Freiheit - eine Inventur - Karl Hepfer - E-Book

Freiheit - eine Inventur E-Book

Karl Hepfer

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Beschreibung

Freiheit ist eines der höchsten Güter der Menschheit. Doch warum zersetzen wir sie durch ein Denken in Sachzwang- und Effizienzkategorien? Warum lassen wir sie durch staatliche Rundumbetreuung untergraben und gehen im digitalen Raum so sorglos mit ihr um? Und wie können wir unsere Autonomie vor einer profitgetriebenen Datenindustrie schützen und vermeiden, zu Komplizen unserer eigenen Überwachung zu werden? Karl Hepfer greift in seiner Inventur auf die grundlegenden Überlegungen der Philosophie zur Freiheit zurück. Dabei stärkt er diejenigen in ihrer Argumentation, die den Sinn des Lebens nicht in dessen besinnungsloser Optimierung sehen.

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Seitenzahl: 248

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Karl Hepfer

Freiheit – eine Inventur

Zwischen Betreuungspolitik und digitaler Selbstentmündigung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: Sabine Erdbrink und Karl Hepfer

Print-ISBN: 978-3-8376-6552-9

PDF-ISBN: 978-3-8394-6552-3

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6552-9

https://doi.org/10.14361/9783839465523

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Vorbemerkung

1.Theorie

1.1Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen…

1.2Individuum und Kollektiv

≡ Benthams ›Panopticon‹

1.3Die Abwesenheit äußerer Hindernisse

≡ Biometrie

1.4Autonomie

1.5In freier Entscheidung gegen die Autonomie?

≡ Wohnraumüberwachung

1.6Mills Voraussetzungen und die ›Befehlsgewalt der Gesellschaft‹

≡ ›Smarte‹ Todessehnsucht

1.7Das Paradox der besten Wahl

≡ Schuldvermutung

1.8Das Dogma der Effizienz

≡ Nichts geht verloren

1.9Nudging: der Mensch als Maschine

≡ ›Wearables‹

1.10Selbstoptimierung

1.11Veränderte Verhältnisse

2.Praxis

2.1Konformismus

2.2› Big Data‹

2.3Weiter so! – Der ›Naturalistische Fehlschluss‹

2.4Grenzen der Verantwortung

2.5Das höchste Ziel

2.6Folgen

2.7Sozialer Determinismus

2.8Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale?

2.9Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung

2.10Smarter Totalitarismus

2.11Die Macht der Mehrheit

2.12Ökonomie

2.13Einfache Sprache

2.14Unbegrenzte Möglichkeiten

2.15Die Freiheit der Andersdenkenden

2.16Covid19: Comeback des Kollektivismus

2.17Fazit

3.Anhänge

Anhang 1 – Willensfreiheit

Anhang 2 – Neo/Liberalismus

4.Quellen und Anmerkungen

Quellenverzeichnis

Anmerkungen

 

 

Inzwischen haben wir begriffen, dass es bei diesen Technologien nie um Beziehungen zueinander, sondern um Macht über andere ging.  E. Snowden

Vorbemerkung

Die Steinzeit endete vor gut 8000 Jahren mit dem Wechsel zur Metallverarbeitung. So steht es im Lehrbuch. Heute wissen wir, dass dieses Zeitalter erst 1983 wirklich zu Ende war. Denn erst in diesem Jahr brachte eine Elektronikfirma aus Schaumburg/Illinois das erste Mobiltelefon auf den Markt. Es hörte auf den Namen Motorola Dynatac und kostete ein Vielfaches aktueller High-End-Modelle. Mit den Nachfolgern des Dynatac verbringt jeder Mensch in diesem Land heute knapp vier Stunden seiner Lebenszeit – pro Tag und im Schnitt.1 Dauerte der flächendeckende Umstieg vom Faustkeil auf Messer, Löffel, Axt und Sägeblatt um die 300 Generationen, so vollzog sich der Siegeszug der Elektronikto go in nicht einmal einer Generation. Heute ist das mobile Endgerät ein ständiger Begleiter fast jedes Deutschen jenseits des Grundschulalters. Weltwahrnehmung, Kontaktpflege, Orientierung, Einkauf, Freizeitgestaltung – ohne Handy und Internet geht inzwischen für die meisten so gut wie nichts mehr.

Das hat Folgen. Eine der wichtigsten betrifft eine grundlegende Zutat unseres Lebens: unsere Freiheit. Während allgemeine Unzufriedenheit und Reizbarkeit, Abgelenktheit und verkürzte Aufmerksamkeit, Vernachlässigung der realen Umgebung und Gesundheitseffekte als Folgen des durchelektronisierten Alltags gelegentlich ins Bewusstsein drängen, bleiben die Konsequenzen für unsere Freiheit in der Regel unsichtbar. Jedenfalls solange man nicht bewusst hinsieht. Denn anders als bei einer militärischen Sonderaktion, die Menschen die Hoheit über ihre Lebensführung und ihr Land nehmen soll, liegt der Schaden für die Freiheit hier nicht offen auf der Hand. Es ist ein Freiheitsverlust der kleinen Schritte, der im Zusammenwirken einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren entsteht. Die elektronischen Handschmeichler und unser Online-Verhalten sind dabei nur ein Aspekt, wenn auch ein wichtiger. Weitere sind (unter anderem) eine Politik der ständigen Bürgerbeschwichtigung und -betreuung, wie sie in den letzten Jahren üblich geworden ist, ein Dauerkrisenmodus, der die öffentliche Kommunikation regelmäßig an ihre Grenzen führt, eine Nachlässigkeit bei staatlichen Kernaufgaben, die sich nicht zuletzt in einer sogenannten Optimierung des Gesundheits- und des Bildungswesens niederschlägt, die Art und Weise wie wir miteinander umgehen. Die Entwicklungen wirken zusammen und arbeiten weitgehend unter dem Radar daran, unserer Freiheit auf mittlere und lange Sicht ihr Fundament zu entziehen.

