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Gregor Ritschel

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Beschreibung

»Das Reich der Freiheit beginnt in der That erst da, wo das Arbeiten, das durch Noth und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört« - so einst Karl Marx. Und heute? Trotz weitgehender Automatisierung bleibt die Norm der Vollzeitarbeit bestehen. Das Motto »Sozial ist, was Arbeit schafft« wird von fast allen politischen Akteuren getragen. Zugleich wird die bisherige Form der Vollzeitarbeitsgesellschaft in vielen Momenten brüchiger und ungleicher: Pflegekrise, Gender-Pay-Gap, prekäre Jobs oder unregulierte Crowdwork auf digitalen Plattformen offenbaren nur einige der vielfältigen Bruchlinien. Mit Blick auf die politische Ideengeschichte der freien Zeit und die aktuellen Debatten um Automatisierung und Digitalisierung entwirft Gregor Ritschel ein Plädoyer für den schrittweisen Ausgang aus der bisherigen Arbeits- in eine »Multiaktivitätsgesellschaft« (André Gorz). Er zeigt: Eine Verkürzung der Arbeitszeit kann uns eine sozialere, kreativere und auch umweltschonendere Welt ermöglichen.

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Gregor Ritschel

Freie Zeit

Eine politische Idee von der Antike bis zur Digitalisierung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Coverabbildung: unsplash.com/@hermansyah Lektorat: Joe Hohenester Korrektorat: Laura Mathews, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-5572-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5572-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-5572-8 https://doi.org/10.14361/9783839455722 Buchreihen-ISSN: 2364-6616 Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

1.Einleitung

2.Die Idee der Muße von der Antike bis zur frühen Neuzeit

3.ExkursZeit und Bedürfnis im Spiegel der Anthropologie

4.Das 18. JahrhundertEin Streit über das Verhältnis von Muße und Politik

5.Das 19. JahrhundertDer lange Kampf um die Verkürzung des Arbeitstags

5.1Der Verein als Schule der Demokratie

5.2Das »Reich der Freiheit« und das »Recht auf Faulheit«

5.3Lange Nächte und vergessene Träume

5.4Mai 1886 – Der Haymarket-Zwischenfall in Chicago

6.Das 20. JahrhundertZwischen Massenkonsum und freier Zeit

6.1Konsumismus, Freizeitindustrie und Kulturkritik

6.2Eine Revolte gegen die Arbeit

6.3Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft

6.4Zeit und Gerechtigkeit

7.Das 21. JahrhundertAmbivalente Zeiten

7.1Zeitdiebe

7.2(Nicht-)Automatisierung und Bullshit-Jobs

7.3Ungleichheit und Care-Arbeit

7.4Zeitwohlstand und Glückliche Arbeitslose

8.Free days for future!Für eine neue Kultur der freien Zeit

9.Literatur

10.Danksagung

1.Einleitung

Freie Zeit dient nicht allein der Erholung nach der Arbeit, sie ist ebenso ein Raum der Gemeinschaftlichkeit, der Naturerlebnisse und der Kreativität. Neue gesellschaftliche Vorstellungen und alternative Lebensentwürfe werden in ihr erdacht und gelebt. Freie Zeit hat ihren Wert und ist daher auch umkämpft. So ist etwa der Achtstundentag kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis einer konfliktreichen politischen Geschichte. Freie Zeit ist also in doppelter Hinsicht Gegenstand des Politischen: Sie ist eine Ressource, deren Verteilung ausgehandelt wird, und zugleich entstehen in ihr neue, nonkonforme Weltentwürfe, Träumereien und Utopien. Der Schlaf der Arbeit gebiert dabei möglicherweise Ungeheuerliches. Das Potenzial freier Zeit galt daher nicht selten auch als Gefahr. Nicht umsonst waren die Diktaturen des 20. Jahrhunderts darum bemüht, auch den privaten Raum umfassend zu kolonisieren. Jugendverbände, Blockwarte und Tourismusorganisationen dienten der lückenlosen Verbreitung der jeweiligen Weltanschauung. Kein Zeitraum durfte unbesetzt bleiben, kein Kopf durfte allein gelassen werden.1

Das Verhältnis von Arbeit und freier Zeit ist heute wieder in Bewegung geraten. Diesmal steht jedoch dem ersten Anschein nach, die technologische Entwicklung am Grund der Bewegung. So ist die Idee der Digitalisierung und Automatisierung der Arbeit eine heute sehr präsente Vorstellung, die mit vielen Hoffnungen verbunden ist, aber auch mit Ängsten und neu aufkommenden Sinnfragen. Dem nicht genug, stellen auch der Klimawandel und die sich aus ihm ergebenden Debatten um eine Postwachstumsgesellschaft die heutige Produktionsweise infrage. Ob es ein grünes Wachstum geben kann, ist bisher eine offene Frage. Verabschieden wir uns jedoch vom Wachstumsparadigma, so bedeutet dies weniger Konsum, weniger Produktion und schließlich auch weniger Arbeit. Auch dies kann als Drohung oder Utopie verstanden werden. Kann eine Wiederentdeckung der Sphäre der freien Zeit eine sozialere und nachhaltigere Welt versprechen? Um darauf Antworten zu finden, müssen wir uns auf die Suche nach der heute oftmals zunehmend als verloren erscheinenden (freien) Zeit begeben. Die gefühlte Knappheit an freier Zeit bringt uns zu den Fragen: Was macht sie aus? Wo kam sie her und wohin ist sie entschwunden?

Gemeinhin wird Arbeit als das Gegenstück zur freien Zeit benannt. Arbeit kommt vom germanischen Verb »arbejo« was sinngemäß so viel bedeutet wie: »Bin verwaistes und daher aus Not zu harter Tätigkeit gezwungenes Kind.«2 Auch heute beschreiben Arbeitnehmer ihre Tätigkeit als hart und sehnen sich nach freier Zeit zur Erholung. Vielen Menschen erscheint ihre Arbeit jedoch auch als mit ihrer Persönlichkeit verwoben. Sie unterscheiden nicht zwischen dem, was sie tun, und dem, was sie sind. Der Beruf ist manchen Menschen Berufung. Kopfarbeiter und Kreative neigen dazu, sich als Unternehmer ihrer selbst zu begreifen. Dies mag auch dem neoliberalen Mantra geschuldet sein, dass ›ein jeder seines Glückes Schmied‹ sei. Um diesem Ideal nachzukommen, treiben wir Sport und verwenden unsere freie Zeit zur weiteren Selbstoptimierung, womöglich um erfolgreicher zu arbeiten oder auch um mehr Anerkennung in unserem sozialen Umfeld zu bekommen. Selbst das gesellschaftliche Leben wird so zur Arbeit. Werkvertragsarbeiter und befristet Angestellte tragen ihre Aufgaben für die Dauer des Projekts in ihren Köpfen und kennen keinen Dienstschluss mehr.

Währenddessen bringen die heutigen Kommunikationsmittel eine permanente Erreichbarkeit mit sich. Die Arbeit ist von der Fabrik in die Gesellschaft ausgewandert, wie der italienische Sozialphilosoph Antonio Negri meint.3 Die Arbeit ist übergriffig geworden. Die freie Zeit, die wir haben, behandeln wir im Modus der Arbeit, indem wir auch hier um Optimierung bestrebt sind. Das »schlechte Zeitgewissen ist unser ständiger Begleiter«4. Langsam wird uns gewahr, dass die neuen Technologien uns entgegen ihres Versprechens nicht mehr Zeit zur freien Verfügung stellen, sondern weniger, in dem Maße wie wir stärker in Kommunikation und Konsumprozesse eingebunden werden, die permanente Aufmerksamkeit erfordern.5 Der Begriff des »Zeitmanagements« wird so zum geflügelten Wort der Gegenwart. Die Coronakrise hat ihrerseits einen enormen und vermutlich nachhaltigen Schub des Homeoffice mit sich gebracht. Etwa die Hälfte der Beschäftigten arbeitete 2020 teilweise von zu Hause aus.6 Auch dahingehend ist die Arbeit also wieder in die Heime der Menschen zurückgewandert, so wie es einst vor der Industrialisierung gewesen war. Zumindest potenziell, jenseits der spezifischen Belastungen durch die Krisensituation, versprechen sich viele Arbeitnehmende hiervon aber auch Zeitgewinn, etwa durch den Wegfall von Pendelzeiten, und eine bessere Vereinbarkeit mit Familienbelangen und Freizeitaktivitäten.

