Freakhouse - Daniel Grow - E-Book

Freakhouse E-Book

Daniel Grow

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Beschreibung

Indigo wird erpresst. Sie ist im Begriff alles zu verlieren, was ihr am Herzen liegt. Glücklicherweise hat sie ihre besten Freunde an ihrer Seite, die ihr den Rücken stärken und alles für sie tun, um das Schlimmste abzuwenden. Neben neuen Problemen, tauchen alte und neue Freaks wieder auf und bringen das Leben von Indigo, Jen, Berry und Kimberly ziemlich durcheinander. Nebenbei wird auch noch ein dunkles Geheimnis von Jens Tante enthüllt und alle sind überrascht, wer in dieser Geschichte mit verwickelt ist.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 1

Indigo schritt zur großen Eingangstür von ihrer Fabrikhalle. Es hatte geklingelt. Es war zwar nicht mehr ihr Hauptwohnsitz wie früher. Ihre Wohnung war ja jetzt das riesige Loft ein paar Straßen weiter von hier. Aber früher, wo sie keinen Erfolg mit ihren Ausstellungen hatte, diente diese alte Fabrikhalle als ihre kreative Werkstatt und gleichzeitig als Wohnung. Auch wenn es im Winter mehr ein Überleben als ein Wohnen war. Trotz den fünf aufgestellten Heizstrahlern, wo sie vier in ihrem Wohnbereich stehen hatte und einen direkt neben ihren großen Arbeitstisch, wo sie ihre Werke zusammen baute, konnte man nicht den kalten Wind ignorieren, der sich jeden Winter durch die Fensterritzen, wie ein ungebetener Gast, zu ihr gesellte. Wenn sie an die schwere Zeit zurückdachte, war es eine coole Zeit gewesen. Ihre beste Freundin Jennifer, hatte sie immer angetrieben nicht aufzugeben, weil sie der festen Überzeugung war, dass sie irgendwann mal einen Durchbruch, mit ihren fragwürdigen Ausstellungen, erreichen würde. So saßen Jen und sie in den kalten Winternächten hier in ihrer Gedankenwerkstatt, eingehüllt in vier Kleiderschichten, mit Schal und Mütze und tranken heiße Suppe aus alten Bechern, um die Kälte aus ihren Körpern zu vertreiben. Jetzt war sie in der Kunstszene berühmt. Und als blauhaarige Künstlerin sich einen festen Namen gemacht. Die Aufträge kamen wie am Fließband hinein. Indigo öffnete langsam die Tür und erblickte ein paar Briefe, die vor der Tür abgelegt wurden. Kein Briefzusteller gab ihr mehr persönlich die Post an der Tür ab. Es hatte sich vermutlich in der Postwelt herum gesprochen, wie sie vor Wut mit einem abgerissen Arm von ihrer Statur hinter einem ihrer Kollegen gejagt war und aus ihrer Werkstatt vertrieben hatte. Schlafentzug, literweise Kaffee und einen enormen Selbstdruck endlich etwas Kreatives zustande zubringen, hatte sie wie eine Verrückte aussehen lassen.

Ihre blauen Haare standen ihr in alle Himmelsrichtungen ab, dass man glauben konnte, sie hätte sich regelmäßig Elektroschocks bekommen. Die geröteten Augen, dazu die vielen Becher Kaffee und die Tatsache dass sie vor Schreck einen Arm von ihrer Statur abgerissen hatte, als der Postbote fröhlich ihre heiligen Hallen betrat, hatte sie durchdrehen lassen.

Seit diesem Tag an, hatte sie nie wieder einen Briefzusteller vor ihrer Tür blicken lassen. Auch wenn sie jetzt einen anderen Wohnsitz hatte, die Post ließ sie weiter hier in die Werkstatt kommen. Sie liebte es, der Schrecken der Briefzusteller zu sein. Indigo bückte sich und zog die drei Briefe unter dem Stein hervor. Wenigstens hatten die Postboten, den Anstand ihre Post mit einem Stein zu beschweren, so dass sie nicht vom Wind wegflog. Sie schaute auf die Absender.

„So dann wollen wir mal schauen“, dachte Indigo und betrachtete die Umschläge nach einander. Der erste Brief war von ihrer Mutter.

„Würg. Was will die denn?“, sagte Indigo zu sich selber und riss diesen auf. Es fiel ihr ein gelber Zettel entgegen.

Wo drauf stand:

Melde dich! Mutter

Indigo verdrehte genervt die Augen und stopfte den Zettel zurück in den aufgerissenen Briefumschlag.

„Den Sinn einem Smartphone hat sie immer noch nicht begriffen. Oder mich mal über Whatsapp anzuschreiben.“ Dachte sich Indigo und schaute auf den zweiten Brief. Dieser war etwas Dicker und sah nach einer Einladung aus.

Es war eine Einladung. Indigos Lächeln gefror und verschwand aus ihrem Gesicht, als sie sah, von wem diese geschickt wurde.

„Oh mein Gott!“, sagte Indigo halblaut und zog ihr Handy aus der Hosentasche und drückte die Kurzwahltaste. Die Verbindung wurde aufgebaut und nach dem dritten Klingeln war Jen am Telefon.

„Du wirst es nicht glauben, von wem ich gerade eine Einladung zur Hochzeit bekommen habe.“ Sagte Indigo und warf wieder ein Blick auf die Karte.

„Na da bin ich aber mal gespannt.“ Jennifer und versuchte den Lärmpegel zu entkommen, der von zwei Handwerkern im Flur veranstaltet wurde.

„Wo zum Teufel bist du? Es ist ja wahnsinnig laut bei dir?“

Jennifer wechselte in die Küche und zog die Tür hinter sich zu und war froh, dem Lärm für einen kleinen Augenblick aussperren zu können.

„Wir bekommen heute die neue Haustür. Eigentlich sollte sie ja nur repariert werden. Aber das ganze Holz war so vergammelt. Jetzt wird sie komplett ausgetauscht.“

Indigo schlenderte langsam zurück in ihre Werkstatt und ließ die große Tür offen. Heute brauchte sie ein wenig Durchzug. Sie hatte die letzte Nacht durchgearbeitet und die Luft roch abgestanden und nach Lacken und Farben.

Es war zwar ein sonniger Herbsttag, aber die Luft war kühl und kündigte schon den Winter an.

„Echt schade. Ich fand es witzig, immer über die Terrasse ins Haus laufen zu müssen. Das wird mir irgendwie fehlen.“

„Ich bitte dich! Ich habe ja keine ruhige Minute, wenn ich mal aus dem Haus bin, wenn ich etwas einkaufen muss. Jeder kann praktisch hier ins Haus rein, wenn er weiß, dass die Tür nur angelehnt ist und er über die Terrasse unbemerkt ins Haus gelangen könnte.

Schließlich fange ich nächste Woche wieder das Arbeiten an. Und da möchte ich mich nicht jede Minute fragen müssen, ob genau in diesen Moment ein paar Einbrecher meine Sieben Sachen nach draußen schleppen und sich damit aus dem Staub machen.“

„Du hast ja Recht. Aber Kai ist doch da. Du hast doch tagsüber einen menschlichen Wachhund zu Hause.“

Indigo hörte Jennifer herzhaft Lachen.

