Frankfurter Verschwörung - Robert Maier - E-Book

Frankfurter Verschwörung E-Book

Robert Maier

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Beschreibung

IT-Rentner Olaf kann seinen selbstprogrammierten Handy-Virus kaum bändigen. Über ein Hotel-WLAN sendet er ihm ein Chatprotokoll, in dem die Entführung einer Jugendlichen in der Frankfurter Nordweststadt abgesprochen wird. Als Lösegeld soll die Mutter eine wertlose altrömische Münze übergeben. Der "Virus Cop" ist angefixt und beginnt zu recherchieren. Er erfährt, dass die Münze fünfzig Jahre zuvor vom Großvater der Entführten ausgegraben wurde: in der Frankfurter Römerstadt, wo einst die römische Stadt Nida stand. Parallel dazu stößt er auf einen Mann, der im Internet jungen Mädchen die große Liebe vorgaukelt und sie dazu drängt, Nacktfotos zu machen, um sie anschließend damit zu erpressen. Eines seiner Opfer ist die entführte Tochter. Als kurz darauf zwei brutale Morde geschehen, kommt Olaf einem bizarren Verschwörungsmythos auf die Spur, der Mutter und Tochter einen grausamen Tod bringen soll … Nach "Frankfurter Fake News" liefert Robert Maier mit seinem dritten "Virus Cop"-Krimi einen weiteren hochspannenden Beitrag zu Manipulation und Verschwörungsglauben im Internet: aktuell, authentisch – und besorgniserregend für alle, die die Gefahr von Verschwörungsmythen für die Gesellschaft erkannt haben.

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eISBN 978-3-948987-79-4

Copyright © 2023 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Robert Maier

Virus Cop

Frankfurter Verschwörung

Krimi

Inhalt

Der Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Der Autor

Robert Maier, 1961 in Frankfurt am Main geboren, schreibt seit 2010 Belletristik und Kurzgeschichten. Dabei fühlt er sich im Krimi-Genre genauso wohl wie etwa in Science-Fiction und sozialkritischen Glossen.

2016 wurde sein erster Roman „Pankfurt“ veröffentlicht.

Robert Maier ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Er arbeitet bei einer großen deutschen Fluggesellschaft im IT-Bereich.

Veröffentlichungen bei mainbook:

„Virus Cop – Der Tote an der Nidda“ (2019)

„Virus Cop – Frankfurter Fake News“ (2020)

1

Wie meistens ließ sich Olaf Zeit mit dem Frühstück. Das Aufstehen war ihm heute besonders schwergefallen. In der Nacht hatte er immer wieder an die seltsame Nachricht denken müssen. Nun fühlte er sich, als hätte er gar nicht geschlafen. Heute aß er nur eine Scheibe Brot mit Marmelade. Das Wichtigste war der Kaffee. Der sollte seine Lebensgeister wecken. Obwohl Samstag war, fand nicht wie sonst das große gemeinschaftliche Frühstück mit Eiern, Brötchen, Wurst und Käse statt. Tobias musste das komplette Wochenende arbeiten und war schon sehr früh aus dem Haus gegangen.

Der Kühlschrank beherbergte die Zutaten für ein Rindergulasch, das Olaf für sie beide am Abend zubereiten würde. Manchmal konnte er selbst nicht glauben, dass sein Sohn noch bei ihm wohnte. Gewöhnlich verließ Tobias früh das Haus zu seiner Arbeit bei der Mordkommission und kam spät zurück. So hatte Olaf die 4-Zimmerwohnung die meiste Zeit für sich allein. Erst vor wenigen Wochen hatte sein Leben als Rentner begonnen, dabei war er noch nicht einmal sechzig.

Seit einer Woche ließ ihn die geheimnisvolle Nachricht nicht los, die ihm der Virus geschickt hatte.

Sein Virus: Manchmal liebte er ihn, manchmal hasste er ihn. Es war ihm zu verdanken, dass Olaf zwei knifflige Kriminalfälle hatte lösen können. Wie es schien, war nun der Dritte an der Reihe. Kein schlechter Schnitt für einen ehemaligen IT-Security-Experten, der nie das Handwerk eines Polizisten erlernt hatte.

Mit der noch halbvollen Tasse in der Hand ging er in sein Arbeitszimmer, um den Laptop hochzufahren. Zwar kannte er den Text auswendig, trotzdem wollte er ihn sich ein weiteres Mal ansehen. Mit einem Doppelklick öffnete er den Viruskonfigurator, mit dem er Einstellungen für den Virus vornehmen und dessen Nachrichten ansehen konnte. Es erschien das vertraute bunte Fenster auf dem Bildschirm. Mit einem weiteren Doppelklick öffnete Olaf die Nachricht, die er vor einer Woche erhalten hatte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, von welchem Smartphone sie stammte, genauso wenig, wem das Handy gehören könnte. Der Virus war unbeabsichtigt darauf gelandet, gewissermaßen als Kollateralschaden.

Er selbst hatte den Virus programmiert. Umso seltsamer, dass es immer wieder zu unerklärlichen Komplikationen gekommen war. Dass er vieles mehr ausspioniert hatte als vorgesehen, war in Olafs erstem Mordfall ein großer Vorteil gewesen. Allerdings war er auch mehrmals außer Kontrolle geraten. Das war der Grund, weshalb Olaf ihn abgeschaltet hatte. Zumindest war dies Olafs Absicht gewesen, denn auf genau einem Handy hatte der Virus alle seine Bemühungen zum Löschen überlebt.

Für den Moment allerdings bedeuteten die Macken seiner Spähsoftware, dass er lesen konnte, was vor acht Tagen auf dem Handy eingetippt worden war. Und seitdem grübelte er darüber, was dieser Text bedeuten könnte.