Für ein besseres Verständnis des Zusammenspiels, müssen wir ein wenig ausholen. Denn nicht nur die Wechselwirkungen und Vielfältigkeit der einzelnen Entwicklungen trüben hier den Blick, sondern auch die Tatsache, dass die Frage nach der Freiheit nicht irgendeine Frage ist. Im Gegenteil, sie betrifft den Kern unseres modernen Gesellschafts- und Selbstverständnisses. Darauf weist schon die Vielzahl von Kombinationen hin, in denen uns das Wort begegnet: Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Reisefreiheit, Religionsfreiheit und andere. Dies hat seinen Teil dazu beigetragen, dass der Freiheitsbegriff über die Zeit zu einer Chiffre von vagem Inhalt und hoher Beliebigkeit geworden ist,2 die es den unterschiedlichsten Gruppen ermöglicht, sich unter seinem Banner zu versammeln. Dabei ist nicht zuletzt der begriffliche Nebel, der die Freiheit umgibt, dafür verantwortlich, dass wir uns in ihrem Umfeld an viele widersinnige Denkfiguren gewöhnt haben. So scheint es gegenwärtig beispielsweise völlig normal zu sein, denjenigen, die unsere Freiheit mit Terror und Bomben beseitigen wollen, mit dem reflexhaften Ruf nach einer rigiden Einschränkung oder sogar nach der weitgehenden Abschaffung bürgerlicher Freiheiten zu begegnen. Die Freiheit soll hier im Namen der Freiheit eingeschränktwerden – um den Freiheitsfeinden ihr Handwerk zu legen. Ähnliches gilt für die fürsorgliche Einhegung der Bürger im Namen ihrer eigenen Freiheit, eine Denkfigur, die auch in offenen Gesellschaften inzwischen zum Standardinventar des Regierungshandelns gehört. Und zwar eben auch dort, wo sie keinerlei Berechtigung hat. Ein zentrales Anliegen des folgenden Textes ist es, den Blick für den Begriff und die Sache zu schärfen, so dass es leichter fällt, unzulässige Berufungen auf die Freiheit zu erkennen – und entsprechend zu handeln.

Dies verlangt zunächst eine Beschäftigung mit den theoretischen Hintergründen, beginnend beim Ursprung unserer modernen Freiheitsvorstellung in der Aufklärung. Und zwar, weil viele der Fragen und Themen, die uns heute in diesem Zusammenhang beschäftigen, zu jener Zeit das erste Mal systematisch diskutiert wurden und weil diese Diskussion unseren Blick bis heute prägt. Es lässt sich daher nicht vermeiden, dass es gleich zu Beginn etwas kompliziert wird. Die gute Nachricht ist jedoch, dass es im zweiten Teil, in dem es um die Anwendung der in Teil eins gewonnen Einsichten auf die aktuelle Lage geht, deutlich einfacher zugehen wird.

Wer etwas Geduld aufbringt und sich den theoretischen Grundlagen im ersten Teil stellt, erfährt, warum die Überlegungen und Antworten von damals in der Diskussion zwar noch sehr präsent sind, aber oft nicht mehr richtig greifen. Und er erfährt auch, wie die verschiedenen Aspekte der Freiheit miteinander verzahnt sind und welche aktuellen Entwicklungen deshalb besondere Aufmerksamkeit erfordern. Vorrangiges Ziel der Darstellung ist es, aus den grundsätzlichen (philosophischen) Überlegungen zum Thema einen Nutzen für die Beurteilung unserer gegenwärtigen Situation zu ziehen. Letzte Antworten wird es dabei, wie so oft in der Philosophie, keine geben. Wer nach ewigen Wahrheiten sucht, muss sich bei der Konkurrenz und ihren Glaubensgewissheiten umsehen. Wer dagegen das eigene Nachdenken den absoluten Wahrheiten vorzieht, ist hier richtig. Die gedankliche Auseinandersetzung wird seinen Blick und seine Urteilskraft schärfen und die Kenntnis der Zusammenhänge wird seine Argumentation in der Sache stärken. Der Schwerpunkt der Analyse liegt dabei, wie angedeutet, eher auf den wenig sichtbaren Mechanismen, die dabei sind, das Fundament unserer Freiheit ernsthaft und dauerhaft zu schädigen, als auf dem Versuch, Menschen durch Waffengewalt ihrer Freiheit zu berauben.