Die einst errungene Grenzziehung zwischen Arbeit und freier Zeit ist also wieder durchlässig geworden. Doch dabei handelt es sich, wie zu zeigen sein wird, weder um eine natürliche Grenze noch einen natürlichen Vorgang, sondern vielmehr um einen umkämpften politischen Prozess, der so lange andauert wie die Menschheitsgeschichte selbst.7 In diesem Prozess wird das Verständnis von dem, was Arbeit ist, periodisch aufs Neue umgeschrieben. Im Folgenden wird der Ideengeschichte der freien Zeit schlaglichtartig nachgegangen. Mal stehen Denkerinnen und Denker der freien Zeit im Vordergrund, mal kulturgeschichtliche Aspekte. An anderen Stellen geht es um konkrete politische Kämpfe, in denen das Denken kulminierte.

Spätestens seit Jeremy Rifkins Prognose Das Ende der Arbeit (1993)8 ist man aus den unterschiedlichsten Motivlagen bemüht, die Arbeit neu zu gestalten und neu zu begreifen. In Die Rettung der Arbeit (2019)9 möchte die Politikwissenschaftlerin Lisa Herzog die Arbeit vor zunehmender Automatisierung bewahren, weil sie darin nicht zu Unrecht viele Aspekte menschlichen Daseins verwirklicht sieht, insbesondere den Willen, kreativ tätig zu sein, vor allem aber die Möglichkeit, mit anderen produktiv zu interagieren. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, brauche er die Eingebundenheit in den Arbeitsprozess. Problematisch ist allerdings Herzogs Bemühen diese Sozialität des Menschen fast einzig in den Arbeitsverhältnissen zu verorten. Tatsächlich ist es fraglich, ob das soziale Wesen Mensch sich nur in der Lohnarbeit realisieren kann. Das konstitutive Außen der Arbeit, die freie Zeit, birgt mindestens genauso viel Potenzial die Gemeinschaftlichkeit des Menschen zu entfalten. Auch ist die Möglichkeit der Selbstentfaltung, des Fähigkeitserwerbs und des kreativen Ausdrucks in der Lohnarbeit oft nicht gegeben. Der Reflex, »die Arbeit zu retten«, sollte also kritisch relativiert werden, indem man zunächst die Alternativen betrachtet. Die politische Ideengeschichte kann hierfür ein ganzes Panorama an Zugängen aufbieten. So hat etwa zuletzt Michael Hirsch, konträr zu Lisa Herzogs Ansatz, von einer zu antizipierenden »Überwindung der Arbeitsgesellschaft« gesprochen.10 Die Krise der Arbeitsgesellschaft bzw. die Ausweitung prekärer Beschäftigung werde, so Hirschs Kritik, in der bestehenden Logik stets nur von dem Ruf nach mehr und besseren Jobs begleitet. Letztlich sei dies eine Unterwerfung der westlichen Demokratien unter das Diktat von transnationalen Unternehmen, was auch einer soziokulturellen Unfähigkeit geschuldet sei, den Status der Arbeit neu zu bewerten.11 Stattdessen aber könne und sollte die Krise der Arbeitsgesellschaft der Startpunkt eines neuen Denkens sein, das die bisherige soziale Logik, insbesondere die symbolische Dominanz der Lohnarbeit, infrage stellt.12

Auch öffentliche Intellektuelle, die sich aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie der Postwachstumsökonomie, den Konsequenzen der Digitalisierung und den angesichts des Klimawandels gebotenen nachhaltigen Formen des Wirtschaftens widmen, entdecken heute fast einhellig die Bedeutung der freien Zeit für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung des Menschen wieder. Der Soziologe Harald Welzer schreibt:

»Während man im Silicon Valley von der Abschaffung des lästigen zeitraubenden Schlafes träumt, müssen wir vom Wiedergewinn der Zeit träumen. Die Verfügung über die eigene Zeit ist emanzipativ und gibt den Menschen erst den mentalen Raum, über Veränderungen nachzudenken und sie zu erkämpfen. Dort, wo jede Zeiteinheit schon belegt ist – durch Arbeit, Information, Ablenkung –, kommt man nicht auf andere Gedanken, sondern nur auf die, die vorgegeben sind. Eine Utopie für freie Menschen muss daher freie Zeit vorsehen. Das hört sich selbstverständlich an, setzt aber einen neuen Kampf um die Zeit voraus.«13

Auch der Philosoph Richard David Precht verweist angesichts der digitalen Transformation auf die Wiederkehr fast vergessener Träumereien:

»Die Frühsozialisten des 19. Jahrhunderts schwärmten von einer Zeit, in der die Maschinen arbeiten und die Arbeiter singen – erreicht durch clevere Automaten. Das ›eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht‹, gab Oscar Wilde dem 20. Jahrhundert als Auftrag mit auf den Weg. Erträumt wird das Ende der Lohnarbeit durch ›Automation‹. Denn nur die freie Zeit ermögliche es den Menschen, sich zu vervollkommnen. Wer die Hände frei hat, kann endlich das leben, worauf es vor allem ankommt: seinen Individualismus!«14

Es gibt noch einen weiteren Anlass, über die freie Zeit der Menschen nachzudenken: Eine Gesellschaft, die an ihre Grenzen kommt, die immer mehr und immer schneller arbeitet und immer mehr und immer schneller produziert, missbraucht ihre natürlichen Grundlagen. Konträr zum Wachstumszwangs, der auch den vermeintlich immateriellen digitalen Kapitalismus prägt, gibt es heute genügend Selbstreflexivität, um über Wege zu einer Postwachstumsgesellschaft nachzudenken. Doch sind jene Wege, die einen Wachstumsrückgang nahelegen, unseren bisherigen kulturellen Mustern diametral entgegengesetzt. Nach André Gorz ist der Wachstumsrückgang gleichsam ein »Überlebensgebot«. Die einzig offene Frage sei dabei, ob dies zukünftig zivilisiert oder auf eine barbarische Weise geschehe.15 Wachstumsrückgang bedeutet aber weniger Arbeit und Konsum und stattdessen mehr freie Zeit, die es durch ökosoziale Reformen demokratisch zu verteilen gelte.16

Nach dem bekannten Postwachstumsökonomen Niko Paech haben moderne Gesellschaften ein Stadium erreicht, »in welchem längst nicht mehr Kaufkraft, sondern Zeit den Engpassfaktor des individuellen Strebens nach Glück darstellt«17. Während die Konsumoptionen explodieren und digital individualisiert beworben werden, gilt auch weiterhin: »Damit Konsumaktivitäten überhaupt Nutzen stiften können, muss ihnen ein Minimum an eigener Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet werden.«18 Paech schlägt demgegenüber vor, weniger und bewusster zu konsumieren, sich vom »Wohlstandschrott zu befreien«19 und den verbleibenden Gütern so mehr Wertigkeit zuzuschreiben. Es gelte mehr Güter und Wissen zu teilen, Altes zu reparieren und so auch wieder mehr miteinander zu kommunizieren.20

Dies wirft die Frage auf: Wenn wir zukünftig nicht immer nur arbeiten, produzieren und konsumieren, was machen wir dann? Wie verbringen wir unsere freie Zeit? In Werkstätten, Ateliers und Bildungsorten? Um diese Fragen zu klären, kann man ins Archiv der Ideengeschichte blicken. Dabei stellt man zunächst fest, dass freie Zeit immer auch ein politisches Ziel war und ist. Der historische Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter um den Zehn- und später den Achtstundentag war hiervon nur ein Ausdruck. Freie Zeit kann weiterhin auch als ein Mittel des politischen Kampfes begriffen werden. Die Jugendbewegung »Fridays for Future« etwa nimmt sich die Zeit, trotz geltender Schulpflicht, zum Zwecke des politischen Engagements für eine progressive Klimapolitik zu demonstrieren. Die Inbesitznahme der Zeit ist hier schon in sich politisches Symbol für die Befreiung von Fremdbestimmung und Bevormundung und zudem Mittel für die Verbalisierung konkreter politischer Inhalte.