Ein dezentes Pling kündigte eine Nachricht des Messengers an. Olaf blickte auf das Handydisplay: Gottfried.

»Fertig mit dem Frühstück?«, lautete die Nachricht. Gottfried kannte Olafs Gewohnheiten und wusste, wann er gewöhnlich aufstand und dass er sich beim Frühstück Zeit ließ.

»Selbstverständlich«, gab Olaf als Antwort ein. »Und du mit dem Mittagessen?«

Er wusste nicht aus dem Stegreif, wie viele Stunden Zeitunterschied zwischen ihm und Gottfried herrschten. Vermutlich waren es vier Stunden.

»Ich habe etwas gegessen«, kam von Gottfried zurück, »aber keine Ahnung, was es war.«

Olaf musste grinsen. Wie es schien, hatte es ihm nicht sonderlich geschmeckt. Dass er überhaupt in seinem Zustand die weite Reise nach Indien unternommen hatte, grenzte an Verrücktheit.

»Du hast doch sowieso keinen Appetit«, gab Olaf zurück.

»Doch. Sogar sehr. Aber die indische Küche …«

Olaf selbst war einige Male in Asien gewesen und wusste, das Essen dort konnte grandios sein. Für einen Europäer stellte es aber auch eine geschmackliche Herausforderung dar, häufig auch eine für die Verdauung, und vor allem war es zumeist unglaublich scharf. Dass Gottfried sich in seinem schlechten Gesundheitszustand zu einem Business Trip nach Bangalore entschlossen hatte, war allerdings nicht nur wegen der lokalen kulinarischen Gepflogenheiten geradezu unverantwortlich.

»Du bist aber zum nächsten Chemo-Termin zurück, sonst hole ich dich!«, tippte Olaf ein. Er ahnte, was er von Gottfried als Antwort erhalten würde. Eigentlich war es ein Wunder gewesen, dass er überhaupt mit der Therapie begonnen hatte. Tagelange Meetings in Kalifornien schienen ihm wichtiger gewesen zu sein, als die Chemo rechtzeitig zu beginnen, die ihm eine fifty-fifty-Überlebenschance bot.

»Muss ich nicht«, kam nach einigen Sekunden zurück. Olaf starrte verdutzt auf den Bildschirm. Der Kerl wollte tatsächlich die Therapie abbrechen!

»Spontane Wunderheilung?«, schickte Olaf zurück.

»Nein, erzähle ich dir später. Ich treffe mich gleich mit Naveen. Ich rufe dich am Abend an, also bei dir am Nachmittag. Dann lass uns über den neuen Fall reden.«

Olaf wollte so etwas eingeben wie »Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank«, aber das würde er sich für das Telefonat am Nachmittag aufheben. Wie es schien, war Gottfried irre geworden. Er konnte unmöglich glauben, dass er ohne Chemo den Krebs überleben würde. Olaf wollte seinen Freund nicht an die Krankheit verlieren. So weit durfte es nicht kommen. In ihrem Telefongespräch würde er Klartext reden.

Olafs Stimmung hellte sich erst wieder auf, als er zurück an seinem Schreitisch vor dem Bildschirm saß. Er betrachtete das Fenster mit der Nachricht, die ihm so viel Kopfzerbrechen bereitete. Sein Virus konnte so ziemlich alles, wovor sich Handynutzer fürchten sollten. Für ihn war es kinderleicht, Passwörter auszuspähen oder unbemerkt Videos aufzuzeichnen. Olaf konnte sogar in Echtzeit ein infiziertes Handy kapern, indem er sich aufschaltete.

Die letzte Virusnachricht bestand aus den Daten eines Key-Loggers, einer Funktion, durch die jedes eingegebene Zeichen mitgeschnitten und auf Olafs Server geschickt wurde. Diese Tastatureingaben stammten offensichtlich aus einem Chat zwischen zwei Personen. Der Key-Logger konnte natürlich nur den Teil der Unterhaltung mitschneiden, den der Besitzer des infizierten Smartphones eingegeben hatte. Was von der Gegenseite geschickt worden war, fehlte. Es war, als hörte man jemandem beim Telefonieren zu, bekäme aber nicht mit, was auf der anderen Seite der Leitung gesprochen wird.

Seit nunmehr acht Tagen hatte Olaf sich den Text immer wieder durchgelesen.

Sigfried, bist du da?

In Weimar.

Ich bin hier beim Kunden. Morgen fahre ich zurück nach Frankfurt.

Was denkst du denn? Ich bin in einem Hotel-WLAN. Völlig anonym, außerdem verschlüsselt. Das kann niemand tracken.

Klar. Mach ich platt. Wo soll ich es deponieren?

An der Nidda? Wo genau?

Ist angekommen. Danke. Sind die GPS-Koordinaten genau genug? Es könnte mehrere geben.

Rechte oder linke Seite?

Okay. Wann genau?

Klappt. Und wann schnappen wir uns das Mädchen?

Wo können wir es einsperren?

Und was machen wir mit ihr?

So lange?

Und wenn es davon stirbt?

Sehe ich genauso. Also nächste Woche Sonntag. Das wird prickelnd!

Olaf legte die Lesebrille neben den Laptop, stellte sich ans Fenster und blickte nach unten auf die enge, von parkenden Autos gesäumte Einbahnstraße.

Vieles in dem Chat blieb nebulös. Klar war aber, dass sich hier Leute zu einer Entführung verabredet hatten, der Entführung eines Mädchens. Sie sollte an einem Sonntag stattfinden. Wie es schien, war Sonntag diese Woche gemeint. Und es würde in Frankfurt passieren. Es musste Olafs Heimatstadt gemeint sein, nicht etwa Frankfurt an der Oder, da von der Nidda die Rede war, dem Fluss, der durch den Norden von Frankfurt am Main fließt. Mehr war aus der Virus-Nachricht nicht herauszulesen. Es galt, ein Mädchen zu retten, wer immer es war und vor wem auch immer. Aber daran war nicht zu denken, solange der Virus sich nicht wieder meldete. Seit dem vorletzten Freitagabend war nichts mehr von ihm zu hören gewesen. Offenbar war das Handy ausgeschaltet.