Vorweg an dieser Stelle noch eine kurze Bemerkung zur Organisation. Die Anmerkungen, von denen es einige gibt, stehen hinter dem Haupttext. Dies mag lästig sein, weil es zum Umblättern zwingt. Da sich hier aber nicht nur Quellennachweise finden, die bequem am Seitenende Platz gefunden hätten, sondern auch längere Erläuterungen, die den Lesefluss unterbrechen, ist dies die elegantere Lösung. Hinzu kommt, dass, wer erst im Anschluss an den Haupttext einen Blick in die Anmerkungen wirft, ohne allzu häufiges Zurückblättern auskommen dürfte.

Hannover, im März 2022

1.Theorie

1.1Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen…

»Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, ist die, unser eigenes Wohlergehen auf unsere eigene Weise zu verfolgen, solange wir dabei nicht versuchen, anderen ihre Freiheit zu nehmen oder ihre Bestrebungen behindern, ihr Wohlergehen zu erreichen«.1 Diese wirkungsmächtige Bestimmung stammt aus einem Schlüsseltext über die Freiheit. Er wurde Mitte des vorletzten Jahrhunderts von John Stuart Mill (1806-1873) der Öffentlichkeit vorgestellt. Dort bezieht der britische Philosoph die Freiheit offensichtlich bereits auf das Zusammenleben.

Doch wie verhält es sich mit ihr vor jeder Vergesellschaftung des Menschen, also in einem (imaginierten) ›Naturzustand‹,2 in dem jeder auf sich allein gestellt für sein Überleben sorgt? Ist Freiheit wenigstens dort das Vermögen, jederzeit tun und lassen zu können, was auch immer wir wollen? Oder steht sie auch hier schon unter Einschränkungen? Eine kurze Überlegung macht deutlich, dass die überaus naheliegende Bestimmung der Freiheit als Vermögen, tun und lassen zu können, was immer wir wollen, auch hier schon nicht zutrifft. Zwar müssen wir im Naturzustand keine Rücksicht auf andere Menschen nehmen, doch die Natur selbst setzt uns klare Grenzen. Unsere Biologie, die Beschaffenheit unserer Umwelt und die Gesetze der Physik beschränken unsere Möglichkeiten. Diese Einsicht liegt auf der Hand. Doch sie weist auf einen wichtigen Gedanken hin, der sich leicht übersehen lässt: Gegen die Naturgesetze oder die Klugheitsregeln des Überlebens ist jede Auflehnung vergeblich – egal wie wir uns zu ihnen stellen, ändern können wir sie nicht.3 Anders dagegen die Gesetze und Regeln des sozialen Miteinanders: diese können wir anpassen, überarbeiten und verbessern (oder verschlechtern), im Idealfall durch friedliche Verhandlung und in Kooperation.

Und genau hier beginnt das philosophische Nachdenken. Denn folgen wir beim Aushandeln der Freiheit im gesellschaftlichen Zusammenleben etwa Mills naheliegender und durchaus einleuchtender Bestimmung, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo sie die Freiheit anderer beeinträchtigt, so wirft dies umgehend eine Reihe von Fragen auf. Einige von ihnen sind grundlegend und durchaus schwer zu beantworten. Dies gilt bereits für die naheliegende Frage, wann und wo genau die Ausübung meiner Freiheit die Freiheit meines Gegenübers einschränkt; und es gilt auch für die daran direkt anschließende Frage, wie mein Gegenüber oder auch die ganze Gemeinschaft reagieren darf und soll, wenn die Ausübung meiner Freiheit andere Menschen in ihrer Freiheit einschränkt.

Den entsprechenden Zusammenhang kennen wir gut aus dem Alltag. Er spiegelt sich beispielsweise in der Frage, ob der Hang zu verletzungsträchtigen Sportarten oder ungesunder Ernährung die Krankenkasse zu höheren Prämien berechtigt, oder dazu, einen Antrag auf Aufnahme in die Versicherung von vornherein abzulehnen. Denn offensichtlich schränken Risikokandidaten die Freiheit der ›Solidargemeinschaft‹ ein, weil sie die Kasse zwingen, entweder die Beiträge für alle zu erhöhen oder aber Leistungen zu kürzen. Im Ergebnis bedeutet das, dass alle Versicherten, ob Risikosportler oder nicht, ob Steak- oder Körner-Fan, Alkoholiker oder Abstinenzler, einen größeren Teil ihres Einkommens für die gleichen Leistungen aufbringen müssen und über diesen Teil dann nicht mehr frei verfügen können. Schränkt ein solches Verhalten also ihre Freiheit ein? Sicher. Ist diese Einschränkung zulässig und vertretbar? Das kommt darauf an. Denn einerseits ist es einer der Kerngedanken einer solidarischen Krankenversicherung, die Gesundheitsrisiken einer frei gewählten individuellen Lebensführung abzusichern. Und zwar ohne vorzugeben, welches Verhalten akzeptabel ist und ohne die ständige Überwachung ihrer Mitglieder. Andererseits ist die Versuchung groß, bestimmte Verhaltensweisen als vermeidbare Risiken mit einem individuellen Risikoaufschlag zu belegen. Und im Extremfall die Aufnahme zu verweigern oder uneinsichtigen Mitgliedern zu kündigen.

