Frauen, Fische, Fjorde - Anne Siegel - E-Book

Frauen, Fische, Fjorde E-Book

Anne Siegel

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Beschreibung

1949. Auf Islands Bauernhöfen herrscht akuter Frauenmangel, während in Deutschland auf einen Mann fünf Frauen kommen. Hunderte von ihnen entschließen sich, nach Island zu emigrieren – in ein Land, von dem viele nicht einmal wissen, wo genau es liegt. Ihre Motive sind so unterschiedlich wie ihre Biografien. Anhand ausgewählter Lebenswege zeichnet Anne Siegel spannende Schicksale nach. Sensibel und mitreißend schildern die heute betagten Frauen, wie sie überwältigt wurden von der Gastfreundschaft der Bewohner und der Wildheit der Natur; wie sie als Landarbeiterinnen ein neues Zuhause fanden, Familien gründeten und für immer blieben.

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www.piper.de

Für Stebbi í Seli

ISBN 978-3-492-96551-4

Oktober 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

© der Originalausgabe erschien 2011 im Bucher Verlag, Hohenems, Österreich

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Covermotiv: Karl Christian Nielsen / Reykjavík Museum of Photography

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

NORDLICHTER

Gestern Abend habe ich

Stebbi am Himmel

gesehen.

Er trug sein

schönstes, grünes Kleid,

tanzte frei und

ohne Gehstock

wie lang nicht mehr

über Fjorde, Täler und Seen.

Ich meine, ich hätte ihn

laut lachen gehört,

und plötzlich hatte

seine Stimme wieder Kraft.

Gestern Abend habe ich

Stebbi am Himmel

gesehen.

Und da wusste ich:

Jetzt hat er’s geschafft.

VORWORT

Sie hieß Helga.

Ich weiß noch, wie sie aussah, als ich sie zum ersten Mal sah. Blondes Haar, klein und zart – wahrscheinlich auch dünn. Blaue Augen. Ich wusste, dass sie fremde Sprachen konnte, aber auch ein wenig Isländisch, das eben ganz anders klang. Wusste, dass sie aus Deutschland kam. Es war Nachkriegszeit. In den Zeitungen sahen wir Fotos von Städten in Ruinen und verhungernden Kindern. Im Radio klangen Nachrichten voller Trauer und Elend. Das hat mich als Kind ziemlich mitgenommen.

Helga war mit dem Schiff Esja aus Hamburg zu Beginn des Sommers 1949 in Reykjavík angekommen. Ein paar Jahre später heiratete sie den blonden, maskulinen Bauernsohn von dem Hof, auf dem sie als Magd gearbeitet hatte.

Sie waren zum Standesamt in unserer Kleinstadt, Seydisfjördur aus den Ostfjorden, gekommen. Meine Eltern, alte Freunde der Bauernfamilie, waren Trauzeugen. Nach der Trauung gab es Kaffee und Kuchen in unserer guten Stube. Wir Kinder durften nicht mitfeiern, nur die Hand geben, gratulieren und dann schnell verschwinden.

Ich weiß es noch, wie ich an dem hellen Sommerabend auf der Treppe saß und darauf gewartet habe, dass das Brautpaar herauskam. Ich wollte Helga nochmals sehen, anfassen. Wollte sie am liebsten kennenlernen. Das habe ich auch – aber erst später ...

Es war Anfang der Fünfzigerjahre. Während des Krieges war Island von den Alliierten besetzt, und meine Eltern waren einen Sommer lang mit meinen Geschwistern bei den Freunden auf dem Bauernhof gewesen. In Seydisfjördur war eine große Militärbasis, und ständig wurden deutsche Luftangriffe erwartet. Manch eine Nacht saß unsere Familie unten im Keller. Jetzt würde Helga, ein deutsches Mädchen, also die Bauersfrau desselben Hofes sein, den meine Familie gehütet hatte.

Obwohl der Krieg zu Ende war, haben wir uns immer noch vor den Deutschen gefürchtet. Helga war die erste Deutsche, der ich begegnet bin. Kurz darauf kam ein deutscher Zahnarzt mit seiner Familie zu uns. Vor ihm habe ich mich wahnsinnig gefürchtet. Nicht vor Helga. Sie war anders, irgendwie interessant. Vor ihr musste man sich nicht fürchten.

Die Jahre gingen dahin, und wir haben uns kennengelernt. Während der Gymnasiumszeit hat sie versucht, mit mir Deutsch zu sprechen, ich wollte aber lieber Polnisch hören. Sie hat auch für mich Lieder in Russisch gesungen und einen populären Schlager übersetzt. Helga war hochintelligent, hatte in einer Großstadt in Deutschland studiert, hatte ihre Träume gehabt und verloren. Und dann war sie in Island gelandet. Auf einem Bauernhof am Ende der Welt, ohne Elektrizität, wo der Stall die Toilette war. Hier wollte sie aber bleiben. Hier musste sie sich nicht fürchten. Sie wurde isländischer als viele der Einheimischen und fühlte sich gut aufgehoben. Island wurde ihre Heimat.

Wenn ich an Helga und ihr Schicksal denke, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Was die Leute im Krieg und in der Zeit danach ertragen mussten – dass sie überhaupt dem Tag in die Augen sehen konnten! Die Erzählungen von einigen der Frauen, die 1949 aus Deutschland kamen, erscheinen jetzt in Deutschland, in diesem Buch von Anne Siegel. Ich freue mich sehr darüber. Die Geschichte der Frauen darf nicht verloren gehen. Den sechs Frauen wünsche ich eine gute literarische Fahrt in die alte Heimat. Aus Island folgen warme Grüße, Respekt und Dank dafür, dass sie zu uns kamen, dass sie sich bei uns eingelebt haben und unsere Gesellschaft bereicherten. Ohne diese Frauen wäre meine Heimat ärmer geblieben.

