Nostradamus und das Pendel des Todes - Martha Bull - E-Book

Nostradamus und das Pendel des Todes E-Book

Martha Bull

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Beschreibung

Malerin und Putzfrau Dörthe Petersen möchte sich eigentlich nur ein wenig dazuverdienen, als sie Buchhändler Bertram zusagt, an dessen Messestand für ein Wochenende auszuhelfen. Mit Befremden stellt Dörthe fest, dass einige Bücher auf ihrem Tisch gewagte Theorien dubioser Heilslehrer vertreten. Wie passt das zu Bertram? Geradezu wie Sprengstoff wirken andere: Dörthe entgeht nur knapp einem Angriff wütender selbsternannter Weltenretter. Echter Sprengstoff lässt kurz darauf beinahe das Nachbarhaus in die Luft fliegen. Um einer erneuten Gefahr zu entgehen, müssen Dörthe und ihre Freund*innen die Hintergründe begreifen: Geht es um diese irregeleiteten Heilslehrer? Geht es um simple Eifersucht? Ist gar Hobby-Astrologin Annie, Dörthes ungeliebte Nachbarin, Ziel des Angriffs? Und welche Rolle spielt die neue Nachbarin Svantje Kooke, die viel weiß und viel verschweigt? Der neueste Bremen-Krimi aus dem Peterswerder

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Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

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Sämtliche Charaktere dieses Romans sind frei erfunden, zufällige Ähnlichkeiten mit realen Personen sind nicht beabsichtigt.

Prolog

»So, das ist die letzte Kiste«, schnauft er und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dass Bücher so schwer sind! War das eine Schlepperei. Tausend Stück fürs Erste, wie schnell die wohl verkauft sein werden? Aber es ist kein Problem, nochmal so viele nachzudrucken. Einen Augenblick zögert er scheu, dann reißt er den ersten Karton auf.

»Ah!« Er lächelt verzückt, nimmt behutsam ein Exemplar aus dem Karton, streicht sanft über das Cover.

»Mein Werk!«, flüstert er ergriffen, hält es lange in den Händen, um Fassung bemüht.

Bis zum Schluss hat er gezweifelt, ob er es schaffen würde, diese Riesenaufgabe zu vollenden. Darum hat er bisher niemandem davon erzählt. Schade, dass er es im Selbstverlag und unter einem Pseudonym herausgeben muss, um unerkannt zu bleiben. Denn er weiß um die Anfeindungen, die seinem Werk bevorstehen werden. Er denkt kurz an B., verzieht das Gesicht zu einer Fratze aus Wut und Hohn. Der würde einen Schlag bekommen oder zum offenen Angriff übergehen.

Dabei ist er selbst lediglich ein Mittler, der große Meister in eigener Person hat ihm den Text diktiert. Er musste ihn niederschreiben.

Nun ist die Zeit reif für die Worte, die die Welt verändern werden.

Er greift zum Telefon.

»Hey, hör zu, ich habe etwas für dich. Ein Meisterwerk von Ihm! Ich habe es vollendet, aber es ist Sein Wissen, es sind Seine Erkenntnisse.«

»Wenn ich es dir doch sage! Es wird für uns alle eine neue Zeit einläuten, glaub mir. Komm, sieh es dir an. Du bist der Erste, dem ich es erzähle. Ich weiß, gerade du kannst das würdigen.«

Er lächelt.

»Gut, bis morgen.«

Sein Blick schweift über die Bücherkartons. Morgen also. Es kommt ja nicht auf einen Tag an.

Morgen wird auch für ihn ein neues Zeitalter beginnen.

Eins

Putzen, putzen, putzen. Ich kann das Wort nicht mehr hören, am liebsten würde ich mit einer Fuhre Dreck durch die Straßen ziehen und alles richtig schön vollsauen. Warum gibt es keine Fürstinnen oder Fürsten mehr, die ihr Künstlervolk großzügig unterhalten, hier ein paar Ländereien an einen Komponisten, dort ein schickes Landhaus an eine Malerin?

Träum weiter, Dörthe. Ich seufze tief. Betrachte mich im Glas eines Schaufensters. Und kichere los. Mir sieht keine edle Dame in Reifrock und hochtoupierter Perücke entgegen, nix da, eine gewöhnliche Frau Anfang 60, mit schwarz-grauen Locken, schludrigen Klamotten, müdem Gang. Dörthe Petersen, du hast nichts von einer Dame alten Stils. Überhaupt, wie kommst du auf den wahnwitzigen Gedanken, gerade dich würde Fürstin Habmichlieb die 27. gefördert haben? Hör auf mit dem Quatsch. Putzen ist dein Job. Butter muss aufs Brot, Miete muss bezahlt werden, also putze ich. Punkt. Meine Bilder verkaufen sich nicht gut genug, um davon leben zu können. Künstlerschicksal, ich weiß. Selbstverschuldet, hättest ja bei deiner Banklehre bleiben können.

Brr. Ich schüttele mich allein bei dem Gedanken und schreite forscher aus. Heute ist bei allem ein guter Tag, heute wienere ich Die guten Seiten, meine Lieblings-Buchhandlung. Mal gucken, was es für Neuerscheinungen gibt. Allerdings bloß mit einem kurzen Blick, sonst mache ich Überstunden.

Als ich die Tür aufschließe, stutze ich. Ein großes Plakat hängt an der Tür. »Messe Rechtes Leben« lese ich die geschwungene Schrift über einem hell-bunten Prisma, darunter: »in Zeiten des Umbruchs«. Am Rand Bäume, ein Regenbogen, allerlei schöne Natur.