Wer meint, dies sei legitim, kann sich zur Begründung auf eine der beiden Traditionslinien berufen, auf denen sich die Freiheitsdiskussion bis heute bewegt.4 Diese Tradition bestimmt die Freiheit des Einzelnen von der Gemeinschaft aus. Wer dagegen der Auffassung ist, die Gemeinschaft solle ein solches Verhalten mittragen, nicht zuletzt, weil Vorschriften hier die Freiheit der individuellen Lebensführung erheblich einschränken, hat dagegen die zweite große Argumentationslinie der Philosophiegeschichte im Rücken. Diese beginnt mit ihren Überlegungen beim Individuum und betrachtet den Menschen erst in zweiter Linie als Teil einer Gemeinschaft. Bevor wir die beiden Modelle gleich etwas näher betrachten, ist es wichtig, sich an dieser Stelle bewusst zu machen, dass die Antwort auf die grundsätzliche Frage, wo die Freiheit des Einzelnen im Zusammenleben endet, aufgrund des unterschiedlichen Blicks auf die Rolle von Individuum und Gemeinschaft durchaus verschieden ausfallen kann. Das heißt, wer bestimmen möchte, wie viel Zwang die Gemeinschaft auf den Einzelnen ausüben darf oder sogar muss, damit alle Beteiligten ihren Lebensentwürfen in (größtmöglicher) Freiheit nachgehen können, kommt oft zu anderen Schlüssen, wenn er die Freiheit des Einzelnen als eine Funktion der kollektiven Freiheit betrachtet, als derjenige, der die Freiheit vom Individuum aus denkt.

1.2Individuum und Kollektiv

Sehen wir uns zunächst die kollektivistische Seite genauer an. Der Grundgedanke derjenigen, die von der Gemeinschaft aus denken ist dieser: Der Einzelne kann nur dann frei sein, wenn die Gemeinschaft, deren Teil er ist, als Ganzes frei ist; das heißt, unabhängig von dem, was andere Gemeinschaften für sich entscheiden. Da diese Grundannahme die Freiheit des Individuums direkt vom Zustand der eigenen Gemeinschaft abhängig macht, muss der Einzelne in diesem Modell für die Freiheit seiner Gemeinschaft unter Umständen erhebliche Einschränkungen bei der selbstbestimmten Verfolgung seiner Ziele hinnehmen.1

So formuliert klingt der kollektivistische Ansatz nach einem schlechten Handel. Warum sollte ich mich darauf einlassen, meinen Lebensentwurf zunächst den Bedürfnissen der Gemeinschaft unterzuordnen – und das nur auf das vage Versprechen hin, dass die Gemeinschaft mir irgendwann meine Freiheit mit Zinsen zurückgibt?

Eine kurze Überlegung macht deutlich, dass der Ansatz nicht ganz so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Schließlich gewinnt auch der Einzelne, wenn es seiner Gemeinschaft gelingt, Reibungsverluste niedrig zu halten. Denn wenn das Kollektiv bei der Organisation und der Zuteilung von Ressourcen freie Hand hat, kann es dadurch den Spielraum für die Gemeinschaft unter Umständen erheblich vergrößern – und später ihre Mitglieder an den entsprechenden Gewinnen beteiligen. Eine Ressourcenverwaltung, die wenig Rücksicht auf die individuelle Freiheit nehmen muss, führt daher im guten Fall tatsächlich dazu, dass die anfänglichen Einschränkungen für den Einzelnen später mehr als ausgeglichen werden und die individuelle Freiheit am Ende höher ist, weil die Gemeinschaft weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen agieren kann und sich zum Beispiel keine Gedanken über die Energieversorgung im kommenden Winter machen muss. Soweit die Theorie.

Bekanntlich hat der kollektivistische Ansatz zurzeit keine gute Presse. Dies hat vor allem zwei praktische Gründe. Erstens sind die historischen Versuche, ihn in großem Stil in die Tat umzusetzen, im letzten Jahrhundert spektakulär gescheitert. Sowohl der Kommunismus in seinen verschiedenen Ausprägungen als auch der Nationalsozialismus waren, indem sie (im Namen der Partei, des Kollektivs, oder der Volksgemeinschaft) auch die Freiheit des Einzelnen von der Gemeinschaft aus bestimmten, die Quelle erheblicher sozialer und wirtschaftlicher Verwüstungen.2

Zweitens speist sich das Misstrauen gegen diesen Ansatz aus der durchaus naheliegenden Vermutung, dass, wenn sich die individuelle Freiheit allein oder auch nur überwiegend im Hinblick auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft bestimmt, es für den Einzelnen meistens doch eher ungemütlich wird. Dass dieses Misstrauen nicht unbegründet ist, lässt sich bei einem zweiten Blick auf das Versicherungsbeispiel erkennen. Denn sobald dort im Namen der Solidargemeinschaft ein bestimmtes Verhalten für alle verbindlich festgelegt wird, greift dies tatsächlich weitreichend in die freie Verfolgung individueller Lebensentwürfe ein. Egal, ob es diejenigen trifft, die ohne Neondress, Helm, Hand- und Knieschutz auf ihr Fahrrad steigen, oder diejenigen, die regelmäßig den Grünkernbratling für das Steak vom Grill stehen lassen: Sie alle laufen in diesem Modell Gefahr, im Namen der Gemeinschaft auf Linie gebracht zu werden. Und sei es nur dadurch, dass sie eben keine Versicherung mehr finden, die sie zu akzeptablen Bedingungen aufnimmt.

