Franziska Scheler - Bernard von Brentano - E-Book

Franziska Scheler E-Book

Bernard von Brentano

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Beschreibung

Berlin 1929: Die Republik hat sich kaum vom Krieg erholt, schon bröckelt sie in Vorahnung der bevorstehenden Weltwirtschaftskrise. Leopold Chindler, Journalist und Autor, trifft in der Wohnung seines Bruders seine Jugendliebe aus Studientagen wieder - Franziska Scheler, die mittlerweile geschieden und allein mit ihrem kleinen Sohn in Berlin lebt. Das Zusammentreffen mit ihr lässt Leopold nicht mehr los, und er beginnt erneut um sie zu werben, doch die neue Liebe muss vorerst geheim bleiben aus Angst vor Richard Scheler, Franziskas Exmann. Nur wenige enge Vertraute sind über den wahren Stand ihrer Beziehung im Bilde. Während Leopold beruflich etliche Herausforderungen meistern muss, kümmert sich Franziska um ihren Sohn, und da sie oft einsam ist, klammert sie sich an Leopold. So stehen der Liebe der beiden, schon bevor sie sich entfalten kann, Hindernisse im Weg.

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Seitenzahl: 627

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Inhalt

[Cover]

Titel

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Anhang

Editorische Notiz

Kommentar

Sven Hanuschek: Nachwort des Herausgebers

Dank

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Franziska Scheler

Erstes Kapitel

Der Fächer der großen Stadt öffnet sich, und aus einem Blatt springt eine überraschende Figur.

1

Karl Chindler war umgezogen, und Leopold beschloß, seinen Bruder zu besuchen. Er wollte die neue Wohnung besichtigen und seiner Schwägerin ein paar Blumen bringen. In seinem Notizbuch stand: K. Ch. Budapesterstraße 154, und dahinter in Klammern: schräg gegenüber der Stelle, wo sich die Corneliusbrücke über den Kanal schwingt. Leopold verließ den Autobus an der Haltestelle Herkulesbrücke und ging am Kanal entlang das Lützowufer hinauf. Vor ihm ging eine Dame, die ein graues Kostüm trug und eine schwarze Kappe auf ihren blonden Haaren. Sie hielt den Kopf vornübergebeugt und den Blick zur Erde gesenkt, und ihre linke Hand spielte mit einem roten Regenschirm, dessen dünne Spitze von seiner Trägerin in gewissen Intervallen aufs Pflaster gestoßen wurde. Es war Gertrud Spalding, die Frau des Malers Spalding, und Leopold ging langsamer, er wollte Gertrud nicht überholen. Er hatte keine Lust, ihr Guten Tag zu sagen, Gertruds aufgeregte Schwatzhaftigkeit war im Stande, einen in ein endloses Gespräch zu verwickeln. Leopold schätzte das garnicht.

Es war Anfang Mai 1929. Die Kastanien waren schon voll belaubt, und die Kronen der mächtigen Bäume spiegelten sich in den bewegungslosen Wassern des Kanals. Leopold betrachtete das milchige Grün der Blätter und behielt Gertrud im Auge. An der Ecke der Keithstraße blieb Gertrud stehen und prüfte die Hausnummer. Dann bog sie nach links ein, und Leopold ging rasch weiter.

Karl Chindler schien sich gut gebettet zu haben. Das Haus No. 154 war das letzte in der Budapesterstraße und das Eckhaus dem Lützowufer zu. Die Haustür hatte die Ausmaße eines Scheunentors, und der Flur war mit dicken, weichen Teppichen belegt. Die Frau des Hauswarts, eine niedliche Blondine mit verheulten Augen, kam mürrisch und verlegen aus der Glastür ihrer Wohnung und schloß den Lift auf. Unterwegs drehte sie Leopold den Rücken zu, und Leopold betrachtete den Fahrstuhl. Es war eine elegante Kabine, die ihre Gäste mit braunen Polsterbänken und goldgerahmten Spiegeln unterhielt, während man rasch in die Höhe gehoben wurde. Selbst das massive Treppengeländer, das sich wie ein gehobelter Glycinenstamm um das Fahrstuhlgehäuse ringelte, machte einen wohlhabenden Eindruck, gerade aus Kleinigkeiten, zum Beispiel aus dem Blitzen und Funkeln der Messingstangen, die den Läufer gegen die Stufen der Treppe gepreßt hielten, spürte man, daß reiche Leute in diesem Haus wohnten. Karl Chindler wohnte im dritten Stock. Leopold läutete, und es dauerte ziemlich lang, bis jemand kam. Ein Riegel wurde zurückgestoßen, die Sicherheitskette klirrte gegen das Holz, und ein Diener (den Leopold noch nicht gesehen hatte) öffnete die Tür. Er war ein hübscher Bursche, aber sein Ton war ein wenig schroff.

– Sie wünschen?

– Mein Name ist Leopold Chindler. Ist mein Bruder zu Hause?

Der Diener nickte und trat zur Seite, wobei er die Tür völlig öffnete. Er nahm dem Besucher Hut und Mantel ab, die er über einen Stuhl legte, und führte Leopold in einen Salon, wo er ihn zu warten bat.

– Wie heißen Sie? fragte Leopold.

– Valentin.

– Dankeschön, sagte Leopold, und der Diener schloß die Tür.

Das Zimmer war mehr als doppelt so hoch wie zwei große Männer und sehr lang. Die eine Hälfte war mit weißen, die andere mit blauen Möbeln ausgestattet. Im Erker stand eine Zimmerlinde, und an einem Gestell aus blankgeputztem Messing hing ein Käfig, in dem ein Kanarienvogel saß.

Warten müssen ist langweilig, und Leopold betrachtete das kleine Tier, das mit seinen winzigen und unbegreiflichen Äuglein zurückblickte. Theodor Chindler, Leopolds Vater, hatte einige Jahre lang ganze Familien von Vögeln gehalten, und Karl Chindler schien die Vorliebe des Vaters geerbt zu haben. Der Vogel war sehr schön, das reine Gelb seines Gefieders erinnerte Leopold an ein Bild van Goghs, das im Kronprinzenpalais hing.