Aha, denke ich, ohne wirklich etwas zu denken und trete ein. Gleich neben dem Eingang ist ein neuer Büchertisch aufgebaut, auch hier hängt dieses Plakat. Mit schnellem Blick überfliege ich die angebotenen Titel. Lauter esoterischer Kram, denke ich abfällig.

Nicht dein Bier, Dörthe, du bist hier zum Putzen, schon vergessen? Da höre ich erregte Stimmen aus dem Büro hinten im Laden. Nanu?

»Hallo?«, rufe ich, gehe näher. Bertram, der Buchhändler, guckt um die Ecke.

»Ah, Dörthe, du kommst wie gerufen«, begrüßt er mich überschwänglich.

Hoppla, will er was von mir? frage ich mich automatisch, denn sonst ist Bertram eher norddeutsch-dröge.

»Komm mal eben rein«, fordert er mich auf. Im Büro lehnt Halim am Schrank, Arme vor der Brust verschränkt, kaut wütend auf seiner Unterlippe, wirft seinem Chef böse Blicke zu. Hui, die beiden haben Zoff. Dabei ist Halim so ein Seelchen.

»Sieh mal, Dörthe, wir haben ein Problem, ich hoffe, du kannst uns helfen«, fängt Bertram zögernd an. »Wir haben auf der großen Messe Rechtes Leben einen Büchertisch aufstellen dürfen, das ist eine Riesenchance. Riesig, sage ich dir, da verkaufen wir mehr als in drei Monaten im Geschäft, glaub mir, ein Riesending ist das. Zehn andere Buchhandlungen konkurrierten mit uns, aber nein, wir haben den Zuschlag gekriegt. Ich kenne den Organisator, den Oram, noch aus der alten AKW-Zeit.« Bertram lacht stolz.

»AKW und rechtes Leben?«, frage ich zweifelnd.

»Rechtes Leben wie richtig, gerecht, nicht rechts. Mann, Dörthe, der Oram ist kein Rechter, spinnst du? Der ist ein alter Kommunist.« Bertram lacht spöttisch. » Aber ein weichgespülter. Immer noch kritisch, das schon. Sonst würde ich nicht mitmachen, für was hältst du mich? Da sind richtig gute Leute auf der Messe, mit einem Grußwort von einem richtigen Lama, warte, ich habe den Namen vergessen. Egal. Alles würde super laufen, aber jetzt …«

Er wedelt mit der Hand in Richtung Halim, als würde er eine Fliege verscheuchen. Der schnaubt wütend, aber als ihm Bertram einen giftigen Blick zuwirft, schweigt er, ballt nur die Fäuste. »Nun hat Halim ein Problem. Es gab ein paar unschöne Szenen mit ein paar Messeteilnehmern oder Gästen oder was weiß ich, die, äh, ...«

»Die mich als Kameltreiber und Kanaken beschimpft und mich unmissverständlich aufgefordert haben, zurück nach Anatolien zu gehen«, wirft Halim kalt ein. »Ich sagte ihnen, dass ich Bremer sei, das wollten sie nicht hören. ›Verpiss dich, Asi‹ war dabei die höflichere Variante. Und ...«, er dreht sich zu Bertram um, »das waren nicht ein oder zwei, das waren ’ne ganze Menge. Zwei Tage war ich dort, und jeden Tag das Gleiche. Ich gehe nicht mehr hin, so eine faschistische Messe sollte verboten werden.«

»Faschistisch? Jetzt übertreib mal nicht.« Bertram ballt nun ebenfalls die Fäuste. Himmel, wollen die sich schlagen?

»Was habe ich damit zu tun?«, frage ich schnell, um die Situation zu entschärfen.

»Ich dachte«, erklärt Bertram, »dass du für uns den Büchertisch übernehmen könntest, die Messe geht noch drei Tage. Wir werden dich gut bezahlen, versprochen.«

»Ich? Aber ich bin gar keine Buchhändlerin.«

»Das ist nicht nötig, ich habe auch nicht alle Bücher gelesen, die da liegen. Die meisten Leute auf einer solchen Veranstaltung kennen sich eh aus.«

»Hm, darf ich mir das noch mal überlegen?«

»Nicht zu lange, bitte. Morgen früh um neun musst du in der Stadthalle sein. Ich finde so schnell keinen Ersatz.« Sein Ton wird unangenehm weinerlich. Er windet sich, sein ganzer Körper macht Bitte-bitte. Sonst spielt er gern den harten Brocken. »Janne und ich können nicht, unmöglich. Wir haben wichtige Vertreterbesuche, kommt immer alles zusammen, kennt man ja.«

Klar, wichtig ist bei Bertram immer alles, kennt man ebenfalls. Allerdings verstehe ich nichts vom Buchgeschäft, muss ich zugeben.

Zeit hätte ich, meine Malkurse in der Volkshochschule habe ich für diese Woche abgeschlossen. Aber ein Büchertisch wird anstrengend. Das wäre was für meine Nachbarin Annie, die sich besonders als Astrologin für die Größte hält. Mit dieser Meinung steht sie allerdings ziemlich alleine. Ob ich sie frage? Vermutlich ruiniere ich damit die Guten Seiten, muss ich mir eingestehen. Denn Annie ist in jeder Beziehung besonders.

»Bitte, Dörthe, nächste Woche putzt Janne für dich, damit es nicht zu viel wird, wir bezahlen das trotzdem«, fleht Bertram nun.

