Fränkischer Döner (eBook) - Susanne Reiche - E-Book

Fränkischer Döner (eBook) E-Book

Susanne Reiche

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Beschreibung

KRIMINALROMAN - Der 5. Fall der Erfolgsreihe um den Nürnberger Kommissar Kastner »Ein mädchenhaft graziler Körper, lang ausgestreckt auf einem Bett aus Laub und regensattem Moos …« Bei einem Morgenspaziergang durch den Nürnberger Volkspark Marienberg stößt Tierschutzpflegehund Calli auf eine notdürftig verscharrte Leiche. Kommissar Kastner und sein Team sind diesmal besonders alarmiert: Meral Özgur, Studentin der Kommunikationswissenschaften und Tochter eines erfolgreichen Imbissmoguls, starb durch einen gezielten Schuss. Eine Hinrichtung? Ein Eifersuchtsdrama? Meral hat via Internet für die Rechte muslimischer Frauen gekämpft und sich erst kürzlich als Lesbe geoutet. Und sie war im dritten Monat schwanger...

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Susanne Reiche studierte in Erlangen Biologie, war vierzehn Jahre lang beim Nürnberger Umweltamt im Bereich Umweltplanung tätig und arbeitet heute als Schriftstellerin. 2014 gewann sie mit ihrer Geschichte »Der Tod des Baulöwen« den Publikumspreis des Fränkischen Krimipreises. 2016 erschien ihr erster Krimi »Fränkisches Chili« um den Nürnberger Kommissar Kastner, 2017 folgte »Fränkisches Sushi«, 2018 »Fränkische Tapas«, 2020 »Fränkisches Pesto«.

www.susanne-reiche.de

Susanne Reiche

Fränkischer Döner

Kriminalroman

ars vivendi

Originalausgabe

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (Erste Auflage August 2023)

© 2023 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1,90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Lektorat: Stephan Naguschewski

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Valerie Hammacher

eISBN 978-3-7472-0447-4

Inhalt

Prolog

Tag eins/Dienstag/Waldgeist

Tag zwei/Mittwoch/Illuminati

Tag drei/Donnerstag/Worstcase

Tag vier/Freitag/Herz aus Gold

Tag fünf/Samstag/Man in Black

Tag sechs/Sonntag/Von Tieren und Menschen

Tag sieben/Montag/Feuershow

Tag acht/Dienstag/Privatangelegenheiten

Tag neun/Mittwoch/Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Der erste Fall von Kommissar Kastner

Der zweite Fall von Kommissar Kastner

Der dritte Fall von Kommissar Kastner

Der vierte Fall von Kommissar Kastner

Fränkischer Döner

Prolog

Am Dienstagmorgen gegen neun strich der seit Tagen lautlos aus einem zementgrauen Himmel fallende Nieselregen die Segel vor einem Azorenhoch namens Rolf. Ein frischer Westwind riss die Wolken auf und trieb sie vor sich her, die Menschen schüttelten ihre Schirme aus, blinzelten in die Sonne und wagten ein Lächeln.

Es war Anfang September.

Der frühen Stunde zum Trotz machte der Nürnberger Volkspark Marienberg seinem Namen alle Ehre: Auf den Hauptwegen waren Radler, Freizeitsportler und Spaziergänger jeden Alters, Geschlechts und Standes unterwegs, die ganze Stadt schien auf den Beinen, um dem Rest der Sommerferien ein wenig Urlaubsflair abzupressen – die jüngsten Coronamutanten trieben im Ausland die Inzidenzen hoch und im Inland frische Sorgenfalten auf die gelehrten Stirnen der Virologen, die ersten Politiker dachten laut über erneute Ausgangsbeschränkungen nach.

Maike Kovač, mit ihrem Tierschutzpflegehund Calli auf dem Weg in die nördliche Hundezone, hatte von dem Freizeitgetümmel bald genug und schlug den Trampelpfad über das Biotop ein. Der Bund Naturschutz hatte die offenen Sandflächen und den flachen Tümpel für seltene Amphibien angelegt, mit dieser Definition der Zielgruppe aber zu kurz gegriffen: Hoffnungsvolle Nachwuchsingenieur*innen und Naturwissenschaftler*innen standen halb nackt im Wasser, bauten Dämme und fingen Kaulquappen in Plastikeimern, ihre Eltern hielten die Gesichter in die Herbstsonne und ließen die Familienhunde Stöckchen aus dem Wasser apportierten. Das Schild mit der Aufschrift Laichgewässer – Hunde bitte anleinen warf gerade genug Schatten für ihre Picknickkörbe, im Tümpel quakten, von der Zweckentfremdung ihres Habitats scheinbar unbeeindruckt, Frösche und Kröten.

»Calli, bei Fuß!«, befahl Maike, als ihr eine ältere Dame mit violetter Föhnfrisur entgegenkam. Ebenso gut hätte sie den Hund bitten können, eine Gleichung mit drei Unbekannten nach x aufzulösen – er plumpste der Dame vor die Füße und keuchte wie ein Marathonläufer, der das Ziel in persönlicher Bestzeit erreicht hat.

»Ja, so ein Hübscher!« Die Dame klemmte ihre Handtasche zwischen Oberkörper und Ellbogen fest und beugte sich tätschelnd hinunter. »Ja, ganz ein Braver! Ja, wie heißt er denn?«

Maike sagte es ihr.