Die Schiebetür zum Nebenzimmer wurde geöffnet, und Karl trat ein. Er hatte die Gewohnheit, Gummisohlen zu tragen, und ging lautlos, aber was Leopold diesmal an dem immer verwunderlichen Manne verwunderte, war, daß Karl ohne Kragen und Krawatte eintrat.

– Ich habe mich beim Rasieren geschnitten, sagte er und faßte vorsichtig an eine kleine Wunde am Hals, wobei er den Kopf schräg in die Höhe hob und den Mund etwas verzerrte: Entschuldige darum meine Toilette.

Er gab seinem Bruder die Hand und hielt ihm die Wange zum Kuß hin.

– Ich wollte eure neue Wohnung begrüßen, sagte Leopold, und deiner Frau ein paar Blümchen überreichen.

– Das ist nett von dir … aber ich möchte dich bitten, wenn es dir recht ist, zu mir ins Eßzimmer zu kommen. Ich war über Mittag im Reichstag und bin eben erst nach Hause gekommen. Anna und die Kinder sind schon fertig und bereits auf ihre Zimmer gegangen, aber ich esse noch.

Leopold folgte seinem Bruder. Auch das Eßzimmer war sehr groß. Der langgezogene Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, war mit leergegessenen Tellern und Schüsseln bedeckt (was immer einen unordentlichen Eindruck macht), und das einzig Ordentliche auf der ganzen Tafel waren die kleinen Schlapper der Kinder, die in silbernen Ringen neben ihren Tellerchen lagen. Karl setzte sich in den Lehnstuhl, der am Kopfende der Tafel stand, und Leopold nahm neben ihm Platz.

– Hast du schon gegessen? fragte Karl.

– Ja, danke.

– Ich werde mich beeilen, damit wir rasch zum schwarzen Kaffee kommen.

Es gab Schnitzel, Bratkartoffeln und gelbe Rüben. Karl hob den Deckel von einer Schüssel und legte sich zwei Schnitzel auf den Teller. Dann schnitt er eins in zwei Teile und steckte das größere Stück in den Mund. Er hatte immer ordentliche Happen geliebt, und Leopold sah, daß er der Alte geblieben war.

– Du siehst gut aus, sagte Karl kauend und betrachtete Leopolds Backen. Was macht die Zeitung?

– Ärger.

– Deine Artikel sind nicht gleichmäßig, aber der letzte oder der vorletzte, das weiß ich nicht mehr genau, war sehr gut.

Karl schellte. Der Diener trat ein, räumte die Schüsseln ab und stellte den Nachtisch hin. – Geben Sie mir bitte noch einmal die große, runde Schüssel her, sagte Karl und deutete auf die Mitte des Tisches. Der Diener reichte Karl die Salatschüssel, und Karl leerte sich den ganzen Inhalt auf den Teller. Es waren rote Rüben, die er besonders gern aß. Danach wartete er einen Augenblick, bis der Diener das Zimmer verlassen hatte, nahm dann die Schüssel in beide Hände, setzte sie an den Mund und trank den Saft aus. – Das sah wahrscheinlich nicht sehr schön aus, was ich da eben gemacht habe, sagte Karl und bat Leopold, die Schüssel wieder zurückzustellen, aber der Saft dieser köstlichen Rüben, einer besonders edlen Gabe der Natur, ist gut für meine Nieren. Ich bin nicht mehr der Jüngste, und in meinem Alter muß man mit dem Aufpassen anfangen, wenn man auf eine erträgliche Weise alt werden möchte. Eitle Menschen oder Feiglinge, die den Kopf in den Sand stecken, fangen mit solchen Maßnahmen zu spät an und haben dann die Folgen zu tragen. Du hast das allerdings noch nicht nötig. Wie alt bist du eigentlich jetzt?

– Neunundzwanzig, sagte Leopold und rechnete sich aus, daß Karl neununddreißig sein mußte. Er war also noch ein junger Mann in den besten Jahren, aber er war nie jung gewesen, Leopold hatte ihn immer als gesetzten und gemessenen Herrn empfunden.

Karl hatte seinen Pudding gegessen, und die Brüder zündeten sich eben eine von Karls berühmten Zigarren an, als Anna Chindler ins Zimmer trat. Sie schien erstaunt, ihren Schwager zu erblicken, und Leopold fühlte, daß sie sogar verlegen war. – Welche Überraschung! sagte sie. Das hat man mir garnicht gemeldet, daß du im Hause bist. Dabei schaute sie Leopold mit ihren schönen Augen an, welche in der Familie Chindler jahrelang ein Gesprächsthema gewesen waren, bis schließlich der Ausdruck: Augen wie Anna sie hat, eine stehende Redensart wurde. Sie waren dunkelblau und von den Lidern ein wenig verhängt, aber trotzdem offen, warmherzig und aufrichtig, die Augen eines sinnlichen Weibes, aber eines guten und lenkbaren Menschen.

Leopold überreichte Anna einen Strauß roter Nelken, und Anna bedankte sich sehr.

– Euer Eßzimmer gefällt mir gut, sagte Leopold.

Karl wurde ans Telephon gerufen und stand auf. – Das wird ein längeres Gespräch, aber wir sehen uns nachher noch, sagte er eilig und stürzte aus dem Zimmer.

Anna fragte Leopold, ob er auch die andern Zimmer sehen wolle.