Den Umstand, dass entsprechende Maßnahmen im Namen des Kollektivs durchaus unerbittlich eingefordert werden können, hatte der eingangs erwähnte Vordenker der modernen Freiheitsdiskussion, John Stuart Mill, schon vor mehr als 150 Jahren klar im Blick. Er sprach in diesem Zusammenhang von der »Tyrannei« oder der »Diktatur der Mehrheit«3 und stellte zudem fest, diese bedrohe die Freiheit des Einzelnen in erheblichem Maß. Heute sind seine Worte aktueller den je, weil die Möglichkeit der globalen Kommunikation die soziale Kontrolle durch das Kollektiv auf die nächste Ebene hebt. Nicht zuletzt deshalb stößt eine Argumentation, die den Einzelnen (und damit auch seine Freiheit) ausgehend vom Kollektiv bestimmt, aktuell oft auf Ablehnung. Und dies trotz der Tatsache, dass die philosophische Fachdiskussion ihrem Grundgedanken vor einigen Jahren unter der Überschrift des Kommunitarismus eine kurze Renaissance bescherte. Der folgende Text nähert sich der Diskussion um die Freiheit nicht zuletzt deshalb von der anderen Seite, vom Individuum aus. Dennoch ist es wichtig, die kollektivistische Argumentation im Blick zu behalten. Denn sie taucht gelegentlich unvermittelt und mit Macht wieder auf und kann, wie etwa in der Argumentation zu Beginn der Corona-Pandemie, jederzeit wieder in die allgemeine Diskussion Einzug halten (s. unten Abschnitt 2.16).

Wenden wir uns also diesem zweiten Modell zu. In ihm ist Freiheit zuallererst die Freiheit des Individuums. Es soll seinen Lebensentwurf selbstbestimmt und ohne unnötige Beschränkungen verfolgen können. Freie Wahl von Ausbildung, Beruf, Lebensort; Meinungs-, Rede- und Religionsfreiheit und die Möglichkeit, auch sonst das Leben weitgehend nach eigenen Vorgaben führen zu können – um die Freiheit des Individuums scheint es heute an vielen Orten dieser Welt tatsächlich gar nicht so schlecht bestellt zu sein. Vor allem, nachdem der Mauerfall dem Modell der offenenGesellschaft noch einmal Auftrieb gegeben hat. Schließlich war es auch das Verlangen nach individueller Freiheit, das die Proteste von 1989 befeuerte und damit dem kollektivistischen Ansatz eine Absage erteilte.

Allerdings ist die Lage seitdem nicht einfacher geworden, sondern tatsächlich um einiges unübersichtlicher und komplizierter. Denn die individuelle Freiheit lässt sich spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht länger an einer bestimmten Regierungsform festmachen, sondern wird, gerade auch in den offenen Gesellschaften des Westens, in vielfältiger Weise bestimmt von den Geschäftsmodellen multinationaler Unternehmen. Und die Mechanismen, auf denen diese Geschäftsmodelle beruhen, beschädigen die Freiheit des Einzelnen auf subtilere Weise als die staatlichen Beschränkungen, Vorgaben, Regeln und Gesetze, deren Zwänge durchsichtig und nachvollziehbar sind im Vergleich mit dem Konformitätsdruck und den Zwängen, die die Datenindustrie erzeugt. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Strategie der Datenindustrie darin besteht, ihren Kunden einen greifbaren Nutzen zu versprechen. Ihre autonom agierenden Fahrzeuge, die Legion der ›smarten‹ Helfer im Haus, der elektronische Gesundheits-Tracker, oder auch die sprachgesteuerten ›Wanzen‹ im Wohnzimmer erleichtern den Alltag. Doch sie machen uns eben auch abhängig von fremden Vorgaben und bedeuten an verschiedenen Stellen einen Verlust an Freiheit. Wer anderen die Auswahl von Informationen überlässt, wer Entscheidungen an eine Software delegiert, deren Hersteller an den Daten verdienen wollen, an die sie durch ihre Dienstleitungen gelangen (und die oft sogar doppelt profitieren, weil es ihnen gelingt, den Nutzer für die Technik, die ihn ausforscht, ein weiteres Mal zur Kasse zu bitten), legt seine Freiheit nicht unbedingt in die besten Hände.