Kristín Steinsdóttir, Reykjavík

[1]

EINE ISLÄNDISCH-DEUTSCHE MISSION

Am 24. März des Jahres 1949 wird Konsul Árni Siemsen von einem schrillen Ton aus seinem Mittagsnickerchen geschreckt. Es klingelt Sturm an der Tür zur alten Villa, in der er seit gut einem halben Jahr mit einem kleinen Stab von Mitarbeitern residiert.

Mit einem lauten Stöhnen erhebt sich der Konsul, der in Wahrheit nur Vizekonsul ist, aus seinem schweren, antiken Fauteuil und streift sich die ledernen Halbschuhe über, die noch ganz warm sind und neben dem Sessel stehen. Energisch öffnet er die Tür der Bibliothek zur Eingangshalle. Schwere, dunkle Teppiche liegen auf altem Tannenparkett und dämpfen seine Schritte durch die große Halle.

Siemsen hat schlagartig schlechte Laune. Dass er in seiner neuen Funktion in Lübeck so stark frequentiert werden würde, hat ihm niemand gesagt.

So schlägt der Bote, der vor der Tür steht, aus einem alten Instinkt heraus erst einmal die Hacken zusammen, als der hochgewachsene Mann mit dem Respekt einflößenden Gesichtsausdruck ihm die Tür öffnet und sich die fedrigen Haare aus dem Gesicht nach hinten streicht.

»Ein Telegramm, Herr Konsul!«

Árni Siemsen hat es im Lauf der letzten Monate irgendwann aufgegeben, die Menschen in der Hansestadt, in der er nun wohnt, eines Besseren zu belehren. Er ist zwar Vizekonsul, aber für Lübecks Bewohner ist er »der Herr Konsul«.

Tatsächlich ist die alte Villa die erste diplomatische Dienststelle, die die Isländer nach dem Krieg wieder in Deutschland errichten. Es ist zwar geplant, demnächst eine höhere diplomatische Mission in Hamburg zu installieren, aber dass sich die erste Vertretung der noch jungen Republik Island ausgerechnet in der markanten holsteinischen Metropole befindet, hat gute Gründe.

Zu Lübeck pflegten die Isländer schon seit Jahrhunderten eine besondere Verbindung, denn hier wurde seit dem Mittelalter gelagert, was das Inselvolk für die Konservierung seines wichtigsten Exportgutes am dringendsten benötigte, das Salz.

Ohne die großen, backsteinernen Speicherhäuser an der Trave oder vielmehr deren Inhalt wäre der Fisch aus dem Nordmeer vermutlich niemals zum Exportschlager geworden. »Das weiße Gold« hat Lübeck wiederum nicht nur Reichtum gebracht, sondern auch uralte Handelsbeziehungen mit Skandinavien, die auf gegenseitigem Vertrauen beruhten.

Allein um Island herum lieferte das Meer über hundert verschiedene Fischarten. So reich waren die Fischgründe dort, dass die enormen Fangmengen ganz Kontinentaleuropa versorgen konnten. Und jetzt war es endlich wieder so weit, denn Deutschland, das vor dem Krieg der zweitgrößte Exportpartner des ehemals dänisch besetzten Landes gewesen war, durfte, nein es musste Waren aus dem fernen Inselreich der Wikinger erhalten. Während des Krieges hatte ein striktes Exportverbot zwischen Island und dem »Dritten Reich« geherrscht.

Ein Blick über die Schulter des Telegrammboten hinweg genügt Siemsen, um sich dessen zu vergewissern, dass die Menschen im zerbombten Lübeck jetzt vor allem eines brauchen: Nahrung. Die vollkommen unbeschädigte Villa in der Körnerstraße, dieses erste isländische Konsulat in Deutschland nach dem Krieg, bildet einen befremdenden Kontrast zum Rest der Stadt. Fast vier Jahre nach dem Ende des Krieges häuft sich noch immer der Schutt in den Gassen der ehemals akkuraten, sauberen Stadt mit ihren hohen Handelshäusern aus dunkelroten Ziegelsteinen. Viele Gebäude sind bis auf ihr hölzernes Skelett zerstört; noch immer mangelt es den Menschen an Nahrung, Wohnraum und Arbeit. Viele sehen müde und abgemagert, ja zutiefst traurig aus. Selbst ihre Kleidung ist in dieser ersten Frühlingswitterung des Jahres 1949 nur unzulänglich und improvisiert aus alten Stoffen zusammengenäht. Bis vor einem Jahr hatte der Tauschhandel noch rege geblüht. Zigaretten gegen Hosen, Hosen gegen Hemden, Schnaps, Räder. Es war wie ein lichtes Aufblitzen nach dem Verlust dessen, was die Menschen einmal besessen hatten. Die alte Währung war in die Inflation abgedriftet, also hatten die Menschen begonnen, untereinander direkt Waren zu tauschen. Mit der Währungsreform zum Sommeranfang 1948 hat sich das schlagartig geändert.

Noch stehen auf den Holzplanken des Lübecker Bahnhofsportals die Schwarzhändler und versuchen, die alte Reichsmark aus dem Osten gegen die neue Währung des Westens, die »Deutsche Mark«, zu tauschen. Aber schon der Verfall der Ost-Mark zeigt, wie stark der Wert des Geldes im Westen plötzlich gestiegen ist. Eins zu vier tauschen sie eine deutsche Mark gegen das, was die Leute aus der sowjetisch besetzten Zone mitbringen. Die beginnt gerade mal fünfzehn Kilometer östlich von hier und riegelt sich bereits mit Zäunen und Wachtürmen ab.