– Mit Vergnügen, sagte Leopold und spürte, daß sein Interesse Anna sehr freute. Sie sah ihn mit einem kurzen Blick an, wie man einen Menschen betrachtet, von dem man weniger erwartet hat, und der einen angenehm enttäuscht. Ihr Mann war Leopold nicht besonders gut gesinnt. Leopold wußte es wohl, aber er hatte die Fähigkeit, solche Abneigungen, wenn sie ihm nicht paßten, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er wußte übrigens selber nicht recht, warum er das tat und weshalb er so handelte. Es gab keinen vernünftigen, sicher keinen logischen Grund dafür, aber Karl war nun einmal sein Bruder und auch noch der Älteste der Familie, und so ließ ihm Leopold, was er (ein wenig gleichgültig gegen sich selber) Karls Eigenheiten nannte, und folgte, ohne weiter viel nachzudenken, seinem Herzen, in dem eine alte und tiefe Anhänglichkeit an Karl wohnte. Sein Freund Wilhelm Braun verspottete Leopold einmal wegen dieser unreifen Schwäche (wie er sich ausdrückte) und machte Leopold dadurch überhaupt erst auf sie aufmerksam, aber Leopold widersprach ihm, und indem er Gründe herbeischleppte, um sich zu rechtfertigen, fand er sein Verhalten großzügig und gleichmütig und eher lobenswert als das Gegenteil, aber darin täuschte er sich, denn

»Selbstliebe, Herr, ist nicht so schnöde Sünde,

Als Selbstversäumnis …«

Anna ging vor, und Leopold betrachtete die Zimmer. Sie waren alle sehr groß und teilweise recht hübsch möbliert. Zum Schluß ging Anna durch einen langen Korridor, der stockdunkel war und kein Ende zu nehmen schien. Endlich öffnete sie eine Tür, und Leopold betrat das Kinderzimmer. Die Stube war ein helltapezierter, freundlicher Raum, fast so groß wie das Eßzimmer. Leopold begrüßte Annas Kinder, zwei blonde Mädchen von acht und zehn Jahren und zwei Buben, die etwas jünger waren. Alle Kinder waren sauber gewaschen und hübsch angezogen. Die Mädchen trugen blaue und rote Schleifchen im Haar, und der kleinste Junge, ein nettes dickes Kerlchen mit kräftigen Patschhändchen, hatte eine grasgrüne Spielschürze an, auf die eine Sonnenblume gestickt war. Anna nahm ihn mit Schwung hoch und küßte ihn ab; er schien ihr Liebling zu sein. Vor dem Fenster stand eine Schulbank, wie sie Leopold als Junge im Pennal gehabt hatte. Leopold zwängte sich auf den kleinen Sitz und probierte noch einmal eine Haltung aus, in welcher der moderne Mensch so viele Jahre seines Lebens zubringt, und die er eines Tages aufgibt, um sie nie wieder einzunehmen und völlig zu vergessen. Leopolds Stellung mußte wohl recht komisch aussehen, denn die Kinder schauten ihn mit großen, verdutzten Augen an, bis der kleine Junge laut herauslachte, und die ganze Gesellschaft in ein schallendes Gelächter ausbrach.

– Das Nette an dir ist, daß du ein gemütliches Haus bist, sagte Anna. Weißt du was? Bleib doch zum Abendbrot, wenn du Zeit hast. Wir essen heute schon um sieben Uhr, weil wir hinterher eine Versammlung haben … Ja, bleibe nur hier, da kannst du was erleben, das du noch nicht mitgemacht hast, das wird dich sicher interessieren!

Die Kinder hatten aufgehört zu lachen und betrachteten ihren Onkel mit jener stummen Neugier, welche diesen Jahren eigentümlich ist, und mit jenen geheimnisvollen Gedanken, die wir Erwachsenen nie erfahren. Wir haben die Empfindungen unserer eigenen Kindheit vergessen und diejenigen der nächsten Generation bekommen wir nicht gesagt.

Annas Töchter waren hübsch und feingliedrig, und wenn auch keine die Augen ihrer Mutter geerbt hatte, so versprachen sie doch, schöne Frauen zu werden.

– Ich hab mal wieder die Hauptsache vergessen, sagte Leopold, aber wenn ich das nächste Mal komme, werde ich euch eine Tüte Schokolade mitbringen. Oder mögt ihr keine Schokolade?

– Wir essen sehr gern Schokolade, sagte das älteste Mädel, und ihr Gesichtchen war dabei so ernst, als beantworte sie die Frage eines Lehrers. Anna streichelte ihre Haare und tat so, als fände sie die Antwort etwas unbescheiden, aber sie war Mutter genug, um sich an der freudigen Hoffnung ihrer Kinder mitzufreuen.

2

Es war Viertel nach sieben, und Karl, Anna und Leopold hatten sich eben zu Tisch gesetzt, als es an der Haustür läutete. Karl lehnte sich zurück, öffnete die Jacke seines dunkelblauen Anzugs, nahm seine goldene Uhr aus der Tasche, ließ den Sprungdeckel springen und sagte: – Kommen denn diese Leute jetzt schon? Es ist ja erst sieben Uhr sechzehn. Das ist doch garnicht zu machen!

– Du wirst dich wundern, was du heute Abend alles sehen und hören wirst, sagte Anna zu Leopold und schmunzelte.

Valentin trat ins Zimmer und meldete, die ersten Gäste seien gekommen, wohin er sie führen solle?

– Das ist doch stark übertrieben, alles was recht ist, sagte Karl, und Leopold sah ihm an, daß sein Bruder sehr ungehalten war.

– Führen Sie die Leute in den Salon, sagte Anna. Hilde soll die Tür öffnen, und Sie bleiben hier zum Herumreichen. Die Kinder sollen brav sein und sich heute ohne mich ausziehen. Ich komme nachher zum Abendgebet.

Der Diener verschwand, und Leopold hörte, wie nebenan Leute ins Zimmer traten und Stühle gerückt wurden.

– Dann müssen es also die Kinder büßen, sagte Karl gekränkt.

– Wer spricht denn hier von büßen? sagte Anna. Wenn die Kinder sich mal allein ausziehen dürfen, haben sie die größte Freude.

– Wie du meinst, sagte Karl. Aber wenn nachher eins im Badezimmer hinfällt oder ins kochende Wasser springt … ich wollte nur warnen und das habe ich hiermit getan!