»Meine Enkelin hat sich neulich auch so einen drolligen Mops gekauft«, verriet die Dame. »Wegen dem Corona und dem Homeoffice … Der heißt Phillipp von der Wachtelburg und hat sogar einen eigenen Instagram-Account.«

»Calli ist eine Französische Bulldogge«, erklärte Maike, der Ordnung halber, und dachte sich ansonsten ihren Teil. Sie studierte im achten Semester Tiermedizin – Fotos von mit Sonnenbrillen und coolen Caps ausstaffierten Möpsen trieben ihren Puls nicht vor Entzücken hoch, und sie hatte so eine Ahnung, was aus den blauäugig angeschafften Lockdown-Wauzis werden würde, wenn Homeoffice endgültig out und Urlaubstrips nach Thailand wieder in wären.

Die Dame kramte in ihrer Handtasche. »Darf er ein Leckerli, der Calli? Ich hab für den Phillipp immer Hundekekse mit Kängurugeschmack dabei …«

Calli warf sich auf den Rücken wie eine Hafendirne beim Anblick eines Fünfzigeuroscheins und schielte unter rotgeränderten Hängelidern hoffend nach oben.

»Danke, besser nicht«, bat Maike. »Calli hat einen BMI von über 40, das ist für einen Hund mit seinen Vorerkrankungen lebensbedrohlich.«

Die Dame richtete sich auf und sah Maike zum ersten Mal an. »Ach! Ist er krank, der Calli? Ja, was hat er denn?«

»Das können Sie sich aussuchen. Extrem kurzschädelige Hunde leiden zeit ihres Lebens unter Herz- und Kreislaufproblemen, chronischer Atemnot und Schluckbeschwerden … Manchen Möpsen fallen buchstäblich die Augäpfel aus dem Schädel, weil sie dort schlicht nicht genug Platz haben.«

Die Dame starrte sie an. Und was stimmt mit dir nicht, fragte ihr Blick. Hattest du eine schwere Kindheit? Bist du sexuell frustriert? Oder macht es dir einfach Spaß, anderen den Tag zu versauen?

Sie strich ihr lila Haar zurecht, wünschte einen schönen Tag und ging ihrer Wege.

Calli sah ihr traurig nach.

*

Auf der Hundewiese tummelten sich die üblichen Verdächtigen – Mali-Herrchen, Foxy-Frauchen, Pauli-Herrchen … nur das Frauchen von JJ und Josie hatte einen eigenen Namen, sie hieß Ute. Die Vierbeiner genossen den Freilauf, die Zweibeiner führten, en passant, Gespräche über biologisch artgerechte Rohfleischfütterung, Agility-Training und Zahnpasta mit Leberwurstgeschmack.

»Und, wie leffts nacherd mibm Calli?« Alf-Herrchen kannte sich mit behinderten Hunden aus, sein hüftlahmer Schäferhund bewältigte die Hunderunde nur noch dank eines eigens angefertigten Rollstuhls.

»Er betrachtet jedes noch so niederschwellige Fitness- und Diätangebot als Tierquälerei«, gestand Maike.

Calli röchelte zustimmend. Alf-Herrchen steckte ihm diskret ein Stück Hausmacher Stadtwurst zu.

»Mer kanns ned derzwinger«, stellte er philosophisch fest.

Ein Feldgehölz markierte das östliche Ende der Hundezone, Patrouillen sicherten den Grenzverlauf: Eltern, deren Kleinkinder jeden Grashalm ableckten, um das Wesen der Dinge zu begreifen, schossen Blicke wie Mörsergranaten herüber, Rentner wiesen in militärischem Ton auf die ab hier geltende Anleinpflicht hin und Radfahrer riskierten lieber einen offenen Schienbeinbruch als zu bremsen, wenn ein übermütiger Vierbeiner Republikflucht beging … Städtisches Grün war eine umkämpfte Ressource, bei deren Verteilung Hundehalter ganz hinten anstanden.

Maike schlug einen Bogen um das Wäldchen. Es war Zeit für den Heimweg, zu Hause wartete ihre Semesterarbeit: Brachyzephalie – erblich bedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen durch eine Überinterpretation von Rassestandards bei Hunden. Ihr Studienobjekt hob am Saum des Wäldchens ein Bein, scharrte, schnüffelte und verschwand im Zwielicht. Maike spähte verblüfft unter die tief hängenden Zweige – eigenmächtige Ausflüge in die Wildnis zählten nicht zu Callis bevorzugten Hobbys.

»Calli?«, rief sie.

Die Bulldogge setzte ihren Weg unbeirrt fort. Mit der Wendigkeit eines leckgeschlagenen Kreuzfahrtschiffes kämpfte sie sich durch Gestrüpp und Gesträuch, umkreiste ein Brombeerdickicht und begann zu bellen.

»Calli, was soll der Scheiß? Komm raus da!« Sie verspürte wenig Lust, durch das tropfend nasse Gehölz zu kriechen, aber nach einer Weile machte sie sich Sorgen – brachyzephale Hunde konnten einen Herzstillstand erleiden, wenn sie sich allzu sehr echauffierten, und das war es, was Calli tat: Sein Gebell nahm einen hysterischen Ton an.

»Verdammte Inzucht«, fluchte Maike und machte sich auf, ihren Schutzbefohlenen wieder in Gewahrsam zu nehmen.