Was sagt deine Frau dazu?, möchte ich fragen, aber das sollen die beiden unter sich ausmachen, entscheide ich. Halim stößt sich von der Wand ab, geht mit steifen Schritten zur Tür. »Ihr braucht mich ja nicht mehr. Tschüs, morgen komme ich also ins Geschäft.«

»Ja, ja, Tschüs«, mault Bertram, sieht dem jungen Mann böse hinterher. »Bald brauchen wir dich gar nicht mehr«, knurrt er leise vor sich hin, sieht erschrocken zu mir her und erklärt schnell: »Du hast nichts gehört, Dörthe. Mit Halim habe ich ein spezielles Hühnchen zu rupfen.«

Ich zucke mit den Achseln, da mische ich mich nicht ein.

Natürlich wickelt er mich um den Finger, so dass ich endlich zustimme. Ich kann immer noch nicht gut Nein sagen. Sein Angebot ist allerdings verlockend. Insgeheim frage ich mich, woher er das Geld nimmt. Ein Büchertisch kostet bestimmt eine Menge Standgebühren. Ob er tatsächlich so gut verkaufen kann, wie er es sich erhofft? Schrecklich viel wirft die Buchhandlung in dieser Seitenstraße bestimmt nicht ab. Zumindest weiß ich von Janne, dass mancher Monat zu wenig einbringt.

Aber ich zerbreche mir wieder anderer Leute Kopf, ich sollte mich um meinen eigenen Kram kümmern. Und der heißt im Augenblick: Die guten Seiten putzen, denn das muss ich trotz allem heute.

Ich verweile einen Moment bei dem neuen Büchertisch. Das werden also die Titel sein, die ich verkaufen soll. Schnell sehe ich, dass ein paar kluge, bedeutende Autorinnen und Autoren ausgestellt sind. Das ein oder andere Buch habe ich sogar im eigenen Regal stehen, vielleicht hat Halim wirklich überreagiert. Siehe da, Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Das klingt ganz und gar nicht nach einer faschistischen Messe. Hier, der Dalai Lama, gleich mit mehreren Titeln, überhaupt ist der Buddhismus mehrfach vertreten. Jedoch auch dieses: Greseldus: Engelskinder, das Heilige Kind in dir. Diese mit Tüchern wedelnde Frau auf dem Titelbild erinnert mich an die frühen Nacktfotos des Neunzehnten Jahrhunderts, fehlt nur der Sepia-Ton.

Ich kichere. Dörthe, lass sein, das gehört eben auch dazu. Der Klappentext verspricht mir in schwülstigen Sätzen, dass ich in zwanzig Stunden Zugang zu meinem heiligen Ich finden und glücklich sein werde. Aha. Warum meinen diese selbsternannten Propheten nur, sie müssten die Sprache vergewaltigen, damit man ihnen glaubt? Warum müssen die Autoren sich solche Fantasienamen zulegen? Wieder sehe ich zu Hannah Arendts Schrift hin. Die hatte das nicht nötig.

Immer noch kichernd kippe ich das Putzwasser ins Klo, wische alles trocken und gehe nach Hause. Zwanzig Stunden auf der Messe, das wird gut hinkommen, da bin ich also in drei Tagen geläutert und glücklich. Was will ich mehr?

Zwei

Ich bin müde vom frühen Aufstehen und zugleich aufgeregt wie ein Kind am ersten Schultag, als ich am nächsten Morgen in die Stadthalle hetze zu »meinem« Büchertisch. Er steht im Vorraum zur Cafeteria, so dass ständig Menschen vorbeikommen werden. Der Stand neben mir ist mit ein paar indischen Tüchern bunt geschmückt, den Tisch bedeckt ein Teppich. Das sieht einladend aus. Was verkaufen sie? Ein älterer Mann holt Klangschalen aus einem Karton, reicht sie an eine junge Frau weiter, die sie gekonnt auf dem Tisch anordnet. Sie sind ein eingespieltes Team, merke ich. Etwas an den beiden zieht mich an. Ist es ihre selbstverständliche Fröhlichkeit? Ihre Ruhe?

Dörthe, das kommt dir so vor, weil du aufgeregt bist. Und, ja, weil du alleine bist. Mit einem Mal fühle ich mich sehr einsam und überfordert. Ich denke an die langen, langen Stunden, die ich mit diesen fremden Büchern verbringen muss. Wie soll ich das durchstehen?

Ach was, wenn es gut geht, werde ich viel zu tun haben, wenn nicht, kann ich mit den Nachbarn reden. Niemand zwingt mich, wie ein Ölgötze hinter dem Büchertisch stehen zu bleiben.

Überhaupt, Büchertisch, wie wäre es, wenn du dir überlegst, wie auch du dein Angebot gekonnt anordnest? Ich trete einen Schritt zurück. Langweilig ist das, Dörthe, wo ist deine Kreativität? Dein Blick für Ästhetik? Der schöne Nachbartisch spornt mich an. Ich beginne, die Bücher hin- und herzuschieben, bis mir das Arrangement gefällt. Gut.

»Das war’s«, erklärt der Nachbar, faltet den Karton zusammen und verstaut ihn hinter dem Tresen. Er drückt die Frau herzlich. »Bis nachher«, grüßt er, nickt mir lächelnd zu. »Guten Verkauf«, wünscht er mir.

Mir? Oh, wie nett! »Danke«, murmele ich perplex, sehe ihm interessiert hinterher. Sympathischer Mensch, denke ich.

Wie versuchsweise lässt die junge Frau einen satten Klang herüberschwingen. Oh! Ich blicke erstaunt auf, spüre, wie ich mich ein wenig entspanne. Von einem Ton? Wie ist das möglich?