Lübeck hat zu dieser Zeit 250 000 Einwohner, die Hälfte davon sind Flüchtlinge, die im Laufe des Krieges in der Stadt nahe der Ostsee gestrandet sind. Island hat zur selben Zeit gerade einmal 140 000 Einwohner.

Aber das Telegramm, das Siemsen jetzt in der Hand hält, soll dies ändern. Es stammt vom Bauernverband in Reykjavík. An diesem Tag beginnt eine erstaunliche Geschichte, die ein paar Hundert deutsche Frauen zur größten Immigrantengruppe Islands machen wird. Dabei wissen viele der Frauen, die nur zwei Monate und elf Tage später in See stechen, zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, wo Island überhaupt liegt.

Árni Siemsens schlechte Laune ist an diesem Tag schlagartig verflogen. Die Aufgabe, die er nun zu leisten hat, ist nicht nur interessant, sie bietet auch die Chance, zu einem wahren Botschafter zu werden, denn sie drängt sich geradezu auf, um alle Presse- und Medienkontakte zu aktivieren, die der »Herr Konsul« hat. Siemsen arbeitet sogar so gut, dass er statt der zunächst angefragten 180 allein im selben Jahr 281 Frauen für ein Leben auf Island begeistern kann. In den Jahren darauf werden weitere Frauen aus Deutschland in einer zweiten Welle nach Island auswandern.

Die Mitglieder des Bauernverbandes sind schon im Jahr 1947 relativ verzweifelt. Auf Island herrscht Landflucht. Die wird auch dadurch ausgelöst, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Inselstaates unglaublich viel Geld ins Land fließt. Die dänischen Besatzer hatten Island bis 1944 mit Handelszöllen belegt, was bedeutete, dass der Handel immer stark reglementiert gewesen war. Über Jahrhunderte hinweg hatten die bescheidenen, aber patenten Isländer sich von ihren Besatzern kommandieren lassen müssen. Nach den irischen Mönchen, die die Insel urbar gemacht hatten, waren es zunächst die Norweger und dann ein paar hundert Jahre lang die Dänen gewesen, die die Gesetze erließen. Das Inselvolk hatte die eine oder andere Autonomie mit den Dänen aushandeln können und dabei immer geschickt verhandelt. So gab es in Island längst Ergänzungen im Erbrecht für Frauen, noch bevor die Dänen überhaupt an diese Form der Gleichberechtigung dachten; auch die Persönlichkeitsrechte waren fortschrittlicher als bei den Besatzern auf dem Festland in Nordeuropa.

Dass dann aber die Chance auf Autonomie so plötzlich kommen sollte, hatte niemand auf Island geahnt, und im Rückblick erscheint es wie ein makabrer Witz der Geschichte, dass die Isländer ihre Autonomie einen Atemzug der Geschichte lang den deutschen Nationalsozialisten verdankten. Die hatten nämlich im April des Jahres 1940 über Nacht Dänemark besetzt, aber die Isländer schlichtweg vergessen. Bevor dieser Atemzug der Geschichte beendet war, kamen die Briten, um eine weitere Annektierung Islands zu verhindern. Sie setzten zwar eigene Truppenteile auf der Insel fest, aber nur aus strategischen Gründen und um Islands Übergang in die Unabhängigkeit zu gewährleisten, die am 17. Juni 1944 frenetisch vom gesamten Volk auf dem legendären Þingvellir (dem Sitz des ersten Parlaments der Welt) gefeiert werden konnte.

Es hätte alles ganz anders kommen können. Zumindest die Pläne der Nationalsozialisten sahen anders aus und wurden aus einer Laune des »Führers« heraus in letzter Sekunde abgeändert.

Dabei war das Deutsche Reich bereits vor 1939 an der Insel im Nordatlantik interessiert gewesen, einerseits aus strategischen Überlegungen, aber auch weil die Nazis ein germanisches Troja inmitten des Wikingervolkes ausgemacht zu haben glaubten. Dafür sandten sie in den 1930er-Jahren sogar einige groß angelegte Archäologieexpeditionen nach Island, die das dortige Volk allenfalls mit einem Lächeln kommentierte oder ganz ignorierte. Die Nordmänner und -frauen hatten andere Mittel, um eine weitere Okkupation ihres Landes durch eine noch dunklere Macht als die der dänischen Besatzer zu unterbinden, und sprachen ein generelles Landeverbot für die Deutsche Lufthansa auf Island aus. Dabei kreuzte längst in bedrohlicher Nähe vor Reykjavík die Emden, ein deutscher Kreuzer, der von Gestapo-Chef Himmler persönlich die Anweisung erhalten hatte, im Fall einer möglichen Annexion zum Angriff überzugehen. Die Zeichen für einen Einmarsch der Deutschen in Island zwischen dem Kriegsbeginn und der Okkupation Dänemarks wirkten bedrohlich.

Als Generalkonsul hatten die Nazis einen ehemaligen Rassenforscher und Pathologen aus dem Konzentrationslager Buchenwald eingesetzt. Die Forschungsgelder für eine »Reichsforschungsstelle Germanenkunde«, die auf Island eingerichtet werden sollte, schienen bereits bewilligt, und sogar eine nationalsozialistische Splitterpartei existierte 1940 auf Island. Sie wurde mit Geld der NSDAP aus Deutschland unterhalten.