„Kai schläft wie ein Bär. Die könnten ihm beim Schlafen das Bett abbauen und damit verschwinden, das würde er gar nicht merken!“

„Du bist wenigstens nicht so bescheuert wie deine Nachbarin von schräg gegenüber, die ihren Wohnungsschlüssel einen völlig Fremden im Zug anvertraut hat und sich dann wundert, dass ihre komplette Wohnung leer geräumt war, als sie von ihrem Kurzurlaub nach Hause kam.“

Jen lachte laut auf. Sie musste bei dieser Erinnerung breit grinsen. Es war der Sommer, wo sie in die Freakstreet gezogen war. Und die durch geknallte Nachbarin mitten in der Nacht auf der Straße hockte und die halbe Nachbarschaft mit ihrem lauten Geheule angelockt hatte, um dann sich als leidendes Opfer auszugeben. Obwohl es für jeden offensichtlich war, dass ihre eigenen Dummheit es war einen fremden Mann auf einer Zugfahrt ihren Wohnungschlüssel und Adresse zu geben, der rein zufällig ein klein Krimineller war.

Dieser hatte dann seine Chance genutzt und die komplette Wohnung leer geräumt. Und die Nachbarin starrte nur an nackte Wände, als sie von ihrem Kurzurlaub nach Hause kam.

„Niemand ist so bescheuert wie diese Verrückte. Aber wir schweifen völlig vom Thema ab. Wer hat dich eingeladen?“

„Ach ja. Stimmt. Mein Cousin Tillmann Opel hat mir eine Einladung zu seiner Hochzeit geschickt.“

„Das ist jetzt ein Scherz! Oder? Popel Tilli will heiraten? Wie hat er denn das geschafft?“

Indigo zuckte mit ihren Schultern, auch wenn Jennifer es nicht sehen konnte. Aber es war ein natürlicher Reflex von ihr.

„Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls ist ein Foto mit auf der Einladung.“

„Ja nun sag schon. Wie sieht die Braut aus?“ Fragte Jennifer gespannt. Indigo runzelte die Stirn. Erst jetzt sah sie den Fehler.

„Es ist nur ein Foto von ihm auf der Einladungskarte.“

Indio betrachtete das Bild von ihrem Cousin genau. Sie drehte die Karte noch einmal um und betrachtete die leere Rückseite, um auf Nummer sicher zu gehen, dass sie nichts übersehen hatte.

Seine Hasenzähne, die zu kleinen Augen, die durch das armdicke Brillenglas glotzen und das rechte Ohr, was wie eine kleine Satellitenschüssel von seinem Ohr abstand, als wäre er immer ständig auf der Suche nach einen passenden Kanal.

„Na ja, vielleicht ist die Braut klein und du hast sie noch nicht auf dem Foto entdecken können.“ Meinte Jennifer mit ihrem überzogenen Optimismus.

„Jen! Es ist ein Porträtfoto von ihm. Also entweder seine Braut ist imaginär. Oder der Fotograf hat sich geweigert die billige aufgepumpte Sexpuppe zu fotografieren, die er mit dabei hatte.“

„Oder er heiratet sich selbst.“ Ergänzte Jennifer zum Scherz und musste selber über ihren Witz lachen, weil sie das Bild von ihm vor ihrem geistigen Auge sah.

„Na wundern würde mich das nicht. Aber das bekomme ich heraus. Ich muss eh noch zu meiner Mutter. Sie hat mir eine Nachricht geschickt, dass ich mich melden soll.

Dann kann ich das gleich erledigen und obendrein ein paar Informationen über die unsichtbare Braut aus ihr herauskitzeln.“

„Ja tue das. Deine Mutter hat dir also eine SMS geschickt?“

Indigo nahm den gelben Zettel von ihrer Mutter in die Hand und betrachtete ihre feine verschnörkelte Schrift, die sie mit einem Füller auf das gelbe Blatt hinterlassen hatte.

„Ja in ihrer Welt ist das wohl eine SMS. In unserer Welt – na ja lassen wir das. Ich melde mich später bei dir.“

„Ja mach das. Ich muss schauen, was die Bauarbeiter machen.“ Sagte Jennifer und öffnete die Küchentür und trat wieder in den Lärmpegel, bevor sie die Verbindung unterbrach.

*

Indigo packte ihre Post in die Handtasche. Der dritte Brief war von der Hausverwaltung. Wahrscheinlich irgendeine Nebenabrechnung oder Mieterhöhung.

Allerdings konnte sie sich eine Erhöhung der Miete kaum vorstellen, wie der Zustand dieser alten Lagerhalle war, müsste sie selber Miete von der Hausverwaltung verlangen, da sie es so lange in dieser Höhle ausgehalten hatte. Den Brief könnte sie später lesen.

Sie nahm ihr Smartphone wieder in die Hand und drückte auf Kontakte und scrollte runter bis zu dem Eintrag: Hölle.

Sie drückte kurz auf die Telefonnummer und die Verbindung zu ihrem Elternhaus wurde aufgebaut. Das Verhältnis zu ihren Eltern war schon immer schwierig gewesen.

Schon als kleines Kind hatte Indigo ihren eigenen Kopf und schaffte es, fast immer ihren Willen durch zusetzten. Mit siebzehn jobbte sie neben der Schule an einer Tankstelle und verdiente sich so das Geld für die Miete für ihre alte Lagerhalle, wo sie dann von jetzt auf gleich auch einzog. Ihrer Mutter Isabella kam damit nie zurecht. Es war schon schwer für sie, dass ihre Tochter seit Jahren mit dieser blauen Farbe im Haar durch die Welt stolzierte und sie einfach nichts dagegen unternehmen konnte.

Indigos Vater Erik dagegen war stolz auf seine einzige Tochter und stand immer hinter ihr. Auch als sie das Elternhaus verließ, um in ihre Gedankenwerkstatt zu ziehen, wie er es immer so liebevoll nannte. Er wusste, dass seine Tochter einen starken Willen hatte und gleichzeitig ein Freigeist war, den man einfach nicht einsperren konnte. Sie sollte ihren eigenen Weg finden.

Er baute ihr eine Küchenzeile und ein kleines Badezimmer ein und verbrachte die meiste Freizeit bei seiner Tochter in der alten Lagerhalle.

Indigo arbeitete an ihren Kunstwerken und ihr Vater versuchte, die neue Umgebung seiner Tochter so wohnlich wie möglich herzurichten. Damit sie in ihren eigenen ausgewählten vier Wänden wohnen konnte.

Das Einzige was fehlte, war eine Heizung.

Im Winter machte er sich immer Sorgen um seine Tochter, die unter Heizstrahlern und einem Berg Decken und eine Handvoll Wärmflaschen sich nachts gegen die Winterkälte schützte. Jeden Morgen vor der Arbeit kam er bei ihr vorbei und brachte ihr einen heißen Kaffee und frische belegte Brötchen und süßen Kuchen mit, für den Nachmittag. Indigo sah immer seine Sorgenfalten auf seiner Stirn auftauchen, wenn er jeden Winter, Morgens an ihrer Tür klopfte.

„Mach dir keine Sorgen Papa. Mir geht es gut. Ich passe schon auf mich auf. Aber ich muss das hier einfach tun.“

„Ich weiß, mein Kind“, sagte er immer und trank einen großen Schluck Kaffee aus seinem Pappbecher und lächelte sie über den Rand an.

*

Es klingelte nur einmal und Indigos Mutter war in der Leitung.

„Wie unheimlich“, dachte Indigo. Als hätte sie sich vor das Telefon gehockt, nachdem sie den Brief weggeschickt hatte.

„Na endlich meldest du dich mal. Das wurde aber auch Zeit! Hast du meine Nachricht bekommen?“ Die Stimme von ihrer Mutter klang zwar ruhig, wie immer, aber Indigo konnte auch die Spur von Vorwürfen heraushören, dass sie sich jetzt erst bei ihr meldete.

