Freestyler - Katja Brandis - E-Book

Freestyler E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Eine junge Sprinterin im Zwiespalt – Wenn eine künstliche Prothese für Bestleistungen sorgen könnte, doch ihre Gesundheit aufs Spiel setzt. Jola glänzt als Sprinterin. Doch um mit der Konkurrenz mitzuhalten, bleibt ihr nur eine Möglichkeit: eine Operation, die ihren Körper optimiert. Damit könnte sie an den Olympischen Spielen teilnehmen in der Kategorie Freestyler – Menschen mit Implantaten und High-Tech-Prothesen. Während Jola mit der Entscheidung ringt, trifft sie auf Ryan, der nach einem Autounfall im Rollstuhl sitzt. Mithilfe von Prothesen und Carbon-Blades ist dieser bald nicht nur wieder fähig zu laufen, sondern wird auch zum Leistungssportler. Die Situation könnte für Jola und Ryan nicht unterschiedlicher sein. Ryans Leben verbessert sich schlagartig, während die Operation Jolas Gesundheit und Karriere gefährden könnte. Doch Jola will unbedingt die Schnellste sein – wie weit ist sie bereit zu gehen? Und wie kann sie beim Sprint mit dem Mensch konkurrieren, der ihr mit jedem Tag wichtiger wird? Katja Brandis schreibt anschaulich über die technische Körper-Optimierung des Menschen bei Sportwettkämpfen in einem erschreckenden Near-Future-Roman. Als Schullektüre geeignet. Weitere Jugendbücher von Katja Brandis im Arena Verlag: Die Ewigen von Calliste Der Fuchs von Aramir Die Jaguargöttin Der Panthergott Khyona (1). Im Bann des Silberfalken Khyona (2). Die Macht der Eisdrachen Gepardensommer Koalaträume Der Elefantentempel Delfinteam (1). Abtauchen ins Abenteuer Delfinteam (2). Der Sog des Bermudadreiecks Delfinteam (3). Ritt auf der Brandung Vulkanjäger

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Weitere Bücher von Katja Brandis im Arena Verlag:

Woodwalkers (1–6)

Woodwalkers – Die Rückkehr (2. Staffel, 1–6)

Woodwalkers & Friends. Katzige Gefährten

Woodwalkers & Friends. Zwölf Geheimnisse

Woodwalkers & Friends. Wilder Kater, weite Welt

Woodwalkers & Friends. Wilde Ferien

Seawalkers (1–6)

Seawalkers & Friends. Dreizehn Wellen

Windwalkers (1)

Khyona (1–2)

Die Jaguargöttin

Der Panthergott

Der Fuchs von Aramir

Gepardensommer

Koalaträume

DelfinTeam (1–3)

Der Elefantentempel

Vulkanjäger

Die Ewigen von Calliste

Katja Brandis, geb. 1970, studierte Amerikanistik, Anglistik und Germanistik und arbeitete als Journalistin. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat inzwischen zahlreiche Romane für junge Leser veröffentlicht. Sie lebt mit Mann, Sohn und zwei Katzen in der Nähe von München.

www.katja-brandis.de

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2025

© 2025 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Roman erschien erstmals in anderer Ausstattung 2016 im Verlag Julias Beltz GmbH & Co. KG, Weinheim.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

Cover und Umschlaggestaltung: Carolin Liepens unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock

(@ Andis Rea, Anakumka, Ardy220791, derter)

Lektorat Neuauflage: Helena Heck

Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin

E-Book ISBN 978-3-401-81119-2

Besuche uns auf: www.arena-verlag.de

@arena_verlag

NUR EIN LÄCHELN

München, September 2032

Wieder mal zu spät. O Mann. Besser, sie verpasste die nächste Bahn nicht. Jola warf sich den Rucksack mit ihren Sportsachen über die Schulter und machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Station.

Zwei Männer lungerten vor dem Café an der Kreuzung herum, rot unterlaufene Augen, Bierbäuche, mahlende Unterkiefer. Leider musste sie an den Typen vorbei, war nicht zu ändern. Deren Blicke hatten sich an sie geheftet. Und jetzt musste sie an der roten Fußgängerampel warten, während Autos vor ihr die Straße entlangströmten. Mist.

»Na, Süße?«, sagte einer der beiden Männer, den sie selbst aus einer Armlänge Entfernung riechen konnte. »Hast du ein bisschen Zeit für uns? Ich geb dir auch was aus.«

Bloß nicht reagieren. Sonst kommen die richtig in Fahrt. Eisern starrte Jola auf den Eingang der Station, keine fünfzig Meter entfernt.

»Willste etwa noch die U-Bahn erwischen?« Der zweite Mann rülpste und warf einen Blick auf sein Smartphone. »Vergiss es, Kleine. Die fährt in dreißig Sekunden.«

»Krieg ich«, sagte Jola, ohne ihn anzusehen. Dann wurde die Fußgängerampel endlich grün.

Im Hochstart war Jola immer gut gewesen. Schon flogen ihre Füße über den Asphalt, hatte sie den Eingang der Station erreicht und federte leichtfüßig die Treppen hinab.

Wie immer war sie rechtzeitig auf dem Bahnsteig.

Als Jola auf dem Olympiagelände ankam und durch die Glasfront in die Werner-von-Linde-Halle hineinspähte, sah sie aus ihrer Sprintergruppe Samuel und Koray. Die beiden waren dabei, sich mit ein paar Steigerungsläufen aufzuwärmen. Es war unmöglich, dieses Duo zu übersehen: Samuel, der Star ihrer Trainingsgruppe, war über 1,90 und blond, Koray – dessen Eltern als Technologiebotschafter nach München gekommen waren – dunkelhaarig und fast einen Kopf kleiner.

Die gewaltige überdachte Leichtathletik-Anlage hatte mit der Turnhalle von Jolas Schule zum Glück überhaupt nichts gemeinsam – hier war es warm und hell und die Luft roch gut, keine Spur von Medizinball-Mief. In dieser Halle hatten sich damals, bei der Olympiade 1972, die besten Athletinnen und Athleten der Welt aufgewärmt. Und durch diesen Tunnel dort waren sie ins riesige Stadion geleitet worden …

Auf dem Weg durch die Halle zur Gruppe ließ Jola den Blick über die Sandgrube der Weitspringer schweifen, über die Masten und dicken Matten der beiden Stabhochsprung-Anlagen, über die mit Netzen abgetrennten Bereiche, in denen die Kugelstoßer trainierten. Unter ihren Laufschuhen federte der raue rote Kunststoffbelag, aus dem auch das Herzstück der Halle bestand, die 200-Meter-Bahn. Auf der sie schon so oft gesprintet war, mit aller Kraft und hämmerndem Herzen.

Jetzt entdeckte sie auch Leni, das andere Mädchen in ihrer Trainingsgruppe – sie warf gerade ihre Sachen auf die Bank, verstaute die Datenbrille in ihrer Jacke und begann, ihre braunen Locken zurückzubinden.

»Hi, Jola – what a beautiful day«, sang Leni vor sich hin, strahlte sie an und wippte auf den Zehen. O Mann, der suppte das Glück ja aus allen Poren.

»Hi – ihr seid also wieder zusammen?«, fragte Jola trocken. Leni und ihr Freund stritten, trennten und versöhnten sich ungefähr einmal im Monat. Vielleicht brachte das auch ein paar mehr Abonnenten für ihren Live-Feed – Leni streamte über ihre Datenbrille vieles von dem, was sie erlebte, live ins Netz. Zum Glück musste sie das Ding während des Trainings absetzen.

»Nee, wir sind nicht wieder zusammen«, sagte Leni, während sie sich ihre Laufschuhe anzog. »Aber stell dir vor, er hat sich schon entschuldigt für das, was er mich alles genannt hat. Das macht er sonst erst nach zwei Wochen!«

»Oh, wow.« Jola versuchte, nicht zu grinsen. »Hat er die Pixelschlampe schon zurückgenommen?«

Leni verzog den Mund. »Das noch nicht.«

Ihre Trainerin Heike Appeldoorn war bisher nicht in Sicht, deshalb begannen sie schon mal, sich am Rand der Bahn warmzulaufen und zu dehnen.

Erst nach ein paar Minuten merkte Jola, dass ihnen jemand dabei zusah.

Jemand, den sie noch nie hier gesehen hatte.

Ein Junge im Rollstuhl. Etwas älter als sie selbst, vielleicht achtzehn. Sehr aufrecht saß er da, ohne sich zurückzulehnen, seine Hände in Radlerhandschuhen ruhten auf den Antriebsrädern. Er trug ein ärmelloses Shirt, auf den glatten Muskeln seines Oberarms zeichnete sich ein Tattoo ab. Ruhig saß er am Rand der Halle hinter den Absperrseilen und sah zu, was in der Halle geschah.

