Frau Friese und die tödliche Einladung - Martha Bull - E-Book

Frau Friese und die tödliche Einladung E-Book

Martha Bull

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Beschreibung

Tödliches Wiedersehen Waltraud Friese, Rentnerin aus dem Bremer Peterswerder, trifft eine alte Schulfreundin wieder. 60 Jahre sind seit dem Schulabschluss vergangen. Das soll mit einem Klassentreffen gefeiert werden. Aber es scheint ein Treffen mit dem Tod zu werden, denn eine Freundin wird ermordet. Und dann die nächste …Frau Friese gerät schnell selbst in Verdacht, denn stets ist sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Boulevardpresse greift die Verdächtigungen auf, so dass sich die Rentnerin gegen Anfeindungen aus der Nachbarschaft wehren muss. Größer aber ist ihre Angst, das nächste Opfer zu werden – und dafür stehen die Chancen nicht schlecht.Liegt das Motiv für diese Taten wirklich 60 Jahre zurück? Während Waltraud und ihre Freundinnen nach einer Lösung suchen, zieht sich die Schlinge immer weiter zu. Wie kann sich Frau Friese diesmal retten?

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Martha Bull

Frau Friese und die tödliche Einladung

Band 3

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2015 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Klaus Kellner, Manuel Dotzauer

Satz: KellnerVerlag

Umschlag: Designbüro Möhlenkamp & Schuldt

ISBN 978-3-95651-089-2

Die Autorin

Martha Bull wurde 1949 in Bonn geboren, hat dort auch ihr Abitur gemacht. Nach dem Studium der Fächer Geschichte, Politik und Deutsch für das Lehramt in Bonn und Marburg schloss sie in Berlin ihr Referendariat ab. Seit 1979 lebt sie in Bremen. Hier hat sie lange in der Erwachsenen-bildung gearbeitet, unter anderem in einer freien Modellschule. Seit 1997 ist sie in der Kinderbibliothek im Viertel beschäftigt. Dort arbeitet sie auch über ihren Renteneintritt 2015 hinaus.

Veröffentlichungen:

• Hanseatisch cool – Beitrag in: Witte, Katharina (Hg.): Jetzt kommse übern Deich – 20 Jahre Bremer Karneval, Edition Temmen 2005

• Die Videobotschaft, Langlhofer Verlag 2007, ISBN 978-3-938487-24-2

• Frau Friese und der Fenstersturz, Edition Temmen 2013

• Frau Friese und das Bunkergrab, Edition Temmen 2014

1.

»Waltraud? Waltraud Friese? Bist du das?«

Erstaunt sehe ich von meinen Einkäufen hoch, die ich gerade vorsichtig in meine Tasche packen will. Vor allem mit der Sahne muss ich aufpassen. Die tue ich immer in einen Extrabeutel, ist doch eklig, wenn die in der Tasche ausläuft. Kriegt man ja nie wieder raus, den Gestank.

Da spricht mich diese fremde alte Frau an. Obwohl, fremd kann sie nicht sein, wenn sie mich duzt. Kommt mir tatsächlich irgendwie vertraut vor. Die Stimme, das Gesicht. Ja doch, das ist doch …

»Sigrid Brinkmann«, kommt sie mir rasch zuvor. »Erkennst du mich nicht mehr? Ist ja auch eine kleine Ewigkeit her. Wir waren Freundinnen bis vor 50 Jahren.« Sie lacht unsicher. »Vor 50 Jahren, Waltraud! Kaum zu glauben.« Kopfschüttelnd fährt sie fort: »Dabei kennen wir uns schon viel länger. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Damals hieß ich Wersing. Du hast ein paar Häuser weiter gewohnt. Na, klickert es bei dir?«

»Sigrid, natürlich! Nein, so was! Wie kann es nur angehen! Was für eine Überraschung!«

Das kommt davon, weil ich heute in einen anderen Supermarkt gegangen bin. Hier in Hastedt kaufe ich normalerweise nicht ein, bin aber vorhin mit dem Rad herumgefahren. Muss ja sein wegen der Bewegung, sonst rosten die alten Knochen noch mehr ein, bin schon steif genug.

»Hattest du nicht diesen Dackel, Erdmann?«, fällt mir als Erstes ein. Komisch. Kommt vielleicht, weil ich gerade Futter für Gottfried gekauft habe, denke ich etwas betreten.

Sie lacht. »Dass du das noch weißt! Der gehörte eigentlich meinem Vater, aber ich musste ständig mit dem raus. Dabei war der so aggressiv, ich bin nie gerne mit ihm losgegangen.«

»Ich mag Hunde gerne«, werfe ich ein. »Ich teile mir einen mit einer Freundin, Grete Tietjen. Sie ist 92 und schlecht zu Fuß, deshalb gehe ich manchmal mit Gottfried los. Aber er ist ein ganz Lieber. Überhaupt nicht aggressiv.«

Waltraud, das interessiert Sigrid doch nicht. Es gibt schließlich Wichtigeres nach so vielen Jahren.