2

Gottfried rief um kurz vor drei an.

»Was hat dich geritten, nach Bangalore zu fliegen?!« Olaf hielt sich nicht mit einer freundlichen Begrüßung auf. »Du hast Termine für die Chemo. Die musst du einhalten.«

»Auch dir einen schönen, guten Tag«, gab Gottfried in ruhigem Ton zurück. »Ich bin hier, um die vertraglichen Grundpfeiler für die künftige Off-Shore Test Factory einzuschlagen.«

»Das Einschlagen kannst du auch jemand anderem überlassen. Du musst nicht alles selbst machen.«

»Wenn ich Carsten oder einen anderen Teamleiter geschickt hätte, wäre das Ergebnis suboptimal. Ich habe mir vor Ort bereits ein Netzwerk aufgebaut. Vor allem mit Naveen läuft es sehr gut, das ist der Key Account Manager.«

»Wie schön für dich«, sagte Olaf ironisch. »So was kann man auch von zu Hause aus per Videokonferenz machen. Du musst deine Gesundheit wiederherstellen.«

Gottfried gab das hüstelnde Lachen von sich, das seit seiner Krebserkrankung typisch für ihn war. »Gute Abschlüsse erreicht man, wenn man gemeinsam Essen oder am Abend zusammen ein Bier trinken war. Das geht nicht übers Internet.«

»Du trinkst doch nicht etwa Alkohol während der Chemotherapie!«, rief Olaf heftig. »Machst du überhaupt noch die Therapie?«

»Nein«, kam es von Gottfried zurück, »ich habe keinen Alkohol getrunken und werde es auch nicht tun. Und ja, ich setze die Therapie fort. Sie ist ja meine fifty-fifty-Chance, den Darmkrebs zu besiegen. Ich mache die Chemo hier in Bangalore weiter.«

»In Indien?«, sagte Olaf entgeistert. »Ayurvedische Darmmassage oder was?«

»Ich habe einen Deal mit Doktor Scharschmidt und meiner Krankenkasse gemacht«, fuhr Gottfried fort. »Am Dienstag habe ich meinen Chemo-Tag im Fortis Hospital. Ich bekomme dasselbe Präparat wie in Frankfurt, und auch sonst wird dasselbe mit mir gemacht, was auch Doktor Scharschmidt tun würde.«

»Und die Krankenkasse zahlt das?«

»Ich muss es vorlegen und kann es später einreichen.«

Zwar war Gottfried völlig verrückt, was seine Dienstreisen anbelangte, aber diesmal hatte die Therapie es in seine Reiseplanung geschafft. Für Gottfried war so etwas alles andere als selbstverständlich.

»Und du gehst auch wirklich hin«, sagte Olaf.

»Sei unbesorgt. Das Meeting mit dem Legal Department ist bis neun Uhr dreißig terminiert. Danach gehen wir kurz einen Kaffee trinken, und das Taxi ist für zehn Uhr bestellt.«

Das klang, als hätte Gottfried den Chemo-Termin in seinen Outlook-Kalender eingetragen. Olaf war erleichtert.

»Lass uns lieber über die letzte Nachricht deines Virus reden«, sagte Gottfried. »Die gibt einem Rätsel auf. Wieso ist der Virus überhaupt auf diesem Handy gelandet?«

»Ich habe dir erklärt, dass er sich in einem WLAN festsetzen kann, wenn sich ein infiziertes Gerät dort einloggt.«

»Ach die Geschichte«, kam von Gottfried zurück. »Und das WLAN, um das es geht, ist das von dem Hotel in Weimar aus unserem letzten Fall?«

»Genau das«, bestätigte Olaf.

Das Hotel hatte eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt. Dass sich der Virus über dessen WLAN auf weitere Handys verbreiten würde, war von Olaf aber nicht beabsichtigt gewesen.

»Und jetzt wird jedes Gerät in diesem Netzwerk infiziert. Du hast es also fertiggebracht, dass alle Handys der Welt von dem Virus befallen werden. Denkst du nicht, es ist genug mit deinen Cyber-Experimenten?«

Gottfried war schon immer gegen den Virus gewesen. Dabei hatten ihn die Informationen, die er Olaf geschickt hatte, stets brennend interessiert.

»Du weißt, dass ich nicht vorausgesehen habe, dass der Virus sich in WLANs einnistet. Und du weißt, dass ich den Virus auf allen infizierten Geräten sofort wieder gelöscht habe.«

»Aber in dem Hotel-WLAN stecken sich doch immer weitere Handys an. So muss es auch mit dem gewesen sein, von dem aus die Nachricht zu unserem neuen Fall geschickt wurde.«

»An den Virus im WLAN komme ich nicht heran. Seit dem Abend, an dem ich die Nachricht bekommen habe, läuft aber ein Skript, das jeden Virus löscht, sobald er etwas schickt.«

»Und das soll klappen?«, sagte Gottfried skeptisch.

»Es ist ein wenig von hinten durch die Brust ins Auge«, räumte Olaf ein, »und alles andere als elegant, aber es funktioniert.«

»Bei einem Handy hat es offensichtlich nicht funktioniert.«

»Die Nachricht ist von dem bewussten Abend. Ich habe das Löschprogramm erst danach gestartet. Zwar habe ich weitere Nachrichten von anderen Handys erhalten – und daraufhin wurden die betreffenden Viren gelöscht – von dem Handy, das uns die mysteriöse Nachricht geschickt hat, gibt es aber nicht mehr als genau diese eine Nachricht.«

»Dann hat jemand das Handy unmittelbar nach dem Chat heruntergefahren«, sagte Gottfried nachdenklich.