Persönliche Entfaltung innerhalb freier Zeiträume ist allerdings höchst voraussetzungsvoll. Der Philosoph Bertrand Russell plädierte in seinem Essay Lob des Müßiggangs (1935) dafür, die Menschen von der Ideologie des Arbeitens um jeden Preis zu befreien. Nicht »Müßiggang ist aller Laster Anfang«, sondern die Arbeit.21 Für Russell ist die Arbeitstugend eine Sklavenmoral, die angesichts des technischen Fortschritts obsolet geworden ist.22 Doch die Beharrungskräfte der Ideologie wirken weiterhin, da die Abkehr von der Arbeitsmoral mit einer hohen Sprengkraft für das bisherige sozialpolitische System einhergehe:

»Der Gedanke, dass die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war ein fünfzehnstündiger Arbeitstag für den Mann das Normale, Kinder arbeiteten zuweilen ebenso lange und sehr häufig zwölf Stunden täglich. Als vorwitzige Wichtigtuer darauf hinwiesen, dass das doch eine recht lange Arbeitszeit sei, wurde ihnen erklärt, die Arbeit hindere die Erwachsenen daran, sich zu betrinken, und die Kinder, Unfug zu treiben. […] Ich höre noch eine alte Herzogin sagen: ›Was wollen denn die Habenichtse mit Freizeit anfangen? Arbeiten sollen sie!‹«23

Nach Russells Argumentation kommt insbesondere der Erziehung eine Schlüsselrolle zu: »Man muss wohl zugeben, dass kluges Nützen von Freizeit und Muße das Ergebnis von Zivilisation und Erziehung ist. Wer zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss.«24 Hinzu kommt die von Russell beobachtete Degeneration des Freizeitverhaltens. Waren die Menschen einst noch fähig, »sorglos und verspielt zu sein«, so wurde dies mit dem »Kult der Tüchtigkeit verschüttet«25. Die Unterhaltung der Stadtbewohner ist derweil rein passiv geworden. Sie sehen sich hauptsächlich Filme oder Fußballspiele an oder hören Radio, was sich aus der Tatsache ergebe, »dass ihre aktiven Kräfte völlig in der Arbeit absorbiert werden«26. Russells Fazit seiner Beobachtungen ist zugleich ein Plädoyer, für eine gesündere, nachhaltige und friedlichere Welt:

»Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern […]. Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechter Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muße genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in die Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen.«27

Freie Zeit ist, wie Russell andeutete, höchst voraussetzungsvoll. Nicht nur müssen die Mittel zum Leben vorher durch Arbeit beschafft sein, sondern es bedarf auch der Fähigkeiten, die freie Zeit durch schöpferische und soziale Tätigkeiten nutzen zu wissen. Mit den Worten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu kann man behaupten, dass es immer schon »kulturelles« und »soziales Kapital« brauchte, um sich in seiner freien Zeit entfalten zu können. Beispielsweise muss man einerseits das Fahrradfahren oder das Malen erst erlernt haben und andererseits braucht es Beziehungen, Freunde oder zumindest Vereinsgenossen, um seine freie Zeit gemeinsam mit andern verbringen zu können.28 Eine Ambivalenz mag darin bestehen, dass jene freie Zeit dann auch zur Erweiterung jener Kapitalformen genutzt wird29, vielleicht auch mit der Hoffnung, die gedachten Spielchips verschiedener Kapitalformen letztlich wieder in ökonomisches Kapital tauschen zu können. Man denke hier etwa an die Jugendlichen westlicher Gesellschaften, die nach ihrem Schulabschluss längere Zeit im Ausland verbringen. Sie können ihre internationale Erfahrung und Sprachkompetenz durchaus gewinnbringend in ihr späteres Berufsleben einbringen und so letztlich aus ihrer freien Zeit Kapital schlagen.

Auch Russells Beispiel zeigt, dass freie Zeit eine Ressource ist, um die sich politische Verteilungskämpfe ergeben. Die Thematisierung freier Zeit ist also auch eine Frage sozialer Ungleichheit. Auch wenn gern zitierte Topmanager mehr als die durchschnittliche Stundenarbeitszeit ableisten, so können sie sich an anderen Stellen freie Zeiträume erkaufen. Ihnen gegenüber steht eine globale Dienstbotenklasse und Klasse der Arbeitsmigranten, die sich zu niedrigen Löhnen verdingen, womöglich auch im Rentenalter.30 In diesem Zusammenhang muss auch die Vielfachbelastung von Frauen thematisiert werden, die diese oftmals durch Haushalts, Erziehungs- und Pflegetätigkeiten neben ihrem Berufsleben erfahren. Diese Problematik wird im Folgenden unter dem Stichwort der sozialen Reproduktion bzw. der Care-Arbeit verhandelt.

Die These dieses Buches ist es, dass freie Zeit so grundlegend für demokratische Selbstverständigungsprozesse ist, dass dies paradoxerweise oftmals aus dem Blick gerät.31 Zudem wird hier die Position vertreten, dass wir in Zeiten technologischer Entgrenzung eine neue Achtsamkeit gegenüber der Zeit und eine damit verkoppelte progressive Zeitpolitik brauchen, die die Individuen wieder zu sich selbst- und zueinander kommen lässt, statt sie als permanent abrufbare Arbeitsnomaden enden zu lassen. Wer keine Zeit zum Denken oder zum Austausch mit anderen hat, der kann auch kein politischer oder sozialer Mensch sein. Freie Zeit ist also ein gesellschaftliches Problem, dessen Sein und Geschichte eine genauere Betrachtung verdienen. Bisher ist sie jedoch zu Unrecht selten Gegenstand sozialphilosophischer Überlegungen, obgleich sie immer auch ein Teilkomplex von Macht- und Gerechtigkeitsfragen ist. Erst kürzlich wurde diese Leerstelle der gegenwärtiger Demokratietheorien nun endlich von einem der einflussreichsten deutschen Sozialphilosophen bemerkt. Unter dem Schlagwort »Der arbeitende Souverän« stellt Axel Honneth fest:

»Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns arbeitende Subjekte sind. So gerne man sich vorstellt, die Bürgerinnen und Bürger wären vor allem damit beschäftigt, sich engagiert an politischen Auseinandersetzungen zu beteiligen, so falsch ist dies. Nahezu alle, von denen da die Rede ist, gehen tagtäglich und viele Stunden lang einer bezahlten oder unbezahlten Arbeit nach, die es ihnen aufgrund von Anstrengung und Dauer nahezu unmöglich macht, die Rolle einer Teilnehmerin an der demokratischen Willensbildung auszufüllen. […] Dieselben acht Stunden Arbeit können am Ende für den einen viel länger dauern als für den anderen.«32

