großgeschrieben, aber bei den Preisen war das zu erwarten. Ich ließ meinen Blick erst über die Karte gleiten und sah mich dann genauer im Raum um. Überall saßen Menschen in teuren Klamotten, die sicher mehr kosteten als meine Studiengebühren, und nippten an ihren Drinks.
»Ich nehme gerne den Cosmo«, sagte ich, ohne auch nur einen weiteren Blick auf die Karte zu werfen. Schließlich war ich nicht wegen der Drinks hier. In der hinteren Ecke entdeckte ich die zwei Pokertische, von denen Vee mir erzählt hatte. Max war regelmäßig hergekommen, um mit seinen Freunden eine Runde zu spielen. Jetzt saß er nicht hier, würde es nie wieder können. Ob seine Freunde ohne ihn weiterspielten, wusste ich nicht, schließlich kannte ich keinen von ihnen. Ich kannte überhaupt niemanden.
»Mein Gott«, flüsterte ich und rieb mir einmal übers Gesicht. »Shit«, schob ich direkt hinterher und zog mein Handy aus der Tasche, weil ich mir sicher war, den dunklen Lidschatten verschmiert zu haben, den ich mir ebenfalls von Vee geklaut hatte. Ich checkte mein Make-up von allen Seiten, gab aber schnell auf, weil ich in diesem Licht sowieso keine Details erkannte. Aber wenn ich das nicht konnte, würde es immerhin auch sonst niemandem auffallen. Die freundliche Kellnerin stellte meinen Drink vor mir ab und lächelte mich wieder an. Sah man mir meine Verzweiflung so deutlich an, oder war sie dazu verpflichtet, jedes Mal zu lächeln, wenn sie mich bediente?
»Danke«, sagte ich ruhig und griff nach dem dünnen Stiel des Glases. O Gott, gab es eigentlich auch Regeln, wie man verschiedene Drinks hielt so wie bei Rot- und Weißwein?
»Ich bin übrigens Jill, wenn du etwas brauchst, melde dich gerne bei mir.« Jill nickte und verschwand dann wieder hinter dem Bartresen.
Man musste mir die Verzweiflung wohl ansehen. Ich atmete tief ein, hielt für wenige Herzschläge die Luft an und ließ sie stoßartig entweichen. Was hatte ich erwartet? Es war nicht meine Welt, nicht mal ansatzweise, aber ich saß hier, mitten im Sketch, mit einem Drink in der Hand, der nach zu viel Zucker und ein bisschen Verzweiflung schmeckte. Ich hatte einen Plan – oder redete mir ein, dass ich einen hatte. Eine Liste in meinen Notizen, die ich abarbeiten würde.
Beobachten. Rausfinden, wo man ansetzen konnte. Menschen finden, die Max kannten. Systematisch vorgehen. Dann konnte nichts schiefgehen. Oder zumindest nicht alles.
Ich sah vorbei an den kleinen Grüppchen, Gestalten, die in plüschigen Sesseln versunken waren, bis mein Blick an einem Pokertisch hängen blieb. Männer in perfekt geschnittenen Anzügen, Karten in der Hand, gedämpfte Stimmen, aber eindeutig selbstbewusst mit diesem schmierigen Grinsen auf den Lippen. Frauen saßen daneben, jede ein Kunstwerk für sich, als wären sie Teil der Dekoration. Ich konnte nicht sagen, ob sie gelangweilt oder fasziniert waren – wahrscheinlich beides. Das hier war ihre Welt, nicht meine. Alles an ihnen schien mühelos, wie sie die Beine übereinanderschlugen, wie sie lachten, wie sie redeten, ohne dass es bedeutungsvoll klang. Und ich? Ich fühlte mich wie eine Fremde, die zufällig durch die Tür gestolpert war. Etwas zu viel Schatten zwischen all dem Glanz.
Ich griff nach meinem Glas, um irgendetwas zu tun, und überlegte fieberhaft, wie ich ein Gespräch anfangen könnte, ohne wie eine komplette Außenseiterin zu wirken. Vielleicht etwas Banales, ein Kommentar über den Pokertisch? Nein, zu durchsichtig. Vielleicht einen der Kellner fragen, ob er mir … was genau? Aber bevor ich mich entscheiden konnte, spürte ich, dass jemand mich ansah.
Wie von selbst fand ich ihn. Ein Mann am Rand des Tisches, leicht zurückgelehnt, eine Zigarette zwischen den Fingern, obwohl ich sicher war, dass hier nicht geraucht werden durfte. Er sah mich direkt an, ein bisschen zu intensiv, ein bisschen zu lange. Instinktiv wollte ich den Blick abwenden, mich hinter meinem viel zu kleinen Glas verstecken und so tun, als hätte ich es nicht bemerkt.