„Es ginge vielleicht mit unserer Kommunikation schneller, wenn du mal dein Handy benutzen würdest.

Du hättest doch einfach nur eine Nachricht über Whatsapp schicken brauchen, dann hätte ich dich sofort zurückgerufen.“

„Ach Kind! Ich weiß einfach nicht wie dieses blöde Ding funktioniert. Jedes Mal wenn ich anschalte, soll ich irgendein Geheimwort eingeben oder so etwas.“ Indigo verdrehte ihre Augen. Sie meinte den Pin. Bei ihrem letzten Handy hatte ihr Vater den Pin ausgeschaltet.

Weil sie es in der Woche mehrfach schaffte, ihr Handy immer wieder zu sperren. Und dann war sie für Tage wieder mal nicht erreichbar.

Ihre Mutter war Lehrerin in einer Grundschule und unterrichtete Kunst. Sie konnte stundenlang über berühmte Maler sprechen, aber wie man von ihr verlangte ein Smartphone zu bedienen, versagte sie schon nach den ersten drei Minuten. Diese neuen Smartphones waren für sie wie ein Buch mit sieben Siegeln. Es war offensichtlich, dass sie ihr jetziges Handy hasste.

Indigos Vater hatte ihr ein neues zum Geburtstag geschenkt. Sie war erfreut über dieses Geschenk, aber keiner hatte ihr gezeigt, wie dieses Gerät funktionierte.

Und langsam gingen ihr die Ausreden aus. Immer zu behaupten, dass der Akku leer sei oder sie es vergessen hatte mitzunehmen, nahm ihr keiner mehr ab.

Und es war ihr peinlich, ihren eigenen Mann danach zu fragen.

„Ich bin praktisch auf den Weg zu euch. Und dann schauen wir uns mal endlich dein neues Handy an und werden es mit Leben füllen. Und ich zeige dir dann genau, wie alles funktioniert.“

Indigo hörte ihre Mutter tief einatmen. Sie war in letzter Zeit ziemlich nah am Wasser gebaut. Und Indigo hatte keine Ahnung wieso. Sie konnte sich schon vorstellen, dass ihre Mutter sich selber darüber ärgerte, dass sie mit der neuen Technik einfach nicht zurechtkam. Obwohl sie zwar Hilfe brauchte, aber aus Eitelkeit einfach nicht danach fragen konnte.

„Das würdest du wirklich für mich tun?“ Hörte Indigo die Stimme von ihrer Mutter, die krampfhaft versuchte, gegen ihren dicken Kloß im Hals anzukämpfen.

Sie konnte sich die Unterlippe ihrer Mutter vor ihren geistigen Augen vorstellen, wie diese anfing zu beben, um einen emotionalen Heulanfall zu verhindern.

Indigo nahm ihre Schlüssel und schnappte sich mit der freien Hand ihre Handtasche, nachdem sie sich ihr Handy zwischen ihrer linken Schulter und Kinn geklemmt hatte.

Gott was war denn mit ihrer Mutter los? War sie in den Wechseljahren? Das war ja nicht zum Aushalten. Der Abend bei ihren Eltern würde doch länger werden als ursprünglich geplant.

In Gedanken strich sie den Plan, später ein wenig in der Halle zu arbeiten. Es sei denn sie könnte nachts wieder nicht schlafen, weil ihre Ideen sie wieder vom Schlafen abhielten.

Dann würde sie wohl die Nacht hier verbringen und bis zum Sonnenaufgang hier arbeiten und dann irgendwann erschöpft auf ihrem alten Bett einschlafen. Allerdings wäre dann ihr ganzer Tagesrhythmus wieder aus dem Gleichgewicht geraten und sie würde wieder nur nachts aktiv und mehr im Nachtleben unterwegs sein, als in ihrer Werkstatt arbeiten.

Der Erfolg hatte auch seine Schattenseiten. Sie konnte einfach nicht mehr so viel abhängen und das Nachtleben unsicher machen, wie früher. Spontan wegzugehen war immer cooler als geplant ein Wochenende sich in der Stadt zu vergnügen. Sie hasste es, einfach per Termin Spaß zu haben.

Solange Jennifer Urlaub hatte, würde sie jede freie Minute nutzen, um mit Jen das Nachtleben unsicher zu machen. Aber es kamen viele Aufträge rein und die mussten fertig gestellt werden. Dafür verlangte sie dann dementsprechend auch das angemessene Honorar.

„Natürlich Mum. Und wenn ich dir alles gezeigt habe wie dein Handy funktioniert, dann müssen sie es dir mit einem Messer vom Ohr abschneiden, weil du es nicht mehr aus der Hand legen willst.“ Sagte Indigo und steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte die Eingangstür zu. Immer noch ihr Handy zwischen Kinn und Schulter geklemmt, warf sie ihren Schlüssel in ihre große Handtasche.

„Gott Kind! Jetzt werde bloß nicht so ordinär. Du bist doch bestimmt schon auf der Straße unterwegs.“

„Ja Mum bin ich. Ich werde meine Augen auf meine Füße richten und mit beiden Händen meinen ordinären Mund zuhalten. Damit keiner etwas mitbekommt.

Allerdings wird das Autofahren dadurch für mich eine neue Herausforderung werden.“

Indigo hörte ihre Mutter genervt ins Telefon stöhnen.

Sie konnte sich bildlich ihren dazu passenden Gesichtsausdruck vorstellen.

„Höre jetzt auf mit diesem Blödsinn! Fahre vorsichtig und Bummel nicht so. Um sieben gibt es Essen.“ Hörte Indigo noch ihre Mutter Sagen und dann das laute Klicken. Ihre Mutter hatte einfach aufgelegt.

Indigo schaute überrascht auf ihr Smartphone. So eine Reaktion hatte sie jetzt nicht von ihrer Mutter nicht erwartet. Sie warf ihr es in die Handtasche und schlenderte zu ihrem Auto. Das Auto war notwendig.

Weil sie es leid war, sich immer den Wagen von Jen zu leihen.

Sie verdiente zurzeit mit ihren Ausstellungen viel Geld, war aber immer zu faul sich einen Wagen zu kaufen.

Aber irgendwann hatte sie genug vom U-Bahn fahren und brauchte auch einen fahrbaren Untersatz, um auch mal ein paar neue Kunstwerke von ihrer Werkstatt zu den Ausstellungen zu fahren.

Der Auslöser war ihre letzte Fahrt in der Hamburger U-Bahn gewesen. Als Indigo mit ihrem fast zwei Meter großen Metallmann versuchte in den U-Bahnwagen einzusteigen und die steife Metallhand von ihrem Kunstwerk beim Drehen einer alten Dame, die Perücke vom Kopf zog und über ihr wackelte, als hätte ein Angler ein Büschel grauen Seetang aus dem Weiher gezogen.

Indigo warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz und musste selber grinsen über das Erlebnis. Jennifer hatte sich fast in die Hosen gemacht vor lachen, als sie ihr davon erzählte und sie von ihr verlangte, sie müsse mitkommen, weil sie jetzt unbedingt ein eigens Auto bräuchte.

Indigo schüttelte diese Erinnerung ab und startete den Wagen. Es war weißer VW-Kombi, der schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Aber noch wie eine Eins fuhr. Sie hatte ihr erstes Auto mit blauen Farbbomben beschmissen und fiel so gleich im Straßenverkehr damit auf.