Tag eins/Dienstag/Waldgeist

»Eine junge Frau, Anfang oder Mitte zwanzig. Sie ist seit etwa zwölf Stunden tot.« Dr. Rendlick, die Rechtsmedizinerin, zog ihre Schutzhandschuhe ab und warf sie zusammengeknüllt auf den Boden.

»Jemand hat die Leiche hier abgelegt und notdürftig unter Zweigen versteckt«, ergänzte Martina Götz, die Chefin der Kriminaltechnik. »Ich fürchte, der Dauerregen hat die meisten Spuren zerstört.«

Kastner, Kriminalhauptkommissar im Dezernat Eins des Polizeipräsidiums Mittelfranken, vermied es, die Tote anzusehen. Stattdessen betrachtete er seine Füße – ein Trupp Nacktschnecken, glänzend und fett wie fränkische Pfefferbeißer, schickte sich an, die Plastiküberzieher zu erklimmen, die er auf Martinas Geheiß über seine Straßenschuhe gezogen hatte. »Wissen wir, wer sie ist?«

»Keine Papiere, kein Handy … Aber eine recht auffällige Halskette.« Martina wedelte mit einem Beweismittelbeutel. »Das ist Echtgold, und die Funkelsteinchen sehen wie Brillanten aus.«

Kastner verstand nichts von Juwelen. Jeder halbwegs zungenfertige Blender hätte ihm eine Glasscherbe als Hope-Diamant verkaufen können, weshalb er vom Schmuckkauf prinzipiell die Finger ließ. »Wie nett, ein Notizbuch aus handgeschöpftem Papier«, flötete seine Lebensgefährtin Mirjam, wenn er ihr zum Geburtstag ein kleines Päckchen überreichte, oder: »Das ist ja originell – eine Liveaufnahme von The Fab Chief & his Rotating Ventilators, auf Kassette!« Dabei strich sie sich, wie zufällig, mit ihren unberingten Fingern über das nackte Dekolleté, ehe sie zur Musikanlage ging und Diamonds Are a Girl’s Best Friend von Marilyn Monroe auflegte … Die Halskette der Toten erregte jedoch sein Interesse – nicht, weil der Anhänger in der Herbstsonne glitzerte, sondern weil er etwas darstellte: zwei ineinander verschlungene Handspiegel der Venus. Zwei Frauenzeichen.

Sein Blick wanderte nun doch zu dem mädchenhaftgrazilen Wesen hinüber, das ausgestreckt auf einem Bett aus regensattem Moos lag. Brombeerranken und dunkle Locken umrahmten ein blasses, auf gänzlich ungeschminkte Weise schönes Gesicht, goldbraune Augen starrten blicklos träumend durch die im Westwind zitternden Blätter einer Pappel zu einem Flecken freien Himmels hinauf, über dessen kühles Blau Wolken wie frisch gezupfte Wattebällchen zogen. Eine Elfe, ein Waldgeist aus Shakespeares Sommernachtstraum, nur dass dies ein Albtraum war: Das meergrüne T-Shirt der jungen Frau war blutbefleckt, in ihrem schmalen Brustkorb klaffte ein Loch von der Größe eines Fünfcentstücks.

»Ist das eine Stichwunde?«, fragte er.

Dr. Rendlick zog ihre Maske herunter, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.

»Ich tippe auf eine Kugel«, sagte sie beim Ausatmen. »Kleines Kaliber. Steckschuss, eine Austrittswunde gibt es nicht.«

Kastner konzentrierte sich wieder auf seine Füße, ehe er die nächste Frage stellte: »Irgendwelche Hinweise auf sexualisierte Gewalt?«

»Die Tote ist vollständig bekleidet, Kampfspuren sind oberflächlich nicht erkennbar … Aber was heißt das schon? Die Zeiten, in denen Opfer von Sexualmördern halb nackt und mit Fremd-DNA unter den Fingernägeln im Straßengraben lagen, sind vorbei, Kastner: Heutzutage benutzen die Arschlöcher K.-o.-Tropfen und wissen dank CSI Miami genau, wie man Spuren beseitigt.«

Bei einem heiteren Beruferaten à la Was bin ich? wäre Dr. Rendlick mit vollem Sparschwein nach Hause gegangen: Ihre Vorliebe für pastellfarbene Kostüme und Drei-Wetter-Taft-Frisuren ließ die Endfünfzigerin wie das Klischee einer Chefsekretärin aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wirken. Dabei beherrschte sie ihr blutiges Handwerk aus dem Effeff, und wenn die Meinungen über sie auseinandergingen, dann allenfalls bezüglich der Frage, ob man ihr Auftreten als sachlich nüchtern oder abgebrüht zynisch empfand. Der Mord an der jungen Frau schien jedoch selbst ihr an die Nieren zu gehen – vielleicht, weil sie selbst zwei Töchter in den Zwanzigern hatte.

Sie schnippte ihre halb gerauchte Kippe weg und gab ihren Mitarbeitern ein Zeichen.

Schmidt und Höffkes hoben die Tote ohne jede Anstrengung in einen Leichensack und zogen den Reißverschluss zu. Ein deprimierendes, endgültiges Geräusch.