Was würde Vee tun?
Ich kannte die Antwort. Ich hielt den Blickkontakt, zwang mich dazu, obwohl mein Herz einen unangenehm schnellen Rhythmus gefunden hatte.
Das würde Vee auch tun, dachte ich. Sie hätte nicht weggesehen. Sie hätte zurückgeschaut, ihn herausgefordert, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Vielleicht würde sie ihm sogar zuzwinkern? Wie machte man das überhaupt, damit es sexy aussah? Mein aufgeregter Atem war mir plötzlich viel präsenter, jede Bewegung meines Körpers fühlte sich zu groß an, als wäre ich mir meiner selbst viel zu sehr bewusst. Ich befeuchtete nervös meine Lippen, woraufhin sein Blick nach unten schnellte. Er zog eine Augenbraue hoch, kaum merklich, und dann erhob er sich. Mein Herz schlug schneller. Noch schneller. Er kam auf mich zu, mit dieser selbstbewussten Langsamkeit, die ich immer schon faszinierend und beängstigend fand. Und während er näher kam, zwang ich mich, ruhig zu bleiben, obwohl meine Gedanken schon längst chaotisch durch Szenarien jagten. Shit, Shit, Shit!
Was, wenn er mich ansprach? Ich würde es gleich herausfinden. Ein Rückzieher kam jetzt nicht mehr in Frage.
»Hi.« Ich zuckte leicht zusammen, als die raue Stimme meine Gedanken unterbrach. Langsam schaute ich an dem dunklen Anzug hoch, ließ meinen Blick über volle Lippen und markante Wangenknochen hinwegwandern, bis er auf helle Augen traf. »Ich habe mich gefragt, was du hier allein an diesem Tisch machst … ist dein Freund gerade …« Er ließ die Frage bewusst offen, nippte beiläufig an seinem Getränk, das in bernsteinfarbenen Schlieren am Kristallrand runterlief.
»Ich bin allein hier.« Ich griff das Glas in meiner Hand etwas fester und versuchte, seinem flirtenden Blick standzuhalten.
»Oh. Das ist doch aber zu schade an so einem schönen Abend. Darf ich dich zu uns an den Tisch einladen …« Wieder eine unbeendete Frage.
»Ich bin …« Fast wäre es passiert. Ich hustete leicht, um zu kaschieren, dass ich nachdenken musste. Kannte dieser Mann Max? Kannte er Vee? Hatte Vee je von mir erzählt? Ich nahm noch einen kleinen Schluck der pinken Flüssigkeit, wobei ein Eiswürfel sanft gegen meine Lippe stieß. Dann setzte ich mein strahlendstes Lächeln auf, stellte das Stielglas mit Bedacht ab und reichte dem Mann meine Hand. »Ich bin Holly.« Ein Name, an den ich gewöhnt war. Meine Großmutter hatte meinen Zweitnamen Hollice immer geliebt und mich lieber Holly als Isabelle genannt. Ein Fakt, den niemand in dieser Bar hier kennen sollte. Hoffentlich.
»Sehr erfreut, Holly. Ich bin Vincent.« Er griff meine Hand, hob sie zu sich und drückte einen sanften Kuss auf meinen Handrücken. Ich wollte würgen, lächelte aber stattdessen und zog verlegen die Schultern hoch. »Komm doch zu uns an den Tisch, die Jungs und ich spielen etwas, und du wirst dich sicher wunderbar mit allen verstehen.«
Vincent hatte schon mein Glas gegriffen, und kurz fragte ich mich, wie man hier drin wohl auf Ablehnung reagierte. Nein. Aber der Gedanke verschwand, während er nach meiner Hand griff und mich mit sich zog. Vielleicht war es doch genau so einfach, wie ich es mir in den Notizen meines Handys vorgestellt hatte. Ich musste mich nur trauen und einfach … machen.
Vincent stellte meinen Drink auf einen kleinen Tisch an der Seite und zeigte auf den Platz neben sich. Noch näher an den Männern zu sitzen, neben ihren perfekten Frauen, schüchterte mich ein. Ich nestelte am Saum des schwarzen Stoffs und versuchte mich an einem tiefen Atemzug. Die säuerliche Mischung aus Rauch, Schweiß und abgestandener Luft verstärkte das flaue Gefühl in meinem Magen nur. Ich schloss die Augen, sah Vee vor mir im Besuchsraum kauern. Ich musste hier sein. Ich musste Fragen stellen, und ich musste herausfinden, was passiert war. Für Vee und ein bisschen auch für mich.