Ihr Vater blutete das Herz, als er das erste Mal sah.

„Gott Indigo! Wie kannst du nur so einen alten Kultwagen nur so verunstalten?“ Indigo war etwas gekränkt. Schließlich hatte diese alte Karre total langweilig ausgesehen. Und sie hatte es mit dieser Idee aufgepeppt und wieder zum Leben erweckt. Indigo lächelte, als sie langsam aus der Parkbucht raus rollte und sich auf dem Weg zu Ihren Eltern machte.

*

Indigo hatte Glück, sie fand direkt vor dem Haus ihrer Eltern einen freien Parkplatz. Sie rollte in die Parklücke und zog die Handbremse. Sie stellte den Motor aus und zog den Schlüssel und stieg aus. Sie zog ihre Handtasche vom Beifahrersitz und schloss den Wagen ab.

Es war ihr egal, dass sie völlig schief eingeparkt hatte und der rechte Vorderreifen auf dem Gehsteig stand und das Hinterteil vom Wagen etwas auf die Straße war.

Einparken war noch nie ihr großes Talent gewesen.

Wieso sollte sie jetzt damit anfangen zu üben?

Ihre Mutter stand bereits an der Eingangstür und wartete auf sie. Sie schüttelte nur leicht den Kopf und musste lächeln, als sie sah, wie ihre Tochter den Wagen versucht hatte in diese enge Parklücke zu quetschen.

Indigo lächelte, als sie ihre Mutter sah und gab ihr zur Begrüßung einen Kuss auf ihre linke Wange.

„Mein Fahrlehrer hätte mir ein paar Ohrfeigen verpasst, wenn ich so den Wagen abgestellt hätte“, sagte sie und schloss die Tür hinter den beiden, als Indigo an ihr vorbei in den Flur ging und ihre Tasche auf dem braunen Tisch abstellte.

„Dein Fahrlehrer hatte auch schon Fred Feuerstein Unterrichtsstunden gegeben. Da würde mich dieses archaisches Verhalten auch nicht wundern.“

„Dann kauf dir einfach ein kleineres Auto. Dann kommst du auch besser in die Parklücken rein.“

Indigo bekam für ein paar Sekunden die ersten Fluchtgedanken. Aber sie versuchte, diesen innerlichen Drang einfach zu ignorieren. Schließlich war sie ja hier um etwas über die unsichtbare Braut zu erfahren, die Cousin Tillmann ja bald ehelichen wollte.

„Mum, lassen wir das Autothema doch einfach fallen und gehen zum Nächsten über.“ Sagte sie und folgte ihrer Mutter in die Wohnküche und setzte sich auf einen Stuhl und schaute ihr zu, wie sie weiter die Kartoffeln schälte.

„Hast du endlich einen Mann kennen gelernt?“ Fragte sie neugierig nach und warf eine fertig geschälte Kartoffel in den Kochtopf.

Indigo musste grinsen und überschlug die Anzahl der Männer, die sie die letzten Tage bei Ausstellungen oder im Nachtleben kennen gelernt hatte und mit nach Hause genommen hatte. Es waren alle one night stands gewesen.

Außer Peter, der war so gut, der durfte die Nacht bei ihr verbringen und es ihr nach dem ausgedehnten Frühstück noch einmal besorgen. Also zählte er nicht dazu. Alle anderen hatte sie nach dem Liebesspiel vor die Tür gesetzt.

„Ehrlich gesagt, antwortete Indigo und machte eine kurze Pause, bevor sie weiter sprach, um ihre Gedanken an ihre Männer zu ordnen. Ich habe den richtigen Mann noch nicht gefunden.“

Eine faustdicke Lüge. Aber welche Mutter wollte schon von ihrer einzigen Tochter hören, dass sie es liebte Single zu sein. Ihren Beruf und ihr Leben liebte und es ihr gefiel, die Kerle mit nach Hause zu nehmen, wann sie Lust dazu hatte. Sie hatte keine Zeit und auch keine Lust sich nach einem richtigen festen Partner umzusehen.

Sie hatte zurzeit zu viel im Kopf und ihr Terminplan war eh ständig voll. Auch wenn dieser Terminplan nur aus ein paar Zetteln mit drauf gekritzelten Daten war und den Rest hatte sie in ihr Smartphone eingespeichert.

Regelmäßig gab sie ihre Notizen Kimberly, die ihre persönliche Assistentin war. Und sich um alles kümmerte. Termine, Ausstellungen und den Zahlungsverkehr. Kim war einfach nur goldwert. Und neu an ihrer Seite und in ihrem Freundeskreis war Berry.

Sie nahm Kimberly Arbeit ab und hatten beide händevoll zu tun. Alles zu organisieren, so dass Indigo sich um nichts selber mehr kümmern musste.

Sie brauchte sich nur noch auf ihre Arbeit konzentrieren.

Mit ihren zwei fleißigen Assistentinnen, die ihren Rücken freihielten, war Indigos Leben eine Spur leichter geworden.

Für eine feste Beziehung hatte sie zurzeit keine Nerven.

Und Indigo wusste auch nicht, wo sie noch diese Zeit abzwacken sollte.

„Ja wenn ich auf Schlaf verzichte, dann hätte ich Zeit für eine feste Beziehung. Aber da wäre da noch das Thema mit dem verliebt sein. Auch so eine knifflige Sache, die mir im Leben bis jetzt auch nur erst drei Mal passiert ist.“ Dachte Indigo die ganze Zeit und war so in ihren Gedanken versunken, dass sie ihre Mutter komplett ausgeblendet hatte.

„Was?“, fragte Indigo irritiert, als sie merkte, dass ihre Mutter sie anstarrte. Nachdem Blick, wartete sie auf irgendeine Antwort. Auf eine Frage, die Indigo offensichtlich völlig überhört hatte.

„Kind wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken? Ich hatte dich gefragt, ob du nicht auch mal irgendwann heiraten möchtest?“

Indigos Augen wurden groß bei dieser Frage. Sie ließ die Luft geräuschvoll aus ihren Mund ab.

„Oh Mum bitte! Nicht schon wieder dieses Thema. Sollte ich irgendwann mal heiraten, erfährst du es als Zweites.

Versprochen!“

„Und wer bitte erfährt es als Erstes?“ Indigo konnte deutlich die Enttäuschung in der Stimme von ihrer Mutter hören. Sie stand auf und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und umarmte sie.

„Dummerchen. Die Erste bin ja wohl ich, die es erfährt.

Nun mach dir mal nicht immer so viele Sorgen. Alles läuft doch wunderbar gerade.“

Ihre Mutter seufzte schwer und legte den Sparschäler zur Seite. Sie wischte sich kurz ihre Hände an der geblümten Schürze ab, die sie trug und nahm das Gesicht von Indigo in ihre weichen Hände. Indigo schaute ihrer Mutter tief in die braunen Augen. So kannte sie bis jetzt noch gar nicht. Die anstehende Hochzeit von Cousin Tillmann, musste ihrer Mutter so eine Art Gefühlsachterbahn ausgelöst haben.

„Ich möchte doch nur, dass du glücklich wirst.“

Indigo nahm langsam die Hände ihrer Mutter aus ihrem Gesicht.

„Mum, ich bin glücklich. Wirklich. Kann es sein, dass du etwas durch den Wind bist, weil Popel Tilli früher heiratet als ich?“

Ihre Mutter zog ihre rechte Augenbraue hoch und sofort verschwanden die Sorgen aus ihrem Gesicht.