Das hier vorliegende Buch macht es sich zur Aufgabe die bisherigen politischen Theorien und Überlegungen zum Themenkomplex der freien Zeit in chronologischer Reihenfolge, zugleich nur punktuell und schlaglichtartig, zu versammeln und aufeinander zu beziehen.33 Dies ist insofern wichtig, da es bisher noch kein vergleichbares Projekt gibt. Mit dem versammelten Material lässt sich die Bedeutung zeitlicher Freiräume für demokratische und kulturelle Entfaltungsprozesse belegen. Am Schluss der Darstellung werden die überzeugendsten der vorgefundenen Ideen aufgegriffen und in einem Plädoyer für eine freizeitlichere Gesellschaft verwendet. Dabei wird die Idee vertreten, dass eine »Multiaktivitätsgesellschaft« Lösungsansätze für manche Probleme der Gegenwart bieten kann, sei es die mancherorts diagnostizierte Müdigkeits- und Depressionsgesellschaft34 oder die anstehende Klimaherausforderung. Das Buch versteht sich daher als Steinbruch für die Ideenbildung der Nachfolgenden. Entgegen der Intuition mancher Lesenden, ist das vorliegende Buch keines über das bedingungslose Grundeinkommen, auch wenn dieses im Folgenden immer wieder mal auftaucht. Die Ideenbildung zur freien Zeit ist breiter aufgestellt und überschneidet sich nur stellenweise mit der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens.

Muße kann die Grundlage kritischen Denkens sein, und dies wiederum ist die Grundlage für ethische und politische Auseinandersetzungen. Im Idealfall sind die Gestaltungselemente der freien Zeit jedoch zunächst Selbstzwecke: soziale Interaktionen, schöpferische Tätigkeiten in Kunst und Wissenschaft oder auch spielerische Aktivitäten. Das hieraus ableitbare Ideal besteht darin, seine freie Zeit frei von den Fremdzwängen bzw. der Beschaffung der Mittel zum Leben möglichst autonom zu gestalten. Aus einer politiktheoretischen Perspektive ist aber der Umstand von Bedeutung, dass die freie Zeit potenziell einen emanzipatorischen (Denk)Raum bieten kann. Insofern ist es auch ein politisches Ziel diesen Teil der Lebenszeit möglichst auszuweiten gegenüber jenem Teil, der durch Lohnarbeit fremdbestimmt wird. Zeit zum Räsonieren zu haben ist etwas Politisches. Erst durch ein gründliches Überdenken kann man zu der Überzeugung kommen, dass eine andere Welt möglich ist.

Andere Schlüsselbegriffe werden in der politischen Theorie und Ideengeschichte häufiger behandelt. So wird neben den Begriffen Macht, Herrschaft, Gerechtigkeit und Freiheit spätestens seit John Locke in einem hohen Maße auch das Problem des Eigentums betrachtet. Während in der Antike die Politik für die freien Bürger, die sich nicht um ihren Haushalt kümmern mussten, einen Selbstzweck darstellte, wurde sie in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zu einem Mittel zum Zweck. Sie sollte den Rahmen freihalten, der einem jeden das freie Wirtschaften ermöglicht. Folgt man dem klassischen Kanon der politischen Ideengeschichte, so hat es den Anschein, dass die Menschen auf drei oder vier Optionen festgelegt sind: Wenn sie nicht über politische Fragen debattieren, dann arbeiten sie, handeln auf Märkten oder aber bekriegen sich. Was hier oftmals unter den Tisch fällt, ist die Zeit der Muße und kulturellen Entfaltung, genau jene ist aber die oft nicht reflektierte Vorbedingung politischen Handelns.

Im Zeitalter des individualisierten Konsums hat die Lohnarbeit die Tendenz zur Expansion, indem etwa durch die permanente Erreichbarkeit Grenzen verschwimmen. Zudem löst sich die freie Zeit gleichsam von innen heraus auf, insofern der expansive Konsum die Freizeit von der freien Zeit befreit. Der Begriff der Freizeit wird also heute im Unterschied zur Rede von »freier Zeit« stark mit dem Massenkonsum assoziiert. Das »Nichtstun« hingegen ist, wie der Philosoph Slavoj Žižek meint, heute zum subversivsten Akt geworden, insofern er den Eindruck hat, dass jede Aktivität uns zum Komplizen der bestehenden Ordnung werden lässt: Klimaprotest etwa erzeugt nicht selten nur vermeintlich klimafreundliche Produkte und lässt Strategien des »greenwashings« entstehen, als dass etwa weniger Konsum bewirkt wird. Antikapitalistisches Engagement ist seit der Finanzkrise 2008 und der Occupy-Wall-Street-Bewegung wieder überall beobachtbar, bewirkt aber nur sehr wenig bezüglich des politisch-ökonomischen Systems – oder wird gar selbst zum gut verkäuflichen Nischenprodukt. Auch insofern fordert Žižek provokant, in Anspielung an Marxʼ elfte Feuerbachthese35: »Don’t act. Just think.«36 Es geht für ihn zunächst erst einmal darum, die Welt wieder verschieden zu interpretieren, bevor sie schließlich zum Guten verändert werden kann. Doch die Freiräume dafür scheinen verloren, wenn politischer Aktivismus von einer eingeübten Eventkultur überformt wird.

Die folgende Ideengeschichte in Schlaglichtern setzt es sich zum Ziel eine Ideengeschichte zu skizzieren, die das Werden und Vergehen der freien Zeit und die Ideenbildung über sie in das Zentrum ihrer Betrachtung stellt. Es gilt, die Grenzverschiebungen zwischen Zeiträumen der Fremdbestimmung (des Heteronomen) und der freien Zeit (des Autonomen)37 sowie die theoretischen Perspektiven auf diese zu bestimmen. Politische Ideen waren in dieser Lesart nicht nur Vorschläge, wie mehr Freiheit oder auch Sicherheit erreichbar wäre, sondern (wenn auch oft im Subtext) nicht selten Vorschläge dahingehend, wie mehr freie Zeit für den Menschen erreichbar wäre. Der Kern der freien Zeit besteht in Autonomie. Dies allerdings stets innerhalb eines Rahmens konkreter gesellschaftlicher Normen, die historisch variieren. Der Mensch bleibt nach Aristoteles essenziell ein »zoon politikon«, ein soziales und politisches Wesen und daher »kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen«38, wie Marx es formulierte.

Methodisch ergeben sich bei der ideengeschichtlichen Betrachtung der freien Zeit einige Problematiken. So ist Freizeit zweifellos ein moderner und anachronistischer Begriff, wird aber in andere Epochen rückübertragen. Die »frey zeyt« des Mittelalters hatte beispielsweise noch eine vollkommen andere Bedeutung.39 Dennoch taucht die Idee in der Geschichte in verschiedensten Formen auf, deren Bedeutungsinhalt ungefähr dem heutigen Gehalt nahe kommt: etwa als »otium« in der römischen Antike, »scholé« im alten Griechenland oder als »freie Zeit« bei Karl Marx. Es handelt sich also um eine begrifflich gestaltwandlerische Idee, die oftmals als Gegenbegriff zum Begriff Arbeit konstruiert wird.40 Ich verwende »freie Zeit« als einen Containerbegriff bzw. als einen neutralen Begriff, der die Epochen umspannen kann.