Eine Weile sehen wir uns wortlos an. Sie ist alt geworden, ihre Haare sind schlohweiß. Pagenschnitt nannten wir das. Ihre dicke Brille erinnert mich an früher, damals trug sie auch immer solche großen Gestelle. Ein bisschen aufgedunsen ist sie. Kein Wunder, dass ich sie nicht sofort erkannt habe. Sie war als junge Frau so schlank, fast dürr. Aber sonst sieht sie ganz adrett aus. Hübsch, der Wollmantel – aber ist der nicht zu warm? Ist zwar schon Oktober, aber heute eher spätsommerlich warm. Sonst wäre ich doch nicht mit dem Rad losgefahren.

Geht es dich etwas an, ob Sigrid friert, Waltraud? Vielleicht ist sie krank.

Sie hat in der letzten Klasse in der Volksschule neben mir gesessen. Auch nach der Schule waren wir noch eine gute Weile befreundet. Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Bei der Taufe von Sigrids erster Tochter?

Achje, mein Gedächtnis wird immer schlechter. Ich könnte meine eigenen Ostereier verstecken.

Ich seufze auf.

Sigrid. Ich hatte sie gern, aber irgendwie haben wir uns aus den Augen verloren. Hans-Georg mochte ihren Mann Helmut nicht, erinnere ich mich.

Mensch, Waltraud, da war doch noch was!

Ja, sicher, die haben sich sogar mal geprügelt, richtig mit Fäusten und allem. Warum? Weil, meine Güte ja, Hans-Georg hat Helmut vorgeworfen, beim Rommé zu schummeln. Deswegen haben sich unsere Männer geschlagen! Gut, sie waren nicht mehr ganz nüchtern, aber trotzdem. Wegen Rommé!

Sigrid und mir war das furchtbar peinlich. Ich habe nie wieder ein Wort darüber verloren. Rommé spielten wir vier danach nicht wieder. Seitdem war der Wurm drin. Sigrid und ich trafen uns immer seltener, bis es ganz einschlief. Ja, so war das.

Siehst du, Waltraud, langsam kommt die Erinnerung doch wieder. Bist noch nicht dement.

Damals haben wir uns die Freundschaft durch unsere Männer nehmen lassen. Könnte ich jetzt noch wütend werden. Wegen Rommé! Wie kann es nur angehen! Hans-Georg konnte eben nicht verlieren.

Ich stutze. Ging es eigentlich um etwas anderes?

Sigrid unterbricht meine Gedanken.

»Du warst vor kurzem in der Zeitung«, erklärt sie. »Da dachte ich, es wäre schön, sich mal zu treffen, wo du wieder in der Nähe wohnst. Ich hatte mir längst vorgenommen, dich anzurufen, aber dann bin ich drüber weggekommen. Du weißt ja, wie das ist. Es scheint, der Himmel wollte, dass wir uns treffen, und hat uns endlich zusammengeführt.« Sie lacht wieder fröhlich.

Der Himmel? Ich hab’s nicht so damit, aber meinet-wegen.

»Du hast ja aufregende Sachen erlebt, habe ich gelesen«, fährt sie fort. »Wollen wir uns mal treffen und über die alten Zeiten klönen?«

»Aber gerne, wie geht es denn überhaupt? Was macht – äh … Helmut?«

»Oh, der ist bereits vor sechs Jahren gestorben, war lange krank.«

Ihr Blick trübt sich ein bisschen, womöglich trauert sie noch.

»Dein Hans-Georg ist auch tot, habe ich gehört. Da steht uns niemand und nichts mehr im Wege, Waltraud. Ruf mich einfach in den nächsten Tagen an. Oder ich versuche es auch bei dir, wenn du nichts dagegen hast. Ich nehme an, du stehst im Telefonbuch. Was meinst du?«

In ihrer Stimme liegt etwas Flehendes. Vielleicht ist sie einsam, würde mich nicht wundern. Sie ist also auch verwitwet. Unsere Männer haben nicht lange durchgehalten, denke ich.

Schon redet sie weiter: »He, Waltraud, wie wäre es, wollen wir beide in diesem Jahr zusammen auf den Freimarkt gehen? Der fängt doch Ende des Monats an. Was meinst du? Ich habe noch Kontakt zu einigen aus der alten Zeit. Ilse treffe ich oft, die kommt bestimmt auch mit.«

Auf den Freimarkt? Da war ich seit Jahrzehnten nicht mehr.

»Das war lustig mit uns«, nicke ich. »Ilse konnte am lautesten kreischen, weiß ich noch. Aber eines sage ich dir: Raupe fahre ich nicht mehr.«

Spontan lachen wir los. Die Raupe wollten uns unsere Eltern gerne verbieten, sie fürchteten um unsere Moral!