Leopold hatte sich für seine Veranlagung an diesem Nachmittag wirklich viel Mühe gegeben, seine Neugier zu bezwingen, aber er fand, er habe nun genug geleistet, und fragte: – Wollt ihr mir nicht endlich verraten, was sich heute Abend bei euch tut?

Karl hob beide Arme hoch, so daß sein Kopf förmlich zwischen den Schultern verschwand und sagte: – Wenn ich bitten darf … später! Jetzt wollen wir rasch und möglichst schweigend essen, damit wir fertig werden. Die Leute sind nun einmal im Anmarsch, es paßt sich nicht, sie nebenan warten zu lassen und hier zu tafeln, als ob man nicht dazugehörte.

Das war ein Befehl, dem gehorcht werden mußte, zumal wenn man Karls Charakter kannte, der wenig Spaß verstand. Zum Nachtisch gab es nur Obst, und Valentin reichte eben den Obstkorb herum, als die Tür aufging, und Otto von Bendemann und Franziska Scheler eintraten. – Lassen Sie sich bitte nicht stören, sagte Herr von Bendemann. Wir gehören eigentlich nach nebenan, aber wir wollten Ihnen rasch Guten Abend sagen, ehe wir uns in den allgemeinen Haufen mengen. Es brodelt ja förmlich auf Ihrer Treppe!

– Sie stören überhaupt nicht, sagte Karl höflich und stand auf. Im Gegenteil! Ich bin froh, daß Sie da sind. Das scheint heute Abend die reine Völkerwanderung zu werden. Gott sei Dank, daß wir wenigstens Sie beide haben. Er holte zwei Stühle an den Tisch und bat Bendemann und Franziska, Platz zu nehmen.

Leopold stand ebenfalls auf und betrachtete Franziska, die ihn schweigend ansah, ohne ihn zu begrüßen. In diesem Augenblick wurde er von Bendemann erkannt, den er schon ein paar Mal bei Karl Chindler getroffen hatte. – Ah … Leopold Chindler … die Stimme der Berliner Allgemeinen … das ist aber eine nette Überraschung, sagte Herr von Bendemann. Er ging um den Tisch herum auf Leopold zu und gab ihm seine riesige Hand, und nun ging auch Leopold auf Franziska zu, um sie zu begrüßen. Sie schien ihn nicht wiederzuerkennen. Ein wenig die Augenbrauen hebend, machte sie ein eisiges Gesicht und gab ihm kaum zwei Finger, aber sie war noch schöner geworden, als sie als Mädchen gewesen war, sie sah wunderbar aus. Sie trug ein blaues Kleid mit kurzen Ärmeln, und ihre hellblauen Augen, an deren Rändern ein wenig Gelb schimmerte, beleuchteten das ganze Zimmer.

Der Diener kam herein und meldete, Herr Dr. Lichtstrahl sei gekommen. Der Herr bitte, einen Augenblick eintreten zu dürfen. Karl wußte nicht, was er sagen sollte, und sah seine Frau fragend an.

– Wir sind ja so gut wie fertig mit essen, sagte Anna. Laß ihn ruhig herein kommen. Ich glaube, das gehört sich so, er ist schließlich die Hauptperson des heutigen Abends.

– Dann führen Sie den Herrn Doktor herein, sagte Karl.

Der Eintretende trug das schwarze Gewand eines katholischen Geistlichen. Er war mittelgroß, dick und von bleicher Gesichtsfarbe. Sein Haarwuchs war stark gelichtet, aber die Stirn war schön und mächtig geformt und von eindrucksvoller Höhe. Der große, in eine einzige gerade Linie zusammengepreßte Mund zeigte Leidenschaft und Willensstärke. – Ich begrüße Sie von Herzen, Herr Ministerialrat, sagte er zu Karl Chindler, und spreche Ihnen noch einmal unser aller Dank dafür aus, daß Sie Ihre schöne Wohnung der guten Sache zur Verfügung gestellt haben. Möge es Ihnen der Herr mit seinem Segen vergelten.

Nach dieser feierlichen Ansprache ließ er Karls Hand los (die er die ganze Zeit über festgehalten hatte) und begrüßte nun Anna und die übrigen Anwesenden.

– Darf ich Ihnen meinen Schwager Leopold Chindler vorstellen? sagte Anna.

Dr. Lichtstrahl nahm Leopolds Hand, und Leopold fühlte, daß Lichtstrahls Hand sehr weich war. Auch das Gesicht des Mannes war aus der Nähe gesehen weniger eindrucksvoll, als es aus der Ferne und im Rahmen der Tür geschienen hatte. Die Augen, die durch eine sehr scharfe Brille verdeckt wurden, waren klein und von unbestimmter Farbe, und die untere Hälfte des Gesichts hing ein wenig schlaff herab und gleichsam nicht ganz fertig gemacht. Nachdem sie diese Stirn geformt, hatte sich die Natur keine Mühe mehr gegeben und den Rest des Gesichts ein wenig mit der linken Hand vollendet. Die Stirn allerdings blieb auch aus der Nähe großartig.

Auch Leopold wurde genau gemustert, und es dauerte sogar noch einige Sekunden über seine Prüfung von Dr. Lichtstrahls Person hinaus, bis Dr. Lichtstrahl den Mund öffnete und sprach: – Ich habe von Ihnen reden hören, ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen.

Leopold überlegte, wer in aller Welt Dr. Lichtstrahl von ihm erzählt haben könnte. Aber das Rätsel löste sich, wenigstens zur Hälfte, indem sich Dr. Lichtstrahl als Kenner der Artikel bekannte, die Leopold in der Berliner Allgemeinen veröffentlichte.

Dr. Lichtstrahl ging weiter und begrüßte den Gesandten a.D. von Bendemann. Bendemann hatte soeben seine riesige, hellgelbe Hornbrille geputzt, setzte sie nun wieder auf die Nase und musterte die staubige Soutane des Geistlichen.

– Das ist wirklich eine große Freude für mich, sagte Dr. Lichtstrahl, heute Abend soviele ausgezeichnete und angesehene Herren begrüßen zu dürfen. Dann machte er eine gewandte Verbeugung gegen Anna und fuhr fort: – Aber wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau, wollen wir nun auch die übrigen Gäste nicht länger warten lassen und anfangen.