Martina tippte Kastner auf die Schulter und deutete zum Hauptweg hinüber, auf dem zwei Streifenwagen, der Spusi-Transporter, ein Leichenwagen des Gerichtsmedizinischen Instituts Erlangen und ein Sanitätsauto parkten. »Die Brünette mit dem Hund hat die Leiche gefunden – Maike Kovač, eine Studentin der Tiermedizin. Falls du mit ihr sprechen möchtest?«

Kastner nickte. Er ließ die Kriminaltechniker ihre Arbeit tun und hoffte, dass sie etwas fanden – einen Fußabdruck, eine Reifenspur, ein Haar oder eine Kippe; irgendetwas, das den Mörder dieses elfengleichen Wesens aus dem Schatten feiger Heimlichkeit ins Licht der Gerechtigkeit zerrte.

*

Die angehende Tierärztin, eine stämmige Person Ende zwanzig mit blassen Wangen voller Aknenarben, in deren Kratern sich Make-up-Reste angesammelt hatten, trug Schulmädchenzöpfe, Bundeswehrhosen und Schnürstiefel. Die Sanitäter hatten ihr eine Rettungsfolie um die Schultern gelegt.

»Calli hat sie gefunden. Er hat gekläfft wie bescheuert … Hören Sie, ich hab die ganze Story schon dem blonden Streifenbeamten erzählt, der meine Personalien aufgenommen hat, ich würde jetzt wirklich gern heimgehen und ein heißes Bad nehmen.«

»Ein Streifenwagen kann Sie nach Hause bringen«, stellte Kastner in Aussicht. »Wenn Sie mir zuvor noch ein, zwei Fragen beantworten?« Er bückte sich und tätschelte unbeholfen den Hund, der wie eine zu heiß gebrühte Presswurst zwischen Maikes Füßen lag – der Weg ins Herz eines Hundebesitzers führte über den Vierbeiner, das hatte er zumindest irgendwo gelesen. »Der Calli hat also gebellt, und Sie haben nachgesehen, warum?«

»Ja. Also nein, eigentlich wollte ich ihn nur da rausholen, weil ich Muffe hatte, dass er in Ohnmacht fällt.«

Kastner, der mit den Gesundheitsproblemen brachyzephaler Hunderassen in etwa so vertraut war wie mit kosmischer Plasmaphysik, hielt das für einen Scherz. Er deutete ein Lächeln an, zu mehr fühlte er sich angesichts der Umstände nicht imstande.

»Zuerst sind mir die knallgelben Sneakers ins Auge gestochen«, fuhr Maike fort. »Ich war kurz davor, einen davon aufzuheben, weil na ja – ich kenne das Label, das sind Designerschuhe. Da blättern Sie locker zweihundertvierzig Euro für hin.«

Kastner bezweifelte, dass er das tun würde. »Sie dachten, jemand hätte die Schuhe weggeworfen und es könnte Ihre Größe sein?«

Maike lief rot an. »An eine Leiche hab ich jedenfalls nicht gedacht, nicht mal, als ich gecheckt hab, dass Füße in den Schuhen stecken, dass die einer anhat. Wer rechnet denn damit, am helllichten Tag am Marienberg eine Leiche zu finden? Ich hab eher an einen Vollrausch oder ein Drogenkoma gedacht, weil, na ja, manchmal hängen Jugendliche hier ab, trinken billigen Fusel von der Tanke und werfen irgendwelche Pillen ein.«

Kastner nickte. Die Coronalockdowns hatten den Trend zum geselligen Naturerlebnis verstärkt, neu war das Phänomen nicht. Mit einer Mischung aus Wehmut und Ekel erinnerte er sich an die Gelage seiner eigenen Sturm-und-Drang-Zeit, die bei Sonnenuntergang im Pegnitzgrund mit handwarmer Whiskey-Cola, Roth-Händle ohne Filter und tiefgründigen Gesprächen begonnen und vor Sonnenaufgang am U-Bahnhof Wöhrder Wiese mit würdelosem Torkeln, Lallen und Würgen geendet hatten.

»Ich hab die Zweige weggezogen, um nachzusehen, ob jemand Hilfe braucht«, schloss Maike. »Und da lag sie, schön wie das schlafende Dornröschen. Ich fürchte, ich hab mich nach einem Prinzen umgesehen, der sie wieder wachküsst, bevor ich das Blut auf ihrem T-Shirt gesehen und den Notruf gewählt hab. Das ist komplett bescheuert, meinen Sie nicht? Ich studiere Tiermedizin, da sollte man doch meinen …« Maike schüttelte über sich selbst den Kopf.

»Sie standen unter Schock«, vermutete Kastner. »Gehen Sie öfter hier mit dem Hund spazieren?«

Maike nickte.

»Waren Sie gestern auch hier?«

»Gestern? Ja. Am frühen Abend, gegen sechs, halb sieben.«

»Ist Ihnen dabei etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Maike sah ihn fragend an.

»Hat Calli gestern schon gebellt? Haben Sie rund um das Wäldchen etwas beobachtet, das Ihnen seltsam vorkam? War irgendwo ein Wagen geparkt, der nicht zum städtischen Fuhrpark gehört?«

Maikes Unterlippe begann zu zittern. »Heißt das, sie lag die ganze Nacht hier? Im Regen? Oh mein Gott …«

Sie unterbrach sich, weil Schmidt und Höffkes mit einem Blechsarg aus dem Wäldchen traten.

»Du musst höher, Höffkes«, fauchte Schmidt.

»Wenn ich muss, geh ich aufs Klo«, schnappte Höffkes zurück. »Und wer die Knie nicht beugen kann, ist im öffentlichen Dienst definitiv fehl am Platz!«

Mit finsteren Gesichtern trugen die beiden den Sarg über die Wiese und hoben ihn in den Leichenwagen.