Verstohlen warf Jola ihm einen Blick zu und fragte sich, ob der Junge mit jemandem hier war oder auf jemanden wartete. Doch er sprach mit niemandem. Leni schaute nur kurz zu ihm hinüber, dann begann sie im Innenraum der Bahn mit ein paar Koordinationsübungen.

Samuel beachtete den Jungen im Rollstuhl nicht, seine goldenen Augen glitten einfach über ihn hinweg. Mit einer knappen Geste deutete er auf Koray, dann auf seine Tasche. Sofort rannte Koray los, um Samuel seine Trinkflasche zu bringen, wartete, bis er getrunken hatte, und brachte sie zurück. Jola seufzte. Der Kleine ist netter, als gut für ihn ist.

Sie schloss sich Leni für ein paar Übungen an. Unauffällig deutete Jola mit dem Kinn auf den fremden Jungen: »Was meinst du, ist das ein Blogger?«

»Nee, kein Blogger, sonst würde er ja irgendwas aufzeichnen«, meinte Leni und zupfte ihr pinkes Sport-Trikot zurecht. »Ich glaub, der schaut nur.«

»Stimmt. Na ja, soll er doch.« Jola fühlte sich von ihm nicht angestarrt. Im Gegenteil, es war seltsam, wie regungslos er zusah. Irgendwie unbeteiligt. Als wäre er eigentlich hier, um nachzudenken. Wieso war er hier? Er sah aus wie ein Athlet. Doch Jola war sicher, dass er zu keinem der anderen Teams gehört hatte, bevor ihm irgendetwas – was auch immer – passiert war.

»Vielleicht will er mit uns trainieren.« Samuel grinste und seine goldenen Effekt-Kontaktlinsen schimmerten im Licht.

Leni schnaubte.

»Ja, klar, bestimmt«, sagte Jola angewidert. »Dann kannst du ihm richtig zeigen, wie schnell du bist, Sam.«

Seltsam irgendwie. So wie alle anderen hatten sie, Leni und Samuel sich bei der letzten Olympiade 2028 für die Athletinnen und Athleten in der neuen Kategorie Freestyle begeistert – in der Startklasse M starteten Athletinnen und Athleten, die ihren Körper hatten optimieren lassen, und in der Klasse X traten Teilnehmende mit und ohne Handicap gegeneinander an. Aber die Freestyle-X-Athletinnen-und-Athleten mit ihren Hightech-Prothesen konnte man kaum behindert nennen. Vielleicht fiel es Samuel deshalb so leicht, sich über den Typ im Rollstuhl lustig zu machen.

Inzwischen war auch Heike Appeldoorn eingetroffen – eine drahtige silberhaarige Gestalt im dunkelblauen Trainingsanzug. »Okay, Leute, rüber zu den Treppen«, verkündete sie und Jolas Gedanken wandten sich wieder dem Training zu. Nach ein paar Bodenübungen ließ Heike sie seitlich stehend die Treppe zur Empore hochhüpfen. Ihre Achillessehne schmerzte. Es war nicht das erste Mal, dass die Probleme machte. Egal. Wegen so was würde sie das Training nicht unterbrechen.

Neben ihr sprang Samuel die Stufen hoch. Er bewegte sich geschmeidig und elegant … und leider wusste er das.

Auf Jolas anderer Seite hüpfte Leni. »Sag mal, hast du dich eigentlich für die EuroChallenge in Helsinki nächstes Jahr qualifiziert?«, flüsterte sie.

»Ja«, wisperte Jola zurück. »Heike hat mich für die 100 und die 200 Meter angemeldet.«

»Wie cool.« Lenis bewundernder Blick war Jola peinlich und eine Antwort bekam sie nicht heraus.

Niemandem hatte Jola bisher verraten, wie viel Schiss sie vor diesem Wettkampf hatte. Dort würde sie nicht bei den Junioren laufen, sondern zum ersten Mal bei den erwachsenen Frauen. Ich bin noch nicht so weit, ich schaffe das nicht!

Jedes Mal, wenn Jola an das Rennen dachte, bekam sie einen kurzen Panik-Flash. Zum Glück hatte sie noch ein paar Monate Zeit, dafür zu trainieren.

Koray wanderte unauffällig zu seinem Rucksack hinüber, hatte der etwa wieder sein Eichhörnchen dabei? Tatsächlich, schon lief das Tierchen wie ein rotbrauner Blitz ins gelb gestrichene Strebengewirr der Linde-Halle hinauf.

»Koray!«, brüllte Heike Appeldoorn. »Ich habe dir schon zehnmal gesagt, du sollst diese verdammte Baumratte daheimlassen!«

»Aber Faruk braucht Auslauf«, versuchte Koray zu argumentieren. Seine großen dunklen Augen eigneten sich gut für einen herzerweichenden Bettelblick. Nur leider half der bei Heike nichts, obwohl sie sonst ein offenes Ohr für die Probleme ihrer Sprinter hatte. »Eins – zwei …«, begann sie streng.

Ein Pfiff. Das Eichhörnchen machte einen Abstecher über die Hochsprunganlage, kehrte zurück, setzte sich auf Korays Kopf und klammerte sich mit den Pfötchen an seinen Haaren fest. »Oh, wie niiiiiedlich!«, quietschte Leni so wie jedes Mal, sie war so berechenbar wie ein Fahrscheinautomat.

Heike Appeldoorn seufzte. »Na gut, er darf noch ein bisschen herumklettern, aber wenn er Dreck macht, putzt du den selbst weg.« Sie warf einen Blick in die Runde. »Und jetzt zehn Sprungläufe. Los geht's!«

Koray strahlte und spendierte seinem Freund ein paar Nüsse, dann kehrte er mit ihnen auf die Tartanbahn zurück.

Erst nach dem Training fiel Jola der Junge im Rollstuhl wieder ein. Er war noch da, obwohl die Halle gleich abgeschlossen werden würde. Die anderen gingen ohne einen zweiten Blick an ihm vorbei.

Leni trug rasch ihr Trainingstagebuch nach, dann setzte sie ihre Datenbrille auf, ihre Lippen begannen, sich lautlos zu bewegen. Sich außerhalb des Trainings mit ihr zu unterhalten, war Jola oft zu anstrengend, weil Leni gleichzeitig alles mitzukriegen versuchte, was in ihrem virtuellen Freundeskreis geschah.

Als Letzte ging Jola zu ihrem Rucksack. Als sie die Absperrungen passierte, wandte der Junge im Rollstuhl ihr den Kopf zu und streifte sie mit einem Blick. Jola wusste selbst nicht, warum sie ihm zulächelte.

Einen Moment lang wirkte der fremde Junge überrascht. Dann lächelte er zurück.

Jola hob die Hand, um sich von ihm zu verabschieden, und beschleunigte ihre Schritte. Sie musste dringend zu Hause noch eine Stunde für den Projektkurs Chemie lernen.

Am nächsten Tag stellte Jola mit einem schnellen Rundblick durch die Klasse fest, dass heute ein Experiment auf dem Programm stand. Die anderen waren gerade dabei, sich in Zweiergruppen zusammenzufinden. »Also los! Du und Maximilian, ihr macht das zusammen.« Frau Kallwey scheuchte Jola mit einer Handbewegung zu einem der Tische.

»Aber …«, brachte Jola nur heraus. Das konnte Frau Kallwey nicht ernst meinen! Sie hatte erst vor einem Monat mit Max Schluss gemacht, das wusste doch jeder!

Protest war zwecklos. Schweigend stellten sie die Materialien für den Kohlehydrat-Nachweis bereit. Dann fragte Maximilian: »Und wie läuft's beim Sprint, Johanna Larissa?« Seine Stimme vibrierte wie ein straff gespannter Draht.

»Gut«, sagte Jola kurz angebunden. Sie wusste, dass er alles, was sie sagte, gegen sie verwenden würde.

»Hast du schon einen Neuen?« Er hielt das Reagenzglas fest, das Jola für den ersten Versuch brauchte.

Sie brauchte dringend einen guten Spruch. Doch natürlich fiel ihr keiner ein und so zischte Jola einfach zurück: »Erstens habe ich für einen Freund sowieso keine Zeit und zweitens geht dich das einen Dreck an. Jetzt hör auf mit dem Mist, wir machen das Experiment und basta!« Sie riss ihm das Reagenzglas aus der Hand.

Frau Kallwey wandte sich ihnen mit gerunzelter Stirn zu. »Alles in Ordnung bei euch?«

»Ja, natürlich, Frau Kallwey.« Maximilian schenkte ihr ein herzliches Lächeln.