Karl ging voraus und öffnete die Schiebetür, und Leopold erblickte endlich die geheimnisvolle Versammlung, auf die er so lange gewartet hatte. Der Salon war bis auf den letzten Platz mit Menschen gefüllt, aber Leopold war sehr verblüfft, als er nun näher trat und die Anwesenden betrachtete. Es waren fast alles einfache Leute, Arbeiter und Angestellte mit müden, abgearbeiteten Gesichtern und groben Händen, Werkzeugen, die es gewohnt waren, kräftiges Werkzeug zu halten und den Kampf ums Dasein mit der Stärke ihrer Muskeln zu führen. Unter den jüngeren Leuten, die sich im Hintergrund des Zimmers versammelt hatten und eine Gruppe für sich bildeten, sahen einige wie Schauspieler aus oder wie verbummelte Künstler. Sie hatten trotzige Gesichter und lange, fettige, ungepflegte Haare. Manche hatten böse Augen, denen man schwierige Probleme ansah, oder spöttische und hochmütige Münder, und diese wurden nun noch abweisender und böser, als der Hausherr eintrat, und die eleganten Erscheinungen von Anna und Franziska auf die vordersten, ihnen freigehaltenen Stühle zugingen. Dagegen gab es unter den älteren Leuten sympathische und einnehmende Gesichter mit klugen und vorsichtig-aufmerksamen Augen. So saß gleich vorn in der zweiten Reihe eine mittelgroße Frau mit weißen Haaren, die ein schönes, ja edles Gesicht hatte. Sie hielt die Hände über dem Schoß gefaltet und den Kopf mit den sehr bleichen Wangen gesenkt, aber als sie nun Dr. Lichtstrahl eintreten sah, hob sie die Augen und betrachtete den Geistlichen mit einer sanften und prüfenden Hingabe, wie sie Dürer und Grünewald gezeichnet haben, und wie sie jenen verliehen ist, welche hungrig und beladen sind und die Kraft haben, zu glauben.

Die Stühle reichten nicht aus, und einige Gäste, die in den Erker getreten waren, mußten stehen. Karl und Leopold schleppten noch ein paar Stühle aus dem Eßzimmer herbei, bis alle Anwesenden sitzen konnten, und dann begann Dr. Lichtstrahl seinen Vortrag.

Er erhob sich, drehte seinen Stuhl um, stützte seine kleinen, bleichen Hände auf die Rückenlehne und sprach:

– Unsere junge katholische Volkshochschule Berlins marschiert! Wir besitzen noch keinen Prachtbau, der uns gehörte, wir können uns noch nicht im eigenen Heim versammeln, wann immer es uns paßt, aber wir besitzen eigentlich mehr als das. Man wollte mir neulich Angst und Bange machen und fragte mich: Aber lieber Herr Doktor! Wo wollen Sie denn Ihre Kurse abhalten? Wo wollen Sie denn Ihre Zuhörer und Zuhörerinnen versammeln? Ich antwortete: Überall! Berlin hat eine Million-zweihundertzehntausend-sechshundertundzwei Wohnungen; das genügt uns. Da werden wir schon jede Woche eine finden, die uns aufnimmt – und siehe da … wir haben jede Woche eine gefunden. Vor vier Wochen eine, vor drei Wochen eine, vor zwei Wochen eine, und heute wieder! – Einige Zuhörer lachten zustimmend, und der Redner machte eine Pause. Dann fuhr er fort: – Außerdem, meine verehrten Anwesenden, wollen wir ja vorläufig, ich sage allerdings ausdrücklich vorläufig, etwas ganz anderes. Wir sind keine Gelehrten, und wenn wir auch Schüler sind, so sind wir Schüler besonderer Art, wir sind – Menschen! Wir sprechen nicht nur zum Intellekt, zum Gehirn da oben, zu diesem bißchen Masse, auf das gewisse Leute so entsetzlich stolz sind, wir wissen, daß der Mensch vielfältiger ist und reicher; wir sprechen zum ganzen Menschen! Zur Seele!

Sehen Sie, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, vor vierzehn Tagen war Ostern. Eines Nachmittags, ich kam eben vom Friedhof, oder besser gesagt von einem der vielen Friedhöfe, die es in unserer Stadt gibt … also: Ich kam vom Friedhof und ging in Gedanken verloren durch die Leipzigerstraße. Vor Wertheim blieb ich stehen. In den Schaufenstern war Ostern! Sport, Wanderung, Frühjahr! Wanderanzüge! Segelboote, Gezelt! Mitten im Schaufenster Osterhasen und Ostereier. Dazwischen knospende Weiden. Ostern an der Leipzigerstraße!

Der Mann war unstreitig ein großer Redner; Leopold erinnerte sich nicht, jemals einen besseren gehört zu haben. Die letzten Worte hatte Dr. Lichtstrahl förmlich gezischt, aber sein Meisterwerk schien Leopold doch zu sein, daß er, während er die unschuldigen Gegenstände aus dem ahnungslosen Schaufenster am Leipziger Platz auf die Straße warf, diese gleichzeitig zur äußersten Sichtbarkeit erhob und zur lächerlichsten Unscheinbarkeit verurteilte. In diesem Augenblick glich er ein wenig Jesus im Tempel, allerdings einem intellektuellen Jesus, der seine Hände nicht gebraucht und sie höchstens so bewegt wie ein Kapellmeister seine Linke. Jesus hatte eine Peitsche in der Hand gehabt, eine Geißel; dieser Mann stand fast unbeweglich da, und seine (unsichtbaren) Waffen waren die kalte Kraft seiner Beobachtungsgabe und die dämonische Gewalt seiner Redekunst.