»Oh mein Gott«, wiederholte Maike, ihr Gesicht nahm einen Grünton an. »Rechtsmedizin, Obduktion … Wie grauenhaft das alles für die Özgurs sein muss!«

»Für wen oder was?«, fragte Kastner verdattert.

Maike starrte ihn an. »Für die Özgurs? Merals Eltern?«

Kastner brauchte eine Weile, um eins und eins zusammenzuzählen.

*

»Ja, das ist korrekt.« Felix Wernreuther zückte sein Smartphone und scrollte mit wieselflinken Daumen durch seine digitalen Notizen: »Laut Aussage der Zeugin Maike Kovač handelt es sich bei der Toten um eine gewisse Meral Ötzgur …«

»Ösgur – das türkische z wird als s gesprochen«, warf Kastner ein, der sein Wissen dem Sohn einer Nachbarfamilie namens Yilmaz verdankte.

»Sag ich doch. Die Kovač behauptet weiter, die Özgurs hätten einen Schrebergarten in der Kurt-Ahles-Anlage an der, äh, Braillestraße. Das muss gleich hier ums Eck sein.«

»Und wann genau wolltest du das jemandem mitteilen?«

Wernreuther steckte sein Smartphone wieder ein. »Ich wollte die Gerüchte erst verifizieren, bevor ich dich damit behellige.«

»Und? Haben wir eine Wohnadresse? Eine Telefonnummer?«

»Von wem jetzt – von den Türken? Nein, damit konnte die Kovač nicht dienen. Die kennt die nur flüchtig über den Gartenzaun – ihr Schwippschwager hat wohl die Parzelle schräg gegenüber. Sie hat mir geraten, bei der Kleingartenverwaltung nachzufragen, aber da geht nur die Mailbox ran.« Wernreuther grinste breit. »Das Büro ist jeden zweiten Samstag im Monat zwischen zehn und zwölf besetzt – da kriegst du eher einen Termin für ein persönliches Kritikgespräch beim Vorstandschef der Deutschen Bahn!«

Felix Wernreuther hatte im vergangenen Jahr eine Schulung für den verkürzten Aufstieg in den höheren Dienst absolviert. Nach bestandener Abschlussprüfung hatte der frischgebackene Kommissarsanwärter bei einem Schluck Prosecco mit Polizeidirektor Wismeth und der Belegschaft des Präsidiums offenbart, wo er sich in Zukunft sah … KK Röttgens vom Drogendezernat hatte das zusammengeknüllte Redemanuskript einige Promille später unter dem Schnittchentisch gefunden und, zum unheiligen Zwecke allgemeiner Belustigung, an der Infotafel ausgestellt. Unter der Rubrik Alkohol kann Leben ruinieren war Folgendes zu lesen gewesen: »Es wird wohl in Richtung Fallanalyse und Täterprofiling gehen, geschätzte Kollegen. Ich denke, in diesem spannenden und anspruchsvollen Aufgabenfeld werden meine langjährige praktische Erfahrung, meine überaus fundierte Menschenkenntnis und mein herausragendes Talent, komplizierte und psychisch psychologisch komplexe Zusammenhänge zu lesen, der Menschheit dem Kriminalfachdezernat Eins am dienlichsten sein. (Pause für Applaus. Angedeutete Verbeugung. Bescheidenes Lächeln.) Und jetzt: Prost allerseits!« Kastner hatte den Papierschnipsel diskret der Aktenvernichtung zugeführt, nicht ohne sich zu fragen, wer Wernreuthers Redeentwurf gegengelesen und Schlimmeres verhindert hatte.

»Wie wär’s mit einer Abfrage beim Melderegister?«, schlug er jetzt vor. »So viele Özgurs kann es in Nürnberg ja nicht geben.«

»Jaja«, winkte Wernreuther ab. »Du musst mir meinen Job nicht erklären, Kastner. Ich check das, gleich nach der Mittagspause.«

»Was meinst du mit Mittagspause?«

Wernreuther sah auf die Uhr. »Ich bin um halb zwölf mit Carsten in der Rathauskantine verabredet. Das ist quasi ein Arbeitstreffen – wir wollen meinen nächsten Karriereschritt besprechen.«

Kastner war eine Weile sprachlos. Dass Polizeidirektor Carsten Wismeth einen Narren an Wernreuther gefressen hatte, war allgemein bekannt, dass man einander duzte, zumindest ihm persönlich neu – offenbar gingen hinter seinem Rücken Dinge vor, die er besser im Auge behielt.