Die Fremdbestimmung mag eher unproblematisch erscheinen, solange es nur darum geht, sich in einer unbekannten Umgebung zurechtzufinden, oder sich unterhalten zu lassen. Weniger harmlos allerdings ist der Tausch ›Freiheit gegen Komfort‹, wenn es um die Bildung eigener Meinungen zu wichtigen Fragen geht. Den Softwarearchitekten kommerzieller Anbieter mit ihren Algorithmen die Hoheit über die eigene Weltwahrnehmung zuzugestehen wird spätestens dann fragwürdig, wenn dies Wahlen beeinflusst und den Blick auf die Wirklichkeit verengt. Eine Online-Informationsindustrie, die uns dabei hilft, alle gesellschaftlichen Themen auszublenden, die uns unangenehm sind, arbeitet mit daran, dass wir den Kontakt mit den realen Gegebenheiten verlieren.4 Gleichzeitig erleichtert jede zusätzliche Einsicht in unsere Lebensgewohnheiten die Manipulation unseres Verhaltens.5

Und die Folgen der Entwicklung betreffen selbstverständlich auch diejenigen, die dem digitalen Komfortversprechen mit Zurückhaltung begegnen. Etwa dann, wenn viele Informationen nur noch im Netz abgerufen werden können und auch dann, wenn auch sie Waren nur noch Online beziehen können, weil der Einzelhandel am Ort vor der Internet-Konkurrenz in die Knie gegangen ist. Denn dann sind auch die Skeptiker der flächendeckenden Digitalisierung gezwungen der Datenindustrie deren Rohstoff zuzuliefern. Ich komme darauf zurück.

Und auch das Verhältnis von Regierung und Regierten ist unübersichtlicher geworden. Wo es lange Zeit nur Gesetze und Vorgaben gab, um den Rahmen für das gesellschaftliche Miteinander abzustecken, gibt es heute, selbst in Demokratien, die Tendenz, den unbedarften Bürger vor sich selbst zu schützen und ihn umfassend zu betreuen. Die staatliche Fürsorge reicht dabei oft weit in den persönlichen Alltag hinein. Das fängt bei kleinen Dingen an, wie beispielsweise bei Haushaltsgeräten, die eine bestimmte Leistungsaufnahme nicht überschreiten dürfen, oder bei den verbindlichen Vorgaben zur Installation von Rauchmeldern, und hört bei umfangreichen Vorschriften zur Dämmung von Privatimmobilien nicht auf. Die Haltung, die hinter derartigen amtlichen Durchgriffen steht, hat das aufklärerische Ideal des mündigen Bürgers bereits de facto in den Ruhestand geschickt. Selbst wenn es in offiziellen Verlautbarungen noch ein Nachleben führen darf.6

≡  Benthams ›Panopticon‹

Im ausgehenden 18. Jahrhundert überlegte der Utilitarist Jeremy Bentham, wie sich die Beobachtung und Überwachung einer größeren Zahl von Menschen bereits durch die Architektur der Räumlichkeiten erleichtern lässt.7 Sein Vorschlag war die runde oder sternförmige Anlage, die es ermöglicht, alle Räume von einer zentralen Beobachtungsstation aus einzusehen. Dabei ging Bentham von der Annahme aus, dass bereits die bloße Möglichkeit beobachtet zu werden, einen psychologischen Druck erzeugt, der Regelverstöße und abweichendes Verhalten erheblich verringert.8 Sein ›Panopticon‹ (von griech. panoptes: allsehend) eigne sich, so meinte Bentham, besonders für den Strafvollzug, weil es eine Haftanstalt ohne Zellentüren ermögliche und die Aufsicht mit wenig Personal zu bewerkstelligen sei. Tatsächlich inspirierte sein Konzept in der Folgezeit Gefängnisbauten auf der ganzen Welt. Aber auch weitergehende Anwendungen hatte Bentham bereits im Blick. So schlug er vor, auch die Massenunterbringung von Obdachlosen oder die Beaufsichtigung der Arbeit in Fabriken auf diese Weise zu erleichtern, ebenso wie den Betrieb von Krankenhäusern und Schulen. Letztlich war er überzeugt, dass die Idee des Panopticons sich eigentlich »ohne Ausnahme auf alle Unternehmen [anwenden lasse], bei denen man eine Menge von Personen unter Beobachtung halten will.«9 Die naheliegende Frage, wer die Aufseher solcher Einrichtungen denn beaufsichtigen solle, beantwortete Bentham mit dem knappen Hinweis auf ›die Gesellschaft‹.