„Höre auf, ihn so zu nennen! Es grenzt schon an ein Wunder, dass sie unseren Zweig der Familie überhaupt zur Hochzeit eingeladen haben.“

„Worauf spielst du jetzt schon wieder an?“ Fragte Indigo nach und wusste, genau was ihre Mutter meinte.

„Das weißt du ganz genau. Auch wenn das schon Jahre her ist. Und ich möchte, dass unserer Familie bei der Hochzeit nicht unangenehm auffällt. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Oh bitte! Ich hatte die Sache mit dem Pullover schon längst vergessen. Aber bitte, wenn diesen Cousin dritten Grades, so wichtig für diese Familie ist, benehme ich mich natürlich.“

„Indigo! Es ist dein Cousin. Nichts mit drittem Grad oder so einen Quatsch. Schließlich ist er der Sohn von dem Bruder deines Vaters.“

„Mum ich bitte dich. Der ist so hässlich, der kann unmöglich mit uns verwand sein. Ihre Mutter musste ein Lächeln unterdrücken, als sie an Tillmann denken musste.

Aber sie hatte ihr Gesicht unter Kontrolle, auch wenn Indigo sie jetzt genau durchschaute. Aber sie wollte jetzt nicht unglaubwürdig ihrer eigenen Tochter rüberkommen. Da stellt sich gleich die nächste Frage, wie hat er es geschafft eine Frau zu finden, die ihn freiwillig heiraten will?“

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich gebe es ja zu, dass er keine Schönheit ist. Aber er gehört nun mal zur Familie. Darum bitte Indigo, benehme dich einen Tag lang. Das wirst du doch hinbekommen. Ich möchte nicht wieder so ein Desaster haben, wie vor ein paar Jahren an Weihnachten mit diesem Pullover für Tillmann.“

Indigo konnte sich ein breites Grinsen einfach nicht verkneifen, als sie sich an das Weihnachten vor ein paar Jahren erinnerte…

Kapitel 2

Tillmann war nie besonders nett zu ihr gewesen. Auch wenn ihre Eltern immer versuchten, die beiden Familien oft mit einander zu verbinden, um sämtliche Feierlichkeiten zusammen zu feiern, waren Indigo und er immer wie Feuer und Wasser. Tillmann war immer schon in der Schule das Klassenopfer gewesen. Viele dachten, das läge an seinem nicht vorteilhaften Aussehen. Aber er war schlau und behandelte trotz der Attacken seiner Mitschüler, alle als wären sie geistig beschränkt und nur er hätte den Durchblick auf die ganze Welt.

Es störte ihn nicht, dass man ihm Schiefohr oder Satellitenlauscher nannte. Er war immer Klassenbester und hatte auch einen höheren IQ als alle anderen in seinem Klassenzimmer. Allerdings machte er sich mit seiner überschlauen Art auch keine Freunde. Trotz seines hohen IQs korrigierte er jeden beim Sprechen oder hielt jeden Menschen auf dem er traf seine Fehler vor.

Selbst die Lehrkräfte waren von diesem Superschüler total angenervt. Sie zählten schon die Tage, wenn die Schule endlich für ihn vorbei war. Vor ein paar Jahren hatte Indigos Vater beschlossen, dass es sehr schön wäre, wenn beide Familien zusammen das Weihnachtsfest verbringen würden.

Alle waren von der Idee begeistert. Alle außer Indigo. Sie hatte einfach keine Lust, an diesem heiligen Tag auch noch von Cousin Tillmann zu hören, wie toll und wie schlau er war. Und wie alle ihn für sein unendliches Wissen in den Himmel lobten.

Und sie wurde dann immer mit ihm verglichen und ihre Tante und ihr Onkel schauten sie dann immer mit so einem mitleidigen Blick an, als wäre sie zu dumm sich den linken Schuh alleine zu zuschnüren.

Es war einen Monat vor Weihnachten, als die Familien beschlossen, das Weihnachtsfest zusammen zu feiern.

Indigos Tante Beatrice hatte Geburtstag und alle waren zum Abendessen geladen und saßen an einer reichlich gedeckten Tafel und aßen zur Feier des Tages einen saftigen Braten.

Indigo saß neben ihren Eltern und stocherte lustlos in ihrem Essen herum, als Cousin Tillmann sie etwas fragte.

Er saß ihr direkt gegenüber und Indigo konnte schon in seinem funkelenden Blick erkennen, dass er nur wieder etwas Fieses im Sinn hatte.

„Was schenkst du mir denn zu Weihnachten, INDIGO?“, fragte er und zog ihren ausgedachten Künstlernamen in die Länge, um sich darüber indirekt lustig zu machen.

Indigo schaute auf und guckte ihn direkt ins Gesicht. Sie war gerade den Monat zu Hause ausgezogen und war gerade dabei ihre alte Fabrikhalle wohnlich herzurichten. Es war eine schwierige Zeit für ihre Familie, dass alle bei diesem besonderen Thema etwas unter Spannung standen.

„Ich dachte da an ein Jahresabo für einen digitalen Fernsehsender. Die Antennen dafür hast du ja schon.“

Sagte Indigo trocken und deute kurz, mit ihrer Gabel, auf seinen schiefen Ohren. Sie hielt den Blickkontakt mit ihrem Cousin und aß ohne den Blick von ihm abzuwenden weiter.

Ihre Tante warf geräuschvoll die Gabel auf ihren Teller.

Sie konnte Indigo einfach nicht verstehen. Und am wenigstens verstand sie, dass ihre Schwägerin es einfach nicht schaffte, dieses Kind unter Kontrolle zu bringen.

„Ich verbitte mir diese Ausdrücke in meinem Haus“, fuhr sie Indigo vom Kopf der Tafel an. Tillmann grinste sie hinterlistig an. Er wusste genau, dass sie drauf ansprang und er es genoss, dass sich Indigo selber vor der ganzen Familie blamierte.

Indigo spürte, wie ihre Mutter neben ihr die Hand fast zerquetschte. Keiner bekam es mit, weil es sich unter dem Esstisch abspielte.

„Entschuldige dich gefälligst“, zischte ihre Mutter in Indigos Ohr.

Indigo wusste, wann sie verloren hatte. Aber das war kein Grund diesen Krieg aufzugeben. Tillmann war zwar schlau. Aber Indigo würde ihm etwas antun, was er sein ganzes Leben nicht mehr vergessen würde. Das schwor sie sich in diesen Moment.

„Tante Beatrice, es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich entschuldige mich für mein unpassendes Benehmen. Entschuldigt mich bitte, ich muss mich kurz frisch machen“, sagte Indigo und stand schnell von ihrem Platz auf und trat unter dem Tisch fest mit ihrem hohen Absatz auf Tillmanns Fuß. Der sofort sein Gesicht schmerzhaft verzog und los schriee.

„Oh Tillmann, wie ungeschickt von mir. Ich bin untröstlich“, sagte sie und schob ihren Stuhl unter dem Tisch.

Isabella wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Ihr war die Sache einfach nur peinlich. Indigo verließ das Esszimmer und schnappte sich ihren Mantel und ihre Handtasche und verschwand vor die Haustür, um eine Zigarette zu rauchen.

Es war Herbst und die Luft war feucht und kalt. Das ungemütliche Wetter machte Indigo in diesem Moment gar nichts aus. Sie zog gedankenverloren an ihrer Zigarette und grübelte, wie sie ihren Cousin eine lebenslange Lektion erteilen könnte.