»Eine junge Frau ist ermordet worden«, erinnerte er seinen Kollegen. »Mancher wird in diesem Zusammenhang eher an einer zügigen Identifizierung interessiert sein als an deinem nächsten Karriereschritt – die Angehörigen, der Staatsanwalt, die Presse, der Oberbürgermeister …«

Wernreuther musste nicht lange überlegen, wie Carsten sich in dieser Konstellation positionieren würde. »Na gut«, lenkte er ein, »kein Problem, das läuft … Ich besorge die Adresse von diesen Özgurs und frage pietätvoll nach, ob jemand abgängig ist. Die Rendlick soll mir ein Foto der Leiche aufs Handy schicken, das wird für eine vorläufige Identifizierung genügen.«

Kastner nickte. »Nimm Claudia mit.«

»Äh – wozu?«

»Die Tote ist eine Frau, ihre Mutter ist eine Frau, Claudia ist eine Frau …«

»Kastner, ich bitte dich! Das sind Türken – glaubst du, die legen Wert auf dieses Gendergedöns?«

*

Polizeidirektor Carsten Wismeth lauschte Kastners Bericht. Hin und wieder strich er sich mit der Rechten über den markant kahlen Schädel oder zupfte eine imaginäre Staubfluse von seinem Dreiteiler aus achatgrauem Tweed, der modisch körpernah geschnitten war. Nicht jeder machte in einem solchen Anzug eine gute Figur, Wismeth tat es: Wer je in seinem Vorzimmer antichambriert hatte, kannte die Fotografien, die ihn beim Zieleinlauf des Rother Triathlons zeigten. Die Schnappschüsse waren schon etwas vergilbt, der Polizeidirektor selbst hatte sich über die Jahre gut gehalten.

»Ach, herrje«, sagte Wismeth schließlich, als hätte er auf dem Kragen seines salbeigrünen Seidenhemds einen Zahnpastafleck bemerkt. »Die Leiche einer hübschen jungen Frau in einem öffentlichen Park, das wird für die Regenbogenpresse ein gefundenes Fressen sein. Wir haben Sommerferien, Familien mit Kindern drängen in die Grünanlagen und nach Coronakoller und Energiepreisschock liegen die Nerven blank … Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um eine Bürgerhysterie zu verhindern. Kastner? Hören Sie mir zu?«

»Ja, natürlich. Was schlagen Sie vor? Sollen wir abstreiten, dass wir eine Leiche gefunden haben? Die Ermittlungen einstellen und hoffen, dass so etwas Unangenehmes nie wieder vorkommt?«

»Sie haben ein wirklich seltenes Talent, mir auf die Nerven zu gehen«, knurrte Wismeth. »Was halten Sie davon? Ich beantrage ein Sabbatical und schlage Sie als Stellvertreter vor … Nach zwei, drei Wochen werden Sie wissen, was mit Strategic Management und Corporate Behavior gemeint ist.«

Der Punkt ging an den Polizeidirektor – Kastner wäre lieber mit einem Pedalhubschrauber über den Krater des Cumbre Vieja geflogen, als Wismeths Job zu machen. Sein Diensthandy fiepte: Wernreuther schickte einen Auszug aus dem Melderegister und ein Daumen-Hoch-Emoji.

»Die Identität der Toten hatte sich mutmaßlich bestätigt«, teilte Kastner seinem Vorgesetzten mit.

Der seufzte. »Das Opfer ist also Türkin?«

Kastner las das Kleingedruckte. »Nein – laut Melderegister ist Meral Özgur gebürtige Nürnbergerin, beide Eltern sind deutsche Staatsbürger.«

»Ein Migrationshintergrund ist ein Migrationshintergrund«, winkte Wismeth ab. »Das kann man sich nicht schönreden, Kastner. Das verlangt Fingerspitzengefühl, da müssen wir politisch korrekt, um nicht zu sagen süperkorrekt arbeiten, da brauchen wir schlüssige Ermittlungsansätze, wasserdichte Beweise, ein Geständnis und …«

»… und zwar besser gestern als morgen«, ergänzte Kastner. »Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

»Kastner?«, rief Wismeth ihm nach. »Ich gehe übrigens davon aus, dass Sie unseren Kommissarsanwärter auf Augenhöhe in die Ermittlungen einbinden – er hat von seiner Schulung einige frische, visionäre Ideen mitgebracht, wie mir scheint. Ich würde da auf kurze Wege setzen … Warum richten Sie dem Kollegen nicht einen Arbeitsplatz in Ihrem Büro ein? … Kastner?«

*

»Du weißt schon, dass der menschliche Körper auf Sauerstoff angewiesen ist?«, fragte Wernreuther rhetorisch und riss Kastners Bürofenster auf. »Frische Luft regt das Denken an!«

Die frische Luft hatte weit mehr drauf: Sie restrukturierte die Tagespost per randomisierter Allokation und führte parallel eine empirische Kurzzeitstudie zur Aerodynamik leerer Bäckertüten unter besonderer Beachtung der statistischen Verteilung von Blätterteigbröseln in einer Computertastatur durch, ehe sie die Bürotür hinter sich zuschlug wie eine Diva, der man eine Nebenrolle angetragen hatte.

Kastner sah auf die Uhr. »Was wird das hier?«, erkundigte er sich. »Bis zu unserer Fallbesprechung sind es noch ganze zehn Minuten.«

Anstelle einer Antwort schob Wernreuther die Akten und Umlaufmappen beiseite, die sich auf dem kleinen Besprechungstisch stapelten, löste mit sanfter Gewalt leere Tassen und Gläser von der Tischplatte und rubbelte kopfschüttelnd mit einem Papiertaschentuch über Kaffeeränder. »Du musst hier mal ausmisten, Kastner. Unordnung beschränkt die geistigen Perspektiven so drastisch wie ein direkt vor die Stirn genageltes Brett, nur durch ein aufgeräumtes Büro fließt kreative Energie … Apropos.« Er peilte die Flucht zwischen Tür und Fenster über den Daumen an. »Dein Schreibtisch blockiert das Chi im Lebensbereich Ruhm und Anerkennung.«