Eine weitere Überlegung kann man bei der folgenden Betrachtung im Hinterkopf behalten: Hat freie Zeit die Tendenz, sich selbst abzuschaffen? Dem ist sicher so, wenn man darauf blickt, dass die freie Zeit mit kulturellen Tätigkeiten gefüllt wird oder dass der Ursprung der Kultur überhaupt im Spiel liegt, wie Johan Huizinga in seinem Buch Homo Ludens (1938) meint.41 Und auch schon Friedrich Schiller vertrat bekanntlich die Auffassung, dass der Mensch nur dort wirklich Mensch sei, wo er spiele.42 Freie Zeit ist also nicht unbedingt, oder nur sehr selten, als wirkliches Nichtstun zu begreifen. Jene Formen der Füllung der freien Zeit, Kultur, Spiel und Nichtstun, sind aber nicht als problematisch zu erachten. Konsum in seiner heutigen Form hingegen mag auch als Kultur begriffen werden, doch ist dieser letztlich die funktionale Gegenseite der kapitalistischen Produktion und der damit einhergehenden Erweckung künstlicher Bedürfnisse. Die Werbeindustrie ist nur ein besonderer Teil der Lohnarbeit, die persuasive Erzählungen spinnt, die das Konsumniveau immer höher treiben. Wirkliche freie Zeit aber sollte als Gegenbegriff zu wirtschaftenden Tätigkeiten begriffen werden und damit auch als Gegenteil von Lohnarbeit und Konsum.

Dieser Auffassung war auch Hannah Arendt. In ihrem Werk Vita Activa oder vom tätigen Leben (1960) entwirft sie ein ähnliches Modell der Lebenstätigkeiten in kritischer Absicht. Sie unterscheidet zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Während Handeln gemeinschaftliche politische Tätigkeiten meint, ist das Arbeiten bloße Reproduktionstätigkeit, von der nichts zu bleiben scheint, insofern die erwirtschafteten Lebensgrundlagen auch täglich wieder verzehrt werden. Das Herstellen hingegen erschafft die uns umgebende dinghafte Welt. Arendts Kulturkritik an der modernen Gesellschaft fand ihre Orientierung an den Idealen der griechischen Antike, der die Politik als eigentlicher und höchster Selbstzweck galt. Im Vergleich erscheint die moderne Gesellschaft als eine sich beschleunigende Reduktion des tätigen Lebens auf Arbeit und Konsum. Demgegenüber bestand Arendt darauf, dass der öffentliche Raum freigehalten und erweitert werden müsse.43

Freie Zeit ist ein Thema der Zukunft. Die Automatisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt steht bevor. Wie sich diese gestalten wird, wird ganz unterschiedlich prognostiziert. Eine plötzliche Massenarbeitslosigkeit ist zwar nicht zu erwarten, dennoch sind insbesondere der Bereich einfacher Tätigkeiten und der Dienstleistungssektor potenziell leicht durch intelligente Systeme ersetzbar. Letztlich ist dies eine Frage der wirtschaftlichen Kalkulation, viel mehr aber noch eine Frage der gesellschaftspolitischen Steuerung. Es ist bisher unklar, ob mehr Arbeitsplätze verloren gehen als neue Aufgaben geschaffen werden. Wenn etwa die Digitalisierung weniger neue Produktionszweige erschließt als bestehende ›optimiert‹.44 Vermutlich wird etwa die Umstellung der Autoproduktion auf E-Mobilität mit großen Arbeitsplatzverlusten einhergehen, da Elektromotoren weit einfacher gestaltet sind als die äußerst komplexen Brennstoffmotoren. Um diesen Entwicklungen zu begegnen, zirkulieren die verschiedensten Ideen. Lebenslange Weiterbildung wird als Schlüsselmodell gepriesen. Wagemutigere Ansätze denken über eine Besteuerung von Finanztransaktionen oder gar Robotern nach, um auf diese Weise neue staatlich bezahlte Stellen im Sozialbereich oder gar ein Grundeinkommen zu finanzieren.45 Hier bleibt es zwar bei Lohnarbeit als Normmodell, doch erfahren sogenannte ›soziale‹ Berufe möglicherweise eine Aufwertung durch eine ihnen nun zukommende erhöhte gesellschaftliche Anerkennung.

Das gegenwärtige, am Wachstum orientierte Paradigma braucht letztlich eine breite Schicht von kaufkräftigen Kunden für die Produkte der Industrie, egal ob diese nun durch ihren Arbeitslohn finanziert werden oder durch ein garantiertes Grundeinkommen. Wenn man das Potenzial der Automatisierung und Digitalisierung zur Befreiung von der Arbeit akzentuiert, so ist ein Grundeinkommen wohl ein denkbarer Weg. Nicht um die Lohnarbeit ad hoc abzuschaffen, wohl aber um graduell eine »Multiaktivitätsgesellschaft«, von der der Sozialphilosoph André Gorz sprach, zu erreichen, die den antiquierten zentralen Stellenwert, den die Lohnarbeit im Leben der meisten von uns einnimmt, überwinden kann.46 Unter der Bedingung des Grundeinkommens könnte die intrinsische Motivation der Menschen auch in Lohnarbeitstätigkeiten noch viel stärker zur Entfaltung kommen, da niemand mehr zu erdrückenden Tätigkeiten gezwungen wäre.47 Vielleicht kann in Zukunft die freie Zeit und ihre Eigenheiten die Arbeit stärker beeinflussen als bisher, umgekehrt dazu, die Logik der Arbeit schleichend auf unser ganzes Leben übergriff.48

Zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Buches bewirkt die Corona-Pandemie 2020/2021 für viele Menschen eine unfreiwillige Auseinandersetzung mit ihrer freien Zeit. Die Welt stand plötzlich still. Die globalen Beziehungen wurden auf ein notwendiges Minimum zurückgefahren und das öffentliche Leben wurde eingefroren. Das Potenzial freier Zeit wurde so um ein wesentliches Element gebracht. Hinzu kommt, dass aufgezwungene Pausen selten als etwas Befreiendes wahrgenommen werden. Doch die Situation bietet trotz allem auch eine Chance zur Besinnung und zum Überdenken bisher gelebter Werte. Welche längerfristigen Schlüsse im Ausnahmezustand gezogen werden ist in vielen Momenten noch offen.

1Bei den Jungen Pionieren der DDR galt, dass auf die Anrufung »Seid bereit!« die symptomatische Antwort »Immer bereit!« (für Frieden und Sozialismus) zu erfolgen hatte.

2Vgl. Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen A–L, Akademie Verlag, Berlin 1993, S. 55. Hier heißt es im Original »zu harter Arbeit gezwungenes Kind«, wobei im Text das Wort »Arbeit« durch das als passender empfundene Wort »Tätigkeit« ersetzt wurde. Durch diese leichte Abwandlung wird die sinngemäße Definition weniger zirkulär.

3Vgl. Hardt, Michael; Negri, Antonio: Demokratie. Wofür wir kämpfen. Campus Verlag, Frankfurt a.M.; New York 2009, S. 18-22.

4Vgl. Precht, Richard David: Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann, München 2018, S. 163-164.

5Siehe dazu: Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005.

6Frodermann, Corinna; Grunau, Philipp; Haepp, Tobias; Mackeben, Jan; Ruf, Kevin, Steffes, Susanne; Wanger, Susanne: Online-Befragung von Beschäftigten. Wie Corona den Arbeitsalltag verändert hat, IAB-Kurzbericht, 13/2020, Nürnberg 2020, S. 5, online unter: http://doku.iab.de/kurzber/2020/kb1320.pdf (Abruf am 14.03.2021).

7Der Soziologe Oskar Negt schreibt etwa: »Arbeitszeitverkürzungen in der Größenordnung und der das Prinzip von Herrschaft berührenden Qualität wie die 10-Stunden-Bill, der 8-Stunden-Tag und schließlich, wie wir sehen werden, auch die 35-Stunden-Woche weisen über die betrieblichen Orte weit hinaus und werden am Ende politisch, das heißt: durch Eingriffe in das gesamtgesellschaftliche Machtgefüge entschieden.« Negt, Oskar: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Campus Verlag, Frankfurt a.M.; New York 1984, S. 31.

8Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Campus Verlag, Frankfurt a.M.; New York 1996 (1993).

9Siehe dazu: Herzog, Lisa: Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. Hansa, Berlin 2019.

10Hirsch, Michael: Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit. Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 2016.

11Vgl. ebd., S. 11-12.

12Vgl. ebd., S. 15-16.

13Welzer, Harald: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2019, S. 165-166.

14Precht, Richard David: Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann, München 2018, S. 7-8. Er fügt allerdings zugleich angesichts der heutigen Zustände hinzu: »Wenn das Ende der Lohnarbeit für viele nur dazu dient, ihre Daten statt ihrer Arbeitskraft verwerten zu lassen, verblasst das große Versprechen, das die Digitalisierung anbietet: dass, mit Oscar Wilde gesagt, produktiver Individualismus die Kultur bestimmt und nicht entfremdete Lohnarbeit.« Ebd., S. 37.

15Gorz, André: Das Ende des Kapitalismus hat schon begonnen. In: Ders.: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Rotpunktverlag, Zürich 2009, S. 17-29 (20).

16Siehe dazu: Hirsch, Michael: Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit. Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2016, S. 187.

17Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. oekom, München 2016, S. 127.

18Ebd., S. 127.

19Ebd., S. 129-130.

20Vgl. ebd., S. 146-147.

21Russell, Bertrand: Lob des Müßiggangs. dtv, München 2019 (1935).

22Ebd., S. 15-16.

23Ebd., S. 18-19.

24Ebd., S. 21.

25Ebd., S. 26.

26Ebd., S. 26-28.

27Ebd., S. 30-31.

28Abgesehen von Schachcomputern, Chatbots und Roboter-Haustieren.

29Siehe dazu: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1982 (frz. 1979).

30Vgl. Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Rotpunktverlag, Zürich 2010, S. 25-37.

31So wie man sprichwörtlich den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.

32Honneth, Axel: Der arbeitende Souverän. Um sich an der Demokratie zu beteiligen, braucht es Selbstachtung. Doch wenn die eigene Arbeit wenig zählt, wird es schwierig. Das ist ein Problem. In: taz.de (12.06.21), online unter: https://taz.de/Arbeit-Selbstachtung-und-Demokratie/!5774633/ (Abruf am 19.06.2021).

33Zu den wenigen aktuellen Ausnahmen gehören: Hunnicutt, Benjamin Kline: Free Time: The Forgotten American Dream. Temple University Press, Philadelphia 2013, sowie: Rose, Julie L.: Free Time, Princeton University Press, Princeton; New Jersey 2016.

34Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus Verlag, Frankfurt a.M.; New York 2015 (1998); Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft. Matthes & Seitz, Berlin 2010.

35Diese lautet: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« Marx, Karl (MEW 3): Thesen über Feuerbach. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 3. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1969, S. 533.

36Siehe dazu: https://www.youtube.com/watch?v=IgR6uaVqWsQ (Abruf am 08.11.2019).

37Vgl. Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Rotpunktverlag, Zürich 2010, S. 66-67; 257.

38Marx, Karl (MEW 1): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 1. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1956, S. 378.

39Vgl. Prahl, Hans-Werner: Geschichte und Entwicklung der Freizeit. In: Freericks, Renate; Brinkmann, Dieter (Hg.): Handbuch Freizeitsoziologie, Springer VS, Wiesbaden 2015, S. 3-17.

40Adorno, Theodor W.: Freizeit, in: Ders. Stichworte. Kritische Modelle. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1969, 57-67.

41Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rohwolt, Reinbek 2004 (1938).

42Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Ders. (Hg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Cottasche Verlagsbuchhandlung, Tübingen 1795, S. 88.

43Arendt, Hannah: Vita Activa oder vom tätigen Leben. Piper, München; Berlin; Zürich 2016 (1960).

44Vgl. Precht, Richard David: Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann, München 2018, S. 29.

45Die Idee des Grundeinkommens wird im Folgenden oft angerissen, aber nicht in einem eigenen Kapitel diskutiert, da diese Diskussion schon an anderer Stelle ausführlich nachzulesen ist. Siehe dazu: Kovce, Philip; Priddat, Birger P.: Bedingungsloses Grundeinkommen – Grundlagentexte. Suhrkamp, Berlin 2019.

46Vgl. Gorz, André: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2000, S. 102-109.

47Vgl. Precht, Richard David: Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann, München 2018, S. 158; 169-172.

48Vgl. Habermas, Jürgen: Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit (1958). In: Giesecke, Hermann (Hg.): Freizeit- und Konsumerziehung, 2. Aufl., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974, S. 120-122.

2.Die Idee der Muße von der Antike bis zur frühen Neuzeit

Der Begriff der Politik und viele Begriffe der politischen Ideengeschichte wurzeln in der griechisch-römischen Antike. Auf diese Epoche zurückzugehen ist daher auch dann geboten, wenn auf das theoretische Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaftsleben sowie der persönlichen Freizeit geblickt werden soll. Im Folgenden wird exemplarisch auf Platons und Aristotelesʼ Werke Bezug genommen. Insbesondere Aristoteles hat verschiedenste Tätigkeitsformen unterschieden, die für ihn in unterschiedlichem Maße mit Tugendhaftigkeit gekoppelt und damit Glück verheißend waren. Dabei wird auch deutlich, dass das antike Denken zumeist zwischen verschiedenen Personen bzw. Statusgruppen wie Herren und Sklaven unterscheidet und ihnen aufgrund vermeintlich natürlicher Eigenschaften Tätigkeitsprofile zuordnet. Auch die römische Kultur übernahm einige der griechischen Ansichten.

In der frühen Neuzeit steht insbesondere Thomas Morusʼ (1478-1535) Utopia (1516) für einen wirkungsmächtigen ideengeschichtlichen Entwurf einer Einteilung in Arbeit und freie Zeit, der sich vom antiken Modell unterscheidet und mit diesem bricht, insofern beide Tätigkeitssphären nicht länger verschiedenen Personengruppen zugewiesen werden. Stattdessen wird erstmals ein egalitärer Ansatz verfolgt der Arbeitszeiten und Ruhephasen gleich verteilt und so zu einem neuen idealtypischen Gleichgewicht findet. Diesem Modell ist unsere heutige Vorstellungswelt vom Anspruch her viel näher als dem antiken Modell, wenn sich auch faktisch vielerorts ein anderes Bild zeigt.1

In der Antike war die Freiheit von der Arbeit im Haushalt die Voraussetzung für Politik, die als Sache freier Bürger galt. Die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft wurden von Sklaven erarbeitet. Die philosophisch oder kreativ unbegabten Bürger Athens wären wohl vor Langweile gestorben, wenn sie nicht wenigstens über Krieg und Frieden hätten entscheiden können. Politik war für sie Sinngebung und Selbstzweck. Ämter zu bekleiden sowie die Beteiligung an der Diskussion auf der Agora galten als ehrenvolle Aufgaben. Auch die Entwicklung von Kultur und Philosophie gründete letztlich auf der täglichen Arbeit der versklavten Menschen, die die Felder bestellten.