Es fiel es ihr nicht leicht, sich auf ihre Notizen zu konzentrieren. In der Grundschule hatten alle, inklusive ihrer Eltern, sie für hyperaktiv gehalten, und das Stillsitzen lag ihr immer noch nicht.

»Magst du noch mit zu mir kommen?«, fragte ihre Freundin Emily nach Schulschluss. Wegen ihrer auberginefarbenen Haare, den dick mit Mascara umrandeten Augen, ihren Silberringen und den schwarzen Klamotten hielten die meisten Leute sie für einen Goth. »Vielleicht könnten wir was designen. Ich hab von meiner Tante noch einen Geburtstagsgutschein für einen 3D-Druck, der schreit danach, dass ich ihn endlich einlöse.«

Jola zog sich ihre mit Perlen bestickte Hippie-Mütze – ein Geschenk ihres Vaters – über die glatten, hellblond getönten Haare. »Okay, aber ich hab nur 'ne Stunde Zeit.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Emily sie an. »Du trainierst jetzt jeden Tag, oder? Machst du denn noch mit Querflöte weiter?«

»Ich spiele sowieso nicht mehr oft«, gab Jola zu. »Bringt irgendwie nichts.«

»Bringt nichts?« Emily blickte sie seltsam an, während sie sich auf den Heimweg machten. »Aber das sind doch Sachen, die du zum Spaß machst, wieso sollen die etwas bringen?«

»Ich kann ja später wieder damit anfangen«, meinte Jola und zuckte die Schultern. Die Musik machte ihr Spaß, aber ohne den Sport konnte sie nicht leben. Born to run.

Während sie die Straße entlanggingen, begannen sich Emilys Lippen lautlos zu bewegen, sie war online – und sprach jetzt ganz sicher mit Christopher, mit dem sie seit der Sandkastenzeit zusammen war.

Emily war eher der Typ, der sich mit einem Roman und einer Katze aufs Sofa verzog. Auch ihre anderen Freunde hatten nichts mit Sport zu tun. Jola hielt meistens den Mund, wenn sie mal wieder eine Meisterschaft gewonnen hatte. Manche der anderen waren sowieso schon neidisch auf sie, weil sie sich vom Unterricht befreien lassen konnte, wenn irgendein wichtiger Termin unter der Woche anstand.

In Emilys Zimmer warfen sie sich erst mal aufs Sofa, dann entwarfen sie ein Kästchen für Emilys Schmuck, denn ihre schweren Silberringe quollen schon aus der alten Schachtel, in der sie sie bisher aufbewahrte.

Als Jola heimkam, traf auch ihr Vater Anton gerade ein – in Jeans und abgewetzter Outdoorjacke, den Gitarrenkoffer in der Hand, die Haare verstrubbelt durch den Wind. Seit er seinen Burn-out überwunden hatte, spielte er wieder ab und zu als Straßenmusiker in der Fußgängerzone und lud anschließend Videos davon hoch. »Na, wie viele Downloads?«, fragte ihn Jola, nachdem sie ihn gedrückt hatte.

»Über zweihundert«, berichtete er stolz und sie zeigte ihm den erhobenen Daumen.

Ihre Mum Theresa, ganz in Schwarz gekleidet, das lange blonde Haar kunstvoll geflochten, stand im Flur und telefonierte mit jemandem, doch nun beendete sie das Gespräch und gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuss. »War's gut?«

»Alles bestens«, sagte er.

Jetzt war Jola dran. Sie bekam ein warmes Lächeln, das die Fältchen um die Augen ihrer Mutter tiefer werden ließ, und eine Umarmung. »Na, alles klar, Süße?«

Jola atmete aus und ließ sich hineinsinken in diese Umarmung. Wenn ihre Mum da war, war alles in Ordnung.

»Bin ein bisschen ausgepowert«, gab Jola zu. »Und wieder die blöde Sehne … na ja.«

»Verdammt.« Ihre Mutter verzog mitfühlend das Gesicht und streichelte ihr kurz über die Schulter. Sie war einmal Deutsche Meisterin im Siebenkampf gewesen und wusste Bescheid über das Thema Leistungssport und Schmerzen.

Aus dem Keller kamen Geräusche, die klangen, als trample ein Elefant in einem Schreibwarenladen herum. »Was geht denn da ab?«, fragte Jola.

»Einer von Jannis' Kunden hat eine bestimmte Sorte Anti-Aging-Creme bestellt, aber nun findet er das Zeug zwischen seinen ganzen Kartons nicht.«

»Ach so.« Ihr Bruder vertickte über seine Pimp Yourself!-Website allen möglichen Kram, den er billig in Asien einkaufte und hier weiterverkaufte.

Während Jola den Sajica-Barschen in ihrem Aquarium einen Snack spendierte, sah sie, dass irgendjemand – garantiert Jannis – eine geöffnete Tafel Schokolade hatte herumliegen lassen. Ausgerechnet Vollmilch-Nuss! Wie von selbst bewegten sich ihre Finger darauf zu. Brachen eine ganze Rippe ab. Zogen sich mit ihrer Beute wieder zurück. Hoben sich zum Mund, in dem schon die Spucke zusammenlief. So viel zu ihrem Ernährungsplan.

»Hey, das ist meine Schoko!« Jannis stapfte die Treppe hinauf.

»Jetzt nicht mehr.« Triumphierend schluckte Jola ihre Beute hinunter. »Ich dachte, du hattest beschlossen, dir weniger davon zu kaufen.«

»Ach, das Leben ist kurz. Genuss muss sein.« Jannis fummelte sich ebenfalls ein Stück aus dem Papier und lächelte sie an. Er war fünfzehn und wog fast neunzig Kilo. Was ihm nichts ausmachte, er fand sich genau richtig. Sport war ihm viel zu anstrengend und er konnte nicht verstehen, warum Jola sich so quälte, nur um ein paar Hundertstelsekunden schneller zu werden.

Die ganze Familie bereitete das Abendessen zu, bevor Jola zum Training musste. Fast jeden Tag aßen sie zusammen – es gab immer so viel zu erzählen, zu lachen, zu besprechen. Doch diesmal war es sehr still am Tisch, auffallend still. Ihr Vater aß seine Portion Lamm-Curry schweigend, fast ohne aufzublicken, und ihre Mutter schien in Gedanken versunken zu sein. Irgendetwas war los, aber was? Ging es wieder um die Schulden? Jola hasste es, dass sie in der Familie so oft über Geld reden mussten – zum Glück hatte offiziell ihre Mum das Haus gekauft, sonst hätten sie es verloren, als die Landschaftsgärtnerei ihres Dads pleite gegangen war.

»Hausaufgaben fertig, Jannis?«, fragte ihre Mutter schließlich.

»Natürlich.« Gespielt beleidigt verschränkte Jannis die Arme und Jola musste ein Grinsen unterdrücken. Sie wusste, dass er schon ewig keine Hausaufgaben mehr gemacht hatte. Seit er für diese französische Schauspielerin mit den großen Brüsten schwärmte, hatte er sich praktisch im Alleingang Französisch beigebracht. Seine persönliche Assistentin im Netz war – logisch – ihr Abbild.

»Ich gehe noch ein bisschen in mein Büro, zum Komponieren«, sagte ihr Vater, nachdem sie abgeräumt hatten, und schon verschwand er die Treppe hinauf in den ersten Stock. Beunruhigt blickte Jola ihm nach. O nein. So hat das beim letzten Mal auch angefangen, er hat sich zurückgezogen, war gar nicht richtig da.

»Ich pack schon mal meine Sportsachen«, sagte sie zu Jannis, stellte ihren Teller in die Spülmaschine und flüchtete in ihr Zimmer im zweiten Stock. Es war in blaues Licht getaucht und ein Hai schien mitten durchs Zimmer zu schwimmen, genau auf sie zu. Jola schnippte abwesend mit den Fingern und ihr Lieblingstier verschwand. Stattdessen leuchteten Spots auf und tauchten ihr Zimmer in ein gemütliches Licht.

Während sie schwarze Sportleggins aus dem Schrank holte, kam Jannis herein und kickte die Tür mit der Ferse hinter sich zu. »Hey, was ist los?«, fragte er, seine blauen Augen blickten besorgt. Wortlos streckte er ihr noch ein Stück Schoko hin.

Jola seufzte, nahm es und schob es sich in den Mund. »Frag das mal unsere Eltern. Wär schön gewesen, wenn heute beim Essen überhaupt jemand etwas gesagt hätte.«

»Ja, die beiden waren irgendwie scheiße drauf«, meinte Jannis und zuckte die Schultern. »Vielleicht mussten sie mal wieder über die Kohle sprechen.«

»Kann sein«, meinte Jola niedergeschlagen. Das Gehalt ihres Vaters würde wegen der Insolvenz noch jahrelang gepfändet werden – zum Glück verdiente ihre Mum Theresa genug, um sie alle zu ernähren. Sie war eine erfolgreiche Entwicklerin für Virtual-Reality-Umgebungen.