Die Exposés des deutschen Generalkonsuls zur Mentalität der Inselbewohner ließen Böses befürchten. Sie attestierten den Isländern ungeachtet ihrer arischen Verwandtschaft einen »übertriebenen Heimatstolz«, gepaart mit einer »unangemessenen Selbstüberschätzung«. Die Urteile lassen sich an Arroganz kaum überbieten, und nicht zufällig sollte der deutsche Generalkonsul später bei dem Versuch verhaftet werden, seine Depeschen und für die Partei schriftlich festgehaltenen Urteile über die Isländer in der Badewanne seiner Residenz zu verbrennen. Als er sich dabei so ungeschickt anstellte, dass der Dachstuhl Feuer fing, wurde er sofort abgeführt.

Dass die Geschichte des Germanischen Reiches zumindest für Island so abrupt endete, hat vielleicht sogar mit dem Größenwahn der Nationalsozialisten zu tun, denn die noch immer im Atlantik vor Island kreuzende Emden, ein immerhin ziemlich schweres Kriegsschiff mit einer bedeutenden Zahl von Kanonen an Bord, galt als Stolz der deutschen Marine.

Fast einen Monat hatten sich die Deutschen zwischen der Besetzung Dänemarks und dem geplanten Angriff auf Island Zeit gelassen.

Es heißt, die Emden habe bereits die Waffen auf die Inselhauptstadt gerichtet und Himmlers und Görings Reise in das bald zu errichtende arische Reich sei bereits in die Wege geleitet worden, da erfolgte ein Befehl von noch höherer Stelle. Den cholerischen Oberbefehlshaber interessierte Island nicht, er wollte »auf der Stelle« Göring in Prag sehen. Hitler rief, Göring folgte, und die ganze Aktion der Besetzung Islands wurde binnen Stunden abgeblasen. Ob Island Hitler tatsächlich nicht interessierte? Es ist immerhin überliefert, dass genau zehn Monate zuvor Hitlers Geliebte, Eva Braun, zum ersten und einzigen Mal vom Obersalzberg, aus der Hitler’schen Kommandozentrale, fortgelaufen war, weil sie sich dort angeblich langweilte und zu einer Nordlandfahrt nach Island aufbrechen wollte. Übrigens hatten die Isländer auch diese Reisende geflissentlich ignoriert, und Braun soll sich darüber »sehr enttäuscht« gezeigt haben.

Aber zurück zur plötzlichen Autonomie Islands. Der Premierminister des Landes ist zu dieser Zeit der unerschrockene, preisgekrönte Exringer Hérmann Jónasson, einst Polizeichef Reykjavíks. Gerade erst hat er im Parlament in die Wege geleitet, dass der dänische König nun nicht mehr als das regierende Oberhaupt der Isländer gilt, wird er kaum drei Wochen später nachts von einem Anruf aus dem Bett geholt. Der Insel stehe eine Invasion bevor, heißt es. Welche Nation aber nun zur Invasion unterwegs ist, erfährt er nicht gleich.

Am Strand wartet bereits ein aufgebrachter Teil der Hauptstadtbewohner, bewaffnet mit Regenschirmen, Stöcken und Golfschlägern. Jónasson steht kurz darauf breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Händen vor seinen Landsleuten und beruhigt die Menschen. Er sieht sich ein paar hundert aufgebrachten Isländerinnen und Isländern gegenüber, die nicht wissen, was passieren wird. Wird die Emden gleich auf sie schießen oder die anderen Schiffe, die immer wieder vor der Küste des Landes auftauchen? Unter besonderer Beobachtung steht auch ein deutscher Frachter, die Bahia Blanca, die mit einem im Nordmeer treibenden Eisberg kollidiert und aus Mitleid von isländischen Fischern in den Hafen geschleppt worden war, obwohl man es ihnen verboten hatte. Auf Island gibt es kein Militär, also sind alle siebzig Polizisten der Hauptstadt zur Mole gerufen worden.

Die militärische Invasion, die sich als Gerücht in Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet hatte, besteht dann aus einem einzigen britischen Militärboot, einem Zerstörer, und einem Aufklärungsflugzeug, das vorerst über der Inselhauptstadt kreist. Die britischen Truppen hatten sich verspätet, und der britische Gesandte an Bord, Shepherd, gibt später zu, man habe sich schlichtweg im Nordatlantik verfahren und Island zunächst nicht gefunden. Er kommt als Erster an Land, hinter ihm starren entsetzte britische Soldaten auf die wartende Meute an Land. Es ist ihr erster Einsatz, sie sind alle ziemlich jung und ebenso seekrank, denn auf den ungewöhnlichen Wellengang im Nordatlantik waren sie nicht vorbereitet. Als erster Satz Shepherds an Land sind die folgenden Worte überliefert: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Menge ein wenig zurückzubitten, damit unsere Leute den Zerstörer verlassen können?«

Es wird nur ein kurzes Intermezzo der Briten auf Island werden, allerdings mit 25 000 stationierten Soldaten, die die Insel vor einem Übergriff schützen sollen. Mehr und mehr verlagert sich in den darauffolgenden Jahren der Krieg in den Nordatlantik.