»Und weil der Virus sich seit heute nicht mehr gemeldet hat, wurde es auch nicht wieder eingeschaltet«, sagte Olaf. »Oder es hat kein Netz, also weder mobile Daten noch ein WLAN zur Verfügung.«

»Also hat jemand auf dem Handy mit einem gewissen Sigfried gechattet, und seitdem das Gerät nicht mehr benutzt. Warum sollte jemand so etwas tun?«

»Weil es nicht sein eigentliches Handy ist«, sagte Olaf. »Wer immer es ist, er hat ein weiteres Smartphone.«

»Dann muss er sich auch mit dem anderen Handy im Hotel-WLAN eingeloggt haben«, sagte Gottfried hoffnungsfroh, »und hat sich auch darauf den Virus eingefangen.«

»Kann sein. Aber ich habe ja alle Viren gelöscht, die Nachrichten an den Server geschickt haben. Zunächst händisch, dann mit dem Löschprogramm.«

»Und wie steht es mit den Daten, die geschickt wurden? Ist das alles weg?«

»Ich habe Tabula rasa gemacht und alles ungesehen gelöscht. Viele Leute nehmen ihr Smartphone mit aufs Klo. Und du weißt, dass der Virus heimlich Videos aufnimmt.«

Wieder lachte Gottfried hüstelnd. »In dem Chat geht es um die Entführung eines Mädchens«, sagte er schließlich ernst. »Was können wir tun, um das zu verhindern?«

»Und es ist die Rede davon, das Mädchen gefangen zu halten, wie es scheint für eine längere Zeit.«

»Wir müssen herausbekommen, was der andere im Chat, dieser Sigfried, geschrieben hat. Werden wir es erfahren, wenn der Virus sich wieder meldet?«

»Mit den aktuellen Einstellungen wird der Virus schlicht alles schicken, was technisch machbar ist, ganz gewiss auch den vollständigen Chat-Verlauf.«

»Lass uns hoffen, dass das möglichst bald passiert. Und rechtzeitig. Diese Leute haben sich verabredet, ein Mädchen zu kidnappen. Der Satz ›Und wenn es daran stirbt?‹ macht mir am meisten Sorgen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was diese Leute mit ihrem Opfer anstellen wollen.«

3

Olaf hatte Gottfrieds letzten Satz im Ohr, als er zurück an den Laptop ging. Es war ein ungutes Gefühl, von einem bevorstehenden Verbrechen zu wissen, es aber nicht verhindern zu können. Eigentlich war ihm nur der Tag bekannt: Es sollte an diesem Sonntag geschehen, also morgen.

Olaf überprüfte die Einstellungen im Konfigurator, vergewisserte sich, dass sowohl auf seinem Laptop wie auch auf dem Smartphone ein unüberhörbares Signal ertönen würde, sobald der Virus eine Nachricht schickte.

Und das war immer ein weihnachtlich anmutendes Bimmeln. Olaf hatte einen solchen Ton niemals vorgesehen, trotzdem war er dem Virus nicht abzugewöhnen. Nach zig Versuchen, auf einen anderen Ton umzustellen, hatte Olaf sich mit dem kitschigen Weihnachtsglöckchen abgefunden. Das war eine der zahlreichen Merkwürdigkeiten des Virus, die er sich nicht erklären konnte.

Das Löschprogramm war aktiv und lief wie vorgesehen. In den letzten fünf Stunden hatte es den Virus von dreiundzwanzig Geräten deinstalliert, allesamt Handys und Laptops, die sich in das WLAN des Weimarer Hotels eingeloggt hatten. Für den Virus, der die geheimnisvolle Nachricht geschickt hatte, ließ Olaf die Funktion zum Löschen natürlich ausgeschaltet. Alles war vorbereitet. Was fehlte, war ein Lebenszeichen des Virus.

Das angenehme Dingdong der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf die Uhr: kurz nach halb vier. Die falsche Uhrzeit für einen Nachbarn, sich eine Zitrone oder eine Zwiebel fürs Mittagessen ausleihen zu wollen. Er tippte auf einen Paketboten, als er zur Haustür ging.

»Kann ich einen Moment reinkommen?«

Er war überrascht, als er die pummelige Frau vor seiner Tür erblickte. Jasmin sah ihn unsicher an. Ihre geröteten Augen verrieten, dass sie gerade geweint hatte. Er hatte sie bereits als Kind gekannt und in diesem Haus aufwachsen gesehen. Mittlerweile war sie Mutter eines kleinen Kindes. Soweit er wusste, arbeitete sie in der Altenpflege.

Und es war offensichtlich, dass sie sich keine Zutaten zum Kochen ausleihen wollte.

»Ist was mit deinen Eltern?« Olaf lotste sie in die Küche.

»Ja«, sagte Jasmin mit düsterem Blick. Unaufgefordert ließ sie sich am Küchentisch nieder.

»Kaffee?« Er füllte eine Tasse mit dem Kaffee, den er eigentlich für sich aufgesetzt hatte, platzierte sie vor Jasmin auf den Tisch und setze sich ihr gegenüber. Er war überrascht, dass sie sich ihm anvertrauen wollte. Ihm war unwohl bei dem Gedanken, er könnte in Familienprobleme hineingezogen werden, die vielleicht die lange gepflegte Hausgemeinschaft aus dem Gleichgewicht bringen würden.

»Also, was ist los?«, sagte er.

»Mein Vater redet nur noch Scheißdreck. Ich erkenne ihn nicht mehr wieder.«

Beinahe hätte Olaf laut gelacht. Jasmin schien aber derart erschüttert, dass er es sich verkniff. »Reden wir nicht alle hin und wieder Mist?«, sagte er stattdessen.