Dr. Lichtstrahl richtete sich hoch auf und fuhr fort: – Nach Hause zurückgekehrt, blätterte ich in Schotts Meßbuch. Lithurgie der Karwoche! Gründonnerstag! Flectamus genua! O crux ave! Die Improperien! Vexilla regis! O lux beata! Dann jubelnde Osterglocken! Alleluja! Das ist Feiertag. Das ist Weihe. Das ist Auferstehung. Wie ist doch die Welt ohne Kirche arm und glatt und bürgerlich geworden. Spießbürgerlich! Ostereier! Osterhasen, Weidenkätzchen! Gut essen, gut trinken und eine Handvoll Frühlingsluft. Hier aber Ewigkeit, Firnenglanz, Sturmgebraus, Auferstehung, Wiedergeburt! Urmenschliches wird aus den Tiefen emporgerissen. Felsen spalten sich. Kreuze stehen lichtumflossen. Ostern kündet und umjubelt den Auferstandenen. Das nenne ich Feiertag. Der die Menschen über sich hinaushebt. Der sie in das Unendliche taucht. Der sie mit dem Göttlichen verbindet. Der so das Tal dieser Welt in den Farbenglanz der Überwelt stellt. Feiertag!

Der Redner schwieg, und Leopold blickte sich vorsichtig um. Alle Zuhörer schienen gepackt zu sein, auf einigen Gesichtern konnte er die tiefste Ergriffenheit lesen. Leopold war erstaunt, denn der Schluß der Ansprache hatte ihm wenig gefallen. Er fand ihn leer, nicht ganz aufrichtig und ohne greifbaren Sinn, er fragte sich, welche Kindheit und welche Art von Elternhaus der Redner wohl gehabt habe. Leopold erinnerte sich gern der Osterfeste seiner Kindheit. Man war früh aufgestanden an diesem fröhlichen Feiertag und mit der ganzen Familie um acht Uhr zur Messe gegangen. Manchmal lag im Vorgarten noch Schnee, und ein frischer Wind, der einen besonders auf dem Heimweg kräftig ins Gesicht biß, kämpfte mit der jungen, unvergleichlichen Kraft der Frühjahrssonne, aber wenn man dann gegen halb zehn nach Hause zurückkam, gab es in dem alten, gemütlichen, grüntapezierten Eßzimmer ein mächtiges und prächtiges Frühstück: Kaffee und Milch und Zucker und schöne weiße Brötchen und für jeden zwei bunte Ostereier aus einem großen gelben Strohkorb, der in der Mitte des Frühstückstisches stand, und dessen lustige Farben, die ein Geheimnis von Tante Friederike waren, den ersten Blumenstrauß des jungen Jahres bildeten. Sollten diese hübschen, alten Bräuche abgeschafft werden? Waren sie Herrn Lichtstrahl zu heidnisch? Oder zu irdisch? Leopold verstand der Rede Sinn nicht, und seine leicht erregbare Empfindlichkeit weckte ein Gefühl von Feindschaft gegen den Redner in seinem Herzen. Man hatte ihn nicht überzeugen wollen, sondern überreden, und dagegen empörte er sich. Ostern, dachte er, soll bleiben, wie es immer gewesen ist!

Dr. Lichtstrahl fuhr fort, aber Leopold betrachtete Franziska, die schräg vor ihm saß, und eine erstaunliche Fähigkeit hatte, sich nicht zu rühren. Leopold wußte nicht, daß Franziska Scheler mit Herrn von Bendemann verwandt war, und fragte sich, woher sie seinen Bruder kenne, und aus welchem Grund sich diese schöne und mondäne Protestantin für solche Versammlungen interessiere, aber Franziska schien aufmerksam zuzuhören, und die dunklen Wellen ihrer Haare, welche einen kleinen, weißschimmernden, sehr zart modellierten Nacken freiließen, gaben keine Antwort.

Der Redner war fertig geworden. Leopold nahm seine Uhr aus der Tasche und schielte aufs Zifferblatt; es war gleich halb zehn.

Anna stand als erste auf und dankte Dr. Lichtstrahl für seine Rede, indem sie auf ihn zutrat, ihm die Hand gab und ein paar liebenswürdige Worte sagte. Leopold stand ebenfalls auf, um seine zappeligen Beine zu vertreten, und als nun Karl als Hausherr auf Dr. Lichtstrahl zuging und dabei sein würdigstes und ganz und gar undurchdringliches Gesicht machte, ging Anna zu Leopold und stellte sich neben ihn.

– Na, du oller Heide, sagte sie spöttisch, aber durchaus verwandtschaftlich und kameradschaftlich spöttisch und dazu im Unterton sogar ein wenig unsicher, wie hat dir unser Vortrag gefallen?

Leopold sah seiner Schwägerin an, daß sie begeistert war, und antwortete, der Redner scheine eine ungewöhnlich interessante Persönlichkeit zu sein. Anna war eine liebe und tüchtige Frau, aber auch ein harmloses Gemüt, und verstand Leopolds Antwort nicht. – Nicht wahr! sagte sie lebhaft und sichtlich beglückt, das finde ich auch, ich habe es Karl immer gesagt! Aber das freut mich nun ganz besonders, daß sogar dein kritischer Geist zufrieden ist. Du bist ja sonst manchmal mehr für’s Zersetzende und Haarspaltende … du nimmst es mir doch nicht übel, wenn ich mal so offen rede? Aber nun sehe ich, daß wir frömmeren Christenmenschen noch nicht alle Hoffnung auf deine Seele aufgeben müssen, und das allein lohnt mir den ganzen Abend!