Abgelöst werden die Briten ein Jahr später von den Amerikanern, die nicht gerade herzlich empfangen werden. Aber auch ihre Präsenz auf Island hat in erster Linie strategische Gründe. 60 000 Amerikaner bauen ihre Befestigungsanlagen samt Flughafen und Versorgungsstationen nahe des kleinen Fischerdorfes Keflavík aus, noch bevor die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg eintreten. Und dieser Sommer 1941, mit der Ankunft der Amerikaner, wird einen enormen Wirtschaftsboom auf Island auslösen. Immerhin entspricht die Zahl der nun hier stationierten Soldaten nahezu der Hälfte der Bevölkerung Islands: 60 000 Menschen, die versorgt werden müssen und einen ganz anderen Lebensstandard aus ihrem Heimatland mitbringen, als er zu dieser Zeit auf Island herrscht. Es entsteht eine völlig neue Infrastruktur. Straßen und Häuser werden errichtet, die Hauptstadt entwickelt sich zu einer »Boomtown«, Bars eröffnen, Jazzklubs sprießen wie Pilze aus dem Boden, und plötzlich hat das ruhige Reykjavík Autoverkehr zu bewältigen, denn natürlich haben viele der Amerikaner ihre großen Limousinen mit ins Land gebracht.

Island dient den Amerikanern während der Jahre des Krieges als Stützpunkt, als Lade- und Übergangsstation auf dem Weg der Alliierten Truppen nach Europa. Den Isländern ohne eigene Armee kommt es sogar gelegen, denn immer wieder wird das Land am Rande mit dem Krieg konfrontiert, wenn deutsche U-Boote vor der Küste auftauchen und im Laufe des Zweiten Weltkriegs im Atlantik sogar etliche isländische Kutter, Trawler und sogar Passagierschiffe beschießen und untergehen lassen. Auch ein paar Luftangriffe deutscher Flieger auf Island sind überliefert, sie endeten aber in der Regel harmlos.

Für das Ende des Krieges hatten die Amerikaner einen sofortigen Abzug ihrer Truppen erklärt, so hieß es im »Vertrag von Keflavík«, den die isländische Regierung mit ihnen geschlossen hatte. Bis dahin hat auf Island schon eine nie zuvor gekannte Landflucht eingesetzt. Es gibt nicht nur Arbeit in den Städten, es herrscht auch ein neuer Lebensstil, den die junge Generation plötzlich in vollen Zügen genießen will. Der Bruch zwischen den recht altertümlich ausgestatteten Bauernhöfen, oft ohne Toiletten und fließendes Wasser, und dem neuen, modernen Stadtleben mit Jeans, Coca-Cola und Jazzmusik könnte kaum größer sein.

Zu den flüchtenden Jugendlichen und jungen Leuten, die ihr Glück in der Stadt suchen wollten, zählten ungewöhnlich viele junge Frauen. Da endlich Geld ins Land kam, gab das Land auch seinen Söhnen und Töchtern bessere Ausbildungsmöglichkeiten, wurden die Schulen ausgebaut und besser ausgestattet, auch die finanzielle Unterstützung von Menschen, die bis dahin nur Dorf- oder Zwergschulen besuchten, wurde plötzlich möglich, und so absolvierten in dieser Zeit die ersten Jahrgänge gut ausgebildeter junger Frauen die höheren Schulen und wurden zur ersten großen Gruppe von Akademikerinnen auf Island. Das war etwas vollkommen Neues.

Viele junge Frauen heirateten in diesen Jahren Amerikaner oder Briten und verließen die Insel. Einen GI zum Freund zu haben galt allerdings bei der Elterngeneration als absolutes »No-Go« oder »ekki fara«, wie es auf Isländisch eher heißen müsste.

So standen die jungen Frauen, die sich in einen amerikanischen Soldaten verliebten, unter einem großen sozialen Druck. Viele verließen nicht zuletzt deshalb die Insel, und es ist erstaunlich, wenn man als Nichtisländerin in einer Zeit wie unserer versucht, zu diesem Thema zu recherchieren, denn es herrscht noch immer eine spürbare Beklommenheit angesichts dieses Themas. Es ist der heutigen Generation auf Island sichtlich unangenehm. Noch immer kursieren Geschichten von geächteten Tanten, die nach Wisconsin oder Missouri zogen und dort unglücklich wurden oder aber den Kontakt zur isländischen Familie verloren, weil sie sich über die Grenzen der damaligen Konvention hinweggesetzt hatten.

Die Amerikaner blieben während des Kalten Krieges nach 1945 mit einer sehr reduzierten Truppe auf Island. Die schlauen Insulaner aber ließen sich die neuen Verträge gut bezahlen, und man kann es ihnen nach Jahrhunderten der Besatzung auch nicht verdenken.

Jetzt aber haben sie plötzlich ganz andere Probleme zu bewältigen, denn nach dem Krieg, da der Export wieder aufgenommen werden kann, gibt es zum ersten Mal in ihrer Geschichte keine künstlichen Handelszölle mehr (wie die Dänen sie ihnen auferlegt hatten). Sie können Handel treiben, so viel sie wollen, und erhalten obendrein unglaublich viel amerikanisches Geld aus dem Marshallplan. Island ist sogar die erste Nation, die dieses Geld, das eigentlich dem Wiederaufbau im zerstörten Europa dienen soll,  bekommt. Pro Monat fließen ab 1948 Beträge in Höhe von 2 300 000 Dollar nach Island, so schreibt es die New York Times vom 18. Juli 1948.

Um die Isländer nicht mit den enormen Rückzahlungen zu konfrontieren, heißt es weiter in dem Artikel, betrachten die Vereinigten Staaten von Amerika einen großen Teil dieses Geldes als Geschenk, um »nicht für Irritation« zu sorgen und den Aufbau einer ganz neuen isländischen Infrastruktur zu gewährleisten. Und zugegeben: Durch die Nähe zum Nordmeer und damit dem baltischen Teil Russlands bekommt Island, als Insel zwischen den strategischen Polen des Kalten Krieges gelegen, abermals eine vollkommen neue Bedeutung für die Supermächte.

