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Es ist purer Zufall, dass Bundeskanzler Ernst Meister die unerwartete Bekanntschaft der zehnjährigen Emma macht. Denn Meister verläuft sich im Bundeskanzleramt, und nach diversen Irrwegen steht er plötzlich draußen. Dort ist ein Mädchen und spielt mit Murmeln; die beiden spielen eine Runde. An dieser Stelle könnte die Geschichte schon wieder vorbei sein, aber als Meister wegen Verdachts auf Herzinfarkt ins Krankenhaus muss, befindet sich unter den Genesungswünschen eine Karte, auf der in kindlicher Handschrift «Freitag 5» steht neben einer mit Klebestreifen aufgeklebten Murmel. Freitags um fünf wird von da an der Kanzler dafür sorgen, dass er ein paar Minuten Zeit hat, um mit dem Mädchen zu murmeln – und dabei das Wichtigste über die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu lernen. Denn wenn man im Kanzleramt arbeitet, kann es schon vorkommen, dass man den Blick für das Wesentliche verliert. Und wenn man die Welt mit Kinderaugen sieht, kann es passieren, dass man ebendiese Dinge wiederentdeckt. Als Emma irgendwann nicht mehr zu ihren Treffen erscheint, wird Meister erst klar, wie wichtig ihm die Begegnungen mit seiner neuen kleinen Freundin sind. Und da er inzwischen gelernt hat, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, macht er sich auf die Suche nach ihr.
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Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2025
Thomas Montasser
Roman
Eine berührende Freundschaftsgeschichte zwischen einer Zehnjährigen und dem Bundeskanzler
Es ist purer Zufall, dass Bundeskanzler Ernst Meister Bekanntschaft mit der zehnjährigen Emma macht. Denn Meister verläuft sich im Bundeskanzleramt, und nach diversen Irrwegen steht er plötzlich draußen. Dort hockt ein Mädchen und spielt mit Murmeln. Als Meister kurz darauf ins Krankenhaus muss, bekommt er neben zahlreichen Genesungswünschen auch eine Karte, auf der in kindlicher Handschrift «Freitag um 5» steht, neben einer mit Klebestreifen fixierten Murmel. Von nun an sorgt der Kanzler dafür, dass er freitags um fünf ein paar Minuten Zeit für Emma hat. Denn wenn man im Kanzleramt arbeitet, kann es vorkommen, dass man den Blick für das Wesentliche verliert. Und wenn man die Welt mit Kinderaugen sieht, kann es passieren, dass man ebendiese Dinge wiederentdeckt.
Ein kleiner Roman über die großen Fragen des Lebens und ein Plädoyer für mehr Miteinander.
Thomas Montasser ist Autor zahlreicher Romane und Kinderbücher, Germanistikdozent und Literaturagent. Neben diversen belletristischen Autorinnen und Autoren hat er auch mehrere Bundesminister und Pressesprecher der Bundesregierung vertreten. Er lebt mit seiner Familie in München und kennt nichts Erholsameres, als ein gutes Buch zu lesen (außer natürlich: eines zu schreiben).
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung FAVORITBUERO, München, unter Verwendung eines Motivs von Midjourney
ISBN 978-3-644-02423-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Die meisten Menschen wollen Freunde sein. Man fragt sie nur nicht.
Purer Zufall. Nichts weiter. Hätte Ernst Meister nicht unter einer ausgesprochen ausgeprägten Orientierungsschwäche gelitten und hätte er nicht bei einem seiner ersten Besuche der Toilette seines Dienstapartments die Badeschranktür mit dem Ausgang verwechselt, er hätte vermutlich nie herausgefunden, dass dahinter ein Durchlass zu den Versorgungsgängen lag. So aber stand er unvermittelt zwischen Abluftrohren, Elektrokabeln, Wasserleitungen und etlichen geheimnisvollen Schaltkästen, die alle paar Meter an der Wand angebracht waren – und entdeckte nach wenigen Schritten eine Tür, die auf einen weiteren Korridor und schließlich von dort nach draußen führte. Und draußen, das hieß nicht: in den Innenhof oder Richtung Haupteingang. Draußen, damit war eine schlichte Betonmauer an der Spree gemeint, an der, wie es der Zufall wollte, ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren mit einer Handvoll Murmeln spielte.