»Du bist mein neuer Glücksbringer, Holly«, raunte Vincent mir ins Ohr, und eine Gänsehaut überzog meine Arme. Ich wollte mich schütteln, legte stattdessen aber nur meine Hände auf den Tisch vor mir und konzentrierte mich auf das Spiel. Punkt 1: Beobachten. »Carter da drüben hat nämlich einen Lauf, den ich dringend unterbinden muss.« Er nickte in Richtung des Mannes, der mir gegenübersaß und verbissen auf seine Karten starrte. Carter, hallte es in meinem Kopf. Warum klingelte da etwas? Ich überlegte, unauffällig mein Handy zu entsperren, entschied mich dann aber dagegen. »Dabei spielt Carter sonst gar nicht. Keiner weiß, wie er das anstellt.«
»Halt’s Maul, Cullen.« Carter sah weiter nur seine Karten an und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die kurzen Bartstoppeln an seinem Kinn.
»Cullen?«, fragte ich in keine offensichtliche Richtung, sah aber dennoch Vincent an.
»Findest du nicht, er sieht ein bisschen zu sehr wie ein Vampir aus? Fast schon aufgespritzte Wangenknochen, perfekt zurückgegelte Haare, und du solltest diese eisblauen Augen in der Sonne sehen. Die glitzern, das kann ich dir versprechen.« Alle am Tisch lachten bei Carters Worten, und ich war mir sicher, dass Vincent diesen Spitznamen nicht zum ersten Mal hörte.
»Hey!«, verteidigte er sich. »Absolut alles an meinem Gesicht ist echt, das Thema hatten wir schon.«
Natürlich. Carter schnaubte nur, und ich sah zu ihm. Für einen kurzen Moment hob er den Blick, seine Augen trafen auf meine, und die traurige Dunkelheit darin erschreckte mich.
»All in.« Seine kratzige Stimme glitt über den samtig grünen Tisch, während er stapelweise Chips in die Mitte schob.
»Scheiße, das kann’s doch echt nicht sein«, fluchte der Mann neben Vincent und schmiss seine Karten in die Mitte. Reihum taten sie es ihm gleich, bis Carter wieder all seine Chips einsammelte. Vincent legte seine Hand auf mein Knie. »Nächste Runde bringst du mir etwas mehr Glück, ja?« Er strich mit dem Daumen über meine Strumpfhose, und ich war dankbar für den Stoff, der uns trennte, auch wenn er noch so dünn war.
»Ihr wisst doch gar nicht, ob ich hier nicht gnadenlos lüge. Vielleicht ist mein Blatt jedes Mal beschissen, und ihr solltet aufhören, mir zu glauben.« Carter zuckte mit den Schultern und stapelte seine Chips in gleichmäßigen Türmen.
»Komm schon, wem machst du was vor? Du hast ein mieses Pokerface, und lügen konntest du noch nie gut. Diese Gene waren Max vorbehalten.«
»Bist du dir da sicher?«, ging der Mann links neben mir dazwischen. »Ich glaube ja, du bist zum Lügen geboren, wenn Davenport-Blut durch deine Adern fließt.«
»Jungs«, zischte Vincent nur und schaute zwischen den beiden hin und her. Fast zeitgleich rissen sie ihre Augen auf und schauten betreten zu Carter.
»Sorry, Kumpel, das war unpassend.«
»Ja ehmm … tut uns leid, wir …«
»Alles gut.« Carter winkte ab und spielte mit einem Chip in seiner Hand. »Ihr hattet schon immer die Feinfühligkeit eines Backsteins. Ich hatte nicht erwartet, dass sich das ändert, nur weil mein Bruder gestorben ist.«
Mein Mund öffnete sich, und ich starrte ihn an. Davenport. Max. Sein Bruder. Das hier … Er …
»Scheiße«, flüsterte ich und durchbrach damit die unangenehme Stille, die wie eine erdrückende Glasglocke über dem Pokertisch lag.
»Soso. Du kannst also auch die Nachrichten lesen.« Carter schnaubte verächtlich und sah mich an. Mir gegenüber saß niemand Geringeres als Carter Davenport.
»Nein, ich … also … ja. Tut mir leid«, stammelte ich nur und hielt dann einfach den Mund. Nicht, dass mir etwas rausrutschte, was auf eine Verbindung zu Vee hindeutete. Die Frau, die er für den Tod seines Bruders verantwortlich machte. Mein Herz galoppierte mir davon, während ich den Blick nicht von Carter losreißen konnte. Carter Davenport war hier. Und ich saß mit ihm an einem Pokertisch in einer Runde, in der garantiert jeder mehr wusste, als er zugeben würde. Ich schluckte schwer und tastete nach meiner schwarzen Clutch, in der mein Handy schlummerte.
Carter Davenport wollte ich in Großbuchstaben der Liste hinzufügen. Den Bruder des Opfers treffen, als To-do notieren und direkt einen Haken dahinter setzen. Je länger ich mich auf meine Atmung konzentrierte, desto mehr bekam ich den Gedanken zu fassen, der in meinem Kopf Salti schlug und dafür sorgte, dass mir schwindelig wurde.