Besonders viel Geld aus dem Marshallplan fließt in die Fischerei und die Landwirtschaft. Die verfügt zu der Zeit über keinerlei Maschinen. Man betreibt auch weiterhin auf traditionelle Weise den Landbau. Ganz klassisch wird die Ernte wie eh und je mit den Islandpferden eingebracht und das Getreide mit der Hand gesät. Das sollte sich in den kommenden zehn Jahren auch nicht ändern, denn wozu einen Traktor besitzen, wenn es keine Straßen gibt?

Doch genau hier beginnt das Problem für die Mitglieder der Bauernpartei. Die Arbeitskräfte kommen den Landwirten nicht zuletzt durch das Erblühen einer neuen Fischereiindustrie abhanden. Überall an der Ostküste entstehen neue Fischfabriken, in denen die früheren Landarbeiter, also all jene, die keine eigenen Höfe besitzen, sehr viel schneller viel mehr verdienen können als auf den traditionellen Höfen während der Ernte.

Jón Helgasson, der Führer der Bauernpartei, gilt als ausgesprochen »gerissen«, manche nennen ihn im Nachhinein sogar ein »Schlitzohr«, was auch immer das heißen mag. Der Mann hat immerhin eine geniale Idee mit einer lang anhaltenden Wirkung, auch was die Aufmischung des isländischen Genpools betrifft. Von ihm stammt angeblich die Idee, Frauen aus Deutschland als Landarbeiterinnen zu gewinnen. Das Prozedere im Althing, dem isländischen Parlament, zieht sich ziemlich lange hin, denn nachdem zunächst die Ressentiments bei der Landbevölkerung ausgeräumt werden müssen, gilt es einen Katalog aufzustellen, unter welchen Kriterien welche Neuansiedlerinnen erwünscht sind.

Dann ist da noch das Problem mit all den unverheirateten Bauernsöhnen auf dem Land. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, neue Frauen in den Gegenden anzusiedeln, in denen absoluter Frauenmangel herrscht! Um das Ganze nicht gleich nach einer verdeckten Heiratsanzeige für einsame Bauern aussehen zu lassen, wird auch eine Quote für männliche Landarbeiter eingeplant. Mit dem ersten Schiff am 9. Juni 1949 werden 281 Frauen und 79 Männer eintreffen. Dass die männlichen Bewerberzahlen nicht sehr hoch sein würden, können sich die Bauern ausmalen, denn ein großer Teil der männlichen deutschen Bevölkerung zwischen zwanzig und dreißig Jahren ist entweder im Krieg gefallen oder zu dieser Zeit noch in Gefangenenlagern interniert.

So lautet das Raster für die anzuwerbenden Landarbeiterinnen und Landarbeiter, dass sie sich in der Altersspanne zwischen zwanzig und dreißig Jahren befinden sollten, über Erfahrung in der landwirtschaftlichen Arbeit verfügen müssen und ein Gesundheitszeugnis sowie eine Entnazifizierungsurkunde benötigen. Die größte Angst vieler Isländer, die an dieser Aktion beteiligt sind, besteht darin, dass sie sich mit diesem Stellenangebot frühere Nazis ins Land holen könnten. Zusätzlich benötigen die Bewerberinnen und Bewerber ein Visum, denn Deutschen ist es zu dieser Zeit, so kurz nach dem Krieg, noch nicht gestattet zu reisen.

Als weitere Bedingung fügen die Beauftragten der Bauernpartei zum Schluss einen Passus ein, der besagt, dass diese Anwerbeaktion sich ausschließlich auf den Großraum Schleswig-Holstein ausdehnen soll. Dort im Norden, vermuten die Mitglieder der Bauernpartei, herrsche doch sicher eine größere Ähnlichkeit zur eigenen nordischen Mentalität. Und so senden sie das Telegramm nach Lübeck ins isländische Konsulat und beauftragen den dortigen Vizekonsul mit einer groß angelegten Werbeaktion für Islands Landwirtschaft.

Sie haben weder mit der Tüchtigkeit eines Árni Siemsen gerechnet, der wirklich Himmel, Hölle, Zeitungen und Rundfunkstationen in Bewegung setzt, noch damit, dass Lübeck im Zentrum eines riesigen Flüchtlingsstromes steht und von den anzuwerbenden Landarbeiterinnen tatsächlich nur vierzig Prozent aus dem Norden stammen. Alle anderen sind auf mehr oder weniger dramatische Weise in den Westen gekommen und sehen in der Möglichkeit, ihr Leben auf Island fortzuführen, auch eine Chance, den Vorurteilen der Bevölkerung Flüchtlingen gegenüber zu entkommen.

Im Jahr 1949 sollen die ersten 330 Frauen, auf mehrere Schiffe verteilt, nach Island reisen, eine zweite Welle in den Jahren darauf folgen. Die Landarbeiterinnen haben sich für mindestens ein Jahr verpflichtet. Ihr Gehalt liegt weit über dem, was zu dieser Zeit in Deutschland üblich ist.

Jón Helgasson reist Anfang Mai 1949 persönlich nach Lübeck, um das Anwerbeverfahren zu begleiten.