Die Frau lächelt freundlich. »Ich bin die Maria«, stellt sie sich vor. »Kommt Halim nicht?«

»Nein, er wollte nicht mehr. Ich bin Dörthe«, erkläre ich vorsichtig. Wie viel kann ich sagen?

»Verstehe ich.« Sie nickt. »Es gab ein paar eklige Szenen.« Sie scannt den Raum, als suche sie nach einem Schuldigen, aber alle um uns herum sind mit sich und dem Aufbauen beschäftigt.

Ehe wir weiterreden können, kommen die ersten Interessenten. Sie geht sofort in ihrem Verkaufsgespräch auf. Sie ist eine sympathische junge Frau, die für ihre Klänge lebt, wie mir scheint. Ich beobachte sie neugierig bei ihrer Arbeit, eventuell kann ich etwas lernen.

Erst komme ich mir wie eine Etikettenschwindlerin vor, als ich den Büchertisch betrachte. Hoffentlich fragt mich niemand nach dem Inhalt dieser Werke oder wünscht gar eine Empfehlung. Zwar habe ich mir einen schnellen Überblick verschafft, indem ich die Klappentexte überflogen habe. Einem ernsthaften Gespräch könnte ich allerdings unmöglich standhalten.

Aber die Sorge ist überflüssig. Bertram hat recht, die meisten kaufen nach einem kurzen Blick auf die Auslage gezielt und ohne weiteres Gespräch. Andere studieren aufmerksam Klappentext und Inhaltsangabe, viele scheinen mit den Titeln oder Autoren auf irgendeine Weise vertraut zu sein. Klar, wer zu dieser Messe kommt, wird wissen, was sie oder ihn erwartet.

Eine ältere Frau im bequemen Hosenanzug, Typ erfolgreiche Geschäftsfrau, bleibt am Tisch stehen. Ihr Begleiter scheint von dem Zwischenstopp nicht begeistert. Er sagt zwar nichts, sieht aber sehnsüchtig zur Cafeteria hinüber.

Dörthe, das denkst du dir aus, weil du Lust auf einen Kaffee hast, der Mann bewegt sich einfach langsamer. Kann am Alter liegen, der ist garantiert längst in Rente. Er macht einen distinguierten Eindruck, markantes Gesicht, weiße Schläfen, na gut, ein wenig zu viel Bauch.

Dörthe, du bist hier nicht auf dem Heiratsmarkt.

Auf jeden Fall schön, festzustellen, dass auch solche Menschen hier sind.

Du und deine Vorurteile, denkt eine zweite Dörthe.

Die Frau überfliegt die Auslage, greift stirnrunzelnd nach dem Pendel des Nostradamus von Aureolus Bihun, überfliegt den Klappentext, wirft einen kurzen Blick ins Inhaltsverzeichnis und brummt missmutig: »Scheint neu zu sein. Ist trotzdem aufgewärmter Quatsch. Auch dafür wurden Bäume abgeholzt, es ist eine Schande. 29,90 Euro? Dafür kaufe ich mir lieber lauter gelbe Quietscheenten für die Badewanne.«

»Tine, du hast keine Badewanne«, erinnert sie ihr Begleiter todernst. Mit zuckenden Mundwinkeln fügt er an: »Den Namen Bihun hat er bestimmt von der Suppenpackung abgeguckt.«

Sie lachen beide schallend. Ich kann mir nur mühsam verkneifen, mit einzufallen. Diese Tine wischt sich die Lachtränen aus den Augen, deutet auf einen Eintrag ganz hinten im Buch: »Es gibt sogar eine Internetseite der ›Ritter des Pendels‹, wie sie sich nennen. Ich wette, dieser Suppenkasper beweist, dass Nostradamus das Internet bereits vorherge... äh … pendelt hat.« Erneut juchzen sie vor Vergnügen. Erst langsam wird die Frau wieder ernster und weist auf Thors Hammer: Wie wir den Weltuntergang verhindern können.

»Den kenne ich, den Wilbur Hyvent, der war vor zwei Jahren in Hamburg in meinem Seminar, damals hieß er noch Stefan Kirchner. Der ist garantiert gegen besagten Hammer gerannt, sag ich dir.« Da wirft sie mir einen schnellen prüfenden Blick zu. Als sie mein Grinsen sieht, nickt sie und wendet sich direkt an mich: »Klingt komisch, ist es bis zu einem bestimmten Grad sogar, aber dieser Mann ist gefährlich. Er ist ebenfalls eingeladen, einen Vortrag zu halten. Gruselig, garantiert. Er gehört inzwischen einer dieser obskuren Grüppchen in Altona an. Der hatte damals schon starke Tendenzen zum Fanatismus. Ihre Auslage wird ihm kaum gefallen. Auch nicht das Pendel. Stefan stützt sich auf Germanenmythen, Ariertum, Sie wissen schon.« Sie schüttelt widerwillig den Kopf, will noch etwas anfügen, schweigt aber mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter.

Ihre Heiterkeit ist wie weggeblasen. Hat sie etwa Angst? Was macht sie dann hier? Ehe ich darüber nachdenken kann, platzt es aus mir heraus: »Warum sind Sie auf dieser Messe, wenn Sie diese Leute ablehnen, vielleicht sogar fürchten?«

Überrascht sieht sie mich an, räuspert sich, als wolle sie ihre Gedanken sortieren. »Es ist vieles richtig, was hier vorgetragen wird, es gibt hochinteressante philosophische und politische Beiträge.«

»Zum Beispiel der von Professorin Christina Nüdorf zum Thema ›Esoterik und Rechtsradikalismus‹«, unterbricht ihr Begleiter galant mit einer angedeuteten Verbeugung.