Carter Davenport in ein Gespräch verwickeln.
Carter Davenport kennenlernen.
Carter Davenport dazu bringen, mir alles zu erzählen, was er weiß.
Ich wischte mir beiläufig über die Stirn, auf der sich ein dünner Schweißfilm gebildet hatte. Keine Ahnung, wie ich hinter diese drei Punkte einen Haken setzen würde, aber immerhin am ersten konnte ich schon mal arbeiten.
Carter Davenport.
Kurz sah er mich an, in seinen Augen flackerte etwas, bevor er alle Chips einsammelte und sie der Frau neben sich in die Hand drückte.
»Ich bin dann raus für heute, Jungs.« Er fasste sich mit zwei Fingern an die Stirn, zog sein Hemd gerade und leerte seinen Whiskey in einem Zug. Shit! Mit einem lauten Klacken setzte er das Glas auf dem kleinen Tisch ab, der genauso gefährlich wankte wie der Plan, der seit genau siebenunddreißig Sekunden in meinem Kopf existierte. Carter erhob sich, strich sein Jackett glatt, während ich mich panisch im Raum umsah. Würde niemand ihn darum bitten zu bleiben? Konnte ich das tun? Er nickte einmal in die Runde und wandte sich ab. Scheiße, das durfte nicht sein. Meine einzige Chance lief gerade mit großen Schritten Richtung Ausgang. Das durfte ich nicht zulassen.
Was würde Vee tun?
»Ich muss kurz zu meiner Jacke an die Garderobe«, sagte ich zu Vincent, und noch bevor er mich fragen konnte, von welcher Garderobe ich sprach, ging ich Carter hinterher. Ich hastete aus der Bar, drehte nach links in den Eingangsbereich ab und stieß volle Kanne mit ihm zusammen.
»Warum wusste ich, dass du mir nachkommst?« Er hob verschmitzt einen Mundwinkel und sah mich aus diesen traurigen dunklen Augen an.
»Weil ich im Gegensatz zu allen anderen da drin die Wut in deiner Trauer sehe und wissen möchte, was dahintersteckt.« Carter blinzelte ungläubig und war vermutlich genauso überrascht von meiner Frage wie ich selbst. Waren diese Worte gerade wirklich aus meinem Mund gekommen? Das gehörte nicht zu meinem Plan.
»Du …« Er verlagerte sein Gewicht und kam mir wenige Zentimeter näher, sodass mir der Geruch seines strengen Parfüms in die Nase stieg. Woran erinnerte er mich nur? Doch für diese Frage blieb jetzt keine Zeit. Ich durfte mir keinen Fehler leisten. Mich nicht ablenken lassen. »Ich habe dich hier noch nie gesehen.« Er fuhr sich langsam mit der Zunge über die Unterlippe. Was war das? Eine Frage? Eine Feststellung?
»Dann bin ich dir vielleicht einfach noch nie aufgefallen.«
»Das kann nicht sein«, hauchte er nur. »An dich würde ich mich erinnern.«
»Wieso? Weil mein Hintern so scharf in diesem Rock aussieht oder weil mein Ausschnitt tief genug blicken lässt?« Mein flacher Atem versteckte meine Nervosität nicht, aber wozu auch? Sollte er doch denken, dass seine Anwesenheit mein Herz schneller schlagen ließ. War es nicht das, was Männer wollten? Ich war mir sicher, dass er nach unten schauen würde. Auf meine Brüste, die ich in das knappe Oberteil gepresst hatte, aber er hielt meinem Blick stand.
»Nein.« Mehr sagte er nicht. Mein Gott, wer war dieser Typ, dass ich plötzlich nur noch wissen wollte, warum er sich an mich erinnern würde? Der Bruder eines toten Mannes, sagte die kleine Stimme in meinem Kopf.
»Ich kenne um die Ecke ein Hotel, in dem ich sicher noch ein Zimmer bekommen würde. Stellst du sicher, dass ich gut in meinem Bett ankomme?« Er schwankte leicht, fing sich aber schnell, als ich nach seiner Hand griff. »Deine Hand ist ja richtig kalt.« Er blickte auf unsere Finger. Ich musste leise lachen, bei diesen völlig ungefilterten Gedanken, die er von sich gab.