»Wenn du es sagst«, brummte Kastner. Wernreuther war ein eifriger Sammler bunten Wissens: Er konnte in fünf verschiedenen Sprachen nach dem Weg zum Bahnhof fragen, ein kalt gepresstes Olivenöl aus der Region Grignano an der Farbe erkennen und lautlos Ukulele spielen. Dem Zauber des Fernöstlichen war er während eines Seminars bei Meister Itsuo Tataki erlegen, der, hauptberuflich, Küchenmesser aus achtfach gefaltetem Stahl schmiedete und, nebenberuflich, eine Schar ehrfurchtsvoller Volkshochschuljünger dabei zusehen ließ. Wernreuther hatte für fünf Minuten den Blasebalg bedienen dürfen – ein Erweckungserlebnis. Es folgten Affären mit Yoga, Klangschalenmeditation und Kalligrafie; Feng-Shui war seine jüngste Leidenschaft: Beleuchtet von der Kraft des Dao fühlte er sich berufen, sein Arbeitsumfeld zu harmonisieren, und bohrte damit, das musste man anerkennen, kein dünnes Brett – er teilte sich im Großraumbüro Tisch und PC mit christlichen Barbaren, die Yin und Yang für Comicfiguren und Tai Chi für eine scharfe Würzsoße hielten.

»Im Drei-Türen-Bagua korrespondieren Ruhm und Anerkennung über das energetische Zentrum mit der Karriere«, führte der Kommissarsanwärter jetzt gestenreich aus. »Am besten drehen wir deinen Schreibtisch und rücken ihn mit der Schmalseite an die Wand, das bringt deine Performance auf Trab und schafft hier außerdem jede Menge, äh … Platz.« Er machte Anstalten, die Hemdsärmel hochzukrempeln.

Kastner witterte Unrat. Dachte Wernreuther etwa, er könne sich am Ende des Tages mit Wismeths Segen bei ihm einnisten und im energetisch optimierten Karrierebereich seine Yogamatte ausrollen? Er zwang sich zu einem väterlichen Lächeln: »Wir sind keine verdammten Jedi-Ritter, Felix. Eine Beamtenkarriere korrespondiert mit den Dienstjahren: Dienstjahre mal Aufklärungsquote plus Beziehungen im Quadrat gleich Karriere. Man muss kein Mathegenie sein, um zu begreifen, dass sich das Ergebnis dieser Rechnung nicht ändert, wenn man die Büromöbel umstellt.«

»Du machst da einen typisch westlich-materialistischen Denkfehler«, sagte Wernreuther. »Lass es mich mal so erklären …«

»Wir fangen jetzt mit der Fallbesprechung an«, entschied Kastner. »Ich frage mich, wo Claudia bleibt?«

Wernreuther zuckte die Achseln. »Die ist mit Frau Özgur in die Rechtsmedizin nach Erlangen gefahren, um die Identifizierung abzuschließen. Eine reine Formsache, eigentlich müsste sie längst zurück sein.« Er setzte sich auf einen der Besucherstühle, klappte seinen Aktenkoffer auf und zog eine Mappe heraus. »Ich hab inzwischen schon mal eine Fallakte angelegt.«

Kastner studierte das Datenblatt: Meral Özgur, dreiundzwanzig Jahre alt, eins dreiundsechzig groß, ledig, Studentin der Kommunikationswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg … Wohnhaft bei den Eltern, Alkan Özgur (Gastronomieunternehmer) und Özlem Özgur (Hausfrau), eine Adresse im Nürnberger Nobelviertel Erlenstegen. Drei Geschwister: die Zwillinge Muhammed und Dilara, fünfundzwanzig, und der sechzehnjährige Cengiz …

»Irgendwelche Einträge in der Kriminaldatenbank?«, fragte Kastner.

»Nix. Gegen Muhammed Özgur lief vor einem halben Jahr eine Anzeige wegen Beleidigung und Körperverletzung, die Ermittlungen wurden aber eingestellt – das weiß ich von der Hirschel, die hat das damals bearbeitet. Die anderen Özgurs scheinen brave Bürger zu sein.«

»Gastronomieunternehmer – das heißt auf Deutsch, der Mann ist Wirt?«

»Das wäre untertrieben. Alkan Özgur vertickt im großen Stil alles, was Türken so essen: Döner, Falafel, Börek, Lachmichkrumm … Achte mal drauf, was auf der Serviette steht, wenn du dir den Magen das nächste Mal mit türkischem Fastfood übersäuerst …« Wernreuther unterbrach sich, weil jemand an die Tür klopfte.

»Leute, geht’s noch? Hier zieht’s wie Hechtsuppe!« Polizeiobermeisterin Claudia Wolfschmidt schloss kopfschüttelnd die Fenster, ehe sie sich auf den freien Besucherstuhl setzte und die langen Beine übereinanderschlug. Sie war attraktiv, eitel war sie nicht: Sie trug ihr dunkles Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden und benutzte kein Make-up – sie stand zu den Fältchen, die siebenunddreißig Lebensjahre, das alleinige Sorgerecht für zwei Kinder und der Streifendienst in ihr Gesicht gekerbt hatten.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Kastner.