Jasmin verzog ihr Gesicht zu einer genervten Grimasse. »Hin und wieder!«, zischte sie. »Er erzählt mir, wir alle würden in Wirklichkeit von Kinderschändern regiert, von einem geheimen Staat im Staate, der uns Böses will, und lauter anderen Schwachsinn. Noch hätte ich es nicht bemerkt, aber früher oder später würde auch ich wissen, dass wir alle nur verarscht werden.«

»So was sagt dein Vater? Das kann er nicht ernst meinen.«

Sie rollte theatralisch mit den Augen. »Er meint aber, was er sagt. Impfungen dienen dazu, uns heimlich Chips zu implantieren. Dann können die da – wer immer das sein soll – uns kontrollieren und fernlenken.«

»Im Ernst? Thorsten sagt solches Zeug?«

Sie nickte.

»Dann ist dein Vater wohl Anhänger von Verschwörungstheorien«, konstatierte Olaf. Er kannte Thorsten, Jasmins Vater, schon seit Jahren, nein Jahrzehnten. Zwar nur als Nachbarn – man lieh sich gelegentlich die Bohrmaschine aus, hielt ein kurzes Schwätzchen im Hausgang und prostete sich zu Neujahr auf der Straße zu – trotzdem hatte Olaf geglaubt, ihn gut zu kennen. Er hätte niemals für möglich gehalten, dass Thorsten in den Sog von Verschwörungstheoretikern geraten könnte.

Jasmin schnaufte traurig. »Es ist keine vernünftige Unterhaltung mit ihm möglich. Ständig ätzt er gegen Politiker, gegen die mächtigen Eliten …«

»Lass mich raten«, unterbrach sie Olaf, »die jüdische Weltverschwörung, QAnon, Bill Gates und Lady Gaga.«

»Genau die. Die ganze Palette. Er lässt nichts aus.«

»Und was ist mit Ulla?«

»Meine Mutter scheint den Quatsch auch zu glauben. Oder es ist ihr egal. Jedenfalls widerspricht sie meinem Vater nicht, wenn er seinen Scheiß erzählt.«

»Mir ist keine Veränderung an deinen Eltern aufgefallen. Allerdings habe ich seit einer Weile nicht mit ihnen gesprochen.« Wahrscheinlich hatte er einen der beiden zuletzt beim Müllwegbringen oder im Treppenhaus gesehen, jedenfalls nur bei einer kurzen Begegnung, wo es über ein knappes Frankfurterisches »Ei Gude« nicht hinausgegangen war.

»Sie sind seit ein paar Monaten so«, sagte Jasmin, »und von Tag zu Tag krasser drauf.« Sie musterte ihn vorsichtig. »Ihr kennt euch, seit ich ein kleines Kind war. Kannst du nicht mal mit denen reden?«

Olaf schnaufte durch. Mit Verschwörungstheoretikern zu diskutieren, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Meist waren sie in ihrem Irrglauben so gefestigt wie ein Selbstmordattentäter des IS. Um die wirr verschalteten Synapsen an den richtigen Stellen aufzulösen, brauchte es mehr als einen Nachbarn, der ihnen gut zuredet. Da waren gute Psychiater nötig. Olaf konnte nur darauf hoffen, dass Thorsten und Ulla noch nicht zu tief in die Fänge der Verschwörungstheorien eingetaucht und für das ein oder andere Argument zugänglich waren. Nach dem, was Jasmin ihm gerade erzählt hatte, war leider nicht davon auszugehen. Er würde es dennoch versuchen.

»Ich gehe morgen in den dritten Stock und klingle bei ihnen«, sagte er.

»Danke.« Jasmin seufzte. »Jetzt muss ich wieder hoch, Finn holen. In zwei Monaten habe ich einen Kindergartenplatz für ihn, dann ist er wenigstens werktags untergebracht. Ich weiß wirklich nicht, ob ich ihn weiter zu meinen Eltern bringen werde, wenn ich zum Dienst muss.«

Sie nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse mit angewidertem Gesicht zurück, als würde er nicht schmecken.

»Olaf, hast du einen Schnaps für mich?«

Olaf behielt das Handy in seiner Nähe, um im Falle einer Virus-Nachricht sofort reagieren zu können. Selbst beim Duschen lag es zusammen mit der Lesebrille im Badezimmer auf dem Schränkchen. Und genau, als er sich Shampoo in die Haare rieb, ertönte das Signal des Virus: das charakteristische, weihnachtliche Glöckchen-Bimmeln. Fluchend hielt er den Kopf unter den Duschstrahl, um sich den Schaum abzuspülen, und sprang aus der Duschkabine. Er schnappte sich das Handtuch und sofort darauf Handy und Brille.

Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht geöffnet war. Es handelte sich um eine Audiodatei, die auf dem Handy automatisch abgespielt wurde.

»Ja, hallo?« Die unsichere Stimme einer Frau.

»Glückwunsch!«, war die ironische Stimme eines Mannes zu hören. »Sie haben das Handy gefunden.«

»Wie geht es jetzt weiter?«, sagte die Frau heftig. »Wo ist meine Tochter?«

»Auf diesem Handy werden wir die weitere Übergabe besprechen. Und nur auf diesem. Holen Sie Ihres aus der Tasche!«

»Ich soll mein Handy herausholen?«, sagte die Frau ungläubig.

»Tun Sie es jetzt sofort!«

Es entstand eine Pause, in der die Frau vermutlich in ihrer Handtasche kramte.

»Prima. Geschafft«, rief der Mann spöttisch.