»Äh, ich glaube, du musst los«, sagte Jannis mit einem Blick auf die Zeitanzeige seines Handys. Er lächelte ihr zu. »Mach dir keine Sorgen. Vielleicht komponiert Dad heute einen fetten Superhit, bezahlt auf einen Schlag alles ab und kauft uns 'ne Villa mit Swimmingpool.«

Wie süß von ihm, dass er versucht, mich zu beruhigen. Jola drückte ihren Bruder, was dieser sich nachsichtig gefallen ließ – in ihrer Familie knuddelte ständig jeder jeden –, dann schnappte sie sich ihren Rucksack, stopfte ihre Laufschuhe hinein und düste los. Doch erst als Jola die Werner-von-Linde-Halle betrat, ging es ihr besser.

Sie sah sofort, dass der Junge im Rollstuhl wieder beim Training zuschaute. Es war schwer, ihn zu übersehen – in der riesigen Halle hielten sich nur zwanzig Menschen auf, da sie zwischen Mai und Ende Oktober Kaderathleten vorbehalten war. Denjenigen, die mit etwas Glück für ihr Land Medaillen holen würden.

Jolas schwarze Gedanken verebbten. Was habe ich denn zu meckern am Leben? Nichts! Wie es sich wohl anfühlt, nicht mehr laufen zu können, keinen Schritt weit? Allein der Gedanke war grauenhaft. Vielleicht ignorierten die anderen den Typ deshalb.

Jola gab ihrer Trainerin die Hand, dann lächelte sie dem Jungen zu, während sie an ihm vorbei auf die Bahn im Innenraum ging.

Nach dem Training siegte Jolas Neugier. »Hi«, sagte sie zu ihm. »Ich bin Jola. Wie heißt du eigentlich?«

»Ryan«, sagte er. »Wieso eigentlich?«

Jola musste lächeln. »Weil ich es schon das letzte Mal wissen wollte.«

»Letztes Mal hattest du es eilig«, stellte er fest.

»Sprinter haben es meistens eilig.«

Er lachte. »Dafür quatscht ihr aber ganz schön viel zwischen den Übungen.«

»Bist du ein Spion, oder was?« Jola zog eine scherzhafte Grimasse.

»Nö. Seh ich so aus?«

»Weiß ich nicht, ich kenn niemanden beim Bundesnachrichtendienst.« Sie musterte ihn, und was sie sah, gefiel ihr. Seine braunen, in Stacheln nach vorne gegelten Haare, seine wachen dunkelblauen Augen, sein kraftvoller sehniger Körper. Ihr Ex Maximilian, in den viele Mädchen in ihrer Schule verknallt waren, hätte neben diesem Jungen gewirkt wie eine Hauskatze neben einem Puma.

»Cooles Tattoo, was bedeutet das?«, fragte sie ihn und deutete auf seinen Oberarm.

»Es ist ein Toki blade, das ist für die Maori ein Symbol der Stärke«, meinte er. »Die Spiralen stehen für Erneuerung.«

»Ah. Ich wollte mir auch mal …« Während sie sprach, ließ Jola fast verstohlen den Blick weiter nach unten wandern, versuchte festzustellen, was mit Ryans Beinen los war – sie hatte sich bisher nicht getraut, richtig hinzuschauen. Sie erschrak, als ihr klar wurde, dass seine Beine unter den Knien endeten. Ihm waren die Unterschenkel amputiert worden.

Natürlich hatte er ihren Blick bemerkt. »Scheiße, was?«

»Ja«, sagte Jola, noch immer durcheinander. War es okay, ihn zu fragen, wie das passiert war? Sie blickte ihm wieder ins Gesicht und sah, wie angespannt er war. Besser, sie fragte das ein anderes Mal.

Auf einmal wollte Jola nichts so sehr, wie ihn noch einmal zum Lachen zu bringen. »Wie wär's mit einem Wettrennen morgen?«, schlug sie vor.

Und ja, es klappte. Er schaute sie verblüfft an, dann lachte er. »Okay«, sagte er. »Wenn ich mein Rennpferd mitbringen darf.«

»Das ist aber unfair«, wandte Jola ein.

Schon war der Moment vorbei. »Du weißt doch, das Leben ist nicht fair.« Noch während er es sagte, wendete er seinen Rollstuhl und fuhr davon. Kurz hob er die Hand zum Abschied, dann war er verschwunden.

Vielleicht hatte er nicht gewollt, dass sie in diesem Moment sein Gesicht sah.

ZU SCHNELL

Als Jola zurückkam, war daheim nicht viel los. Jannis hatte seine Zimmertür zugemacht.

Im Erdgeschoss saß ihre Mum mit hochgezogenen Knien und dicken Wollsocken auf dem Sofa, nur das Licht einer kleinen Lampe erhellte ihr Gesicht. Sie nippte an einem Rotwein und las etwas auf ihrem Tablet, ohne wie sonst dabei Musik zu hören. Der Platz neben ihr auf dem Sofa – wo sonst Anton ebenfalls mit einem Wein in der Hand saß – war leer.

»Komponiert er immer noch?«, fragte Jola, während sie ihre Jacke aufhängte.

»Nein, er ist noch mal weggegangen. Ich glaube, er trifft sich mit einem Freund.«

Jola stutzte. Wieso weiß sie nicht, mit wem er weggegangen ist? Oder weiß sie es, und …? Nein, das kann nicht sein, das würde er nicht tun! Zwischen ihm und Mum, das war doch immer die große Liebe, das kann er doch nicht wegen einer beschissenen Midlife-Crisis wegwerfen!

»Stört es dich, wenn ich was schaue?«, fragte Jola und warf sich auf das Sofa vor den Fernseher. Sie musste sich dringend ablenken.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, stand auf und ging nach oben.

Verdammte Scheiße! Sagt mir mal jemand, was hier vorgeht?

Beim nächsten Training schaute sich Jola vergeblich nach Ryan um. Sie ärgerte sich über sich selbst. Blöder Einfall, das mit dem Wettrennen! Wahrscheinlich hat er gedacht, dass ich mich über ihn lustig machen wollte.

Enttäuscht ging Jola hinüber in den Kraftraum, der heute auf dem Trainingsplan stand. Geduldig ging sie ihre Übungen an den Fitnessgeräten durch, um ihre Rumpf- und Beinmuskeln zu kräftigen. Die anderen trainierten ebenfalls. Samuel wankte unter 130 Kilo, die er sich auf die Schultern geladen hatte, und wohlwollend sah ihm Heike Appeldoorn zu. Währenddessen ließ Koray hinter ihrem Rücken ein paar Wiederholungen aus, aber das hätte er besser nicht getan – sie bekam so was mit. Immer. Wahrscheinlich hätte sie es auch gemerkt, wenn sie sich am anderen Ende der Stadt befunden hätte. Fünf Minuten später sagte sie zu Koray: »Die Übungen holst du bitte nach. Und leg noch ein paar Kilo drauf.«

Koray ächzte, aber er beschwerte sich nicht. Er wusste, dass Jammern hier nicht gerne gesehen wurde. Wer gewinnen will, muss sich schinden, das war schon immer so und wird immer so sein, ging es Jola durch den Kopf. Und Koray wollte gewinnen, so wie sie alle.

Ein kalter Schauer überlief Jola, als sie wieder einmal an die EuroChallenge in Helsinki dachte. O Gott, wieso hat Heike mich nur dafür gemeldet? Und wieso habe ich dazu Ja gesagt?

Erst kurz vor Ende des Trainings, als sie und Leni ihre Wiederholungen abschlossen, sah Jola durch die Glaswände, die den Kraftraum von der Haupthalle trennten, Ryans Rollstuhl. Ein freudiger Schreck durchfuhr sie. Er war doch noch gekommen! Koray plauderte gerade mit ihm. Weil die beiden neben der offenen Glastür standen, konnte Jola ihr Gespräch hören. »Sag mal, warum holst du dem Typ mit den goldenen Augen eigentlich immer die Wasserflasche?«, fragte Ryan ihn. »Kann der das nicht selber?«

»Na ja, schon, aber es ist irgendwie eine Ehre … Samuel ist schließlich so was wie berühmt … er ist dieses Jahr Europameister geworden …«

»Ja, und? Deshalb musst du dich nicht von ihm herumkommandieren lassen.«

Koray lächelte unsicher. »Ähm, nö. Stimmt.«

»Zumindest könnte er ›bitte‹ sagen«, meinte Ryan und Jola lächelte in sich hinein. In so was war Samuel noch nie sonderlich gut gewesen.