Leopold fand sich garnicht zersetzend und weit eher zum Gegenteil geneigt, aber Annas freundliche Bemühung, »frömmere Christenmenschen« zu sagen anstatt fromme, war nett und taktvoll, und außerdem waren solche Mißverständnisse Begleiter seines Lebensweges, die nun ungefähr schon halb so alt waren wie er selber, alte, bittere Bekannte. Er lächelte, so gut und höflich er konnte, und schwieg. Die Unwahrheit zu sagen und zu heucheln, war er nicht geneigt, und besonders nicht einer Frau gegenüber wie Anna, aber Erklärungen waren hier auch nicht am Platze. Sie wurden nie verstanden (denn wer mag hören, was ihm widerspricht, und was er nicht hören will?), sie machten am Ende immer alles nur schlimmer und die Mißverständnisse härter und spitziger wie verschleppte Krankheiten. Obendrein kam ihm Karl zu Hilfe. Er trat auf seine Frau zu, nahm sie beiseite und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Anna hörte zu, wobei sie die Stirn runzelte und schließlich den Kopf schüttelte. – Das brauchst du mir nicht leise zu sagen, das hatte ich mir gleich so gedacht. Es ist alles gerichtet und wird jeden Augenblick gebracht werden. Aber wenn du willst, werde ich selber nachsehen.

Sie ging aus dem Zimmer, und kurz darauf erschienen Valentin und die beiden Mädchen und reichten Schüsseln mit belegten Broten herum und Tablette mit Bier und Weißwein. Dr. Lichtstrahl hatte sich auf einen Sessel im Erker zurückgezogen und betrachtete mit einem Behagen, das ihm aufs deutlichste anzusehen war, die kleine Wiederholung der Speisung der Fünftausend, die Anna sorgfältig und großzügig vorbereitet hatte. Seine Rede war ein Sieg über die Seelen seiner Zuhörer (wenigstens sah es so aus), und er blickte auf das angeregte Flüstern und das vergnügte Kauen und Futtern seiner Schäfchen, wie ein General die Parade braver Truppen mustert, die ihre Pflicht getan haben. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und dieser Mensch schien nur aus Willen zu bestehen. Also mußte er, wenigstens in diesem Augenblick, glücklich sein, da an diesem Abend ihm alles nach Wunsch ging.

3

Es war zehn Uhr, und einige Gäste hatten bereits das Zimmer verlassen, als sich Dr. Lichtstrahl plötzlich erhob und, indem er die Arme ausbreitete, die Tür versperrte. – Wenn es den Anwesenden recht ist, möchte ich noch ganz kurz und knapp einen Gedanken aussprechen, der mir heute Nachmittag gekommen ist.

Sofort trat Ruhe ein. Einige Leute setzten sich wieder hin, andere blieben stehen, wo sie gerade standen, und Dr. Lichtstrahl fuhr fort: – Vor acht Tagen stand ich am Sterbebett einer Greisin. 88 Jahre alt. Hoch im Norden Berlins, in der vierten Etage einer Mietskaserne. Niemand war im Zimmer, nur die Sterbende, und ich. Als ich niederkniete und die Krankengebete sprach und das Silbergefäß mit dem Krankenöl öffnete und die goldene Patene, auf der die Hostie lag, schaute ich zwischen den flackernden Kerzen auf die Straße. Drüben Sechs-Etagen-Haus. Vor mir die Hochbahn. Station Nordring. Züge, die einlaufen, Züge, die abfahren. Drüben Schlächterei. Daneben Färberei. Ich salbe ihr, der Klaräugigen, Mitbetenden, die Sinne. Augenlider. Mund. Hände. Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam. Das Gebet um die Verzeihung alles dessen, was wir mit unsern Sinnen falsch gemacht haben. Mit der Glut der Augen. Mit dem Griff der Hand. Mit dem falschen Weg der Füße. Indulgeat! Er soll dir verzeihen! Alles! Blicke zurück auf deine achtundachtzig Jahre. Wir verzeihen den andern. Gott verzeiht uns. Schau durch die Fenster. Über diese Häuser hinweg. Der Himmel ist doch blau. Die Sonne wirft doch ihre goldenen Strahlen über diese dunklen Dächer. Die Sterne steigen doch in unendlicher Ferne, klar, bestimmt, gottverkündigend. Erschrick nicht, o Greisin, vor den letzten Tagen. Sterben ist nur Übergang. Ist nur Brücke. Ist nur Portal in die unendliche Ewigkeit. Es gibt eine Verzeihung, eine Lösung. Ein Traum, der Wirklichkeit ist. Gott selbst! Selig sind, die in Gott sterben …

Der Redner schien von seinen eigenen Worten sehr ergriffen zu sein und machte eine Pause, und diesmal war auch Leopold gepackt. Aber Dr. Lichtstrahl machte nur eine kurze Pause und fuhr fort: – Heute Nachmittag habe ich diese Frau beerdigt. Ganz allein. Kein Mensch war gekommen. Von vier Millionen Einwohnern unserer Stadt nicht einer. Das darf nicht mehr sein. Das ist unerträglich. In einer Stadt, in der Christen wohnen, soll es von heute ab unmöglich sein, daß irgend ein Mensch, den kein Freund und kein Verwandter mehr kennt, so einsam zu Grabe getragen wird wie diese Greisin. Die Toten begraben! Auch das ist Christenpflicht! Aber nicht nur die Berühmten, die Prominenten, die alle Zeitungen in fetten Lettern loben, sondern auch den Letzten, den Verlassensten, den Verachtetsten! Das Mittelalter wußte um diese Aufgabe. Es kannte Genossenschaften, die ihr dienten. Lasset uns die stille Arbeit der Kalandsbrüder wieder aufnehmen. Lasset uns die Toten begraben … Wer mitmachen will, melde sich in den nächsten Tagen auf meinem Büro, und wer keine Zeit hat zu mir zu kommen, schriftlich. So … Das hatte ich noch sagen wollen, und nun: gute Nacht, liebe Zuhörer.

Auch der zweite Teil der Rede hatte Leopold gefallen, und er wollte eben auf Dr. Lichtstrahl zugehen, um ihn zu seinen Worten zu beglückwünschen, als Karl ihn am Arm faßte. – Die erste Rede war besser, sagte er leise, die zweite war ein bißchen verstiegen. Wir leben ja schließlich nicht mehr im Mittelalter. Aber, was ich noch sagen wollte: Sei so gut und laß den Redner jetzt in Ruh’, ich meine, halte ihn nicht auf. Die Leute werden müde sein und sollen nach Hause gehen, alles was recht ist, es ist halb elf.