Claudia zuckte die Achseln. »Frau Özgur hat ihre Tochter identifiziert. Die Obduktion ist für morgen geplant, Dr. Rendlick wollte sich nicht festlegen, bis wann wir mit Ergebnissen rechnen dürfen.«

»Du hast drei Stunden gebraucht, um das herauszufinden?«, feixte Wernreuther. »Gib’s zu, du hast dich in den Erlanger Einbahnstraßen verfranzt – ihr Frauen orientiert euch ja eher so intuitiv, während Verkehrsplaner in rational-abstrakten Systemen denken.«

Bis zu seinem Aufstieg in den gehobenen Dienst war Claudia Wernreuthers Zugführerin gewesen – sie war mit seinem speziellen Humor vertraut und gab ihm normalerweise Contra. Dass sie jetzt die Arme vor der Brust verschränkte und schwieg, gab Kastner zu denken. Er schob die dünne Fallakte zu ihr hinüber. »Felix hat bereits ein paar Informationen über die Familie des Opfers zusammengetragen.«

Wernreuther winkte bescheiden ab. »Ein Anruf beim Gewerbeamt, ein Klick ins Internet, ein Gespräch mit dem Nachbarn … Wo war ich? Ah, ja: Piknik-Özgur ist ein überregional tätiges und breit aufgestelltes Familienunternehmen mit drei Sparten – Özgur Takeaway, Özgur Catering und Özgur Import. Es gibt wohl Vorschriften, was Moslems essen dürfen und was nicht, das nennt sich, äh …«

»Halal«, half Claudia aus. »Und man sagt Muslime.«

»Bei uns herrscht Meinungsfreiheit, da darf man sagen, was man will«, befand Wernreuther. »Die Geschäfte mit diesem halal scheinen für die Özgurs jedenfalls gut zu laufen: schmucke Villa am Platnersberg, BMW und Hausfrauenpanzer in der Doppelgarage … Mit der Integration läuft es nicht ganz so gut – neben den Özgurs wohnt ein verwitweter Philologieprofessor namens Henrik Castorff, der sich einen sauberen Kulturschock eingefangen hat, als die neureichen Türken nebenan eingezogen sind: Grillpartys mit der Großfamilie, kreischende Kinder, laute Zwölftonmusik und das Heulen aufgemotzter Sportwagenmotoren in der Tempo-30-Zone …«

Über Claudias rechter Augenbraue hatte sich eine schmale Kerbe gebildet, während er sprach. Nun stellte sie beide Füße auf den Boden, lehnte sich vor und stützte die Unterarme auf die Oberschenkel. »Das ist ja wohl nur eine Seite der Medaille? Alkan Özgurs Vater ist als Gastarbeiter der ersten Generation nach Deutschland gekommen und musste ein Vierteljahrhundert lang Mülltonnen für Bildungsbürger wie diesen Castorff schleppen, bevor er sich den ersten Imbisswagen leisten konnte. Die Özgurs haben sich aus eigener Kraft hochgearbeitet – sollen sie jetzt in Sack und Asche gehen und sich flüsternd unterhalten, weil einem verhärmten Witwer ein Kinderlachen sauer aufstößt?«

Offenbar hatte auch Claudia einige Recherchen angestellt.

»Ein bisschen Rücksichtnahme unter Nachbarn kann man schon erwarten«, sagte Wernreuther.

Das, fand Kastner, war ein Argument.

Bei dem es Wernreuther nicht bewenden ließ: »Ich hab nix gegen Ausländer, wenn die sich anständig aufführen. Aber Türken machen Lärm, das ist kein Vorurteil, das ist eine Tatsache.«

»Das ist bestenfalls ein Klischee«, konterte Claudia. »Außerdem sind die Özgurs Deutsche.«

»Das sind Moslems!«

»Du meinst Muslime.«

»Ich meine, dass die eine ganz andere Kultur und, äh, Werte haben als wir … Frauen, zum Beispiel, haben bei denen nix zu sagen!«

»Du sorgst dich um die Frauenrechte? Das streich ich mir rot im Kalender an! Also, auf mich machen die Özgur-Frauen einen recht emanzipierten Eindruck: Meral hat Kommunikationswissenschaft studiert, ihre Schwester Dilara ist Betriebswirtin und arbeitet Vollzeit in der Familienfirma. Die Mutter ist Ärztin – bis vor fünf Jahren hat sie in der Dr.-Erler-Klinik als Chirurgin gearbeitet!«

»Jetzt ist sie jedenfalls Hausfrau«, konstatierte Wernreuther unbeeindruckt. »Und sie trägt ein Kopftuch.«

»Meine Oma war auch Hausfrau und hat Kopftuch getragen, trotzdem haben alle nach ihrer Pfeife getanzt …«

»War Meral Özgur als vermisst gemeldet?«, fragte Kastner, um das Gespräch wieder zu versachlichen.

Claudia schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatte im Haus ihrer Eltern eine Einliegerwohnung und ist gekommen und gegangen, wie sie wollte. Dilara hat sie zuletzt am Samstag gesehen, gegen Mittag.«

»Den Rest der Familie konnten wir nicht befragen«, ergänzte Wernreuther. »Der Vater und die Brüder waren außer Haus, und die Mutter hatte einen bühnenreifen hysterischen Anfall. Schrilles Gekreisch, Händeringen, das ganze Programm.«

Claudia sah ihn entgeistert an. »Wie boshaft kann man sein? Die Frau hat ein Kind verloren, Felix! Jemand hat ihre Tochter ermordet!«

»Man kann auch trauern, ohne sich büschelweise die Haare auszureißen …«