Ups, eine Professorin! Die Angesprochene übergeht die Bemerkung, als wäre nichts gewesen und fährt fort: »Es wird viel diskutiert, manchmal grenzwertig, das allerdings. Meiner Meinung nach muss eine Gesellschaft das aushalten, dass sie kritisiert wird. Dass sich zunehmend solche Elemente daruntermischen, lässt sich kaum verhindern. Es ist freilich, wie auch auf Ihrem Tisch, eine kleine Minderheit.« Sie runzelt die Stirn und erklärt ein bisschen aggressiv: »Schließlich sind Sie ebenfalls hier. Sie verkaufen genauso von dem Schrott.« Mit einer herablassenden Geste weist sie auf die beanstandeten Bücher.

Hoppla, bitte keine Grundsatzdiskussion, dann noch mit einer Fachfrau, denke ich verschreckt.

Ehe ich mich herauswinden muss, wedelt ihr Begleiter diese Kritik missbilligend beiseite. »Sei fair, Tine«, mahnt er, »Wenn ich das richtig sehe«, damit deutet er auf das Plakat der Guten Seiten am Tisch, »ist dies die Buchhandlung von Bertram Voss, meinem ehemaligen Musterstudenten. Bertram ist jenseits jeden Verdachts, Tine. Der Mann ist integer. Du bist hier, er ist hier und ja, auch die Rechten sind hier.«

»Menschen können sich ändern, Carsten«, murrt die Professorin. Aber mehr aus Gewohnheit, scheint mir. Als ob dies bloß die Fortsetzung einer alten Diskussion ist.

Der Mann zieht sie sanft, aber bestimmt zur Seite. »Lass gut sein, Tine. Leben und leben lassen, sage ich immer.«

»Wenn sie das nur ebenfalls akzeptieren würden«, erwidert Frau Nüdorf nun besorgt. »Von den meisten rechten Gruppierungen, die sich hier in der Stadthalle befinden, werden Sie außerhalb der Vorträge nichts bemerken. Die tendieren dazu, sich bei den Esoterikern anzubiedern, gerieren sich durchaus demokratisch, wenn Sie verstehen. Aber nicht der Stefan – oder Wilbur. Der hält sich vermutlich für die Wiedergeburt Hitlers. Das dürfte seine einzige Übereinstimmung mit den Esoterikern sein.« Sie zieht kurz die Augenbrauen hoch, aber der Spott bleibt unterdrückt.

»Der setzt auf Machismo und Gewalt. Ich fürchte, der schreckt vor nichts zurück, wenn man ihn lässt. Vor nichts.«

Ohne mich weiter zu beachten, gehen beide langsam zur Cafeteria. Was sie noch sagen, kann ich nicht verstehen, aber beide sehen sehr ernst aus.

Nachdenklich schaue ich ihnen hinterher. Frau Nüdorfs Vortrag hätte ich gern angehört. Ihr Thema beschäftigt mich nämlich sehr. Wie kann ich Spiritualität leben, ohne in die Fänge irgendwelcher merkwürdiger Gruppen zu geraten? Ich schrecke jedes Mal wieder zurück, wenn es gilt, mitzutun. Allein meine Malerei gibt mir die Möglichkeit, einiges davon auszuleben. Habe ich mich darum zu diesem Bücherstand überreden lassen, frage ich mich plötzlich? Um mich dem anzunähern?

Ich greife mein Smartphone und googele »Professorin Christina Nüdorf«. Sie hat sicherlich etwas veröffentlicht. Als ich sehe, dass lauter Christina Neudorfs hochploppen, Professorin oder nicht, mache ich das Gerät aus, das überfordert mich im Moment.

Die Stunden rauschen nur so an mir vorbei, es gibt Stoßzeiten, in denen ich die Bücher kaum schnell genug nachlegen kann. Wenn die Vorträge begonnen haben, kann ich ein bisschen verschnaufen und in das ein oder andere Buch genauer reingucken. Maria und ich sprechen uns schnell ab, dass wir uns vertreten, falls eine von uns eine Pinkelpause braucht oder einen Kaffee holen will. Zu einem längeren Gespräch kommen wir nicht, denn ganz leer ist es nie in den Gängen. Menschen schieben sich heftig diskutierend in kleinen Grüppchen vorbei, andere sind alleine unterwegs, eilig zu einem Ziel, oder langsamen Schrittes. Zwischendurch schwingen Marias Klänge herüber und berühren mich geradezu magisch. Ist das diese Umgebung, oder ist was dran an diesen Tönen?

Dörthe, stell dich nicht dümmer, als du bist, du hörst doch Musik, das macht auch was mit dir. Töne sind nicht neutral. Das ist wie mit deinen Farben.

Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, womöglich will ich es auch nicht. Reicht es nicht, dass es mir guttut?

Drei

Am späten Nachmittag kommt der ältere Mann zurück, löst Maria ab. Ich beneide sie kurz um ihre Pause, denn ich werde allmählich müde. Ich kenne das, um die Uhrzeit schaltet mein Körper auf Sparmodus. Bloß kann ich mir das gerade nicht leisten. Ach was, die wenigen Stunden schaffe ich noch.

»Bis morgen«, grüßt Maria und schiebt sich durch die Menschen nach draußen.

»Ich bin Leo.« Mit diesen Worten reicht mir der neue Nachbar die Hand. Ein angenehm kräftiger Händedruck. Ein entspanntes Lächeln. Neugierig mustern wir uns. Kluge Augen, viele, viele Lachfalten, äh, ja, ein interessanter Mann, zweifellos. Könnte Anfang sechzig sein, also mein Alter, sieht aber fit aus, fitter als ich. Na gut, dazu gehört nicht viel. Ja doch, ein attraktiver Mann. Äh ja, allerdings. Äh ...