«Murmeln?», murmelte Ernst Meister und blickte sich um. Kein Mensch sonst weit und breit. Der Spreeweg lag verlassen neben dem Kanzleramt. «Dass es die noch gibt.»
«Willst du auch mal?», fragte das Mädchen und hielt ihm eine der schillernden gläsernen Kugeln hin.
Das war der Augenblick, in dem das Leben dieses unscheinbaren, nicht sonderlich glücklichen Mannes, der zufällig gerade der amtierende Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war und für gewöhnlich keine hundert Meter entfernt in einem ebenso weitläufig-luxuriösen wie traurigen Büro saß, eine völlig unerwartete Wendung nahm. «Hm», machte er und griff nach der Murmel mit seltsamem Gefühl. «Wir haben immer Münzen geworfen.» Murmeln waren gar nicht so sehr seins gewesen. Als Kind hatte er mit Zwei- oder Fünfpfennigstücken an die Wand gezielt. Wessen Münze näher zu liegen kam, der hatte gewonnen und durfte alle geworfenen Münzen einstecken. Murmelwerfen, das glich eher dem Boulespielen: Wer seine Kugel am nächsten an einer ganz bestimmten anderen platzierte, war Sieger. Und man durfte dabei die Kugeln der übrigen Spieler wegstoßen.
Meister holte also aus und warf. Ein bisschen zögerlich, ein bisschen gehemmt, wie das nun einmal seine Art war. Und längst nicht weit genug.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. «Macht nichts», sagte sie. «Kannst es noch mal versuchen.» Und reichte ihm eine weitere Murmel.
Diesmal ging es besser. Ein bisschen zumindest. Aber bei Weitem nicht gut genug.
Das Mädchen seufzte. «Du musst dich trauen.» Sie schob Meister zur Seite. «Guck mal.»
Dann machte sie es ihm vor. Und wie sie es ihm vormachte!
«Wow», raunte Meister und nickte anerkennend. «Das war ziemlich gut.»
«Du musst lockerer sein», erklärte das Mädchen und hob die Arme ein wenig, als wäre das die simpelste Weisheit der Welt.
«Lockerer», wiederholte Meister und blickte sich um. Immer noch keine Menschenseele weit und breit. «Das sagt sich so leicht.»
«Leicht!», rief das Mädchen. «Stimmt! Du musst es leicht machen. Guck mal.»
Und dann führte sie es ihm noch einmal vor. Ihre Kugel rollte nah an die mittlere, bis sie sich fast berührten. Doch Ernst Meister nahm es kaum wahr. Stattdessen blickte er den Spazierweg runter nach links und nach rechts und wieder nach links. «Gibt’s hier eine versteckte Kamera?»
«Hä?»
«Du spielst doch nicht ganz allein in dieser Gegend.»
«Ich spiele mit dir», entgegnete das Mädchen. «Aber wenn du nicht willst …» Sie sammelte ihre Murmeln ein und steckte sie in die Tasche ihrer rosa Hose. «Ich muss jetzt sowieso nach Hause.»
«Wenn du wüsstest, wo ich hinmuss», sagte Meister, mehr zu sich als zu ihr.
«Wohin musst du denn?», fragte das Mädchen trotzdem.
«Ach, das willst du gar nicht wissen», erwiderte der Kanzler.
«Du kannst doch nicht wissen, was ich wissen will», wandte das Mädchen irritiert ein. «Du bist komisch.»
Ernst Meister musste lächeln. «Das sagt nicht oft jemand zu mir.»
«Wundert mich.»
«Mich eigentlich auch», gestand der Kanzler und dachte sich, dass die Kleine irgendwie erfrischend war. Sie scherte sich nicht darum, wer er war. Oder vielmehr: was er war. Vermutlich hatte sie auch gar keine Ahnung. In dem Alter hatte man andere Interessen. «Spielst du öfter an der Spree?»
«Nein», sagte das Mädchen. «Hier ist ja nichts los.»
«Schade», erwiderte Meister und stellte überrascht fest, dass er es auch so meinte.
«Aber wenn du möchtest, geb ich dir eine Revanche», schlug das Mädchen vor.
«Revanche?»
«Beim Murmeln. Morgen um dieselbe Zeit?»
«Morgen? Da muss ich nach Brüssel.»
«Dann übermorgen.»
«Da bin ich in Stockholm.»
«Du bist aber viel unterwegs.»
«Ja», bemerkte der Kanzler. «Leider.»