Wir könnten hier noch lange im Vorraum des Supermarkts stehen, aber leider muss ich nach Hause. Der Immobilien-Alf hat sich angemeldet. Er hat vielleicht endlich jemanden, der meine Wohnung im dritten Stock kaufen will. Die steht nun schon seit Monaten leer.

Sigrid. Warum nicht die Freundschaft wieder aufle-ben lassen?, denke ich, als ich etwas mühsam wieder aufs Rad steige und nach Hause in die Braunschweiger Straße radle. Zwar habe ich in den letzten Monaten ein paar neue Bekanntschaften geschlossen, aber es ist noch nicht so, dass ich mir jetzt einen Terminkalender kaufen müsste.

Hans-Georg würde sich im Grab umdrehen, wenn er das wüsste. Aber heute ist heute, Hans-Georg ruht seit 13 Jahren unter der Erde, der kann mir gar nichts mehr ausreden.

Waltraud, die Ampel ist grün, fahr weiter.

2.

»Frau Friese, darf ich Ihnen Frau Ahrens vorstellen? Sie ist an Ihrer Wohnung interessiert, wie ich Ihnen geschrieben habe.«

Alf vom Immobilienbüro Richter verneigt sich leicht vor einer pummeligen Frau mittleren Alters. Sie guckt ein bisschen scheu. Ich reiche ihr höflich die Hand, wir murmeln beide irgendwas. Neben ihr tänzelt eine junge Frau hin und her, dass die blonden Haare wippen. Kann wohl nicht stillstehen. Die Tochter, eindeutig. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Hm.

»Ich bin nur mitgekommen, um Mama die Hand zu halten«, strahlt sie mich an.

»Melanie, bitte!« Frau Ahrens errötet leicht. »Meine Tochter, Melanie Ahrens«, stellt sie vor.

»Sagen Sie nur Melanie«, bittet die junge Frau, »sonst kommen Sie ja in’n Tüdel mit zwei Frau Ahrensens.«

Warum nicht? Nette junge Frau, denke ich. So unkompliziert.

Alf fasst die Mutter nun dezent am Ellbogen und schiebt sie Richtung Treppe. Junge, ist der förmlich.

Waltraud, du sollst Alf nicht heiraten. Du willst nur, dass er endlich, endlich deine Wohnung im dritten Stock verkauft. Schließlich muss ich meine neue Wohnung im Erdgeschoss noch abbezahlen.

Langsam steigen wir die Stufen hinauf.

»Sie sehen, Frau Ahrens, dass wir keinen Lift haben«, keuche ich, als ich im Zweiten einen Moment verschnaufen muss. Alf wirft mir hinter ihrem Rücken einen verärgerten Blick zu. Recht hat er, so kann man keine Wohnung verkaufen. Aber ich weiß, wie mühsam das mit den drei Treppen auf die Dauer wird.

Zwölf Jahre bin ich täglich hier heraufgeschnauft, bis ich vor ein paar Monaten ins Erdgeschoss ziehen konnte. Frau Ahrens ist auch nicht mehr die jüngste. Ob die noch mal 50 wird? Sie sieht aber vielleicht älter aus, als sie ist. Kann sein, dass es an der schwarzen Wollhose liegt. Nicht, dass die schäbig ist, nein, nein, eine sehr schicke Hose ist das, sogar richtig mit Bügelfalte, habe ich ewig nicht mehr gesehen.

Ich trage ja lieber Röcke, außer im Winter natürlich, wenn es richtig kalt ist. Aber sind diese ausgestellten Hosenbeine nicht längst aus der Mode?

Dazu trägt sie eine steife Bluse und flache Schuhe. Erinnert mich alles an die Zeit, als ich um die 40 war. Ewig ist das her, mehr als 30 Jahre.

Waltraud, du trägst auch keine High Heels.

Der Gedanke daran lässt mich unwillkürlich kichern. Alle sehen mich erstaunt an.

»Nichts, nichts«, haste ich mich zu erklären. Ich glaube, ich werde sogar rot. Waltraud, also wirklich.

Außerdem ist das möglicherweise gerade wieder modern, Waltraud. Alles kommt wieder, und eine Spe-zialistin in Sachen Schick bist du wahrhaftig nicht. Hast du vergessen, wie du dich über die türkisgrünen Finger-nägel von Frau Schneider aus dem Zweiten aufgeregt hast? Da waren aber auch silberne Sternchen drauf.

Waltraud, darum geht es doch jetzt gar nicht.

Frau Ahrens zerstreut meine Bedenken wegen der drei Treppen. »Mir macht das nichts aus«, lächelt sie mich an. Ihre Stimme schwingt in sanftem Auf und Ab. Von wo mag sie wohl herkommen? »Ich bin das Treppensteigen gewohnt.«

»Mama wandert regelmäßig im Taunus, Frau Friese, sie hat eine bessere Kondition als ich. Ich fahre höchstens mal mit dem Rad um den Werdersee«, erklärt die junge Frau.