»Ich gehe nicht gerne mit wildfremden Männern mit, davor hat meine Mum mich immer gewarnt.« Ich zuckte mit den Schultern und sah ihn an. Sandelholz. Jetzt konnte ich den Geruch zuordnen. Er war intensiv, dunkel, fast erdrückend – und es passte überhaupt nicht zu ihm. Kein Hauch von der warmen, unaufdringlichen Eleganz, die er ausstrahlte. Stattdessen haftete an ihm ein schweres Aroma von Sandelholz und Amber, durchzogen von einer rauchigen, beinahe scharfen Note, die in der Luft hängen blieb. Es war ein Duft, der einen Raum füllen konnte, bevor jemand überhaupt den Mund aufmachte – mystisch, mächtig und irgendwie unnahbar. Ich runzelte die Stirn, ohne es zu merken, und fragte mich, warum Carter ausgerechnet so etwas tragen würde.
»Meine Mutter hat mich vor nichts gewarnt.« Carters plötzliche Antwort riss mich aus meinen Gedanken.
»Liegt das vielleicht daran, dass du ein Mann bist?«, scherzte ich und sah ihn an.
»Oder daran, dass sie …« Er brach ab und zog seine Hand zurück. »Wie dem auch sei.« Er räusperte sich und strich seinen Anzug glatt. Seine Stimme klang plötzlich aufgesetzt, und sein Blick war leer. »Kommst du …« Er stockte, als ich ihn neugierig ansah. »Verbringst du diesen Abend noch mit mir?« Ich rechnete ihm hoch an, dass er die billige Anmache wenigstens besser verpackte.
»Ich gehe immer noch nicht mit Männern mit, die ich nicht kenne.« Auch nicht mit solchen, die mit einem einzigen Blick so viel in mir aufwühlen können. Und die ich verdammt scharf finde, schob ich in Gedanken hinterher und verfluchte mich dafür, während ich Carter weiterhin musterte. Welche Wahrheit hätte seinen Mund verlassen, wenn er diesen Satz nicht abgebrochen hätte? Ich strich mir eine kurze Strähne meiner kastanienbraunen Wellen aus dem Gesicht. Ich hatte Stunden gebraucht, sie so natürlich zu formen. Bei Vee wirkte das immer so mühelos. Carters Blick folgte meiner Bewegung, und ich fragte mich, wie mein Körper reagiert hätte, wenn er mir die Strähne hinters Ohr geschoben hätte.
Stopp, Holly. Das gehört nicht zu deinem Plan. Belle, verbesserte ich mich selbst schnell in Gedanken.
»Hey, du kennst mich doch. Wir haben zusammen Poker gespielt.«
»Ich habe dir dabei zugesehen, wie du Poker spielst, Carter.« Es fühlte sich fremd an, seinen Namen zu sagen, obwohl ich so viel über ihn gelesen hatte. Obwohl ich meinte, so viel mehr in ihm zu lesen. Dem Mann mit den traurigen Augen, die eine Geschichte erzählten. Eine Geschichte, die ich hören wollte, die ich hören musste. Für Vee und für mich. Aber ein bisschen auch für Carter, weil ich mich seltsamerweise fragte, ob er jemand in seinem Leben hatte, dem er von dieser Traurigkeit erzählen konnte.
»Möchtest du mit mir Poker spielen?« Mein Gott, ja. Das wollte ich. »Aber Vorsicht, ich bin gut darin. Mein Bruder hat es mir beigebracht.« Bei der Erwähnung von Max jagte ein Schauer durch meinen Körper. Lag er immer noch tot auf dem Untersuchungstisch irgendeines Rechtsmediziners? Allein der Gedanke, Vee könnte etwas zustoßen, brachte mich um. Ich wollte ihr helfen. Wollte Carter alle Fragen stellen, die in meinem Kopf herumschwirrten, ganz gleich, ob er auch nur eine davon beantworten konnte. Aber dieser Mann war gebrochen. Er hatte gerade seinen großen Bruder verloren.
»Ein andermal vielleicht.« Ich lächelte sanft und griff doch wieder nach seiner Hand. »Heute solltest du schlafen gehen. Allein«, schob ich nach und hatte das seltsame Gefühl, ihn beschützen zu müssen.
»Warum bist du so vernünftig, Holly?« Warum …, stimmt. Ich hatte mich Vincent als Holly vorgestellt. »Dann gib mir wenigstens deine Nummer. Damit ich dich heute Nacht anrufen kann, wenn ich Albträume habe und nicht schlafen kann.« Etwas in seiner Stimme verriet mir, dass er das vollkommen ernst meinte, während er mir sein Telefon unter die Nase hielt. Ich schaute zwischen ihm und dem weiß leuchtenden Tastenfeld hin und her. Hin- und hergerissen zwischen Mitleid und einem Gefühl des Triumphs. Dies war meine Chance, und ich würde sie nutzen. Auch wenn sich mein Magen umdrehte beim Gedanken daran, was ich Carter antun würde. Was ich ihm bereits antat.
Ehe mich mein Mut wieder verließ, schnappte ich mir das Handy und tippte meine Nummer ein.