Nach Aristoteles verlangte das »gute Leben«, wie er es in der Politik beschreibt, vom Menschen, den er als ein staatsbildendes und sprachbegabtes Wesen begriff, die gemeinschaftliche Auseinandersetzung über Gut und Schlecht.2 Ein gelungenes Leben war für Aristoteles daher zwingend ein politisches Leben, frei von Arbeit. Die Sklaverei, die eine solche Idee vom guten Leben erst ermöglichte, erschien Aristoteles als natürlich und als ein Nebenprodukt des Kriegszustandes, der den Normalfall für die antiken Stadtstaaten bildete. Aristoteles rechtfertigte die Sklaverei, da in seiner Vorstellungswelt manche Menschen von Natur aus zum Herrschen und andere von Natur aus zum Arbeiten bestimmt waren.3 Dennoch war er in seiner Rechtfertigung so vorrausschauend, die Möglichkeit einer anderen Welt bereits in den Blick zu nehmen. Dabei beschrieb er dem Traum von einer Erlösung von der Arbeit durch den technischen Fortschritt. Erst heute erscheint uns dieser Traum zum Greifen nah und Aristoteles damaliger Gedankengang damit überraschen aktuell. Er schrieb:

»Wenn nämlich ein jedes Werkzeug in der Lage wäre, entweder auf einen Befehl hin oder indem es einen Befehl im Voraus bemerkt, sein Werk zu vollführen, wie man das von den Statuen des Daidalos berichtet oder von den Dreifüßen des Hephaistos, von denen der Dichter sagt, daß sie sich von selbst in die Schar der Götter mengten, wenn auf diese Weise die Weberschiffchen selbst webten […], dann benötigten wohl weder die Baumeister Handlanger noch die Herren Sklaven.«4

Aristoteles, der in jedwedem Bereich das Ideal der ausgeglichenen Mitte anstrebte5, wandte dieses auch auf die Muße an: Wohl am ehesten glücklich seien die Menschen, die über eine lange Zeit oder gar ihr ganzes Leben tugendhaft leben und zudem mit materiellen Gütern ausreichend ausgestattet sind.6 Unter einem tugendhaften Leben wird ein Leben verstanden, das von Vernunft und Strebsamkeit geprägt ist, wobei Aristoteles insbesondere die Mäßigung oder das Beherrschen der eigenen Affekte zentral scheint. Das angeborene Streben nach Verbesserung durch Vernunftgebrauch in der Gemeinschaft bedeutet für den Menschen, seinen Bestzustand (aretḗ) erst in der Polis realisieren zu können.7 Ein glückliches Leben (eu zên) ist erst in der politischen Gemeinschaft möglich.

Es ist vor allem das theoretische und philosophische Leben, das er in seiner Nikomachischen Ethik mit einem glücklichen Leben gleichsetzt.8Es steht somit noch über dem politischen Leben, das Aristoteles in der Politik beschreibt. Ein glückliches Leben kann also ein politisches Leben, das eines der praktischen Tugend ist, oder ein philosophisches Leben sein. In beiden Fällen wird Muße vorausgesetzt, insofern die Bürger von den Tätigkeiten des Haushalts zunächst befreit sein müssen, wenn auch das Leben des Politikers dann nur noch sehr wenig mit Muße zu tun hat.9 Diese unterteilt sich bei Aristoteles einerseits in Vergnügen und Spiel sowie andererseits in Zeiten der Kontemplation. Gemäß Aristotelesʼ Theorie der Muße in der Nikomachischen Ethik ist die Muße im Sinne von Spiel und Vergnügen zunächst gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der Arbeitskraft.10 Diese letztere Form der Muße ist kein Ziel an sich: Tyrannen – und die, von denen man allgemeinhin annimmt, sie wären glücklich – haben, wie Aristoteles zu beobachten meint, die Neigung ihre freie Zeit mit »lustvollen Vergnügungen« zu füllen. Jene Neigung erschien ihm jedoch als kindisch und sei letzten Endes für die Wohlhabenden auch nicht Glück versprechend, da sie sich von äußeren Gütern abhängig machen. Glück durch unmittelbar lustvolle Betätigungen ist oberflächlich und erschöpft sich bald.11 Wirkliches Glück hingegen müsse autark von äußeren Dingen sein.

Aristoteles schließt sich der Auffassung des Anacharsis an, der sagte: »Sich vergnügen, um sich dann Ernstem zu widmen.« Vergnügen und Spiel, die für Aristoteles eine Form des Ausruhens sind, sind demnach nur sinnvoll, sofern sie auf die Zeit der Tätigkeit bezogen bleiben.12 Anders formuliert braucht es ein gelungenes Gleichgewicht zwischen Arbeit und Spiel, wobei unter Arbeit eben nicht Lohnarbeit verstanden wird, sondern freie Tätigkeit, die aus sich selbst heraus motiviert. In diesem Sinne kennt Aristoteles auch die Freuden des Schaffens: »Wer mit Lust tätig ist, wird alles besser beurteilen und durchführen können, wie etwa diejenigen tüchtige Geometer werden, die Freude an der Geometrie haben […].«13 Wie die Geometrie könne auch die Musik eine freudige und ernsthafte Tätigkeit sein, die Glück verheißt, doch nur wenn man die Tätigkeit um ihrer selbst willen liebt. Um zu einer solchen Form des inneren Glücksempfindens zu gelangen, die ihm als ein tugendvoller Weg erscheint, brauche es eine gelungene Erziehung des Geistes durch die richtigen Gesetze, die nur in guten Staaten garantiert sein können.14 Insbesondere muss der Staat auch dazu erziehen, dass die heranwachsenden Bürger die Muße zur kulturellen Selbstentfaltung zu nutzen wissen, indem etwa musikalisch-künstlerische Bildung vermittelt wird.15

Muße im Sinne einer »vita contemplativa«, also eines vornehmlich betrachtenden Lebens, geht aber über das politische Leben hinaus. Ein kontemplatives bzw. philosophisches Leben, das sich der Wahrheitssuche widmet, ist für Aristoteles die tugendhafteste Form der Existenz, da sie sich selbst genügt und so als Glück verheißend anzusehen sei.16 Dieses Leben steht aber (für Aristoteles naturgemäß) nicht allen Menschen offen: Das Handwerk wie auch die Sklavenarbeit sind für ihn notwendige Teile der Gesellschaft bzw. die Basis des politischen oder philosophischen Lebens der anderen. Daraus wiederum leitet sich auch eine Art der Fürsorgepflicht ab – oder wie es im ersten Buch der Politik heißt: »Der Herr denkt für seinen Sklaven, der ihm die Muße dazu ermöglicht.«17 Daher haben die Staatsführenden die freie Zeit der Gesellschaft so zu organisieren, dass etwa durch Feste und Ruhephasen dazu erzogen wird, die Muße zu pflegen, die grundlegend für die Tugendausbildung der Staatsbürger ist. Erst damit wird die Basis der gesellschaftlichen Ordnung zu Friedenszeiten sichergestellt.18 Aristotlesʼ Verfassungsideal war das der »Politie«. Diese ist die Herrschaft der vielen bzw. einer besonders vernünftigen Gruppe, die Aristoteles mit dem wohlhabenden Mittelstand identifiziert. Jene Bürger, die Teil dieser Gruppe waren, waren frei von den niedrigen Tätigkeiten des Handwerks oder des Handels, die keine Zeit zur Muße (und damit zur Tugendausbildung) lassen.19

Neben Politik und Philosophie gibt es noch weitere Tätigkeiten, die ebenso um ihrer selbst willen angestrebt werden. Im achten Buch der Politik stellt Aristoteles einen umfangreichen Katalog von als frei erachteten Tätigkeiten auf, die Teil der Erziehung sein sollten und mit der Muße verbunden sind. So gelten ihm das Lesen, der Sport und das Zeichnen sowie bedingt auch das Musizieren als freie und selbstzweckhafte (wenn auch oft nützliche) Tätigkeiten.20 Demgegenüber gelten ihm Berufsmusiker letztlich als Handwerker, und da ihre Tätigkeit einem äußeren Zweck gilt, ist sie für Aristoteles als niedrig und unfrei anzusehen.21Im Übrigen steht den Handwerkern Erholung zu, Sklaven jedoch haben keinen rechtlichen Anspruch auf Muße22, wenngleich auch ihre Arbeitskraft für ihr Tagwerk wiederhergestellt werden muss.