Benthams Vorstellung des Panopticons, obwohl schon über 200 Jahre alt, illustriert unter anderem, wie ein großer Teil unserer Interaktion im Netz derzeit organisiert ist. Es fasst ein wesentliches Merkmal der großen virtuellen Gemeinschaften, in denen ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung heute regelmäßig aktiv ist, in ein einprägsames Bild. Denn auch hier steht hinter vielen der Angebote eine zentrale Instanz, die das Verhalten aller beobachtet und dabei selbst ungesehen bleiben kann. Benthams Annahme, die Beobachter würden von ›der Gesellschaft‹ kontrolliert, erscheint, jedenfalls in diesem Fall, mehr als optimistisch. Was bereits für sich genommen ein Grund wäre, genauer hinzusehen. Doch es gibt noch einen zweiten Grund, der nicht weniger wichtig ist. Denn ebenso wie sich Bentham vor zwei Jahrhunderten mit utilitaristischem Eifer an der Verbesserung der Gesellschaft versuchte, treten die Weltverbesserer hinter den sozialenPlattformen im Netz mit einer Agenda an, die erhebliche Folgen für unser Zusammenleben und unsere Freiheit hat. Ausgangspunkt ihres Handelns ist die Behauptung, zu wissen, was Menschen wollen. Schließlich ermöglicht ihnen ihre Tätigkeit einen privilegierten Zugriff auf die Wünsche ihrer Mitmenschen. Dies führt dazu, dass der Konformitätsdruck, den sie in ihrem ›Panopticon‹ erzeugen können, schon heute erheblich ist. Wer damit rechnet, dass seine Äußerungen oder sein Verhalten ständig von der (Welt-)Öffentlichkeit beobachtet wird, übt sich bereits heute oft in Selbstzensur. Problematisch ist dies nicht zuletzt deshalb, weil auch für diejenigen, die der Vorstellung einer vollkommen transparenten Welt nichts abgewinnen können, die Räume eng werden. Die Valley-Vision der Totalen Transparenz – ›You have zero privacy anyway. Get over it‹10 – gibt weder etwas auf die Freiheit der Andersdenkenden, noch lässt sie den Einzelnen unbehelligt, selbst dann, wenn er seine Mitmenschen in keiner Weise in ihrer Freiheit einschränkt.

1.3Die Abwesenheit äußerer Hindernisse

Bevor wir die Mechanismen genauer betrachten, die heute in oft schwer wahrzunehmender Weise die Mill’sche Freiheitsgrenze zu Ungunsten des Individuums verschieben, und bevor wir einzelne Überlegungen zur Freiheit genauer in den Blick nehmen, müssen wir uns zunächst mit dem Begriff selbst auseinandersetzen. Denn er steht nicht nur für eine zentrale Vorstellung unserer Ideengeschichte, sondern in dieser Eigenschaft auch als Überschrift über verschiedenen Diskussionen, die oft nicht allzu viel miteinander zu tun haben. Dies gilt für den allgemeinen Sprachgebrauch und die philosophische Fachdebatte, die diesen Sprachgebrauch in Teilen widerspiegelt, gleichermaßen.

Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen dabei zwei große Fragen: die Frage nach der Freiheit im sozialen Miteinander und die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens. Dabei ist die zweite Frage deutlich älter. Sie begleitet das abendländische Denken bereits seit seinen Anfängen und berührt den Bereich der Metaphysik. Was so viel heißt wie, dass es sich hier um eine Frage handelt, deren Beantwortung jenseits unserer Erkenntnismöglichkeiten liegt. Insofern ist es ein glücklicher Umstand, dass dieses Thema mit der Frage, die uns hier beschäftigt, nur wenig zu tun hat und wir uns nicht ausführlicher mit ihr auseinandersetzen müssen. An dieser Stelle deshalb nur so viel: Das zentrale Problem der Willensfreiheit besteht darin, das Bild, das wir von uns selbst als frei entscheidende und handelnde Akteure haben, mit der Auffassung zusammen zu bringen, dass jedes Ereignis eine Ursache hat. Denn wenn jedes Ereignis eine Ursache hat, wenn unsere Welt durchgängig kausal bestimmt ist, herrschen die Naturgesetze unerbittlich auch über unsere Entscheidungen und unser Verhalten. Sie gelten nicht nur für die Vorgänge der äußeren Natur, sondern bestimmen auch über die Abläufe in unserem Gehirn. Was sich schlecht mit der Ansicht zu vertragen scheint, dass unsere Entscheidungen frei sind; und offensichtlich erhebliche Folgen für unseren Blick auf Verantwortung und Bestrafung hat. Tatsächlich ist die Diskussion um den FreienWillen uferlos und fordert die Philosophie seit über zweieinhalbtausend Jahren heraus, ohne dass bisher eine befriedigende Antwort auch nur am Horizont in Sicht wäre (für weiterführende Bemerkungen zum Thema s. Anhang 1).

Dies gilt für die Frage der Freiheit im sozialen Miteinander nicht. Sie beschäftigt die Philosophie erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit und sie erfordert keine metaphysischen Mutmaßungen und Spekulationen über Fragen, die sich mit unseren Mitteln prinzipiell nicht entscheiden lassen. Im Gegenteil, die Antworten, die wir hier erhalten, lassen sich gut an der Erfahrung überprüfen. Und auch wenn sich immer noch eine beachtliche Zahl verschiedener Themen unter der Überschrift der sozialen Freiheit versammelt, so laufen letztlich alle Stränge der Diskussion auf die Grundfrage zu: »Wie frei kann der Einzelne in der Verfolgung seiner Wünsche und Interessen sein, wenn er mit anderen in einer Gemeinschaft lebt – ohne dass er durch seine Handlungen die Grundlagen eines freiheitlichen Miteinanders untergräbt?«

Die Frage so zu stellen, setzt zwar offensichtlich bereits voraus, dass wir der Meinung sind, in irgendeiner Weise Einfluss auf unser Verhalten nehmen zu können und grundsätzlich in der Lage zu sein, uns für oder gegen bestimmte Handlungen zu entscheiden – so dass die Auseinandersetzung um die soziale Freiheit dann letztlich also doch Stellung bezieht im Hinblick auf die Willensfreiheit. Dennoch, die Antwort, die wir bei der Willensfreiheit geben, ist logisch unabhängig davon, wie es sich in der Sache tatsächlich verhält (eben weil die Beantwortung der Frage unseren Erkenntnishorizont grundsätzlich übersteigt).1 Und deshalb gibt es keinen Grund, bei der Überlegung, wie ein Zusammenleben in Freiheit gelingen kann, nicht mit derjenigen Annahme zu arbeiten, die unserem Selbstverständnis entspricht und die uns weiter bringt. Also konkret: zu unterstellen, wir seien in unseren Entscheidungen und Handlungen wenigstens in diesem schwachen Sinn frei.