Aber ihr fiel einfach nichts Passendes ein. Sie schnippte ihren Zigarettenstummel in das Blumenbeet und betrat wieder das Haus. Ihr würde etwas einfallen. Vielleicht hatte Jen ja eine Idee, die sie zusammen ausbauen konnten.

*

Eine Woche später saß Indigo beim Tierarzt. Ihre Mutter hatte sie verdonnert die Katze von der Nachbarin zum Impfen zu bringen, weil ihre Mutter keine Zeit hatte und die Nachbarin es nicht mehr alleine schaffte so lange Wege zu laufen. Als Druckmittel hatte ihre Mutter angedroht, dass ihr Vater keinen Cent mehr für die Miete dazu geben würde.

Da saß sie nun, im Wartezimmer, mit einer Katze in einer Sicherheitsbox, die sie ständig angefaucht hatte.

„Was für ein gemeines Drecksvieh.“ Dachte Indigo und betrachtete das Andenken auf ihren rechten Handrücken, was die Katze mit ihren Krallen hinterlassen hatte.

Gelangweilt schaute sie sich im Wartezimmer um und sah die üblichen Poster mit glücklichen Tiereltern. Dann sah sie einen unscheinbaren Zettel an der Wand neben dem Eingang hängen. Die Überschrift zog Indigo in ihren Bann.

- Stricke aus Katzen – oder Hundehaaren Ihnen einen Pullover oder andere Kleidungstücke, damit sie immer etwas von Ihrem Liebling den ganzen Tag bei sich haben!

Indigo stand von ihrem Platz auf und riss den Zettel von der Pinnwand, nachdem sie die Überschrift gelesen hatte. Sofort hatte sie einen teuflischen Plan in ihren Gedanken.

Cousin Tillmann würde etwas ganz besonders von ihr zu Weihnachten bekommen. Einen wunderschönen selbst gemachten Pullover, aus weichem kuscheligem Tierhaar.

Am besten aus einem Mix aus Hund und Katze. Sie war sich jetzt nicht mehr sicher, auf welches Tier er am meisten allergisch reagierte.

„Dieser kleine hässliche Troll aus der Hölle, hatte sich das letzte Mal über mich lustig gemacht.“ Dachte sich Indigo und faltete den Zettel und steckte sich ihn hinten in ihre Hosentasche.

Eine Stunde später war Indigo zu Hause und telefonierte mit der besagten Stricktante über den gewünschten Pullover.

„Also wenn ich sie recht verstehe, möchten Sie einen Herrenpullover aus Katzenhaar und Hundehaar. So eine Kombination habe ich noch nie gemacht.“

Indigo saß in ihrer alten Fabrikhalle, vor ihren Arbeitstisch und haute immer wieder mit der Stirn auf die Arbeitsfläche. Diese Frau war einfach schwer von Begriff.

Sie hatte Jen in ihrem diabolischen Plan mit eingeweiht und saß auf der Couch und hielt sich den Mund zu, weil sie beobachtete, wie ihre beste Freundin langsam am Verzweifeln war, dass die Frau auf der anderen Seite der Leitung endlich verstand, was sie genau von ihr wollte.

Am liebsten hätte Jen laut losgelacht.

„Ja genau! So ist es richtig. So möchte ich den Pullover gerne haben. Er soll etwas ganz besonderes werden. Für einen ganz besonderen Menschen. Der mir sehr nahe steht. Verstehen Sie?“

Indigo schaute rüber zu Jen und rollte genervt mit ihren Augen. Sie hielt ihre Hand über das Handy.

„Also entweder ist diese Frau völlig bescheuert oder sie baut sich auch ein paar Joints von ihren Tierhaaren.“

„Frag sie doch mal, ob sie ein paar Tierjoints mit in ihrem Sortiment hat.“ Kicherte Jennifer und hielt sich wieder ihre Hand vor dem Mund, als Indigo das Gespräch wieder aufnahm. Sie hatte nur zur Hälfte zugehört, da sie mit Jen herum gealbert hatte. Indigo drückte auf die Freisprechanlage, damit Jennifer den Rest vom Gespräch auch mit anhören konnte.

„Also ich bin mir nicht sicher, ob ich das, bis Weihnachten pünktlich schaffe. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Anfragen ich habe, meine Liebe.“

Indigo und Jen schauten sich verwundert an. Beide konnten es irgendwie nicht glauben, dass so viele Menschen entweder verrückt waren, so etwas zu verschenken. Oder es gab mehr Leute, die sich gegenseitig mit gestrickten Tierhaarkleidungstücken bestrafen wollten, als sie angenommen hatten.

Da hatten wohl mehrere Leute denselben bitterbösen Plan wie sie gehabt. Indigo wurde es langsam alles zu nervig. Sie hatte ein Ziel. Diesen Pullover. Und sie wollte ihn so schnell wie möglich.

„Gut ich verstehe Sie ja. Wie viel muss ich Ihnen bezahlen, damit ich diesen Pullover pünktlich zu Weihnachten bekomme?

Jennifer schaute gespannt zu ihrer Freundin. Hallo?“

Fragte Indigo laut nach, weil sie dachte, die Frau hatte das Gespräch beendet.

„Der Pullover würde Sie dann dreihundert Euro kosten!“

Jen schüttelte ihren Kopf, als das hörte und zeigte Indigo einen Vogel, als sie den Preis für den Pullover hörte.

„Wie lange brauchen Sie im Schnitt für so einen Pullover bis er fertig ist?“

„Ungefähr eine Woche. Wieso fragen Sie?“

„Ich lege noch einhundert Euro drauf, wenn Sie mir den Pullover bis Ende nächste Woche zusammen stricken. Da hätten sie mehr als eine Woche zeit. Ich denke, das ist doch ein faires Angebot von mir, oder?“

Jen schlug mit ihrer Hand gegen die Stirn, als sie hörte, was Indigo da gerade von sich gab.

„Habe ich Sie jetzt richtig verstanden? Sie wollen mir vierhundert Euro zahlen, wenn Sie den Pullover nächste Woche bei mir abholen können?“ Die Stimme aus dem Lautsprecher überschlug sich fast vor Vorfreude.

„Ja genau, das habe ich gerade gesagt. Oder spreche ich heute so undeutlich? Aber wenn Sie an dem leicht verdienten Geld kein Interesse haben. Ich hätte da sonst auch noch eine andere Dame, die das für weniger Geld für mich tun würde. Aber ich dachte, ich frage erst bei Ihnen nach, weil man mir Sie empfohlen hat. Sie machen noch Arbeit mit Qualität.“

Indigo wusste, dass sie etwas zu dick aufgetragen hatte.

Aber es zeigte seine Wirkung. Die Stricktante sprang sofort drauf an.

Aber Jen war sicher, dass es nur das Geld war, was diese Frau haben wollte. Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Schrank voll mit solchen selbst gestrickten Fellfetzen und machte sich eine Woche lang einen Gemütlichen, bevor sie das Geld von Indigo kassierte.

„Ich nehme den Auftrag an! Kein Check! Ich nehme es nur Bar in die Hand!“ Hörten sie die Stimme aus dem Lautsprecher. Die Stricktante war da wohl sehr genau, wenn es um die Bezahlung ging.

„Geht klar. Dann haben wir beide einen Deal und sehen uns nächste Woche. Ihre Adresse habe ich ja schon hier auf meinen Zettel stehen.“

„Dann bis nächste Woche.“ Sagte die Strickfrau und legte ohne Verabschiedung einfach auf.

„Also das wäre erledigt.“ Sagte Indigo und legte ihr Smartphone beiseite. Jennifer schüttelte ungläubig den Kopf.