Ein wenig erschrocken sah Jola, dass Samuel gerade an Ryan und Koray vorbeiging. Offensichtlich hatte er gehört, was die beiden geredet hatten. Der Blick, den er Ryan zuwarf, hätte Blumen verdorren lassen.

»Komm, wir gehen hoch«, sagte Leni, stand rasch auf und schnappte sich das Handtuch von ihrem Gerät. Jola nickte und folgte ihr.

»Hi«, sagte Leni zu Ryan, als sie mit einem Handtuch um den Hals zu ihrem Rucksack schlenderte. Sie bewegte sich, als wäre sie auf einem Catwalk, und Zufall war das garantiert nicht.

»Hi«, gab Ryan beiläufig zurück.

»Sag mal, was ist dir eigentlich passiert?«

»Hab ich heute schon sechsmal erklären müssen«, meinte Ryan. »Ich kann's aber gerne noch mal machen.«

»Ja, bitte.« Leni schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.

»Unfall«, sagte Ryan.

»Kein Attentat?« Leni klang fast enttäuscht. Vielleicht, weil ein Attentat dramatischer gewesen wäre.

»Nein.«

»Ach so.«

Jola musste wieder lächeln und trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, damit es niemand sah. Die hat er ja sauber abblitzen lassen.

In geheimem Einverständnis warteten Jola und Ryan damit, sich zu unterhalten, bis die anderen gegangen waren. Erst als sie draußen standen, wandte sich Ryan ihr wieder zu. »Sorry, dass ich so spät dran war«, meinte er.

»Du musstest erst noch ein paar furchtbar geheime Geheimagentensachen erledigen?«

»Genau.« Als er sich seine schwarze Jacke übers T-Shirt zog, blitzte in seinen Augen ein mutwilliger Funke. »Also, was ist jetzt mit diesem Wettrennen? Wo machen wir das?«

Jola dachte kurz nach, entschied sich. »Gibt genug Wege hier.« Sie winkte ihm, ihr zu folgen.

Während er neben ihr fuhr, beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkel. Er ließ den Blick über die geschwungenen Dächer der Olympiahalle schweifen, die im Mondlicht silbrig glänzten, über die meterdicken Befestigungskabel, die direkt neben der Linde-Halle im Boden befestigt waren. Über die in der Dunkelheit kaum sichtbaren Rasenflächen und Baumgruppen jenseits davon. »Wir machen das Rennen also hier draußen, nicht auf der Bahn?«, fragte er.

»Ja, und ich dachte, wir ändern die Regeln ein bisschen.« Gut gelaunt wippte Jola auf den Zehen. »Wir geben beide Vollgas, aber ich muss auf einem Bein hüpfen.«

»Schade – ich dachte, du würdest in einen Sack steigen.« Er grinste.

»Hey, das Leben ist kein Kindergeburtstag.« Jola ging mit langen Schritten voraus, den Weg entlang, der zum Olympiapark führte.

Schließlich erreichten sie einen asphaltierten Weg, der im Licht der Straßenlaternen halbwegs eben aussah. Kein anderer Mensch war in Sicht. Jola deutete auf einen Baum in etwa dreißig Meter Entfernung. »Hier ist der Start, bei der Buche dort das Ziel, okay?«

»Okay.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu, dann blickte er konzentriert die Strecke entlang und packte die metallenen Antriebsräder des Rollstuhls fester.

»Action!«, rief Jola und hüpfte los.

Selbst auf einem Bein war sie noch ziemlich schnell. Verdammt. War das eine gute Idee gewesen mit dem Wettrennen?

Sie brach die eiserne Regel, sich nie nach den Konkurrenten umzusehen, und schaute, wo er gerade war. Nur ein paar Meter hinter ihr! Er hatte ein paar Sekunden gebraucht, um seinen Rollstuhl in Schwung zu bringen, doch jetzt holte er stetig auf. Jola war erleichtert. Soll ich ihn gewinnen lassen? Nein, besser nicht, er würde es merken. Und irgendwie glaube ich nicht, dass er es gut fände.

Jola gewann, aber knapper, als sie gedacht hätte.

»Fast hätte ich dich in Grund und Boden gerollt!«, sagte Ryan und sie mussten beide lachen. Die Anspannung war aus seinem Gesicht gewichen und sie mochte das übermütige Blitzen in seinen Augen. Er atmete tief, keuchte aber nicht. Keiner von ihnen wollte nach Hause und so bewegten sie sich weiter durch den Park, der nachts noch riesiger wirkte als tagsüber. Jola sog die klare, kalte Luft ein. »Weshalb schaust du uns eigentlich beim Training zu?«

»Gute Frage«, meinte Ryan. Er zögerte kurz, dann sprach er weiter. »Alle hätten gedacht, dass ich bei meinem alten Team vorbeischauen würde. Meiner Basketballmannschaft. Einmal war ich da, aber es war scheußlich. Mitmachen konnte ich sowieso nicht. Und aus jedem Blick sprach ein O mein Gott, schau dir an, was aus ihm geworden ist.«

Jola nickte schweigend und ging langsamer, weil sie jetzt am Olympiaberg angekommen waren und er die Steigung bewältigen musste. Er hatte versucht, gleichmütig zu sprechen, und doch hörte sie die Trauer in seiner Stimme. Eine Trauer, die ihr ins Herz schnitt. »Tja, und dann war ich mit meinem Dad auf einem Konzert hier im Olympiastadion«, fuhr Ryan fort. »Als wir zum Parkplatz zurück sind, haben wir euch beim Training gesehen. Ich fand's interessant.« Er zuckte die Schultern. »Warum bin ich wiedergekommen? Keine Ahnung.«

Sie waren am Rand des Olympiaparks angelangt. Es fühlte sich an, als seien sie plötzlich in die wirkliche Welt zurückgekehrt, viel zu früh.

»Schau mal, das Café dort hat noch offen«, sagte Ryan und sie bewegten sich auf die erleuchtete Fassade zu. Auf den zweiten Blick war es ein Dönerladen, aber das machte nichts. Jola stellte fest, dass sie Hunger hatte. »Das passt echt nicht in meinen Ernährungsplan, aber ich glaube, ich sterbe, wenn ich jetzt keinen Döner bekomme.«

Ryan grinste. »Dann kauf dir in Gottes Namen einen. Glaubst du, ich will eine Leiche wegschaffen müssen?« Er probierte aus, ob er mit seinem Rollstuhl durch die Tür passte, und Jola hielt die Luft an. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht.

Es war knapp, aber es ging.

Fünf Minuten später kauten sie beide. »Ich weiß gar nichts über dich«, meinte Ryan zwischen zwei Bissen und blickte sie an. »Wie alt bist du? Du gehst noch zur Schule, oder?«

»Elfte Klasse. Im Januar werde ich siebzehn«, murmelte Jola mit vollem Mund und wischte sich verlegen ein bisschen Soße vom Kinn. Die Hälfte des Döners hatte sie schon heruntergeschlungen, den Rest verstaute sie in ihrem Rucksack. So viele Kohlenhydrate waren am Abend sowieso nicht vorgesehen. »Und du?«

»Hab grad Abi gemacht. Im Krankenhaus hatte ich viel Zeit zum Lernen.«

»Aber hast du da nicht irre viel verpasst?«, fragte Jola fasziniert.

Er lächelte schief. »Als meine Freunde gemerkt haben, dass ich wirklich dranbleiben will, haben sie das perfekt organisiert. Sie durften die Schulstunden für mich aufzeichnen, damit ich keinen Stoff verpasse, und jeden Tag war irgendjemand bei mir und hat mit mir gelernt.«

»Und jetzt?«

Ryan zuckte die Schultern. »Jetzt sind die anderen irgendwo im Ausland oder im ersten Semester. Und ich kann mich irgendwie zu nichts aufraffen.« Er schaute aus dem Frontfenster auf die Kreuzung hinaus. »Heute wäre ich beinahe nicht gekommen, um euch zuzuschauen. Hab mich durch ein Game gezockt und konnte nicht aufhören.«

»Es wäre schade gewesen, wenn du nicht gekommen wärst«, gestand Jola.

Als ihre Blicke sich trafen, fühlte es sich an, als lande ein Schmetterling auf Jolas Herz. Ryan musterte sie nachdenklich, aber auch neugierig, und Jola hatte das Gefühl, dass ihm nichts entgehen würde, nicht die kleinste Regung. Das fühlte sich irgendwie besonders an und nach einem Moment fiel ihr auch auf, warum.