Anna hatte ihrem Mann schweigend zugehört, und als sich Karl umdrehte, um einigen Gästen die Hand zu geben, die sich herandrängten, um sich zu bedanken und zu verabschieden, sagte Leopold, ihm hätte die zweite Rede besser gefallen als die erste. – Du bist und bleibst halt ein wenig verstiegen, sagte Anna (indem sie sofort das Wort ihres Mannes aufnahm). Aber in diesem Fall schadet es vielleicht garnichts. Melde dich nur und begrabe die Toten. Das ist immer noch ein gutes Werk. Leopold schaute auf Annas Stirn (die garnicht hoch war), und schämte sich. Bei Annas Worten war ihm ein Fehler seines Charakters eingefallen, den er wohl kannte, der ihm auch zuwider war, und der sich trotzdem nicht leicht beseitigen ließ. Dr. Lichtstrahls Worte hatten ihn ergriffen, aber sie hatten trotzdem nur eine äußere, eine sehr abgetrennte und gleichsam für sich selber lebende Seite seines Wesens berührt. Dr. Lichtstrahls Gedanke hatte seinen Gedanken gefallen, aber davon war er weit entfernt, nun auch die Konsequenz zu ziehen und sich zu melden und Dr. Lichtstrahl zu helfen, seine Toten zu begraben. Nun hatte ihn Annas Bemerkung geweckt, und er spürte, und nicht ohne Zorn auf sich selber, daß er wieder einmal ein purer Intellektueller gewesen war, und das heißt ein Mensch, der nur mit dem Verstand reagiert, oder besser gesagt, der anders denkt, als er handelt, der besser denkt, als er handelt, dessen Geist kräftig und kultiviert ist, ja sogar von feiner und zarter Empfindsamkeit, während sein Charakter fahrig und wenig empfindlich in jenen dunkeln Höhlen des Herzens verharrt, zu denen der Verstand keinen Zutritt erhält, weil der Charakter das auf-dem-Sofa-Liegen liebt und nicht gestört sein möchte. Ja, er war böse auf sich, und er empfand ein Gefühl von Dankbarkeit für Anna, weil ihre Worte ihn wenigstens vor der dummen und in diesem besonderen Falle gar zu unaufrichtigen Geste bewahrt hatten, Dr. Lichtstrahl einige folgenlose Komplimente zu machen. Es war – vielleicht, Leopold wußte das noch nicht genau – nicht seine Aufgabe, ein Kalandsbruder zu werden und einem Manne zu helfen, der ihm sehr fremd war, und den er aus mancherlei gewichtigen Gründen ablehnte, aber da dies so lag, war es auch nicht anständig, eine Sache zu loben, die überhaupt von ganz anderer Natur war, und zwar durchaus von einer, die man weder loben kann noch tadeln, sondern nur tun oder nicht tun, tun oder lassen.

Anna war ein harmloses Gemüt und nur mittelmäßig gebildet. Ihre Lust auf Erden war, Mutter ihrer Kinder zu sein und Hausfrau ihres Mannes, und es gab manchen Mann von Leopolds stolzer, ja hochmütiger Art und besonders von seinem Ehrgeiz, der seine Abende zu kostbar gefunden hätte, um sie bei einer Frau wie Anna zu verbringen. Aber Leopold fand, daß sich solche Leute täuschten. Die Mütter wohnen nicht nur unter der Erde und im geheimnisvollen Reich; sie wohnen auch unter uns, und es lohnt sich wohl, sie immer zu verehren und mit Geduld anzuhören.

Zweites Kapitel

Eine Frau kann nur auf eine Art schön sein, aber anmutig auf hunderttausend.

Montesquieu.

1

Franziska Scheler hatte sich in eine Ecke des großen, blauen Sofas zurückgezogen. Sie schien müde zu sein, denn Leopold sah, daß sie hinter dem winzigen Knäuel eines Taschentuchs vorsichtig gähnte. Es war Zeit, endlich mit ihr zu sprechen, und Leopold steuerte durch die Klippen der verlassenen Stühle auf sie zu und setzte sich ihr gegenüber. – Wir haben uns lange nicht gesehen. Darf ich fragen, wie es Ihrer Schwester geht und Ihren Eltern?

– Sie haben sich sehr verändert, sagte Franziska und betrachtete Leopolds Gesicht, bis sich ihre Augen trafen, und Franziska den Blick zur Seite wandte. Ich habe Sie im ersten Augenblick nicht wiedererkannt.

– Es ist lange her, daß wir uns gesehen haben, ich glaube acht Jahre.

– Meiner Schwester gehts gut. Sie hat zwei reizende Kinder.

– Hat Ihnen der Vortrag gefallen?

– Ja und nein. Manches war für mich ein wenig fremd. Wie viel Uhr ist es wohl? Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu gehen.

– Da kennen Sie den Charakter meines Bruders nicht. Meiner Ansicht nach geht der Abend für ihn jetzt erst los. Er hat seit drei Stunden schweigen müssen, nun wird er wohl mindestens eine ebenfalls reden wollen. In seinem Gehirn dürften gewaltige Gedankenmassen aufgestaut sein.

Franziska richtete sich lächelnd auf und schaute zu Karl Chindler hinüber. Karl stand, die Zigarre in der Hand, zwischen Dr. Lichtstrahl und Herrn von Bendemann und redete auf die Herren ein.

– Eine Diskussion würde mir gefallen, sagte Franziska, dann bleibe ich noch hier. Es ist ein Vergnügen, Ihrem Bruder zuzuhören. Er ist gescheit und dabei lustig und witzig.

Leopold hätte gern noch länger mit Franziska gesprochen, aber Karl ließ sich zwischen Dr. Lichtstrahl und Herrn von Bendemann nieder, und Franziska stand auf und setzte sich neben ihren Vetter Bendemann. Leopold folgte ihr und setzte sich neben Anna, und so war denn alles bereit, und Karl konnte mit einem seiner berühmten Monologe beginnen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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