»Ich hätte gern das Pendel des Nostradamus«, holt mich ein Kunde zurück von meiner Wolke. Gerade rechtzeitig, ehe es peinlich wird, denke ich erschrocken, wage nicht, Leo anzusehen. Hoffentlich hat er nichts gemerkt, liebe Güte, wie hast du den angeschmachtet, bist du plemplem?

Ich widme mich ganz dem Kunden, sehe aus dem Augenwinkel, dass auch Leo nun Kundschaft hat. Wieder klingen die Schalen zu mir herüber, diesmal entspannen mich die Klänge jedoch nicht, ich habe das Gefühl, sie lachen mich aus. Kla-haha-ng, Kla-haha-ng macht es.

Missmutig setze ich mich auf meinen Stuhl. Du benimmst dich wie eine Vierzehnjährige, schelte ich mich. Nichts ist passiert, da steht einfach nur ein netter Mann, und gleich bist du hin und weg. Ist doch sonst nicht deine Art, gleich zu entflammen, bloß wegen ein paar Lachfalten und einem freundlichen Gesicht.

Aber ich kann mich nicht bremsen, mein Herz klopft so aufgeregt. So wohlig aufgeregt. Ich schiele schnell hinüber. Verdammt, der Kerl guckt zurück, grinst breit. Der hat was gemerkt, ach nee, was mache ich? Mein Atem flattert so verdächtig.

Ehe ich verzweifelt zum nächsten Klo rennen oder in Ohnmacht fallen kann, klingelt mein Handy.

Janne ruft an, um die Nachlieferungen für morgen zusammenzustellen. Dem Himmel sei Dank. Ich bin gerettet.

»Welche Bücher muss ich bringen? Viele?«

»Ja. Die Edlen Weisheiten des Dalai Lama sind alle weg. Das Pendel des Nostradamus ist auch fast ausverkauft. Eventuell muss das nicht, äh, ist das vielleicht nicht mehr lieferbar …?«

»Dörthe, bist du verrückt? Das bringt uns satte Kohle!«

»Janne, das ist ein einziger Mist!«

»Keine Zensur bitte. Wenn man den Leuten so manche Dünnbrettbohrer mit Bestsellerstatus zumuten kann, dann auch das Idiotenpendel.«

»Hat der echt gependelt?«, frage ich.

»Wer?« Janne ist irritiert.

»Na, der Nostradamus.«

»Woher soll ich das wissen? Meinst du, ich war damals dabei?«

Eine kurze Pause entsteht, wir versuchen wohl beide, zu einem normalen Gespräch zurückzufinden.

»Dörthe, von den etwa zwanzig Titeln, die wir auf dem Tisch liegen haben, sind fünf bescheuert. Außerdem ist Esoterik nicht automatisch rechts, da hast du etwas missverstanden.«

Ich will protestieren, was unterstellt sie mir?

Schon faucht sie wieder in den Hörer: »Glaubst du im Ernst, wir könnten den Laden halten, wenn wir ausschließlich Qualität verkaufen würden? Wo lebst du?« Sie lacht unangenehm schrill.

»Bitte, Janne, beruhige dich, es ist schließlich eure Entscheidung, was ihr verkaufen wollt. Solange es euch Geld bringt, wäre ich die letzte, die es euch nicht gönnen würde.«

Ich höre Janne tief durchatmen. »Sorry, ich verstehe dich, Dörthe. Ich weiß nicht, was Bertram sich dabei gedacht hat, als er das alles bestellt hat.«

»Okay, ich muss es ja nicht lesen«, räume ich ein. Sie ist die Chefin, ich bloß die Verkäuferin. Sie ist ungewohnt dünnhäutig, scheint mir. Sofort auf der Palme und Gemecker. Das ist nicht die Janne, die ich kenne. Was ist los bei den Guten Seiten?

VIER

Endlich ist Schluss, ich bin hundemüde und will nur aufs Sofa. Leo hat sich nichts weiter anmerken lassen. Wir haben beide unsere Arbeit gemacht, mehr nicht. Mehr war allerdings auch nicht möglich, denn kurz vor Schluss gucken alle noch einmal an den Verkaufsständen vorbei. Die letzten Pendel gehen über den Tresen. Eventuell kann Janne ein wenig entspannen, wenn sie das hört.

Vor dem Eingang hat sich eine kleine Menschenansammlung gebildet. Aufgeregte Stimmen schwirren durcheinander. Ich will daran vorbeigehen, nichts interessiert mich mehr. Sollen sie die Welt ohne mich retten. Da höre ich jemanden »Kanake!« schreien. Andere Stimmen werden laut, deutlich aggressiv. Jemand weint sogar. Jetzt gucke ich doch genauer hin. Auffallend viele junge Männer in Lederjacken stehen beisammen, einige recken die Fäuste. Oh weh, prügeln sich da welche? Ist das der rechte Weg in unsere Zukunft? Fahr nach Hause, Dörthe, das hat dir gerade noch gefehlt. Da knurrt ein Hund und bellt angriffslustig. Die Menge weicht zurück. Ich kann ins Zentrum des Tumults gucken.

He, das ist Halim mit Bronco, seinem Bullterrier! Was macht der denn hier?

Er hat ein Pappschild um den Hals gehängt, das ist halb abgerissen. Was darauf steht, kann ich nicht lesen. Einer der Lederjacken-Jungen nimmt mir die Sicht. Er fuchtelt mit den Fäusten durch die Luft und schreit: »Verdammter Kanake! Hau ab hier!« Wieder und wieder.