Er konzentrierte sich ganz und gar auf sie. Schön. Sie fühlte, wie ein Lächeln auf ihr Gesicht kroch.

»Wie viele Leute sind eigentlich süchtig nach diesem Lächeln?«, fragte Ryan, ganz ruhig, ohne Verlegenheit.

»Überschaubar«, gestand Jola und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Ging das nicht alles viel zu schnell? Aber wenn man immer nur Dinge erlebte, die man geplant hatte, dann war das Leben so spannend wie das Müsliregal im Supermarkt. »Eigentlich nur einer, aber der ist gerade auf Entzug.«

»Du kannst ganz schön grausam sein.«

»Wer? Ich?« Jola musste lachen. »Er aber auch. Du hättest mal sehen sollen, wie er und ich uns neulich in Chemie duelliert haben.«

»Wer hat gewonnen?«

»Das Reagenzglas.«

Ein wenig später machten sie sich auf den Rückweg durch den dunklen Park.

Gerade wollte sie Ryan fragen, ob er auch mit der U-Bahn nach Hause fahren würde, da sagte er plötzlich: »Es war übrigens ein Autounfall. Wir waren auf dem Rückweg von einem Konzert in Augsburg. Ich saß am Steuer, den Wagen hatte ich von meinem Onkel geliehen.«

Es überlief Jola kalt. »Hattest du was getrunken?«

»Ja. Apfelschorle.«

Schweigend nickte Jola. Wir hatte er gesagt – also war außer ihm noch jemand im Auto gewesen.

»Die Karre hat sich halb unter einen Lkw geschoben und ist von hinten weiter zerdrückt worden, als noch ein Auto auf uns draufgeknallt ist. Schließlich hat mir der Motorblock die Beine zerquetscht.« Er blickte sie nicht an, als er es erzählte. »Im Rettungshubschrauber habe ich ziemlich viele Transfusionen bekommen. Unterwegs mussten sie mich zweimal wiederbeleben.«

Wie in Trance ging Jola neben ihm her. Nein, ich will mir das nicht vorstellen, nein, aber es war schon zu spät, ihr Kopf spielte das, was er erzählt hatte, als Film ab, die Special Effects waren gar kein Problem, so was hatte sie schon hundertmal in Filmen gesehen. Blut überall. Aber nicht irgendwelches. Sein Blut. Seine Beine. Jola bekam keine Luft mehr.

»Sorry«, sagte Ryan und schaute sie besorgt von der Seite an. »Wäre es besser gewesen, ich hätte es nicht …?«

»Nein. Nein!« Benommen schüttelte Jola den Kopf und schob die Bilder aus ihrem Kopf, so gut es ging.

Sie atmete tief durch. Irgendetwas war seltsam an seiner Geschichte. Er hatte sie rasch erzählt, als wolle er es hinter sich bringen. Vielleicht hatte sie deswegen geklungen wie auswendig gelernt. Hatte er manches erst später erfahren, weil er zu schwer verletzt gewesen war, um es mitzubekommen? Oder hatte sein Gehirn eine Löschtaste gefunden?

»Kannst du dich noch an den Unfall erinnern?«, fragte sie ihn.

»Ja«, antwortete er zu ihrer Überraschung. »Ich war ziemlich lange bei Bewusstsein. Ich habe sogar noch mitbekommen, wie sie mich in den Hubschrauber geschoben haben, aber ich war schon ziemlich weggetreten.«

Jola wollte sich nicht mal vorstellen, wie schlimm die Schmerzen gewesen sein mussten. »Und ein paar Monate später hast du dein Abi geschrieben? Du bist verrückt!«

»Es war gut für mich. Dadurch hatte ich ein Ziel.« Ryan wischte sich die Finger mit der Serviette ab. »Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, kann ich ziemlich hartnäckig sein. So wie du.«

»Was?« Verdutzt blickte Jola ihn an.

»Wenn du nicht hartnäckig wärst, wärst du nicht so weit gekommen«, sagte Ryan. »Ich weiß, was für Leute in dieser Halle trainieren.«

Wie unheimlich. Er kannte sie seit ein paar Stunden und verstand sie schon besser als viele ihrer Freunde.

Lebendig. Wie unglaublich lebendig Ryan sich fühlte. In seinem Kopf flirrte es, als hätte er Ecstasy eingeworfen.

Das Gefühl hielt an, bis er kurz nach Mitternacht daheim war. Dann musste er wieder daran denken, dass ihn sechs verdammte Stockwerke erwarteten. Ryan drückte den Rufknopf und wartete nervös darauf, ob der Aufzug nach unten kam. Wenn das Ding kaputt war, hatte er ein Problem. Als er zehn gewesen war, nach ihrem Umzug von Manchester hierher, war er diese Treppen fast an jedem Tag hoch- und runtergerannt und hatte mit sich selbst gewettet, wie oft er es schaffte. Sein Rekord lag bei 32 Wiederholungen.

Jetzt war sogar eine einzige dieser Stufen zu viel.

Im Eingangsbereich roch es wie immer nach Schuhen – einer der Mieter ließ seine sämtlichen Treter vor der Tür stehen – und feuchtem Altpapier. Erleichtert sah Ryan, dass der Aufzug herankroch. So leise wie möglich schloss er im sechsten Stock die Wohnungstür auf und warf seine Jacke über den Schirmständer, weil sein Vater immer noch nicht dazu gekommen war, einen Garderobenhaken weiter unten anzubringen.

Alles dunkel, alles still. Keiner da oder keiner wach? Eigentlich egal. Er wollte sowieso in Ruhe an Jola denken und daran, wie es sich angefühlt hatte, mit ihr in diesem Park unterwegs zu sein. Verdammt gut. Hatten sie tatsächlich drei Stunden lang geredet, über das Leben und den Tod, über England und Deutschland, über Filme, Musik und pure Geschwindigkeit? So viel wie ihr hatte er seit Monaten niemandem mehr erzählt, der Psychologin im Krankenhaus schon gar nicht. Doch was wirklich passiert war damals auf der Autobahn, würde er auch ihr nicht sagen. Ihr nicht und keinem anderen Menschen.

Seine Kehle fühlte sich ausgedörrt an und er rollte in die Küche, um sich an der Spüle ein Glas Wasser zu holen. Das Problem war nur, dass irgendjemand die Gläser in den hohen Schrank geräumt hatte, wo er nicht an sie herankam. Wahrscheinlich sein Bruder Jake. Konnte der nicht einmal nachdenken? Oder war es Absicht gewesen? Seine Fingerspitzen erreichten gerade noch die Unterkante des vordersten Glases. Zack. Da lag das Ding, aus dem Schrank auf die Küchenplatte gefallen. Silbrige Risse durchzogen das Glas.

Und er hatte immer noch Durst.

Wut jagte in ihm hoch, eine heiße, bittere Wut, die ihm die Tränen in die Augen trieb. Verdammte Scheiße, ich will mein Leben zurück!

Er schleuderte das Glas an die Küchenwand – mitten auf den Architektur-Kalender, der schon seit zwei Jahren dort hing. Der Krach hallte durch die ganze Wohnung, Splitter regneten auf den Küchenboden.

Geht's noch? Drehst du jetzt völlig ab, Kid Brother? Jakes Stimme in seinem Kopf. Wenn irgendetwas nicht klappte, war es immer sein Bruder, der in ihm sprach.

Die Sekunden verstrichen. Niemand tauchte auf.

Am liebsten hätte Ryan sich in sein Zimmer verzogen, doch dann hatte seine Mutter morgen früh Glas in den Fußsohlen, wenn sie sich ohne Brille ihren Kaffee holte. Verbissen machte er sich daran, die Splitter aufzukehren. Vom Rollstuhl aus ein echtes Projekt.

»What are you up to, Ryan?« Eulenäugig blinzelnd stand sein Vater in der Tür, die Wangen mit graublonden Stoppeln bedeckt, sein Pyjama schlackerte um seinen großen, mageren Körper.

»Nichts, geh wieder ins Bett«, erwiderte Ryan auf Englisch – sein Vater weigerte sich seit Jahren, Deutsch zu lernen. Auch ein Grund dafür, dass er hier keine Stelle als Architekt gefunden hatte. »Wo sind die anderen?«

»Jake und Jonathan sind mit Freunden weg und deine Ma hat ein Schlafmittel genommen.« Gehorsam drehte sich sein Vater wieder um und schlurfte zurück.

Nachdem er ewig lang die Küche geputzt hat, rollte Ryan erschöpft und niedergeschlagen in sein Zimmer. Es bestand nur aus einer Bettcouch, einem Schreibtisch und auf dem Boden gestapelten Klamotten. An der Wand hing noch das Zitat, das ihm ein Freund nach der Trennung von Cheyenne geschenkt hatte.

»Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter!«

Winston Churchill

Oh, well. Ryans Blick wanderte in die Ecke des Zimmers, zu den schlecht sitzenden Krankenhaus-Prothesen. Sie hatten ihm die Haut so dermaßen aufgescheuert, dass gleich die nächste OP fällig geworden war. Mit denen zu laufen, würde er garantiert nicht noch mal versuchen.

Ja, dass es im Haus Schlafmittel gab, wusste er. Seine Eltern hatten bisher nicht gemerkt, dass er seit Monaten einzelne Tabletten aus der Packung klaute und sie in einer Aludose unter der Matratze hortete. Inzwischen hatte er so viele beisammen, dass sie ihm manchmal mit dünnen Elfenstimmchen zuflüsterten. Ihm anboten, ihn mitzunehmen, wenn er es nicht mehr aushielt.

Klappe!, befahl er ihnen, wie schon so oft zuvor, und heute verschwanden sie schneller als sonst. Denn diesmal hatte er einen Grund, sich auf den nächsten Tag zu freuen.

Jola hatte ihm ihre Nummer gegeben.

Aber ist das, was von mir übrig ist, gut genug für sie? Es fühlte sich an wie seine letzte Chance.

NUR EINE STUFE

»Wie bitte?«, fragte Emily. »Das meinst du nicht ernst, oder?«

Jola nickte bedrückt. »Doch. Mit meinen Eltern stimmt irgendwas nicht.«

»Aber … du hast so eine tolle Familie!«, meinte Emily. »Ihr haltet zusammen.« Sie seufzte und Jola sah, dass ihre Augen feucht waren. Schnell umarmte sie Emily. Ihre Eltern steckten schon seit Jahren in einem erbitterten Scheidungskrieg.

»Zusammenhalten … ja, bisher war das so«, sagte Jola niedergeschlagen. »Aber jetzt …«

Der Schulgong unterbrach sie.

»Perfektes Timing«, sagte Emily und seufzte. »Wollen wir uns am Samstag treffen? Dann können wir weiter drüber reden.« Doch bevor Jola antworten konnte, stutzte ihre Freundin. »Oh, du trainierst ja auch am Samstag. Außerdem wollte ich noch zu Christopher. Dann vielleicht am Sonntag?«

Jola biss sich auf die Lippe. Sie hatte mit Ryan ausgemacht, Sonntag am Rotkreuzplatz ein Eis essen zu gehen. Aber vielleicht war es gar nicht verkehrt, wenn Emily mitkam, dann war das Treffen unverbindlicher, lockerer. Sie kannten sich schließlich kaum.

»Ich glaube, ich bin dabei, mich zu verknallen«, erzählte Jola, während sie zu ihrem Klassenraum zurückgingen. »Wenn du magst, kannst du ihn am Sonntag kennenlernen.«

Emilys dunkle Augen leuchteten auf. »Oh, cool! Ist es jemand aus der Schule?«

»Nein«, sagte Jola. »Und ich sag's lieber gleich: Er sitzt im Rollstuhl.« Angespannt wartete sie auf Emilys Reaktion. Eine Sprinterin und ein Junge ohne Beine, war das nicht ein total guter Witz?

Doch Emily zuckte nur die Schultern. »Wie heißt er?«, fragte sie neugierig.

»Ryan«, antwortete Jola erleichtert. »Sein Vater ist Engländer.«

Seit der Nacht im Olympiapark hatte sie seine Handynummer. In der nächsten Pause schrieb sie ihm eine Nachricht, ob es in Ordnung war, wenn ihre beste Freundin mitkam. Sofort kam ein Ja, kein Problem! zurück. Es machte ihr fast ein bisschen Angst, wie oft sie an Ryan denken musste. Er hatte ihr nicht wie Maximilian den Vogel gezeigt, als sie ihm spätnachts im Dönershop gestanden hatte, dass sie einmal im Leben mit Haien tauchen wollte. Und auch nicht wie Emily »Cool, ich komm mit« gewitzelt. Sondern sie neugierig darüber ausgefragt, wo man so etwas machen konnte, welche Haiarten okay waren und was für Fehler man vermeiden sollte. Wenn er irgendwann sagte, dass er mitkommen wollte, dann würde das kein Witz sein.

Am Samstag schaute Ryan nicht beim Training zu. Immerhin, er verpasst nicht viel, dachte Jola. Heike Appeldoorn ließ sie auf der Außenanlage trainieren, obwohl schon bald Regen auf den Boden prasselte wie Geschützfeuer aus den Wolken. Unbeeindruckt schlug Heike die Kapuze ihrer Jacke hoch. Nach einigen Aufwärmrunden kommandierte sie: »Jeder fünfmal 100 Meter mit submaximaler Geschwindigkeit. Erst Koray und Leni zusammen, dann Samuel und Jola. Drei Minuten Pause zwischen den Läufen.«

Leni seufzte. Sie wussten alle, dass sie auch bei Wettkämpfen möglicherweise im Regen laufen mussten, aber gefallen musste es ihnen deshalb noch lange nicht. Nur Jola war das Wetter egal, sie fühlte sich lebendig und voller Energie – ob das an Ryan lag?

Koray und Leni kamen gemeinsam ins Ziel, ohne sich zu verausgaben. Völlig durchnässt, aber gut gelaunt nahm Jola neben Samuel ihre Position ein. Alle Muskeln angespannt, ihr Herzschlag ein klein wenig schneller als sonst, die gespreizten Finger am Boden abgestützt, nur Millimeter von der Startlinie entfernt. Wasser lief aus ihren Haaren über ihre Nasenspitze und tropfte von dort aus auf den Boden, während sie regungslos lauschte.

Heike pfiff auf zwei Fingern.

Sie schossen beide los und Tropfen schlugen Jola ins Gesicht wie winzige eiskalte Ohrfeigen. Samuel war einen Herzschlag zu spät gestartet, außerdem hasste er es, bei Regen zu laufen. Jola ging in Führung, voller Freude an der Geschwindigkeit. Normalerweise war Samuel schneller als sie, doch die hundert Meter waren rasch vorbei, jeder einzelne Schritt zählte. Wow, diesmal schlage ich ihn! Ich weiß es! Der unbändige Drang zu gewinnen packte sie und Jola stürmte voran mit allem, was ihr Körper hergab. Das ließ sich Samuel natürlich nicht bieten, er beschleunigte und holte auf.

»Submaximale Geschwindigkeit!«, brüllte Heike Appeldoorn, doch sie hörten beide nicht hin.

Vor Samuel warf sich Jola über die Ziellinie und bemühte sich, nicht allzu breit zu grinsen. Geduldig ertrug sie die Strafpredigt und Samuels Miene, die noch finsterer wurde, als Heike Appeldoorn ihn zur Rede stellte. »Wieso bist du so zögerlich gestartet? Lässt du dich etwa durch ein bisschen Wasser beeindrucken? Eins ist klar, ich melde euch alle vier zur Crossmeisterschaft im November an!«

Na toll. Mal wieder mit den Spikes durch den Matsch. Sie alle hassten Crossrennen.

Als die Predigt vorbei war und Koray und Leni sich für ihren nächsten Lauf bereit machten, zeigte Heike Appeldoorn Jola wortlos die Stoppuhr. Jola schnappte nach Luft. 11,62 Sekunden – das war ohne Spikes und bei Regen eine verdammt gute Zeit!

»Wenn du so weitermachst, muss ich dich wohl zur Weltmeisterschaft anmelden«, meinte Heike und legte ihr kurz den Arm um die Schultern. »Verpatz die EuroChallenge nicht, ja?«

Jola schüttelte stumm den Kopf. Weltmeisterschaft. Das Wort vibrierte durch sie hindurch, als hätte jemand sie an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt. Dann breitete sich in ihr eine goldene Wärme aus, die sich bis in die Fingerspitzen zog. Das war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Olympiade und von der träumte sie schon so lange. Vielleicht würde sie Heike irgendwann mal erzählen, dass sie sich schon zahllose Male vorgestellt hatte, auf einer Bahn neben ihrem Helden Ben Keel zu laufen, während er nicht nur einmal, sondern gleich dreimal für Deutschland Gold gewann. In vielen anderen Träumen, die am besten in langweilige Mathestunden passten, stand sie selbst auf einem Siegertreppchen, während Hunderttausende ihr zujubelten und Laser die berühmten fünf Ringe über ihr in die Wolken zeichneten …

Aber das war ein bescheuerter Traum, wenn sie vielleicht nicht mal die EuroChallenge schaffte. Ich bin gut genug, ich bin gut genug, wiederholte Jola das Mantra, das sie im Mentalcoaching gelernt hatte. Es beruhigte sie ein wenig. Aber das war etwas anderes, als wirklich daran glauben zu können, dass sie weiterkommen konnte. Wenn sie verlor, dann würden viele Leute mitleidig den Kopf schütteln. Taugt leider doch nichts, diese Jola Spiegler. Gehört nicht mehr ins Nationalkader.