»Wir sehen uns, Holly.« Carter drehte sich um und verließ die Bar.
Heilige Scheiße, was war heute Abend passiert? Noch vor zwei Stunden war ich verzweifelt gewesen und musste befürchten, mein Versprechen gegenüber Vee zu brechen, bevor ich auch nur die geringste Chance hatte, ihre Unschuld zu beweisen, und jetzt …
Jetzt hatte Max’ Bruder meine Nummer, und die leise Sehnsucht, die plötzlich in seinen Augen lag, versprach mir, dass er anrufen würde.
4 Florence
Die Trauer, die ich fühlte, wurde von mir erwartet. Und doch war sie nicht weniger schwer. Die wenigen Bilder, die die Presse von mir bekam, wurden hundertfach repostet. Londons schönste Witwe. So nannten sie mich. Witwe. Was war das überhaupt für ein Wort, und warum musste ich mich plötzlich damit auseinandersetzen, was mich zu einer guten Witwe machte? Edmund steckte dem Fotograf fünfzig Pfund zu und stieg dann wieder in die schwarze Limousine, in der er auf mich wartete. Wohin würde er mich nachher bringen? In die Wohnung in Chelsea, in der alles nach Max roch? Oder doch lieber in die Cotswolds, wo sein Zimmer, das irgendwann zu unserem wurde, jetzt nur noch meins war? Wo sein Porträt neben dem seiner Geschwister hing, die ihren Bruder verloren hatten. Ich wollte nicht auch noch Carter und Linnea sehen. Meine eigene Trauer war genug.
Der Fotograf war verschwunden, und ich blieb allein vor dem Grab stehen. Dem leeren Grab der Familie Davenport, auf dem noch nicht einmal Max’ Name stand. Der Steinmetz würde nächste Woche kommen. Und seine Leiche … würde kommen, wenn die Untersuchungen abgeschlossen waren. Wenn man ihn endlich in Ruhe ließ und er hier seinen Frieden finden würde. Dann würde es endlich einen Ort geben, an dem ich wieder bei ihm sein konnte. Und auch Gene würde das brauchen. Sie kannte ihren Vater kein ganzes Jahr, aber sie hatte ihn geliebt. Bereits am Tag der Adoption war da diese ganz besondere Verbindung zwischen den beiden gewesen. Und jetzt hatte man sie getrennt.
Langsam fuhr ich mir mit der Hand über den Bauch. So lange hatte ich mir gewünscht, ein Kind mit Max zu bekommen. Stattdessen hatten wir die kleine Gene adoptiert. Mit fünf Jahren fand sie die Familie, die ihr ein neues Leben ermöglichte, und erlitt nur wenige Monate später den größten Verlust ihrer Kindheit. Das passierte wohl, wenn man Teil der Davenport-Familie wurde. Ich hatte schnell gelernt, dass es ein großes Privileg war, zur Familie Davenport zu gehören – doch jedes Privileg forderte seinen Preis, und die Opfer, die es zu erbringen galt, waren ebenso groß.
Ich ließ meinen Blick über die unzähligen Blumen und Kränze wandern. Die Trauerfeier ohne eine Leiche zu vollziehen, war seltsam gewesen. Aber wenn die Met Police einem nicht sagen konnte, wann wir mit seiner Leiche rechnen durften, traf man seltsame Entscheidungen. Wir brauchten einen Abschluss. Ich brauchte das. Einen Schlussstrich.
In unendlicher Trauer – H.
Die Nachricht von Max’ Tod hatte Harrison gebrochen. Max war schon immer sein ganzer Stolz gewesen.
Neben seinem lagen Kränze der Kanzlei, von Max' ehemaligem Institut in Cambridge, an dem er studiert hatte, und sogar die königliche Familie hatte offiziell einen Strauß geschickt. Ganz nah am dunklen Marmorstein lagen einige lose zusammengebundene Blumen. Von zartrosa Nelken über schwarze Lilien und Blüten, die kobaltblau strahlten, hatte Linnea alles in diesen Strauß gepackt, wofür Max sie immer bewundert hatte.
Vergissmeinnicht.
Ich lächelte leicht und griff nach der Blume, die Linnea sicher selbst gezogen hatte. Als könnte sie Max jemals vergessen. Als könnte irgendjemand von uns ihn jemals vergessen. Eine einzelne Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und lief mir über die Wange.