Begrenzter Wortschatz, denke ich mürrisch, fahre mir nervös durch die Haare. Oh Hölle und Finsternis! Warum das jetzt noch? Kann ich einfach nach Hause gehen und Halim allein lassen? Womöglich verkloppen sie ihn trotz Bronco. Aber was kann ich gegen eine Bande von jungen, aufgebrachten Kerlen tun? Der Schreihals traut sich nicht näher an Halim heran, denn Bronco fletscht die Zähne. Ich starre auf den Hund. Ist das der liebe, friedliche Bronco, der sich von allen Buchhandlungskunden knuffeln lässt? Der wie sein Herrchen ein herzensgutes Wesen ist, völlig aggressionsfrei? Bisher zumindest. Aber jeder hat seine Grenze, Mensch wie Hund.

Die Menschenansammlung ist größer geworden, ein paar Ordner kommen herbeigelaufen, mischen sich ein.

»Was ist los?« fragt einer barsch.

»Der Kanake beleidigt uns«, schnappt die Lederjacke.

»Kanake ist auch eine Beleidigung«, ruft jemand aus der Menge.

»Er hat angefangen«, behauptet der junge Mann, zeigt auf Halims Schild. Jetzt kann ich es lesen: »Keine faschistische Messe in Bremen«.

Oh, oh, Halim, ist das klug?

Der steht nun ganz ruhig da, Bronco bellt nicht mehr, beäugt allerdings sehr aufmerksam die anderen Menschen.

»Die Bürgerweide ist städtischer Grund«, erklärt Halim an den Ordner gewandt. »Ich darf hier stehen mit welchem Plakat ich will. Dass ich damit recht habe, beweist dieser Kerl gerade selbst. Ich bin Bremer. Ich bin kein Kanake oder Kameltreiber.«

In dem Moment höre ich hinter mir eine Frauenstimme raunen: »Heilige Eintracht, der Stefan-Wilbur und seine Clique. Ist der auf Krawall aus? Ich hab’s dir doch gesagt, Carsten.« Ich drehe mich um und erkenne diese Professorin – wie hieß sie? – mit ihrem Begleiter. Voller Angst sieht sie auf die Szene vor uns. Angst? Sehe ich richtig? Ich kann sie in Ruhe betrachten, sie hat nur Augen für den Vorfall auf dem Platz. Schau an, die Fachfrau für Rechtsextreme hat Angst vor diesem kleinen Brüllaffen, dem Verfasser von Thors Hammer. Dann sollte ich mir den besonders ansehen. Immerhin bin ich zwei weitere Tage in seiner Nähe.

Dörthe, warum soll er gerade dir etwas tun wollen? Weil du sein Buch zu wenig würdigst? Immerhin verkaufst du es. Sehr gut geht es allerdings nicht, fällt mir auf, das Pendel verkauft sich viel, viel besser.

Ich wende mich erneut den Ereignissen auf dem Platz zu, da werden wir von den Ordnern zurückgeschoben.

»Gehen Sie weiter, bitte, es gibt nichts zu sehen«, fordert uns der eine monoton auf. Sein Kollege steht neben den beiden Streithähnen und schreibt etwas auf.

Ich lasse mich bereitwillig wegschieben. Soll ich auf Halim warten? Ihm beistehen? Aber was soll ich sagen? Ich teile seine Kritik nicht. Die Angebote auf dieser Messe waren zu erwarten: Yoga, Meditation, Vorträge über Gesundheitsfragen und Ernährung, über Feminismus und Buddhismus, nichts davon ist faschistisch. Es gibt allerdings auch diesen Hammer sowie dieses Pendel. Hier in der Stadthalle sind sicherlich Menschen, die das Weltbild dieser Autoren teilen. Obwohl ich beide Bücher nur quergelesen habe, muss ich zugeben, deren Weltordnung halte ich für brandgefährlich.

Meine Erschöpfung gibt den Ausschlag, ich schwinge mich aufs Rad und trödele nach Hause. Ein Gespräch mit Halim hätte wer weiß wie lange gedauert. Ich muss morgen wieder ran, und dieser Tag hat mich heftig geschlaucht. Keine Kraft für eine Auseinandersetzung.

Als ob das alles nicht reichen würde, versperrt ein Möbelwagen die Prangenstraße. Verdammt, ich will nach Hause! Die Fahrer müssen mich gehört haben. Ehe ich auf den Fußweg ausweichen kann, schaukelt das schwere Gefährt davon. Wer zieht um diese Tageszeit um?, frage ich mich mürrisch.

Dörthe, hallo, schon vergessen? Deine Nachbarin Annie redet seit Monaten davon, dass die Wohnung unter ihr neu vermietet wurde.Der alte Herr Schneider musste ins Heim, nachdem er beinahe die Küche abgefackelt hatte, der Klassiker: Topf auf dem Herd vergessen.

Könnte mir genauso passieren, muss ich demnach ebenfalls ins Heim?Ich wusste ja, dass Kochen eine gefährliche Angelegenheit ist, denke ich mit spöttischem Grinsen. Kochen gehört nämlich nicht zu meinen besonderen Fähigkeiten.

Nun gucke ich interessiert zum Nebenhaus hinüber, während ich mein Rad abschließe. Neue Nachbarn, das kann spannend werden. Annie hat es fast zerrissen, weil sie nichts über die Leute wusste. Neugierig, wie sie ist, muss sie Höllenqualen leiden. Auch ihre Horoskope konnten ihr keine Auskunft geben. Diese Phase der Unwissenheit wird nicht lange anhalten. Ich wette, spätestens in zwei Tagen weiß sie alles über die Neuen. Das Sternzeichen sowieso, dann jede Kinderkrankheit, Liebschaft, was weiß ich.