„Sag mal, brennst du? Für das Geld hätte ich dir auch so einen Zottelpullover zusammengestrickt.“

„Ja und wie wärst du an die besondere Tierwolle gekommen? Sollen wir nachts durch die Straßen wandern und jede freilaufende Katze das Fell vom Körper rasieren?“

„Stimmt auch wieder. Und da du ja nicht so der Katzenfreund bist, sagte Jen und deutete auf Indigos Kratzspuren auf ihren Handrücken, ist wohl dein Plan besser. Aber mal ehrlich vierhundert Euro? Ist das nicht etwas übertrieben für so einen verlausten Pullover zu verlangen?“

„Jen glaubst du wirklich, ich gebe freiwillig vierhundert Euro für so einen Fetzen aus? Ich habe meinen Plan erweitert und ich werde das Geld nur auslegen. Ich werde es zurückbekommen. Lasse mich nur machen.“

*

Die Tage vergingen wie im Flug und Jen und Indigo waren zu der Adresse von der Stricktante gefahren, um den bestellten Pullover abzuholen. Ihre Wohnung lag sich in einem herunter gekommenen Viertel der Stadt, dass man am besten mied, wenn man die Wahl hatte.

Dieser Stadtteil war als sozialer Brennpunkt bekannt und wer hier nicht hingehörte, kam auch nicht freiwillig in diese Ecke.

Die Straßen waren voller Müll, als hätte man diesen Teil der Stadt einfach ausgegrenzt und aufgegeben. Es war eine baufällige Hochhausanlage, wo fast keine Grünanlagen waren. Die grauen Betonklötze ragten in den Himmel und vermittelten eine düstere Stimmung.

Hier war die Selbstmordrate auch am höchsten, wenn die Zeitungen mal wieder berichteten, dass sich eine Person von den Häusern in den Freitod fallen ließ.

Selbst das schöne Wetter an diesen Herbsttag, konnte diese depressive Umgebung einfach nicht abschwächen.

Der Himmel war blau und die Sonne wärmte noch mal angenehm.

Jennifer schaute sich unsicher um, als sie vor dem Hauseingang von einem dieser Hochhäuser standen.

Indigo guckte auf ihren Zettel, den sie aus der Tierarztpraxis hat mitgehen lassen und kontrollierte noch einmal die Adresse.

„Also da wären wir. Dann wollen wir es schnell hinter uns bringen.“, sagte Indigo und suchte verzweifelt auf dem Klingelbrett, nach dem richtigen Namen.

„Ja bitte. Ich möchte hier so schnell wie möglich wieder weg. Dieser Ort ist echt unheimlich. Und es ist noch nicht einmal dunkel.“ Sagte Jen und schaute zu der Eingangstür, wo man mutwillig das Glas raus geschlagen hatte und sich noch nicht mal die Mühe gemacht hatte, die Scherben wegzufegen. Aber es schien irgendwie niemanden zu stören.

Indigo fand den Namen und drückte auf den Klingelknopf. Das war Eine von wenigen Klingelknöpfe, die in Ordnung waren. An manchen Stellen hingen nur ein paar Kabel heraus, wo man bei hoher Wahrscheinlichkeit einen Stromschlag gratis bekam.

Der Lautsprecher von der Gegensprechanlage knackte gefährlich und Indigo und Jen zuckten beide gleichzeitig vor Schreck zusammen.

„WAS?!“ Brüllte eine verrauchte Stimme ihnen entgegen. Jen schaute Indigo mit großen Augen an, traute sich aber nicht, ein Wort zu sagen. Indigo räusperte sich, bevor sie sprechen konnte.

„Hallo! Ich bin hier, um den bestellten Pullover abzuholen“, sagte Indigo laut und hielt ihren Mund so dicht wie möglich an den Lautsprecher, um auch sicher zu stellen, dass sie von der Stricktante gehört wurde.

„Ja schön! Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr! Wohne im dreiundzwanzigsten Stock.“ „Ja dann bis gleich“, sagte Indigo und wollte schon losgehen, als die Rauchstimme sie zurückhielt.

„Wird wohl ein wenig dauern. Der Fahrstuhl ist schon seit einem Monat kaputt.“ Hörten Jen und Indigo sie sagen, was von einem bellenden Husten unterstrichen wurde.

„Das ist ja wohl jetzt ein schlechter Scherz?“ Fragte Jennifer und blickte langsam zum obersten Stockwerk hinauf.

„Das war so etwas von klar.“ Sagte Indigo mit einem stöhnen und stieg durch die zerbrochene Fensterscheibe der Haustür und betrat so das Treppenhaus. Jen folgte ihr vorsichtig und hörte wie, die Scherben unter ihren Stiefeln knirschten. Sie gingen zum Fahrstuhl und Indigo drückte gespannt auf den Knopf. Nichts geschah.

„Es grenzt schon an ein Wunder, dass hier überhaupt jemand wohnt.“ Bemerkte Jen und schaute auf die Wand, wo fast jeder Briefkasten aufgebrochen oder rausgerissen wurde.

„Ja das reinste Paradies, sagte Indio sarkastisch. Na dann wollen wir mal die Treppen nehmen. Ich wollte vor Sonnenuntergang wieder hier verschwunden sein.

Kommst du mit? Oder möchtest du hier unten auf mich warten?“

Jennifer schaute ihre beste Freundin mit einem entsetzten Gesichtsausdruck an.

„Sag mal, spinnst du? Ich bleibe bestimmt nicht alleine hier stehen. Du nimmst mich gefälligst mit. Aber ich möchte noch etwas loswerden, bevor wir das Treppenhaus hoch laufen und höchstwahrscheinlich dort oben vergewaltigt und umgebracht werden.“

„Und das wäre was genau?“ Indigo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Es ist echt Streckweise sehr anstrengend, mit dir befreundet zu sein.“ Jennifer versuchte, ernst zu bleiben, aber sie musste selber Lächeln bei ihrer Aussage.

„Ich weiß Jen. Aber dass gibt doch unserer Freundschaft die besondere Würze. Und es wird mit mir nie langweilig.“

„Das stimmt allerdings. Du gehst voraus.“ Jennifer schob Indigo zur Tür, die ins Treppenhaus führte.

„Gerne. Indigo öffnete die Tür und schaute, die mit Graffiti beschmierten Wände vor sich. Jen, Vorsicht! Da liegt Scheiße auf dem Boden.“

Jennifer sprang vor Schreck einen halben Schritt zurück und starrte auf den Unrat vor sich.

„Oh Gott! Ich glaube, ich muss kotzen. Was für ein Hund macht so große Haufen?“ Jen hielt sich ihre rechte Hand über den Mund und unterdrückte ein Würgegefühl.

Indigo drehte sich zu Jennifer um und verzog leicht das Gesicht.

„Ich glaube nicht, dass das von einem Tier stammt.“

Sagte Indigo und sprang über den Haufen Scheiße und betrat so die erste Stufe vom Treppenhaus.

Jennifer hielt die Luft an und sprang darüber, um neben Indigo zu landen.

„Ich denke, das Schlimmste haben wir hinter uns“, sagte Jennifer und atmete vorsichtig aus.

„Schauen wir mal. Wir haben ja noch ein paar Stockwerke vor uns. Da könnten noch ein paar Überraschungen auf uns warten.“

„Oh bitte nicht!“ Sagte Jen und folgte Indigo langsam die Treppen nach oben.