»Wie konntest du mir das antun?«, flüsterte ich und drehte die leuchtend blaue Blume in meiner Hand. Sie sah aus wie ein klarer Frühlingshimmel und roch auch so. Ich sah zurück auf den dunklen Marmor, auf dem bald der Name meines Mannes stehen würde. Der Liebe meines Lebens, die hier begraben werden würde. Immerhin saß Veronica bereits im Gefängnis. Die Frau, der ich das Leben meines Kindes anvertraut hatte. Die Frau, die das Leben meines Mannes beendet hatte. Eine weitere Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. Schnell wischte ich mit dem Handrücken über mein Gesicht. Die wasserfeste Wimperntusche würde nicht verschmieren, dafür hatte ich gesorgt. Ich legte Linneas Blume zurück zu den anderen, strich meinen dünnen Mantel glatt und sah mich um. Der Fotograf stand immer noch da. Auch wenn er sich des Anstands halber hinter zwei große Eichen zurückgezogen hatte. Ich sah, wie er die Kamera mit Teleobjektiv auf mich richtete und ein paar letzte Fotos knipste.
Gut.
Ich war eine gute Witwe.
Die schönste Witwe Londons: Florence Davenport trauernd am Grab ihres Mannes gesehenLondon – Ein Anblick, der selbst die kältesten Herzen erweicht: Florence Davenport, die anmutige Witwe des verstorbenen Anwalts Maxwell Davenport, wurde gestern in tiefster Trauer an seinem Grab gesehen. Im langen, eleganten Holland & Cooper-Mantel und mit gesenktem Kopf verkörperte sie die Würde und den Schmerz einer Frau, die von Trauer zerfressen wird. Florence, von vielen als »die schönste Witwe Londons« betitelt, scheint kaum noch Kraft zu finden, sich gegen die Tragödie aufzulehnen, die ihre Familie heimsucht. Vom Freundes- und Bekanntenkreis wird sie als trauernde Witwe beschrieben, die sich trotz des tragischen Verlustes mit Anmut und Fassung in die Öffentlichkeit wagt. Doch klar ist: Der Tod ihres Mannes zehrt an ihren Nerven, und die gesamte Familie Davenport ist von der Trauer wie zerrissen. Insider vermuten, dass Florence vor allem nach abschließender Ruhe sucht. Sie will nur eines: die Wahrheit über den Tod ihres Mannes erfahren, damit sie endlich Abschied nehmen und in Frieden trauern kann. Die Welt blickt gebannt auf die Witwe, während sie sich im Sog der Geheimnisse um Maxwells Tod behauptet – eine tragische Schönheit, die sich nichts mehr wünscht als Gerechtigkeit.
5Isabelle Holly
»Mum, ich weiß es doch auch nicht.« Während ich mir mit Zeige- und Mittelfinger leicht die Stirn massierte, starrte ich auf den Bildschirm vor mir. »Ich kann dir nur sagen, was ich weiß. Es wird gerade geprüft, ob Veronica sich für eine Kostenübernahme der Verteidigung qualifiziert oder was sie für alternative Optionen hat.«
Ich überflog nur halb aufmerksam den wöchentlichen Newsletter, den ich heute Morgen gebastelt hatte und später noch zur Freigabe hochladen musste. Je weniger Fehler ich machte, desto näher kam ich meiner festen Stelle. Ich war als freie Texterin für die Cambridge Refugee Resettlement Campaign zwar unterbezahlt und überarbeitet, aber es brachte mich meinen Zielen näher. Für die passenden Zeilen im Lebenslauf verkaufte man die eigene Freizeit.
»Isabelle?«
»Sorry, was hast du gesagt?« Ich klappte den Laptop zu und drehte mich auf dem schmalen Stuhl am Küchentisch zur Seite.
»Ich hab das Gefühl, du verstehst nicht, wie ernst diese Sache ist. Deine Schwester soll jemanden umgebracht haben. Ganz England spricht über sie.« Meine Eltern hatten das Sorgerecht für Vee übernommen, als sie dreizehn war. Meine beste Freundin war sie schon gewesen, noch bevor ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben waren. »Dein Vater und ich haben sie gestern besucht. Sie sieht schrecklich aus. Bestimmt kümmert man sich gar nicht richtig um sie.«
Warum sollte ein Gefängnis einer potenziellen Mörderin den extrasanften Conditioner anbieten? Aber diese Worte verkniff ich mir. Meiner Mutter ging es nicht gut. Mir auch nicht, wenn ich ehrlich war, aber manche Dinge ließen sich nicht ändern.
»Ich werde sie Montag besuchen.« Immerhin hatten unsere Eltern ihren wöchentlichen Besuch für diese Kalenderwoche aufgebraucht. »Vielleicht kann ich einen Scone reinschmuggeln. Mit etwas Marmelade, das wird ihr bestimmt guttun.« Natürlich würde ich nicht die Vorschriften missachten, aber der Gedanke half meiner Mutter, das wusste ich. Sie konnte es Dad erzählen, sobald wir auflegten. Vorher würde sie mir noch sagen, dass ich nicht so viel arbeiten und heute früh schlafen gehen sollte. Wie jedes Mal würde ich Ja sagen und ihr recht geben. Und wie immer würden wir beide wissen, dass ich log.