»Woher wissen Sie …«

»Und jetzt holen Sie weit aus und werfen Sie es in die Nidda.«

»Ich kann doch nicht einfach mein Handy ins Wasser …«

»Sie schaffen das. Werfen Sie das Ding in die Nidda. Ja. Sie machen das sehr gut.«

»Beobachten Sie mich?«, sagte die Frau verblüfft.

»Und nun zur Übergabe«, fuhr der Mann unbeirrt fort. »Fahren Sie zum Praunheimer Weg in der Nordweststadt und biegen Sie dann in den Hammarskjöldring ab. Dort parken Sie. Wenn Sie angekommen sind, rufe ich Sie wieder an.«

»Was ist mit meiner Tochter?« Die Frau klang beides, ängstlich und aggressiv. »Ich will sofort mit meiner Tochter sprechen!«

»Sie werden Ihre Tochter zurückbekommen, sobald Sie die Münze übergeben haben.«

»Nein!«, insistierte die Frau. »Ich muss wissen, dass es ihr gut geht. Holen Sie sie ans Telefon.«

»Sie ist wohlauf. Noch. Solange Sie tun, was ich von Ihnen verlange.«

»Wehe, Sie krümmen ihr auch nur ein Haar!« Die Frau klang unsicher. Sie wusste, dass sie eine leere Drohung ausstieß.

»Und schalten Sie nicht die Polizei ein! Sollten Sie das tun, bekommen Sie Ihre Tochter nicht wieder zurück. Jedenfalls nicht an einem Stück.«

»Ich habe nicht vor, mit der Polizei zu reden«, sagte die Frau nervös.

»Fahren Sie in den Hammarskjöldring«, wiederholte der Mann die vorherige Anweisung. »Ende der Durchsage.«

Ein Klickgeräusch machte klar, dass er die Verbindung unterbrochen hatte.

Olaf hatte das Gefühl, unter Strom zu stehen. Er war live bei einer Entführung dabei! Schnell trocknete er sich vollständig ab und zog sich etwas über, bevor er in sein Arbeitszimmer rannte. Er brauchte den großen Bildschirm. Ungeduldig wartete er darauf, dass der Laptop hochgefahren war und er den Viruskonfigurator starten konnte.

Es hatte in der Zwischenzeit keine weitere Nachricht des Virus gegeben, sonst wäre das weihnachtliche Bimmeln auf dem Handy ertönt. Wenn er neu auf einem Gerät installiert war, schickte der Virus gewöhnlich ein ganzes Paket von Nachrichten: Passwörter, Chatverläufe, eine Liste der besuchten Webseiten und vieles mehr, das er auszuspionieren in der Lage war. Bei diesem Handy allerdings schien sich der Virus anders zu verhalten. Erneut hörte Olaf sich die Audiodatei mit dem Telefonat an. Dabei achtete er erstmalig auf die Uhrzeit, zu der sie aufgenommen worden war. Vor mehr als vierzig Minuten! Wieso hatte der Virus so lange gebraucht, diese Datei zu schicken? In den letzten vierzig Minuten konnte alles Mögliche passiert sein. Olaf hatte angenommen, er habe quasi live erlebt, was da draußen passiert war. Stattdessen war er bloß Zaungast bei einer vierzig Minuten alten Aufzeichnung gewesen. Vermutlich war das Lösegeld längst übergeben worden: eine Münze. Es musste ein sehr kostbares Stück sein, eines für das sehr viel Geld geboten würde.

Einen Moment lang starrte er den Bildschirm an, hoffte auf eine weitere Nachricht. Dann klickte er auf den Knopf ›Hijack‹. Mit dieser vielleicht mächtigsten Funktion des Virus konnte man sich auf ein infiziertes Handy aufschalten und Kontrolle über alle installierten Apps bekommen. Dazu gehörte, alles zu sehen, was die Kameras des Gerätes aufzeichneten, und zu hören, was das Mikrofon registrierte. Eine ideale Wanze, mit der er live in Bild und Ton verfolgen konnte, was in der Umgebung des Smartphones vor sich ging.

Er fluchte, als die Verbindung mit dem Handy fehlschlug. Auch weitere Versuche brachen mit der Fehlermeldung ab, das entfernte Gerät könne nicht erreicht werden. Wieder klickte Olaf auf den Knopf, gewiss zum zehnten Mal, und wusste, dass auch dieser Versuch nicht funktionieren würde. Wie es schien, war das Handy in einem Funkloch. Vielleicht in einem Gebäude mit schlechtem Empfang. Oder in einer Tiefgarage. Vielleicht war das Handy auch bloß ausgeschaltet.

Er musste auf die nächste Nachricht warten. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Und er wusste, er konnte nicht eingreifen, was immer dort gerade geschah. Mittlerweile konnte das Mädchen freigelassen worden sein, oder es war bereits tot.

Olaf würde es vielleicht mit der nächsten Nachricht erfahren.

4

Erfahrungsgemäß würde der Abbiegevorgang auf die Outer Ring Road etliche Minuten dauern. Durch das Fenster des Taxis sah sich Gottfried inmitten eines Knäuels aus Autos, Motorrädern und LKW. Alle diese Fahrzeuge schienen in unterschiedliche Richtungen zu streben. Hinter ihm schickte sich ein Linienbus an, die Mitte der mehrspurigen Ausfallstraße zu erreichen. Das Hupen war allgegenwärtig. Dröhnendes Hupen, hohes Hupen, quäkendes Hupen verbanden sich zu einer Lärmkulisse, die in Bangalore zum alltäglichen Straßenverkehr gehörte.

Gottfried war froh, in einem Taxi zu sitzen und nicht selbst fahren zu müssen. Beharrlich arbeitete der Fahrer sich Zentimeter um Zentimeter vor. Nur noch wenige Minuten und das Taxi hätte eine der Fahrspuren der Outer Ring Road erreicht. Dann würde es in den chaotischen Verkehrsfluss geworfen wie ein Tennisball in einen tosenden Bach.