»Ach, Sie sind aus Bremen?« Dann kenne ich die vom Sehen. Hier kennt doch jede fast jeden.

»Ja, ich wohne in Hastedt, seit vier Jahren. Ich habe dort das Häuschen meiner Urgroßmutter geerbt«, trällert sie und zieht ihr Kettchen mit dem silbernen Kreuz durch die Finger.

Fröhliches Kind, denke ich.

Kind? Waltraud, die ist sicherlich schon Mitte 20. Junge Leute kann ich so schlecht schätzen, für mich sehen die alle gleich aus. Könnte gut meine Enkelin sein, ich habe allerdings keine.

Inzwischen sind wir ganz oben angekommen. Frau Ahrens sieht sich um. Sie fragt Alf ein Loch in den Bauch. Ob das Dach dicht ist und was weiß ich. Ich höre nur mit einem Ohr zu, schaue nachdenklich in den Himmel. Zwölf Jahre lang habe ich hier hinausgeschaut, manchmal saß eine Amsel in der Regenrinne und hat gesungen. Ja, unterm Dach wohnen, dass hat auch schöne Seiten. Wenn nur diese Treppen nicht wären.

Frau Ahrens kommt aus der Küche zurück. »Die gefällt mir«, nickt sie.

Ich muss über ihren Singsang schmunzeln. Aber gehört sich nicht, Leute wegen ihrer Aussprache zu verspotten, ich weiß.

Richtig spotten ist das eigentlich nicht, weil, ich mag solche Dialekte. Ich höre auch gerne Jamal von gegenüber zu, der spricht mit einem lustigen Akzent. Kann ich mich ein bisschen wegträumen. Der ist nämlich aus Afrika.

»Von woher stammen Sie denn, Frau Ahrens?«

»Aus Mainz«, seufzt sie, als liege Mainz unerreichbar auf dem Mars. Melanie tätschelt ihr die Schulter.

»Du wirst dich schnell einleben, Mama. Bremen ist viel freier als Mainz. Hier darfst du unbeschwert evangelisch sein.«

Hä? Wie meint sie das denn? Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.

»Melanie, übertreib nicht, das war mir nie wichtig.«

»Aber mir«, versetzt das Mädchen und zerrt wieder an ihrem Kreuzchen. Dann grinst sie: »Du musst nur ein bisschen Bremisch lernen.«

Ihre Mutter schaut verunsichert. Nun traut sie sich nicht mehr, den Mund aufzumachen, scheint mir sowieso ein bisschen schüchtern zu sein. Lässt sich von ihrer Tochter ganz schön rumschubsen. Wo hat das Mädchen den Schneid her? Vielleicht vom Vater. Aber von einem Mann war bisher nicht die Rede.

»Schnacken Sie man, wie Sie’s gewohnt sind, Frau Ahrens. Wollen Sie denn hier einziehen?«

»Ich will es noch mal überschlafen, aber sie gefällt mir, ohne Frage. Vor einer Entscheidung möchte ich allerdings noch mit einem Architekten durch die Wohnung gehen. Ich verstehe selbst nicht genug von dem, äh, Ganzen.«

Ich nicke, das ist ihr gutes Recht.

Allmählich schlendern wir die Treppe wieder hinunter. Dabei wirkt Frau Ahrens nun etwas entspannter.

»Mein Mann und ich haben uns getrennt«, erklärt sie. »Da habe ich mich versetzen lassen, auch, weil Melanie in Bremen wohnt.«

Da kann sie sich mit Karin Groote aus dem Ersten zusammentun, denke ich, die kam vor ein paar Monaten auch wegen ihrer Scheidung nach Bremen. Inzwischen ist sie aber darüber hinweg, scheint mir.

Frau Ahrens ergänzt: »Unsere Familie stammt von hier«, jetzt lacht sie sogar, »auch wenn Sie mir das nicht anhören mögen. Im Moment wohne ich bei Melanie. Aber das ist nicht richtig, Tochter und Mutter in einem Haus. Hastedt ist nicht weit, wir können uns besuchen.«

Ich will sie fragen, wo genau sie in Hastedt wohnt, schließlich bin ich dort aufgewachsen, bevor ich mit Hans-Georg in die Lothringer Straße gezogen bin. War zu der Zeit eine gute Adresse, darauf legte Hans-Georg Wert. War auch ein schönes Haus, mit Garten sogar, aber nach seinem Tod viel zu groß für mich alleine. Vor knapp 13 Jahren bin ich dann hierher gezogen.

Inzwischen sind wir im Erdgeschoss angekommen. Alf verwickelt die Damen in ein Gespräch über Formalitäten. Ich werde es erfahren, woher sie genau kommt, wenn sie denn überhaupt einzieht. Zum Angucken waren schon genug Leute hier.

Eine Woche später bekomme ich die Nachricht, dass Frau Ahrens die Wohnung gekauft hat. Na prima. Das kann nett werden mit ihr, denke ich.