Wenn die Frage der Willensfreiheit die Philosophie seit über zweitausend Jahren beschäftigt, so gilt dies für die Beschäftigung mit der Freiheit im Zusammenleben überraschenderweise nicht. Tatsächlich rückt die soziale Freiheit erst zu Beginn der Neuzeit in den Fokus einer systematischen Diskussion. Dass sie es ausgerechnet in jener Zeit tut, ist allerdings kein Zufall, sondern eine direkte Folge einer allgemeinen theoretischen Neuausrichtung der Epoche. Die neue Forderung ist, dass Ansprüche aller Art – dies gilt für Erkenntnis und Macht gleichermaßen – nachvollziehbar begründet werden müssen. Damit stellen die Denker der Neuzeit das bis dahin gültige Modell der Herrschaftssicherung auf den Prüfstand. Und kommen zu dem Schluss, dass eine Rechtfertigung von Machtansprüchen, die sich, wie bisher üblich, auf jenseitige (und ebenfalls metaphysische) Prinzipien stützt, ungenügend ist, weil sie weder nachvollziehbar ist noch sich an der Erfahrung überprüfen lässt.

Die Suche nach einer Alternative konzentriert sich auf den Menschen selbst, auf seine Wüsche und Bedürfnisse. Da die Diskussion schnell an Umfang und Dynamik gewinnt, entwickelt sie sich zügig zu einer eigenständigen, systematischen Disziplin, zur PolitischenPhilosophie. Wichtig in unserem Zusammenhang ist dabei vor allem, dass die in diesem Zusammenhang geführte Auseinandersetzung die Ablösung des kollektivistischen Blicks auf den Menschen vorantreibt. Der Einzelne wird nun nicht länger als Teil einer gottgegebenen Gemeinschaft betrachtet, sondern er bekommt unverwechselbare Konturen und wird zum eigenständigen Individuum.2 Vor diesem Hintergrund entwickelt sich also unser modernes Gesellschafts- und Staatsverständnis und gleichzeitig entstehen die bis heute nachwirkenden Gedanken zur Freiheit. Sie nimmt eine zentrale Stelle ein, wenn es um die Neubegründung gesellschaftlicher Macht geht. Thomas Hobbes (1588-1679), der »Vater der Politischen Philosophie«, bestimmt sie so:

»Unter Freiheit [liberty] versteht man, sofern man sich an die echte Bedeutung dieses Wortes hält, die Abwesenheit äußerer Hindernisse; von Hindernissen, die einem Menschen häufig einen Teil der Kraft nehmen, das zu tun, was er möchte, ihn aber nicht daran hindern können, die ihm verbliebene Kraft so zu nutzen, wie seine Urteilskraft und sein Verstand es ihm gebieten«.3

Und etwas allgemeiner:

»Freiheit [Liberty or Freedome] bedeutet (eigentlich) die Abwesenheit von Hindernissen; (mit Hindernissen meine ich äußere Faktoren, die die Bewegung einschränken); sie lässt sich nicht weniger auf vernunftlose und unbelebte Kreaturen anwenden als auf vernünftige. Denn was auch immer so gebunden oder durch seine Umwelt eingeschränkt ist, dass es sich nur in einem bestimmten Raum bewegen kann, der durch einen äußeren Gegenstand begrenzt wird, von dem sagen wir, es habe nicht die Freiheit weiter zu gehen.«4

Diese Bestimmung gibt bis heute den Ton für die weitere Diskussion vor. Freiheit bemisst sich wesentlich daran, wie stark der einzelne Mensch in der Verfolgung seiner Ziele, seiner Wünsche und Bedürfnisse von äußeren Umständen behindert wird.5

Doch so plausibel es zunächst klingt, die menschliche Freiheit allein davon abhängig zu machen, dass der Verfolgung individueller Vorhaben keine äußeren (physischen) Hindernisse im Weg stehen, so kann diese Bestimmung dennoch nur eine erste Näherung sein. Sie muss an mehreren Stellen wenigstens erläutert und an einigen Stellen auch ergänzt werden. Erstens: Es geht bei der Bestimmung der Freiheit im Zusammenleben der Menschen offensichtlich nicht um die Hindernisse, die uns aus unserer Biologie entstehen – also etwa aus der Tatsache, dass wir uns nicht ohne Hilfsmittel längere Zeit unter Wasser aufhalten, oder für längere Zeit in die Luft erheben können