In Mumbai hatte Gottfried einmal einen Taxifahrer gefragt, wie es sein konnte, dass es bei der indischen Fahrweise nicht ständig Verkehrsunfälle gab. Seine Frage hatte beim Fahrer Irritation ausgelöst. Nach einigem Nachhaken und Erläuterungen, was er genau gemeint habe, hatte der Fahrer verwundert geantwortet: »We hear their horns.« Seitdem kannte Gottfried das wichtigste Prinzip im indischen Straßenverkehr: Wie Fledermäuse sich in der Dunkelheit über das Echo ihrer Rufe orientieren, orteten indische Fahrer andere Verkehrsteilnehmer durch deren Hupen. Ohne hinzusehen, wussten sie stets, wo genau sich vor und hinter, links und rechts von ihnen andere Fahrzeuge befanden. Zumindest diejenigen, die hupten.

Bis zum Hotel war es nicht weit. Vor einem Jahr, bei seiner letzten Bangalore-Reise, war er einmal zu Fuß vom Büro dorthin gelaufen. Es war ein Abenteuer der besonderen Art gewesen, nach einem Arbeitstag im klimatisierten Hochhaus den schicken Firmen-Campus mit Palmen und Blumenrabatten zu verlassen und die staubige Straße entlangzulaufen. Nicht nur wegen des unberechenbaren Verkehrs, der wenige Zentimeter neben ihm entlanggebraust war. Damals war er einige Minuten früher am Hotel angekommen, als es mit dem Taxi möglich gewesen wäre.

Er blickte auf seine Armbanduhr. Kurz nach halb sieben indischer Zeit. Im Hotel hätte er noch etwa vierzig Minuten für sich, bevor Naveen ihn zum Dinner abholen würde. Die wollte er damit verbringen, ausgiebig zu duschen. Olaf konnte er vom Taxi aus anrufen. Er wählte seine Nummer und wartete geduldig darauf, dass die Verbindung ins ferne Deutschland bereit und das erste Tuten zu vernehmen war.

Olaf ging sofort dran. »Der Virus hat sich gemeldet«, rief er ins Telefon. »Gerade findet eine Lösegeldübergabe statt.«

»Also geht es tatsächlich um eine Entführung.« Ein neuer Fall. Am liebsten hätte Gottfried gejubelt. Er setzte das Headset auf. Es wirkte seltsam, sich im Beisein des Taxifahrers über Lösegeld und Entführungen zu unterhalten, auch wenn dieser vermutlich zwei indische Sprachen und leidlich Englisch, aber gewiss kein Deutsch konnte.

»Ja, eine Entführung«, gab Olaf zurück. »Eine Frau übergibt das Lösegeld, und sie spricht von ihrer Tochter, die offenbar als Geisel gehalten wird.«

»Das Mädchen, von dem im Chat die Rede ist«, sagte Gottfried.

»Das Lösegeld ist eine Münze«, fuhr Olaf fort. »Damit bekäme die Frau ihr Kind zurück.«

»Eine einzige Münze?« Gottfried wusste nicht, was er erwartet hatte, vielleicht einen Koffer voller Geld. Auf eine Münze wäre er nicht gekommen. »Dann muss es eine äußerst wertvolle sein.«

Das Taxi hatte das Abbiegemanöver bewältigt und ließ sich nun vom hupenden Verkehr der Outer Ring Road mitreißen.

»Und hat dir dein Virus verraten, wo das alles passiert?«

»Blöderweise komme ich auf das Handy nicht drauf. Wie es scheint, ist es ausgeschaltet. Oder, da wo es sich gerade befindet, hat das Netz nicht die nötige Bandbreite. Ich habe eine Audiodatei mit dem Telefonat, sonst nichts. Und selbst die kam mit einer Verzögerung von etwa vierzig Minuten.«

»Vierzig Minuten. Das heißt, wir sind bestenfalls auf dem vorletzten Stand der Geschehnisse«, sagte Gottfried.

Sie passierten gerade den Müllhaufen direkt neben der Straße: für Gottfried eine Wegmarke auf dem Weg zum Hotel. Er erinnerte sich gut daran, wie er bei seinem Fußmarsch vor einem Jahr daran vorbeigemusst hatte. Den bestialischen Gestank würde er niemals vergessen. Von verrotteten Lebensmitteln über Fäkalien bis zu giftigen Chemikalien schien alles zum Gestank beizutragen. Wie immer durchsuchten hagere Männer in dreckigen T-Shirts den Unrat nach Verwertbarem. Eine abgemagerte Kuh hatte in dem stinkenden Haufen etwas zu Fressen entdeckt.

Gottfried war dankbar, in einem klimatisierten Taxi zu sitzen. »Wir sind also genauso ahnungslos wie vorher«, sagte er zu Olaf. »Wir wissen von einer Entführung, haben aber nichts, was uns Aufschluss geben könnte, wer entführt wurde und von wem.«

»Für den Moment mag das stimmen«, entgegnete Olaf. »Allerdings wissen wir nun, dass der Zweck des Handys ist, der Mutter Anweisungen für die Übergabe zukommen zu lassen. Damit wollen die Entführer ausschließen, dass die Polizei mithören kann. Hätte die Mutter nämlich die Polizei bereits eingeschaltet und würde sie über ihr eigenes Handy mit den Entführern sprechen, gäbe es dieses Risiko.«

»Die Leute kennen sich gut mit Technik aus«, sagte Gottfried.