Er selbst befindet sich in den Tagen zuvor noch in Kopenhagen auf einem Landwirtschaftskongress der nordischen Staaten und trifft sich dort mit dem Journalisten Jón Jonsson, der aus Island angereist kommt und die Aktion dokumentieren wird. Ein dritter Mann ist mit von der Partie, der Fotograf Thorstein Josephson. Alle drei sprechen einigermaßen gut Deutsch, das lange auf Island zweite Fremdsprache in den Schulen war. Mit dem Zug erreichen die drei Männer Lübeck und gehen die anderthalb Kilometer zum Konsulat durch die Stadt. Sie sind nicht nur von dem Bild, das sich ihnen bietet, vollkommen überwältigt, denn Lübeck ist auch jetzt noch längst nicht von allen Trümmern, die der Krieg hinterließ, befreit; sie bleiben einen Moment lang recht verdutzt stehen, als sie in die Körnerstraße einbiegen und vor dem Konsulat ihres Landes ankommen. Dort hat sich eine lange Schlange gebildet, und Hunderte von Menschen wollen nur eines: nach Island fahren.

[2]

HÍLDUR

So hatte sich Hilde das Osterfest nicht vorgestellt. Es war der 29. März 1942. Hinter ihr ertönte eine laute, schrille Stimme: »Dreh das Ventil auf, Hilde, du musst am Ventil drehen, und dann Wasser Marsch, Frauen!«

Nur noch einmal ausatmen, und dann hatte sie endlich Halt gefunden auf dem Dachfirst eines alten Lübecker Bürgerhauses. Die roten Backsteine waren an diesem Abend in einen flammend roten Lichtschein getaucht, schräg hinter Hilde brannte ein Dachstuhl, vor ihr klaffte ein riesiges Loch und gab den Blick in eine verlassene Wohnung frei. Weiter unten war soeben eines der Ziegeldächer explodiert. Die unerschrockene Vierzehnjährige fand gerade noch Halt auf den knirschenden Pfannen unter ihren Füßen, dann brauchte sie alle Kraft, um den Feuerwehrschlauch zu halten, der nun in ihrer Hand lag und dessen Spritze sie auf das Dach weiter unten richten sollte.

Es war Hildes erster großer Brandeinsatz, und sie hoffte inständig, den Schlauch lange genug halten zu können, um die brennenden Ziegel zu löschen. Rauch stieg auf, und mit ganzer Kraft widerstand das Mädchen dem Druck von hinten.

Hilde war die jüngste Feuerwehrfrau von Lübeck. Sie war vierzehn Jahre alt, und als beste Turnerin ihrer Altersgruppe war sie die Einzige, der es gelang, mit dem noch schlaffen Löschschlauch in der Hand über die Dächer zu klettern und von weit oben die Instruktionen ihrer Brandschutzleiterin auszuführen. Dieses Ostern im Jahr 1942 markierte ungefähr die Zeit, in der die Lübecker Feuerwehr ausschließlich aus Frauen bestand. Dass Hilde vor Kurzem dazugestoßen war, hatte mit ihrer persönlichen Verfassung und einer Mischung aus Abenteuerlust und purer Verzweiflung zu tun.

Hildes Vater war im letzten Jahr gestorben, und ihre Brüder waren im Krieg. Sie und ihre Mutter blieben allein zurück in Lübeck, und jeden Abend mussten sie, wenn der Bombenalarm ausgelöst wurde, in den Bunker rennen.

Hilde war bekannt für ihr ungestümes Naturell. Sie konnte nie lange sitzen, war leicht aufbrausend und hatte einen enormen Bewegungsdrang, den sie mit Sport einigermaßen in den Griff bekam. Regelmäßig siegte sie in Turnwettbewerben und war der Star ihrer Handballmannschaft, die trotz des Krieges, der seit fast drei Jahren tobte, noch immer täglich trainierte. Eine Nacht lang mit wildfremden Menschen im Luftschutzkeller zu verharren und dort zu warten, bis die Angriffe vorüber waren, das war der reine Schrecken für das quirlige Mädchen.

Es war nicht auszuhalten: Die Stadt wurde innerhalb kurzer Zeit stark zerstört. Wir hatten jede Nacht Fliegerangriffe von den Engländern, die sich dafür rächten, dass wir Deutschen im Krieg die Industriestadt Coventry in Schutt und Asche gelegt hatten. Das ist der Ort, wo Rolls-Royce die Triebwerke für Flugzeuge herstellte. Also, ab 1942 waren wir in Lübeck ein bevorzugtes Ziel, weil die Stadt so leicht erreichbar war, wir lagen an der Küste und hatten eine Menge Einwohner. Lübeck war aus der Luft leicht erkennbar und wurde als erste Stadt bombardiert. In manchen Nächten warfen sie fünf Stunden lang Brandbomben, alles stand in Flammen, und ich sollte in den Bunker, diesen schrecklichen Bunker, die Enge, das habe ich nicht mehr ertragen können. Das war die Zeit, in der ich zum ersten Mal eine Nervosität verspürte, ein ganz schlimmes, inneres Getriebensein. Ich war nahe dran, in diesen stickigen Kellern Asthma zu bekommen, und dann habe ich mich entschieden, mich zur Feuerwehr zu melden. Der Brandschutz, wie das damals hieß, hatte ein großes Problem: Es waren komplett die Männer ausgegangen, denn die waren inzwischen alle im Krieg. Also waren wir ein Frauenlöschzug, und als ich dazustieß – übrigens gegen den Willen meiner Mutter –, war ich die Jüngste dort. Sie nahmen mich mit Kusshand, denn ich war eine gute Turnerin und kannte keine Angst vor der Höhe.