3.

Nanu, von wem ist denn dieser Brief? Eleonore Krause aus Mainz. Kenne ich nicht. Ob das Werbung ist?

Rätsel nicht rum, Waltraud, mach ihn auf.

Ein Blatt flattert auf den Boden, als ich den Briefbogen aus dem Umschlag ziehe. Ein Foto. Ächzend hebe ich es auf.

Ein altes Klassenfoto. Nanu?

Meine Güte, unsere Volksschulklasse!

Verblüfft schaue ich in all die jungen Gesichter. Da, die in der dritten Reihe, die so verschmitzt in die Kamera grinst, das bin ich. Neben meiner Freundin Sigrid, ach nee.

1954. Da war ich knapp 15 Jahre alt, ein Kind noch. Ich plumpse auf’s Sofa, das Foto in meiner Hand zittert. Wie jung wir waren, wie optimistisch. Es sollte endlich losgehen, das eigene Leben.

Mit 15! Wenn ich heute Kinder in dem Alter sehe, mag ich es kaum glauben. Dabei waren wir noch viel unreifer als die heutigen Jugendlichen.

Komische Welt, denke ich, erst Sigrid im Supermarkt und heute dieser Brief. Jahrelang nichts und jetzt alles auf einmal. Wo ich doch heute Nachmittag mit Sigrid verabredet bin. Na, da haben wir schön was zu beschnacken.

Verträumt streiche ich mit der Hand über das Foto.

Eleonore, ich erinnere mich. Da vorne die Blonde, in der ersten Reihe steht sie. Wo auch anders? Für sie gab es nur die erste Reihe. Krause hieß sie natürlich nicht. Warte mal, wie hieß die noch? Groß … äh, Großklaus, ja. Wir haben Großmaul gesagt, aber nur, wenn sie uns nicht gehört hat. Da, die Kleine neben Eleonore, das ist Hedwig, das Biest. Die hat mich oft unter dem Tisch getreten. Wenn ich mich beschwert habe, tat sie unschuldig, und ich bekam die Strafe dafür.

Da ganz außen, das ist Elsbeth, das Pummelchen in der Klasse. Wie haben wir das Mädchen gehänselt! »Betti-Fetti« war dabei eher harmlos. Nee, nee aber auch, wie gemein können Kinder sein. Herrjemine, da habe ich ja in Jahrenden nicht mehr dran gedacht.

Neugierig greife ich nun nach dem Brief.

»Liebe ehemalige Klassenkameradinnen,

nachdem seit unserem letzten Klassentreffen 20 Jahre ins Land gegangen sind und sich unser Schulabschluss im April 2014 zum 60. Mal jährt, möchte ich Euch alle zu einem Klassentreffen einladen.«

Ein Klassentreffen. Unwillkürlich muss ich lachen. Müssen wir uns alte Schachteln dann auf die kleinen Schulbänke quetschen?

Unsinn, Waltraud, diese Schulbänke gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr, und außerdem steht da, dass es im Café Knusprig in der feinen Sögestraße stattfinden soll. Teure Adresse. Muss das sein? Typisch Eleonore, nicht kleckern, klotzen.

Ach, einen Kaffee wirst du dir leisten können, jetzt, wo du die Wohnung verkauft hast, meinst du nicht? Waltraud, sei nicht so knickerig mit dir. Du wirst noch so schlimm wie Hans-Georg.

Ein Klassentreffen. Nach 60 Jahren. Stimmt, vor 20 Jahren gab es schon mal eines. Ich bin nicht hingegangen. Da lebte Hans-Georg noch. Er war mit eingeladen, das stand extra in dem Schreiben drin, erinnere ich mich. Aber er wollte nicht, und alleine hatte ich keine Lust. Wusste auch nicht so recht, wozu das gut sein sollte, so lange nach dem Schulabschluss.

Plötzlich wird mir klar, dass ich mich einfach nicht getraut habe. Was hätte ich auch erzählen sollen? Die anderen würden bestimmt Bilder ihrer erfolgreichen Kinder rumreichen, angeben mit den tollen Männern, die sie erobert hatten. Und ich? Keine Kinder, und zum Vorzeigen taugte Hans-Georg nun wirklich nicht. Na gut, ich hatte meine »aufregende« Arbeit im Möbelgeschäft, davon hätte ich erzählen können.

In Gedanken schiebe ich den Brief und das Foto auf dem Tisch hin und her. Was mache ich? Gehe ich hin? Wie viele von uns sind wohl noch am Leben? 34 waren wir. Guck, da ist eine Namensliste angehängt. 21 stehen noch drauf. Zumindest so viele haben sie gefunden. Ist bei Frauen schwieriger, weil die meisten von uns sicherlich geheiratet haben. Ist ja besser heute, weil man den Namen behalten kann. Nur, für mich war das kein Problem, hihi. Ich habe meinen Namen nicht ändern müssen, weil Hans-Georg auch Friese hieß. Vielleicht hätte ich sonst gar nicht geheiratet. Wer gibt freiwillig seinen Namen ab?