Ich sehe zu ihrem Fenster hoch, aber alles ist dunkel. Vielleicht ist sie vor dem Lärm geflohen? Oder sie sitzt bereits im Erdgeschoss und quatscht den armen Leuten ein Ohr ab.

Nicht dein Bier, Dörthe, sieh zu, dass du endlich, endlich aufs Sofa kommst.

FÜNF

Als Bertram am nächsten Morgen gleich mit einer Sackkarre voller Nachschub ankommt, begreife ich erst, was der Stand für einen Umsatz gemacht hat. Ich habe zwar eine Strichliste geführt, welche Artikel wie oft verkauft wurden, aber das Geld habe ich nicht gezählt. Ob die Liste vollständig ist, wage ich zu bezweifeln. Dazu war es manchmal viel zu hektisch. Ich reiche Bertram die Bauchtasche mit den Einnahmen.

»Ha! Gut gemacht, Deern! Der Laden brummt, sag ich doch.« Er strahlt mich an, steckt das Geld unbesehen in seine Jackentasche, reicht mir den leeren Beutel zurück. »Schön vollmachen«, spottet er. Oder ist das kein Spott? Ich sehe ihm in das gerötete Gesicht. Da ist mehr, da ist Eifer, und … Gier? Übertreibe ich? Färbt die Spökenkiekerei der Messe auf mich ab?

Er will sich abwenden und gehen. He, Moment mal! Schnell halte ich die Hand auf: »Mein Lohn für gestern, Bertram. Wir haben tägliche Abrechnung vereinbart.«

Missmutig schaut er mich an. Er brummt Unverständliches, zieht das Bündel Scheine wieder heraus und zählt mir mein Geld in die Hand. Dabei zählt er betont langsam und genau, als ob ich eine ungebührliche Forderung gestellt hätte. Ich spüre förmlich seine körperlichen Schmerzen, als er das Geld loslassen muss.

Ich kann mir nicht helfen, ich muss einen Schritt zurücktreten, seine Nähe ist mir mit einem Mal unerträglich.

Mit kritischem Blick betrachtet er die Auslage. »Nein, nein, das geht nicht. Das muss anders«, entscheidet er, greift nach dem Pendel, das ich eher verschämt an den Rand des Tisches gelegt habe und präsentiert es auf einem der Aufsteller mitten in der Auslage. Ich schnappe nach Luft. Warum macht er das?, will ich fragen, aber als ich sein fast verzücktes Strahlen sehe, als er über das Cover streicht, begreife ich, dass ich besser die Klappe halte. Kann ein Buchhändler mit einem Quäntchen Geschmack dieses Machwerk tatsächlich präsentabel finden?

Als ob er meine Gedanken lesen könnte, grinst er mich an und erklärt:

»Dieses Buch wird ein Bestseller im Esoterikbereich, glaub mir. Wir sind die ersten, die es auf den Markt bringen konnten. Hast du mal reingelesen? Voll die spannenden Erkenntnisse, wahrscheinlich das wichtigste Buch des Jahres.«

Ich weigere mich zu antworten. Er bemerkt meine Irritation nicht, streicht erneut mehrmals sanft über den Einband, klopft dann dreimal auf den Tisch. »Also, auf gutes Gelingen«, ruft er; wusch, ist er weg.

Bertram. Was ist das eigentlich für einer?, frage ich mich.

»Der Mann ist integer«, hat dieser Carsten gesagt, fällt mir plötzlich ein. Bertram, sein Musterstudent. Wow! Wie lange ist das her? Zwanzig Jahre? Bestimmt, wenn Bertram Mitte Vierzig ist, wie ich schätze.

Menschen ändern sich. Auch die Stimme der Frau klingt mir erneut im Ohr. Ich schüttele den Kopf. Mach dich nicht verrückt, Dörthe. Du kennst Bertram schon eine gute Weile, er ist nicht mein liebster Bekannter, aber für einen Rechten habe ich ihn nie gehalten. Vielleicht ist er schlicht froh, dass endlich mal die Kasse klingelt und er derjenige war, der den großen Fisch an Land gezogen hat. Kann gut sein, dass er sich hinter Jannes Einkaufsgeschick zurückgesetzt fühlt. Dass die beiden gerade eine Ehekrise durchmachen, ist offensichtlich. Hat das überhaupt mit der Messe zu tun?

Midlifecrisis, Dörthe, früher oder später erwischt es uns alle.

Ich nicke mir zu, lege das Pendel zur Seite, stelle stattdessen das Buch eines Gehirnforschers hin, das gerade sehr heiß diskutiert wird.

Ich verkaufe, ich entscheide.

SECHS

Heute früh steht Leo hinter dem Stand, wir begrüßen uns freundlich, mein Herz gibt Frieden. Was das gestern war begreife ich nicht mehr. Klar, er ist ein attraktiver Zeitgenosse, aber doch kein Anlass, um aus den Latschen zu kippen. Ohne Mühe unterhalte ich mich ganz normal mit ihm, wenn dazu Zeit ist. Er erklärt mir, wieso seine Klangschalen eine heilende Wirkung haben sollen, ich höre skeptisch, aber interessiert zu. Ich mag ihm wirklich gern zuhören, weil, äh, er hat allerdings eine sehr angenehme Stimme. Das schon.

»Du merkst es doch, dass die Töne etwas mit dir machen«, behauptet er. »Musik macht was mit dir. Manchmal willst du Rock ’n’ Roll oder Heavy Metal ...«