Hilde hat damals gelernt, in Sekundenschnelle aufzuspringen. Sobald sie von jemandem angetippt wurde, stand sie mit einem einzigen Satz neben dem Bett. Hilde Anna Minna Raabe war die jüngste Tochter einer Familie, die seit Generationen in Lübeck lebte und Handel betrieb. Sie hatte drei ältere Brüder, denen sie mit ihrer Energie schon früh das Wasser reichte. Nesthäkchenattitüden kannte die ausgesprochene Vatertochter nicht. »An dir ist ein Junge verloren gegangen«, war der Kommentar ihrer Mutter, die fast daran verzweifelte, dass das Kind sich nur mit Widerstand in nette Kleidchen stecken ließ. Für ihre drei älteren Brüder war sie »die wilde Hilde«; eine, mit der man Pferde stehlen konnte, und eine kleine Schwester, mit der man alle möglichen Streiche spielte, statt sie zum Opfer zu machen; eine, die sich den Respekt der großen Jungen schnell erwarb. Hilde hatte noch eine ältere Halbschwester, die ihre Mutter in die Ehe mit Hildes Vater einbrachte, aber die war vierzehn Jahre älter und taugte Hildes Meinung nach nicht als Vorbild. Die Mutter war es, die Hilde zum Sport schickte, als sie das Kind nicht mehr zu bändigen wusste. Lübecks Turnerschaft war Mutter Raabe dafür sehr dankbar, denn das neue Talent jonglierte und tanzte grandios, fügte sich problemlos in die Gruppe ein und gewann – seit sie acht Jahre alt war – für ihre Stadt jede Menge Pokale bei Wettbewerben.

In der Schule galt sie als begabt und als vorlaut, denn Hilde ging nichts schnell genug. Sie war ein renitentes Kind, das nicht einsehen wollte, wozu es in der Schule fünfzigmal am Tag den Arm zum Hitlergruß in die Höhe strecken sollte. Dabei gehorchten alle anderen Kinder ihren Lehrern. Nachdem Hilde für ihre Verweigerung bestraft wurde, ging ihr Arm nur halb in die Höhe, und sie murmelte etwas Unverständliches, das nur mit viel Fantasie als »Heil Hitler« zu deuten war, sie aber nicht mehr den Strafen der Lehrer auslieferte. Hildes Leistungen waren so gut, dass die Lehrer sie sowieso nicht dauerhaft unter Druck setzen konnten, sie dachte ebenso schnell, wie sie rannte.

Nach der mittleren Reife verließ sie die Schule, obwohl sie problemlos das Abitur geschafft hätte. Das hatte mit dem Wunsch der Eltern zu tun: Sie wollten, dass die widerspenstige Tochter eine »ordentliche Lehre« machte. Also lernte Hilde in einem Büro und wurde Kaufmannsgehilfin. »Giftfabrik« nennt sie den Betrieb, einen Großhandel für pharmazeutische Produkte, noch heute. An ihrem künftigen Beruf als Kaufmannsgehilfin gab es nichts, was ihr auch nur annähernd Spaß bereitete. Ständig musste sie sitzen und Stenografie lernen, die Telefonzentrale mit lauter Kabeln und Knöpfen bedienen, Korrespondenzen des Chefs niederschreiben.

Die Büroarbeit habe ich schnell gehasst. Immer sitzen und tippen. Büro, Büro, Büro, aber ich wollte nach draußen. Mein Chef war auch noch so ein ordentlicher Apotheker, ein, wie wir das damals nannten, »feiner Pinkel«. Wenn auf unseren Schreibtischen nicht alles im rechten Winkel lag oder man sich im Stenografieren mal überlegen musste, welches Kürzel das ist, dann wurde er jährzornig und richtig fies und schnauzte laut herum. Ich hatte Probleme damit, mich dieser preußischen Art unterzuordnen, insofern war ich als Feuerwehrfrau viel glücklicher, auch wenn das auf eine andere Art anstrengend war. Wir löschten nachts und mussten alle am anderen Morgen wieder an unseren Arbeitsplätzen sein. Nachts hatten wir oft grauenvolle Bilder von den Verletzten gesehen, die Opfer der schrecklichen Brandbomben geworden waren. Aber ich war einfach froh, etwas tun zu können, helfen zu können, anstatt im Luftschutzkeller zu versauern. Und diese Löscharbeiten waren eine ganz große Herausforderung, wir mussten manchmal unglaublich improvisieren. Im Winter waren die Leitungen eingefroren, da scheiterten wir und mussten zusehen, wie ein Haus nach dem anderen abbrannte. Das war fürchterlich, denn man entwickelt schnell eine Feuerwehrfrauenehre und möchte retten und löschen, aber dann geht es nicht, weil es zu kalt ist.

Hildes Ausbildungsbetrieb war nicht irgendein Geschäft, sondern der größte pharmazeutische Handel im Norddeutschland jener Zeit. Die Lazarette platzten aus allen Nähten, das Geschäft florierte, denn nie war der Bedarf an Verbandstoffen und Medikamenten größer. Er spülte dem Geschäft jede Menge Geld in die Kasse, aber die männlichen Mitarbeiter wurden nach und nach in den Krieg eingezogen, und auch die Frauen, die noch im Großhandel arbeiteten, verschwanden manchmal von einem Tag auf den anderen. Mittlerweile wurde die Stadt immer öfter bombardiert. So tauchten manche Mitarbeiterinnen einfach nicht mehr in der Firma auf, weil sie vor dem Bombenhagel davonliefen, oder sie waren in den Wirren der Angriffe gar über Nacht zu Tode gekommen.

Hilde musste nun auch Tätigkeiten übernehmen, für die sie sich nicht geeignet fühlte. Als eine Kollegin nicht mehr erschien, forderte der Chef sie auf, das Diktaphon zu bedienen. Das war ein altes, sehr schwerfälliges Diktiergerät mit großen Pedalen. Die galt es simultan zu bedienen, während sie den vom Chef diktierten Text in die mechanische Schreibmaschine tippte.