Nachdenklich sehe ich aus dem Fenster. Sollte ich Hans-Georg nur deshalb geheiratet haben? Vielleicht ein bisschen wenig für eine gute Ehe, Waltraud.

War ja auch keine gute Ehe.

Ich beuge mich wieder über die Namensliste. 16 wohnen sogar in Bremen und umzu.

Mit einem Mal strömen all die verschütteten Erinnerungen auf mich ein. Ich muss lächeln. Mit Ilse und Sigrid bin ich manchmal zum Tanzen oder auf den Freimarkt gegangen, aber als wir dann geheiratet haben, ging das zu Ende. Schade eigentlich.

Bei Ilse und Sigrid kamen dann schnell die Kinder. Beide haben zwei, soweit ich das mitbekommen habe. Karten haben wir am Anfang noch ausgetauscht, zu Weihnachten und solchen Anlässen.

Wieso haben wir uns später nie wieder getroffen? Nur, weil die Männer sich nicht riechen konnten? War ja nicht nur wegen Helmut und den Karten, da war auch was mit Ilses Mann, warte, Karl? Nee, Paul hieß der. Paul Faber, genau. Das war ein ganz Fröhlicher.

»Ein Luftikus ist das, Waltraud«, hat Hans-Georg mir aufgebracht erklärt. »Ein Taugenichts, wie er im Buche steht. Nur Feiern und Lachen, was anderes kennt der nicht. Der kommt mir nicht über die Schwelle. In mein Haus nicht, das sage ich dir.«

War eigentlich auch mein Haus, denke ich heute. Habe ich schließlich auch für gearbeitet.

»Was die Frauen an dem finden, werde ich nie verstehen, Waltraud. Die Ilse wird sich noch mal ganz schön umgucken, das sage ich dir.«

Ein bisschen mehr Feiern und Lachen hätte uns auch gutgetan. Paul hat sich einige Jahre später mit einer Autowerkstatt selbstständig gemacht, der Laden lief wie geschmiert. Muss er wohl etwas getaugt haben, der Mann. Also, ich hatte den gern.

Aber ich habe sie nicht mehr eingeladen, wollte keinen Streit. Und dann, wann hättest du denn Zeit für deine Freundinnen gehabt, Waltraud? Tagsüber warst du im Geschäft, abends hast du den Haushalt gemacht.

Die ersten Jahre musste ich jeden Sonnabend bis mittags arbeiten. Richtig frei war nur der Sonntag. Da reichte die Kraft nur noch für einen Bummel in den Bürgerpark oder ’nen Kaffee auf dem Balkon. Hans-Georg ging nicht gerne raus. Kostete alles Geld, und er war geizig. Ich atme tief durch.

Lass es, Waltraud, es ist vorbei.

Wieso kommt die Einladung von Eleonore aus Mainz? Wieso nicht von einer der Bremerinnen?

Weil Eleonore dauernd die Finger in allem hatte, Waltraud, herrschsüchtig war die schon damals als Mädchen. Ich konnte sie nicht riechen.

Ich sehe wieder auf das Foto. Natürlich steht sie gleich neben unserer Klassenlehrerin Fräulein Grabowski, früher sagte man noch Fräulein. Wie die es geschafft hat, mit 34 pubertierenden Mädchen fertig zu werden ... Heute wundert es mich. Aber die Zeiten waren andere, da gab es schnell einen Hieb mit dem Lineal auf die Hände.

Automatisch rolle ich die Finger ein, habe oft etwas abbekommen. Ich war keine Musterschülerin, immer ein bisschen vorlaut. So nannten die das. Dabei war ich einfach nur neugierig, wollte eben alles wissen. Aber für Mädchen gehörte sich das nicht.

Ich wäre gerne auf die höhere Schule gegangen, habe mich am Schluss sogar richtig angestrengt deswegen. Aber Papa war strikt dagegen, das sei verplemperte Zeit, weil ich sowieso heiraten würde. So ein Unsinn, ich habe immerzu gearbeitet, auch nach der Hochzeit. Hans-Georg wollte das nicht, aber weil wir keine Kinder hatten, wäre mir zu Hause nur die Decke auf den Kopf gefallen.

Ilse, stimmt, die wohnte gleich nebenan. Die war so brav, dass es richtig Spaß gemacht hat, sie zu ärgern.

Waltraud, Waltraud, was dir auf einmal alles einfällt.

»Bitte teilt mir bis Neujahr 2014 mit, ob Ihr teilnehmen wollt und ob Ihr Eure Ehepartner mitbringt«, steht da noch drunter. Sogar eine E-Mail-Adresse hat sie, die Eleonore, eine moderne Alte. Nicht so wie du, Waltraud, du hast nicht mal einen Computer.

Wozu auch?