Ich legte das Handy auf meinen silbernen Laptop und löste meine Haare aus dem lockeren Knoten, den ich mir vorhin gebunden hatte. Ich massierte meine Kopfhaut, die unangenehm spannte, und sah mich in der kleinen Wohnung um. Die Wäsche stapelte sich in Körben, aber immerhin war sie sauber. Saubere Wäsche zusammenzulegen, war wirklich die unnötigste Aufgabe auf der ganzen Welt, derer sich Vee dann doch immer angenommen hatte – zumindest bis zu ihrer Verhaftung. Seitdem stand sie hier und verschwand nicht mehr wie durch Zauberhand.
Mein Handy leuchtete erneut auf, und ich dachte schon, meine Mutter hätte etwas vergessen. Stattdessen rief eine unbekannte Nummer an. Kurz schwebte mein Finger über dem roten Hörer. Ich hasste Anrufe, bei denen ich nicht wusste, was die Person auf der anderen Seite der Leitung wollte. Es könnte auch Carter sein, flüsterte eine verräterische Stimme in meinem Kopf, und diese winzige Sekunde der Hoffnung reichte aus, um den Anruf anzunehmen.
»Whitmore?« Ich zog meine Augenbrauen leicht zusammen und wartete ab.
»Holly?« Carters Stimme ließ mein Herz aussetzen. Isabelle Whitmore. Shit, wie konnte ich nur so unvorsichtig sein? Zwei Worte und alles wäre vorbei, bevor es richtig angefangen hatte.
Holly, Holly, Holly.
Ich betete diesen Namen in meinen Gedanken runter, um mir klarzumachen, wer ich war.
»Du bist es wirklich, oder? Und ich dachte schon, du hättest mir die Nummer einer Reinigungsfirma gegeben oder so.« Carter lachte. Ich atmete tief durch und stopfte meine Sorgen in eine kleine Kiste in meinem Kopf, mit der Aufschrift für später aufheben.
»Warum … Hi«, stammelte ich überrascht und stand auf. »Ich habe nicht erwartet, dass du dich meldest«, gab ich ehrlich zu und trug meinen Laptop ins Schlafzimmer, um ihn auf dem Nachttisch abzustellen. Später war bestimmt noch etwas Zeit, um nach weiteren Anwaltskanzleien zu suchen, die wir uns entweder nicht leisten konnten oder die sich nicht mit den Davenports anlegen wollten. Jetzt musste ich mich erst mal damit auseinandersetzen, dass Carter wirklich angerufen hatte. Das hier war echt. Keine absurde Projektion meines übermüdeten Gehirns.
Es war fast lächerlich, wie wenig ich darüber nachgedacht hatte, was ich sagen würde, wenn dieser Moment wirklich kam. Normalerweise plante ich alles so penibel, dass Vee mich regelmäßig damit aufzog. Aber gerade fühlte sich mein Leben an, als hätte ich den Faden verloren, irgendwo zwischen dem, was ich tun wollte, und dem, was ich gerade tat. Aber vielleicht war das okay. Vielleicht musste nicht immer alles durchdacht sein. Ich hatte gerade aber auch einfach keine andere Wahl.
»Ich habe dir doch gesagt, ich würde dich nicht vergessen.« Carters Lachen knackte leicht im Telefon.
»Ja, das hast du …«, sagte ich leise und knipste das Schlafzimmerlicht hinter mir aus.
»Bereit für eine Runde Poker mit mir?«
»Ist das deine Art, mich zu fragen, ob ich mit dir ausgehe? Etwas skurril, findest du nicht?« Ich ließ mich auf das Schlafsofa fallen, das dreihundertfünfzig Tage im Jahr als Bett bezogen war und nur zu besonderen Anlässen zur Couch umfunktioniert wurde.
»Nein.« Warum enttäuschte Carters Antwort mich? »Ich will wirklich nur Poker mit dir spielen.« Ich schluckte und wartete ab. »Ich würde dich dazu gern in meine Wohnung einladen.«
»Aha. Ich habe das Gefühl, wir kommen der Wahrheit näher.« Ich kreuzte die Beine und lehnte mich gegen das unbequeme Polster. Keiner von uns sagte etwas, und die Stille hing zwischen uns.
»Warum lädst du mich in deine Wohnung ein, Carter?« Das machte alles keinen Sinn. Wieso servierte mir das Universum diese Möglichkeit auf dem Silbertablett?
»Weil mein Vater es hassen würde.« Es klang wie die Wahrheit, trotzdem kam seine Einladung mehr als überraschend. Ich stellte Carter auf Lautsprecher und öffnete meine Handynotizen.