Wenn es schlecht lief, konnte sie das um Jahre zurückwerfen …

Jola biss sich auf die Lippe. Scheiße, schon wieder negative Gedanken! Weg mit denen! Ich muss eben richtig heftig trainieren, dann klappt das schon.

»Ansonsten alles klar mit dir?«, fragte ihre Trainerin. »Du wirkst manchmal ein bisschen bedrückt in letzter Zeit.«

»Geht schon«, meinte Jola verlegen. Heike schickte sie wieder auf die nasse Bahn. Jolas Körper fühlte sich noch völlig übersäuert an vom Lauf zuvor, das war ihre Strafe für das hohe Tempo. Diesmal schafften sie und Samuel es, sich im Zaum zu halten. Ohne ein Wort packte er nach dem Training seine Tasche, bevor er sich mit einem kühlen Nicken verabschiedete.

Leni wartete noch damit, sich die Datenbrille aufzusetzen. »Wow, der ist sauer auf dich«, meinte sie und grinste. »Achten Sie in nächster Zeit auf fliegende Dolche, Frau Spiegler!«

»Und natürlich auf angreifende Kraniche«, frotzelte Jola, denn Samuels Vater war Chefpilot einer großen deutschen Fluggesellschaft.

Eisessen im Oktober konnte je nach Wetter eine bescheuerte oder geniale Idee sein. Jola stimmte eher für genial, sie liebte Eis. Zum Glück hingen zwar dichte Wolken über der Stadt, aber es war sommerlich warm. Jola und Emily sahen sich schon in der U-Bahn und gingen dann zusammen zum Eiscafé am Rande der Kreuzung.

»Wow, du bist pünktlich!« Emily klang beeindruckt. »Du musst wirklich verliebt sein.«

Jola zog eine Grimasse in ihre Richtung und blickte sich gespannt um. Na toll. Jetzt hatte sie es endlich mal geschafft, rechtzeitig aus dem Haus zu kommen, und wer war nicht da? Ryan.

»Und er war wirklich zweimal klinisch tot?«, fragte Emily neugierig nach und rückte ihre Datenbrille zurecht.

»Ja«, sagte Jola knapp. Es tat ihr ein bisschen leid, dass sie Emily das verraten hatte – diese Geschichte gehörte Ryan. Wenn er sie ihr erzählen wollte, dann würde er das tun.

Aus Richtung des Rotkreuzplatzes schlenderten ein paar Leute aus ihrer Klasse heran. Darunter – Shit! – ihr Ex Maximilian, außerdem Bianca Hope, die Jola gerade so willkommen war wie eine Muskelzerrung, und zwei andere Mädchen.

»Oh, wow, die Prinzessin vom Dienst und ihre Hofdamen«, sagte Jola leise. Bianca zickte regelmäßig herum und erreichte dadurch, dass sie im Mittelpunkt stand und alle sich bemühten, ihre Wünsche zu erfüllen.

»Einfach nicht beachten, meint Christopher«, sagte Emily und einen Moment lang bewegten sich ihre Lippen, während sie ihrem Freund antwortete. »Wir können ja schon mal unsere Eissorte aussuchen.«

»Wieso aussuchen?«, fragte Jola. »Ich nehme Marone und Himbeer-Grieß, wie immer.«

»Stimmt, die Kombination, die wie eine besonders fiese Krankheit aussieht«, mischte sich eine Stimme ein. Maximilian. Gerade drängten er und seine Prinzessinnen sich vor zur Theke, um ihre Kugeln zu bestellen.

»Geht dich nichts an«, ätzte Jola – und in diesem Moment sah sie Ryan. Er trug ein schwarzes T-Shirt, seine schwarze Jacke und Jeans. Vorsichtig, aber geschickt steuerte er seinen Rollstuhl zwischen den anderen Passanten hindurch über den Bürgersteig und hielt Ausschau nach ihr. Freude durchfuhr Jola wie ein plötzlicher Stromstoß, scharf und hell mitten durchs Herz.

»Ist er das?« Emily klang beeindruckt. »Wow, der sieht ja gut aus. Wo hast du den denn abgegriffen?«

»Beim Training«, zischte Jola, und als sie Emilys verblüfften Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: »Und jetzt halt in Gottes Namen den Mund, bis die anderen weg sind!«

Als Ryan sie sah, hellte sich sein Gesicht auf. Leider entging das Maximilian und den anderen nicht. Sie schleckten an ihrem Eis und lungerten in der Nähe der Theke herum wie Geier um den Kadaver einer Antilope. Bianca Hope lächelte auf eine Art, die Jola ganz und gar nicht gefiel.

»Hi«, sagte Ryan ganz selbstverständlich zu Jola und Emily. »Glück mit dem Wetter heute, was? Wenn's unter null ist, esse sogar ich kein Eis mehr.«

»Ich schon, aber nur neben dem Kaminofen«, sagte Jola und lächelte ihm zu. Ein Lächeln, das gezwungener war, als sie sich wünschte. Doch es war schwer zu vergessen, dass Maximilian, Bianca Hope und die anderen Girls des Grauens sie beobachteten. Ihre Blicke schienen auf Jolas Haut zu kleben.

»Lasst uns reingehen«, drängte Emily, die sich ähnlich unwohl zu fühlen schien. »Wir können ja drinnen was bestellen.«

Doch Ryan bewegte sich nicht, er starrte auf etwas am Boden. Jola folgte seinem Blick und sah eine Stufe. Grau. Aus Beton. Sie war genau zwischen ihnen und dem Inneren des Eiscafés.

»Die hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung«, sagte Ryan.

»Kommst du die hoch?«

»Einen Versuch ist es wert.«

»Das ist halt nicht behindertengerecht hier, geht am besten woandershin«, sagte Bianca Hope.

Emily, Jola und Ryan ignorierten sie, doch Jola sah, dass Ryans Kiefermuskeln sich angespannt hatten. Er fuhr zur rechten Seite des Eingangs, wo die Stufe am niedrigsten war, nahm Anlauf, verlagerte sein Gewicht etwas nach hinten und versuchte, über die Stufe hinwegzukommen. Doch die Gummiräder prallten von dem Hindernis ab und Ryan geriet aus dem Gleichgewicht. Da er sich nicht mit den Füßen abstützen konnte, kippte er nach vorne. Eine ältere Frau, die in diesem Moment aus dem Café kam, packte ihn am Arm. Sofort riss Ryan ihn ihr weg. »Ich komme schon zurecht!«, fuhr er sie an und die ältere Frau ging erschrocken davon.

Ryans Gesicht war gerötet.

Jola brachte kein Wort heraus. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand auf einen Schlag alle Lebensenergie abgesaugt.

»Wir tragen dich über die Stufe«, beschloss Emily kurzerhand. »Los, Jola, du packst rechts an, ich links.«

Dankbar darüber, dass Emily die Initiative übernahm, half Jola, den Rollstuhl ins Café zu heben. Als sie ein paar Barhocker beiseitegeräumt hatten, war der Weg ins Innere frei. »Danke«, sagte Ryan gepresst.

»Na, dann pass mal gut auf deinen Freund auf, Johanna Larissa«, hörte Jola Maximilians Stimme hinter sich.

Fick dich, dachte Jola, drehte sich um und zeigte ihm den Mittelfinger.

Als sie endlich zusammen an einem Tisch saßen, war keinem von ihnen mehr nach einem Eis und lockerem Geplauder zumute. Doch schon tauchte eine betroffen wirkende Bedienung auf, die wissen wollte, ob auch wirklich alles in Ordnung sei. Bevor sie sich's versahen, hatte jeder von ihnen einen Eisbecher bestellt, obwohl Jola nur eins wollte – möglichst schnell weg. Blöderweise ging das nicht, die anderen hingen noch immer draußen herum und kicherten über irgendetwas. Es war nicht schwer zu raten, über was.

»Das sind wahrscheinlich Leute aus eurer Schule?«, fragte Ryan.

»Ja, leider«, antwortete Jola und atmete tief durch. Sie brachte es nicht über sich, ihm zu erzählen, dass Bianca Hope alles gefilmt hatte und die hässliche Szene wahrscheinlich schon mit witzig-ironischen Kommentaren versehen im Netz stand. Zum Glück wenigstens nicht unter Ryans Namen, den kannten sie nicht.