Gehe ich da nun hin?

Eleonores junges Gesicht blickt mich an. Da durchfährt es mich. Melanie! Die sieht aus wie Melanie! Andersrum, Waltraud, Melanie sieht aus wie Eleonore. Ist doch wurscht. Die sind sich ähnlich wie Geschwister. Wie kann das denn sein?

Da dämmert es mir. Mainz. Häuschen in Hastedt geerbt. Die müssen irgendwie verwandt sein. Darum kam mir Melanie so vertraut vor. Sie ist heute nicht viel älter als Eleonore beim Schulabschluss. Ach nee. Da frage ich aber Frau Ahrens. Ob sie etwa Eleonores Tochter ist? Wäre das nicht wieder ein Zufall zu viel?

4.

»Sigrid«, rufe ich.

Wieso ist denn die Haustür nur angelehnt? Vielleicht hat sie mich kommen sehen und hat was auf dem Herd, kann sein. Ich bin ein kleines bisschen zu früh. Tut man eigentlich nicht, aber soll ich vor der Tür stehen und warten?

Ich klingele. Keine Reaktion. Komisch. Wir sind doch verabredet. Da stimmt was nicht, Waltraud.

»Sigrid?«, rufe ich in die stille Wohnung hinein, trete vorsichtig ein. Man geht ja nicht einfach in fremde Häuser, aber irgendwie …

Die Wohnzimmertür steht sperrangelweit offen. Da liegt sie. Auf dem Sofa.

»Sigrid? Geht es dir nicht gut?«

Sie liegt da ziemlich verdreht, muss doch unbequem sein. Was ist mit ihr?

»Sigrid!«

Liebe Güte, die hat ja ein Kissen auf dem Gesicht! Kann sie doch gar keine Luft kriegen. Was … was ist hier denn los?

»Sigrid, was ...« Ich ziehe das Kissen weg.

»Aaah!« Ich schreie entsetzt auf. Starre Augen quellen aus dem blauen Gesicht, ihre Zunge hängt aus dem Mund!

Mein Gott, das ist ja furchtbar! Ist sie … ist sie etwa tot?

Aber dann … Wer? Hat sie sich selbst? Mit einem Kissen? Geht doch gar nicht.

Wer dann?

Ganz vorsichtig berühre ich ihren Arm, der leblos herunterbaumelt. Warm, sie ist noch warm! Das heißt …

Ich spüre mehr, als ich etwas höre, eine Bewegung hinter mir. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Ich fahre herum. Ich sehe noch, wie die Tür zufliegt. Peng! Schnelle Schritte draußen vor dem Haus.

Renn ans Fenster, Waltraud, guck, wer das war. Das muss der Mörder gewesen sein! Der Mörder mit dir in der Wohnung!

Ruf die Polizei, Waltraud.

Aber vielleicht ist sie nicht wirklich tot, vielleicht kann ich sie noch irgendwie retten.

Tu was, Waltraud.

Ich hetze ans Fenster, aber die schmale Straße ist leer. Zu spät, da warst du zu langsam. Einen Moment stehe ich unentschlossen da.

Wiederbelebung, Waltraud, mach, schnell!

Aber wie geht das denn?

Entsetzt starre ich auf Sigrids verquollenes Gesicht. Nein, die kann ich nicht anfassen, ich kann es einfach nicht. Nicht mal mehr hinsehen mag ich.

Polizei, Waltraud. Wo ist das Telefon, da, in der Ecke, mach schon.

»Sigrid ist tot«, schreie ich in den Hörer, als sich eine Stimme meldet. »Sie ist ganz blau. Sie hatte ein Kissen auf dem Gesicht, und der Mörder ist eben aus dem Haus gelaufen.«

»Bitte sagen Sie mir, wer Sie sind und von wo Sie anrufen, sonst kann ich Ihnen nicht helfen«, fordert mich eine ruhige Stimme auf. Ja, du redest wirres Zeug, Waltraud, mach langsam.

»Ich heiße Waltraud Friese und bin in der Drakenburger Straße äh … 114 bei Sigrid Wersing, sie ist tot, ich bin eben gekommen, vielleicht lebt sie noch, aber sie ist ganz blau im Gesicht. Jemand ist aus dem Haus gelaufen, gerade eben, aber ich habe ihn nicht gesehen, es ging alles so schnell, ich wusste ja gar nicht, was passiert ist.«

Ich drücke verzweifelt das Kissen gegen meine Brust.

»Wir schicken sofort jemanden zu Ihnen. Könnte es jedoch sein, dass das Opfer Sigrid Brinkmann heißt, Frau Friese?«

»Oh ja, ja natürlich, Wersing ist ihr Mädchenname, wir kennen uns aus der Schule, ja, ja, Brinkmann, ja.«

»Sind Sie sicher, dass niemand mehr in der Wohnung ist, Frau Friese?«

»Wie? Nein, also ja, es ist sicher keiner mehr hier, ich habe wen rausrennen hören. Wäre bestimmt nicht ein anderer hier geblieben.«

Oder? Aber würde mich jetzt ein Mörder in Ruhe telefonieren lassen?