Aus der Reihe der selbstzweckhaften freien Tätigkeiten sticht, wie bereits bemerkt, das kontemplativ philosophische Leben hervor, das zwar um seiner selbst willen angestrebt wird, dennoch indirekt auch zur tugendhaften Vervollkommnung des Menschen beiträgt, der so seine Affekte zunehmend beherrscht. Er übt sich darin, nicht länger unmittelbar lustvollen Dingen nachzujagen, und gewinnt so zunehmend Autarkie. Ein negatives Beispiel ist für Aristoteles hingegen der nach Geld strebende Mensch, denn dieser stehe eigentlich unter Zwang. Insbesondere auch deswegen, da bei diesem Ziel kein Ende absehbar ist und Geld letztlich nur ein Mittel für andere Dinge ist oder zumindest sein sollte.23

Platon (428/427-348/347 v. Chr.), Aristotelesʼ Lehrer, wurde durch eine unglückliche Verkettung von ungünstigen Umständen zum Sklaven und nur mit Glück durch einen seiner Bewunderer freigekauft.24 Man sagt auch, dies alles geschah, ohne dass sich Platon dessen bewusst gewesen wäre. Wäre Platon nicht freigekauft worden, hätte die Geschichte der Philosophie vermutlich andere Wendungen genommen. Zeit zum Denken hätte er wohl kaum noch gehabt. Platons politische Idee, die er in Der Staat (Politeia) ausführlich beschrieb, war es, einen Staat zu errichten, der von Philosophen geführt wird. Von der Demokratie hingegen hielt er wenig, da sie für ihn nicht viel mehr darstellte als die Herrschaft des Pöbels, der sich von seinen Affekten und Stimmungen leiten ließ, anstatt auf die Vernunft zu hören. Die Vernunft der Philosophen allerdings brauche Zeit zu reifen.

So sah Platon eine fast 50-jährige Ausbildung für die Philosophenkönige vor, wobei die Ausbildung von Philosophen von verschiedenen Phasen geprägt ist, sodass auf die Phasen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Phasen der Arbeit für die Polis folgen, um auch an praktischer Erfahrung zu gewinnen.25 Hier stehen allerdings jene Tätigkeiten und Praktiken im Vordergrund, die nichts mit Ökonomie, Handel oder Handwerk zu tun haben, wie etwa leitende Positionen im Krieg. Das 50-jährige Auswahlverfahren der von Platon imaginierten Philosophenherrscher weist ein reiches Curriculum auf: So werden etwa propädeutisch Gymnastik und Musik, nach dem 20. Lebensjahr auch Arithmetik sowie Geometrie gelehrt und schließlich das dialektische Denken und systematische Wahrheitssuche. Nach dem 30. Lebensjahr hätten eine erneute Eignungsprüfung und Auslese zu folgen.26 Die Philosophen müssen während ihrer Lehrzeit und darüber hinaus nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen. Sie widmen sich den Wissenschaften, die ihnen angeboten, aber nicht aufgezwungen werden, denn im Gegensatz zum Körper, den man auch unter Zwang trainieren kann, haftet der Seele keine erzwungene Lehre an, woraus folge, dass die Wissenschaft spielerisch erlernt werden solle und sich so auch am besten die individuellen Fähigkeiten zeigen.27 Zugleich legte Platon (der an seiner Stelle Sokrates sprechen lässt) Wert darauf, dass ihnen privater Besitz untersagt ist, sie zudem weder Gold noch Silber berühren dürfen.28 Sie sollten interessenlos, fast asketisch, einzig an der Wahrheit und am allgemeinen Wohl interessiert sein. Sie regieren in der idealtypischen Vorstellung Platons einzig aus Pflichtgefühl.29

Alle Tätigkeiten jenseits von Politik und Philosophie erfuhren Geringschätzung durch Platon. Den Handel und auch das Handwerk sah er als geborener Aristokrat mit ererbtem Besitz als entwürdigende Tätigkeiten an, die nicht mit politischer Tätigkeit zu vereinbaren seien, die sich weder am Ruhm noch am Geld orientiert. Handwerker üben sich in ihrer Kunst, doch üben sie zusätzlich auch die Kunst des Gelderwerbs aus. Geldgier und Ehrgeiz wiederum gelten dem von Platon geschilderten Sokrates als Schande.30

Platons Pointe lag im Hinblick auf unsere Fragestellung meines Erachtens darin, dass die Staatsleitenden ihre Muße einzig für die Philosophie und das politische Denken und Handeln nutzen sollten. Die Freizeitkultur der Griechen aber, wie Theater, Gesellschaftsspiele, Feste und Bäderkultur, hatte für ihn eine gefährliche Seite, insbesondere da, wo sie nicht von der Tradition geleitet war. Speziell die Musik und die Dichtkunst erweckten dabei Platons Misstrauen, wenn auch die musische Erziehung neben der Gymnastik einen ebenso großen Teil einnehmen sollte, um die Seelen im Gleichgewicht zu halten.31 Insofern erscheint Platon auch die Dichtkunst im Verdacht mit erfundenen Märchen die Jugend zu verwirren, statt zu deren tugendhafter Bildung beizutragen, denn sittlich und tugendhaft sind die wenigsten der bekannten Erzählungen und Mythen. Schlimmer noch: Die Dichtung ist in der Mehrzahl der Fälle der Grund, warum die Affekte und Gefühle angeregt und dominant gegenüber dem Seelenteil des Verstandes werden.32 Die Erzählkunst und Dichtung, die wohl einen Großteil der freien Zeit der alten Griechen füllte, ist für Platon kein ästhetischer Selbstzweck, sondern einzig aus dem Kriterium der Nützlichkeit für den Staat heraus zu bewerten. Dieser aber sollte sich in der Vorstellung Platons gegen alle potenziell zersetzenden Kräfte präventiv erwehren. Stabilität ist hierbei das oberste Ziel.

Wie übermäßige Armut oder übermäßiger Reichtum so kann nach Platon auch neue Musik den Wunsch nach Veränderungen und »Neuerungssucht« im Staat wecken.33 Ein neuer Ryhthmus kann alles aus den Fugen bringen. Und so findet sich im Staat die deutliche Warnung: »Man muss sich nämlich davor hüten eine neue Art der Musik einzuführen, sonst gefährdet man das Ganze«.34 Womöglich kursierten in den politisch bewegten Zeiten, die Platon miterlebte, auch einige neue Ideen, die sich ihren künstlerischen Ausdruck in Liedern und Slogans suchten, ähnlich wie etwa im 20. Jahrhundert John Lennons Song »Imagine« (1971) oder wie der Spruch der 68er- Bewegung »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren«. Dinge, die Platon, der sich einen hierarchisch wohlgeordneten Drei-Klassen-Staat erträumte, wohl erschaudern lassen hätten. Der Kulturhistoriker Jean-Marie André fasst Platons Überlegungen zur Kontrolle der Tätigkeitsphasen der Bürger treffend zusammen:

»Im Staat und in den Gesetzen spitzt Platon seine Kritik an der Freizeitkultur zu. Vernachlässigung und Auflösung des Bürgersinns werden bei ihm zu einem ›Kind des Müßiggangs und der Trägheit‹, und er führt den Verfall der Staatsformen, dessen typisches Merkmal für ihn die Demokratie ist, auf die vergiftende Freizeitmoral zurück, die luxuriöses Leben, Müßiggang und Umsturz hervorbringt.«35

Jene, von Stimmungen geleitete maßlose Lebensführung wurde von Platon mit der Herrschaftsform der Demokratie in Verbindung gebracht.36 Da die Demokratie sich selbst zersetze, bereite sie auch den Boden für die Machtusurpation eines Tyrannen, die es ebenso zu verhindern gelte.37