*

Nach einer halben Ewigkeit hatten sie das obere Stockwerk erreicht. Jennifer hatte ihren Mantel ausgezogen und diesen mit den Ärmeln um ihre Hüften gewickelt. Sie hatte nach dem elften Stockwerk aufgeben, ständig auf ihre Armbanduhr zu schauen, wie lange sie wohl für die ganze Strecke nach oben brauchen würde. Sie erreichten langsam die letzte Etage und atmeten erst einmal tief durch.

Indigo hatte Seitenstechen und beugte sich nach vorne und stützte sich dabei mit ihren Händen auf ihren Oberschenkeln ab.

„Geschafft!“ Keuchte Indigo und drehte ihren Kopf zu Jen, die direkt neben ihr stand. Jennifer strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

„Gott sei Dank! Also ich werde meinen Termin im Fitness Center heute jedenfalls von meiner Liste streichen.“

„Wieso das denn? Bist du jetzt schon ausgepowert?“

Fragte Indigo und streckte sich ein wenig, um dann die Tür zum langen Schlauchgang, der zu den Wohnungen führte, zu öffnen.

„Du hast wohl vergessen, dass wir die ganzen Treppen auch wieder runter laufen müssen.

Indigo hielt kurz inne und ließ die Tür wieder zurück schwingen. Es sei denn, du möchtest dich den Fahrstuhlschacht runterstürzen?“

„Was für eine verlockende Idee. Erinnere mich daran später noch mal, wenn wir heil wieder aus der Wohnung von dieser Verrückten raus sind. Vielleicht fällt uns ja noch eine alternative Lösung dafür ein.“

Jennifer folgte Indigo in den langen schlauchförmigen Flur, wo gerade Mal zwei Personen nebeneinander laufen konnten.

„Ach wirklich? Strickt deine Pulloverlady auch Bungeeseile? Das wäre doch eine bessere Lösung, als sich diesen dunklen Fahrstuhlschacht hinunter zu stürzten.“ Sagte Jennifer mit einem Lachen in ihrer Stimme.

„Ein Bungeeseile aus Tierhaarwolle? Ich glaube mal, das Endergebnis wird wohl dasselbe sein.“

Jennifer blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und klammerte sich an dem Oberarm von Indigo fest.

„Was ist los?“ Wollte Indigo wissen, bis sie selber erkannte, was Jennifer so erschreckt hatte. Vor ihnen lag ein Mann auf dem Boden. Dieser war im ersten Moment gar nicht zu erkennen, weil sich ihre Augen erst an dieses Schummerlicht in diesem Gang erst gewöhnen mussten.

„Ist der Typ tot?“ Fragte Jennifer ängstlich und klammerte sich stärker an ihre Freundin. Indigo griff nach Jennifers Händen, die sich um ihren linken Oberarm krallten wie ein Schraubstock.

„Jen du tuest mir weh.“

„Oh tut mir leid. Sagte Jennifer und ließ sofort ihren Oberarm los. Indigo rieb sich mit ihrer Hand über die schmerzende Stelle. Ich habe bis jetzt noch nie einen toten Menschen gesehen.“

Indigo stöhnte genervt auf. Jennifer war immer leicht dramatisch in solchen Situationen.

„Wir wissen doch noch gar nicht, ob er tot ist.“

„Ach wirklich? Wie willst du denn das wissen? Sie gingen ein paar Schritte näher heran. Für mich sieht er ziemlich tot aus.“

„Fällt dir denn gar nichts an diesen Typen auf?“ Fragte Indigo. Jennifer schaute auf den schwerfälligen Mann, der barfuss und mit einer grauen Jogginghose und einem T-Shirt bekleidet vor ihnen lag.

„Abgesehen das er da wie eine Leiche liegt?“

Jennifer schaute sich ihn genauer an. Die graue Jogginghose und das T-Shirt sahen aus, als hätten sie schon ein paar Wochen keine Waschmaschine mehr von innen gesehen. Der Typ umklammerte mit der linken Hand eine Wodkaflasche. Er lag auf dem Bauch und sein linker Arm war etwas angewinkelt und seine Hand hatte die Flasche fest umklammert. Das konnte keine gemütliche Liegestellung sein, wie Jennifer insgeheim feststellen musste.

„Wenn du genau hinschaust, siehst du ihn atmen. Der Gute ist nur voll wie ein Eimer. Und wenn er wirklich tot wäre, dann hätte er seine Flasche losgelassen.“

„Sollten wir ihn nicht wecken? Oder ihn in die stabile Seitenlage legen?“ Indigo stupste ihn mit ihren rechten Schuh etwas in die Seite. Der Typ grunzte auf und brabbelte etwas unverständliches, dass von einem lauten Rülpser abgelöst wurde. Jennifer verzog angewidert ihr Gesicht.

„Ich glaube, der Typ ist okay. Der pennt nur seinen Rausch aus. Lass uns weitergehen.“

„Wir können ihn doch hier nicht einfach so liegen lassen!“ Indigo zog Jennifer einfach weiter.

„Deine guten Taten in allen Ehren. Aber was willst du denn machen Jen? Möchtest du ihn mit nach Hause nehmen?“

„Nein natürlich nicht!“ Jennifer ging vorsichtig, aber mit schnellen Schritten an dem mittlerweile laut schnarchenden Fremden vorbei und folgte Indigo, die schon weiterging, um die richtige Wohnung zu finden.

„Es wäre wesentlich einfacher, wenn sich hier mal Namensschilder an den Türen befinden würden.“

Auf jeder Seite befanden sich elf Türen. Diese Appartements konnten nicht gerade groß sein, was Indigo vermutete, als sie langsam weiterging und nach Namen Ausschau hielt.

Am Ende des Gangs wurde eine Tür geöffnet. Ein bekanntes bellendes Husten ertönte ihnen entgegen.

„Ich glaube, wir haben unser Ziel gefunden.“ Sagte Jen und sah eine dicke Frau in einem rosa Bademantel auf den Flur treten. Sie zog an einer Zigarette, um dann ein paar Sekunden später den Rauch mit einem Bellhusten wieder aus ihren Lungen zu brüllen.

„Ich werde nie wieder eine Zigarette anfassen, wenn ich hier raus bin.“ Sagte Indigo und kam langsam der Frau im rosa Bademantel näher.

Sie hörten leit lautes aggressives Kreischen von einer Katze, die aus der Wohnung rannte und weiter in den dunklen Gang verschwand.

„Mäuschen! Komm sofort zurück, Mäuschen!“ Schrie die dicke Frau in ihrem rosa Bademantel und drehte Jen und Indigo kurz den Rücken zu, um mehrmals laut ihren Brüllhusten in den dunklen Gang zu schicken.

Jen schaute Indigo mit einem panischen Gesichtsausdruck an.

„Mäuschen? Ernsthaft? Bei dem Namen wäre ich auch abgehauen.“ Flüsterte Indigo amüsiert Jen zu.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht an den Namen lag.“

„Dumme Katze!“ Sagte die Dicke laut und drehte sich um und stampfte zurück in ihre Wohnung.

*

Jennifer und Indigo blieben vor der offenen Wohnungstür stehen. Es kam ihnen eine stickige Luft entgegen. Die Stricktante hatte die Heizung auf die höchste Stufe gedreht. Die Wohnung bestand praktisch nur aus einem Zimmer, dass man durch einen kleinen Flur von der Wohnungstür erreichen konnte. Im Flur stand ein alter Einkaufswagen, der voll gestopft war mit leeren Pfandflaschen. Ein warmer muffiger Geruch nach ranzigen Fett und Katzenpisse kroch langsam aus der Wohnung.