»Und sie sind sehr vorsichtig. Die Mutter musste ihr Handy in die Nidda werfen. So kann sie auch niemand tracken.«

»Das Ganze spielte sich also an der Nidda ab. Die wurde im Chat erwähnt.«

»Richtig. In dem Telefonat gaben sie der Mutter die Anweisung, in den Hammarskjöldring zu fahren.«

»Eine Adresse haben wir also bereits«, sagte Gottfried. »Vielleicht sollten wir die Polizei verständigen.«

»Das wäre keine gute Idee«, sagte Olaf. »Wir würden damit das Mädchen gefährden. Außerdem müssten wir der Polizei erzählen, dass wir das alles von einem Handy-Virus wissen.«

»Korrekt. Wir warten auf einen weiteren Anruf.«

Das Taxi begann energisch zu ruckeln, als es auf die ungeteerte Abbiegepiste wechselte, die parallel zur Outer Ring Road verlief. Nach einigem Schaukeln, vorbei an Restaurants und Geschäften, würden sie in die elegante Auffahrt des Hotels einbiegen.

»Ich erwarte jeden Moment die neue Nachricht«, kam von Olaf zurück. »Grüß mir die Inder. Ich sag Bescheid, wenn es etwas Neues gibt.«

Gottfried nahm das Headset ab und steckte es in seine Tasche. Der Fall, den es zu lösen galt, war in diesem Augenblick im Entstehen. Olaf würde in Kürze erfahren, ob es sich dabei um eine Entführung mit Erpressung von Lösegeld handelte oder am Ende doch um einen Mordfall.

Das Taxi kam in der Hotelzufahrt zum Stehen. Ein Mann in der grünen Uniform der Security-Leute fuhr an einem langen Stab einen Spiegel an der Unterseite des Fahrzeugs entlang. Ein anderer Uniformierter sah ihm scheinbar gleichmütig zu. Neben ihm saß ein hechelnder Schäferhund. Nachdem die Uniformierten überzeugt waren, dass unter dem Auto keine Bombe versteckt war, falteten sie die Hände vor dem Gesicht und verbeugten sich. Das Taxi durfte vor den Eingang des Hotels fahren, wo sogleich eine eilfertige Hand die Tür für Gottfried öffnete.

»Namaste«, grüßte der Mann in prächtigem Concierge-Kostüm und Turban. Seine Aufmachung kam Gottfried übertrieben vor. Bestimmt hatte es in Indien niemals eine solche Tracht gegeben. Er ächzte, als er sich mit großer Anstrengung aus dem Rücksitz des Taxis stieß. In Momenten wie diesen fühlte er sich wie ein kraftloser Greis. Krebs, Chemo und Jetlag setzten ihm zu. Und nun bekam er es nach dem klimatisierten Fahrzeug schlagartig mit Temperaturen jenseits der dreißig Grad zu tun.

»Namaste«, grüßte er zurück und faltete die Hände vor dem Gesicht. Der kürzeste Weg zur Aircondition des Hotels führte zum Band der Security, auf das er seine Tasche legen musste. Danach würde er durch den Rahmen des Metalldetektors gehen und einen Piepton auslösen, weil er seine Schlüssel in der Hosentasche behielte. Früher hatte er immer alles Metallene aufs Band gelegt. Heute wusste er, die Security-Leute würden ihn trotzdem mit einem freundlichen Namaste begrüßen, statt ihn einer Leibesvisitation zu unterziehen.

So war Indien nun einmal. Nach einer Dusche würde er wie neu geboren sein.

5

Laptop und Handy klingelten gleichzeitig. Wie so oft, klang es wegen der Zeitversetzung beider Signale, als würde in einer riesigen Halle ein Weihnachtsglöckchen geläutet. Olaf stürzte zum Laptop und öffnete die Nachricht des Virus. Wieder ein Telefonat.

»Wie ich sehe, sind Sie im Hammarskjöldring angekommen«, sagte dieselbe männliche Stimme wie vorher. »Steigen Sie aus. Und legen Sie nicht auf!«

Olaf nahm das Headset, um deutlicher hören zu können. Es war nicht auszumachen, was das Klappern und Poltern aus den Kopfhörern bedeutete, aber was konnte es anderes sein als die Geräusche, die die Frau beim Aussteigen aus dem Auto machte? Er nutzte die Zeit, in der nicht gesprochen wurde, um den Zeitstempel der Audiodatei anzusehen: Auch dieses Telefonat war bereits vierzig Minuten her. Seit dem ersten waren etwa zwanzig Minuten vergangen.

»Ich stehe jetzt auf der Straße vor dem Martin-Luther-King-Park«, war die Mutter nach einigen Sekunden zu vernehmen.

»Haben Sie die Münze?«

»Was denn sonst?«, rief die Frau ungehalten. »Darum geht es Ihnen doch. Und mir geht es um meine Tochter. Ich will endlich mit ihr sprechen.«

»Wenn Sie das hier versauen, werden Sie nie wieder mit ihr sprechen.« Die Stimme des Mannes klang hart. »Gehen Sie jetzt in den Park hinein.«

Olaf versuchte sich zu erinnern, wie es im Martin-Luther-King-Park aussah. Er war vor vielen Jahren einmal dort gewesen. In seiner Erinnerung war der Park recht klein. Konzentriert lauschte er auf den unregelmäßigen Atem der Frau, die offenbar in den Park hineinlief. Er sollte Google Maps öffnen, um sich eine Vorstellung davon zu verschaffen, welchen Weg die Frau gerade nahm, dachte er, als ein plötzlicher Befehl des Mannes ertönte:

»Stopp! Bleiben Sie genau dort stehen.«

Die Frau stieß einen erschrockenen Laut aus, sagte aber nichts. Ihr Atem war verstummt, als würde sie die Luft anhalten. Für einige Sekunden hörte Olaf durch seine Kopfhörer nichts. Dann begann ein Summen sich in seinem Kopf auszubreiten, erst kaum hörbar, dann deutlich und intensiv.