»Bitte verlassen Sie sicherheitshalber die Wohnung, Frau Friese, warten Sie vor der Tür. Fassen Sie bitte nichts an. Noch etwas: Versuchen Sie nicht, sich jemandem in den Weg zu stellen, gehen Sie bitte keinerlei Risiko ein. Verstehen Sie?«

Natürlich, sehe genug Krimis. Ich lausche in die Wohnung. Da ist niemand, ich bin mir sicher. Aber ich sollte besser rausgehen, vielleicht verwische ich wichtige Spuren. Schnell sehe ich mich um. Gibt es etwas Auffälliges? Ein normales Wohnzimmer, Sessel, Sofa, Regal, Fernseher, Blumen am Fenster, ein Kreuz an der Wand. Ein Kreuz?

Ihre Sache, Waltraud.

Da auf dem Boden liegt ein Blatt Papier, sieht aus wie ein Foto. Oh, Sigrids Brille ist unters Sofa gerutscht. Vielleicht im Kampf runtergefallen.

Im Kampf! Mir zieht sich der Magen zusammen. Arme Sigrid, wie schrecklich! Wie muss sie gelitten haben! Ob ich es hätte verhindern können, wenn ich fünf Minuten früher gekommen wäre? Oder würde ich dann neben ihr liegen?

Mir läuft es kalt den Rücken runter. Nicht auszu-denken, der Mörder war noch in der Wohnung.

Ich will mich abwenden, da stutze ich. Das Foto, das ist … sieh hin, Waltraud, das ist das Foto von der Einladung zum Klassentreffen.

Was bedeutet das nun?

Nichts, Waltraud. Sie hat den Brief auch heute bekommen, wie du, und wollte vermutlich mit dir darüber reden.

Ja, ja, ja, raus hier, Waltraud.

Schwer atmend gehe ich zum Eingang. »Nichts anfassen«, brumme ich, »wie soll ich die Haustür öffnen, ohne etwas anzufassen?«

Da sind sicherlich Fingerabdrücke drauf auf der Klinke. Ich presse noch immer das Kissen gegen meinen Körper. Es gibt mir ein bisschen das Gefühl, nicht alleine zu sein. Mit dem Kissen drücke ich nun die Klinke herunter und ziehe die Haustür auf. Vorsichtig schaue ich erst um die Ecke. Nicht, dass der Kerl im Vorgarten steht und mir eins überzieht!

Dazu hätte er drinnen die bessere Möglichkeit gehabt, Waltraud, und ohne Zeugen.

Erst jetzt wird mir vollends klar, wie nahe ich dem Tod gewesen bin. Warum hat der mich nicht auch umgebracht? Ich bin schließlich eine lästige Zeugin.

Wäre dir das lieber gewesen, Waltraud? Also wirklich!

5.

Da stehe ich nun in dem kleinen Vorgarten von Sigrid, meiner ehemaligen Freundin, und halte mich an einem Kissen fest, während ich auf die Polizei warte. Eine kleine Straße ist die Drakenburger Straße hier, viele Einfamilienhäuser, schmucke, aber winzige Vorgärten.

Sigrid hat sich viel Mühe gegeben. Ihr Beet mit bunten Astern leuchtet in den schönsten Herbstfarben, ist ja gerade die Zeit dafür. Und sie liegt da drinnen und ist tot. Ich kann es noch nicht begreifen. Vielleicht, Waltraud, war sie noch gar nicht tot. Vielleicht hättest du sie irgendwie zurückholen können.

Waltraud, du Angsthase, schimpfe ich mich. Sie war deine Freundin, wie konntest du sie so im Stich lassen!

Aber ich weiß doch gar nicht, wie das geht, wimmere ich unbeholfen.

Wo bleibt nur die Polizei? Der Mörder hätte gut Zeit gehabt, mich abzumurksen, bis die kommen.

Da schlendert eine alte Frau auf das Häuschen zu, sportlich gekleidet in Jeans und Regenjacke. Eine fesche Dame, denke ich. Sie sieht mich neugierig und auch erstaunt an. Klar, Waltraud, du presst noch immer das Kissen gegen deine Brust, sieht sicherlich komisch aus. Will die hierher? Als sie näher kommt, erkenne ich sie.

»Ilse«, rufe ich und lasse das Kissen fallen. »Ilse, wie gut, dass du kommst, es ist etwas Schreckliches passiert.«

Mir kommen die Tränen, so aufgewühlt bin ich. Ilse hat mich erreicht und fasst meine Hände.

»Waltraud! Du bist es wirklich. Was ist los? Warum gehst du nicht rein? Sigrid hat mich angerufen und gefragt, ob ich dazukommen möchte. Aber sag doch, warum stehst du hier? Was ist los?«