«Sei froh. Ich war noch nie in Stockholm. Wo ist das überhaupt?»
«In Schweden.»
«Klingt cool.»
«Stimmt eigentlich.» Jetzt kamen doch ein paar Spaziergänger des Weges. Es wäre besser, er verschwand möglichst schnell. Menschen konnten unangenehm sein. Die einen nötigten einen zu Selfies, auf denen er nie gut aussah, die anderen beschimpften einen, meist für Dinge, für die man nichts konnte … «Am Freitag vielleicht?», schlug er vor. «Selbe Zeit?»
«Freitag», wiederholte das Mädchen. «Okay.»
Brüssel war ein Elend aus Sitzungen und Arbeitsessen. Stockholm hätte ganz schön sein können. Wenn er denn etwas von der Stadt gesehen hätte. Ging aber nicht, da auch hier ein Termin den anderen jagte und die Stadt vor allem aus dem Innenraum der Dienstlimousine und den Tagungsräumen der Regierung bestand. Jedenfalls gefühlt. Meister hatte sich abgewöhnt, solche Sachen zu fühlen. Denn wenn man diesen Alltag wirklich an sich heranließ, fühlte er sich alles andere als gut an. Immerhin flog in der Kanzlermaschine bei dieser Reise Rosi mit, eine ehemalige Klassenkameradin, die der Zufall hier mit ihm zusammengeführt hatte. Rosi war einige Jahre Flugbegleiterin gewesen, erst bei der Lufthansa und dann bei British Airways, ehe sie sich auf die Stelle bei der Flugbereitschaft der Bundeswehr beworben hatte und jetzt hin und wieder in Regierungsmaschinen mitflog. Rosi war ein bisschen alt geworden und ein bisschen rund, was Meister daran erinnerte, dass das auch für ihn galt. Er nahm es ihr aber nicht übel, denn Rosi war eine sehr sympathische Person. Sie hatte nie zu der Mehrheit der Klasse gehört, die Ernst Meister gehänselt hatte, weil er ein bisschen langweiliger, ein bisschen strebsamer und ein bisschen, nun ja, introvertierter war. Kein Vergnügen, wenn man in die Fünfte ging. Wenn man in die Zehnte ging, schon gar nicht. Rosi hatte ihn nicht nur nicht gemobbt, sondern ihn sogar verteidigt! Und einmal, als es besonders schlimm gewesen war, hatte sie nach der Schule auf ihn gewartet und ihm zum Trost für die zerbrochene Brille einen von ihren Butterkeksen geschenkt. Seither liebte er Butterkekse. Gönnte sich jedoch nur selten einen, weil die Dinger eben voll Butter waren und damit Gift für die Gefäße.
«Doktor Bülent wäre jetzt da, Herr Doktor», sagte Rosi prompt. Wenn Dritte anwesend waren, nannten sie sich beim Nachnamen. Musste ja niemand auf falsche Gedanken kommen. Er war «Herr Doktor», sie war «Frau Leuven». Doktor Bülent war immerhin ein echter Doktor, nämlich ein Arzt, der Leibarzt des Bundeskanzlers sogar, während Ernst Meister nur einen Doktor der Soziologie gemacht hatte (was seine Frau als Widerspruch in sich bezeichnete). Der Kanzler seufzte. «Dann schicken Sie ihn rein, liebe Frau Leuven. Danke.» Und krempelte schon mal seinen rechten Ärmel hoch, denn der Mediziner erschien zum obligatorischen Check. Blutdruck, Puls, Temperatur, Blick in die Augen, einmal tief einatmen, einmal tief ausatmen, noch mal ein, noch mal aus, Rücken gut?
«Ist das überhaupt seriös?», fragte der Kanzler. «So im Flugzeug? Ich meine, da hat man doch sicher andere Werte, oder?»
«Die haben Sie immer», erwiderte Dr. Bülent trocken. «Außerdem: Wenn ich warte, bis Sie zu mir in die Praxis kommen, werden wir das beide vermutlich niemals herausfinden.»
Da war was dran. Die nächsten paar Minuten ließ Ernst Meister die Prozedur über sich ergehen, ehe er nach dem Aktenstapel griff, den ihm Henske, sein persönlicher Assistent, hingelegt hatte. «Herr Bundeskanzler?», sagte Dr. Bülent.
«Etwas nicht in Ordnung?», erkundigte sich Ernst Meister, der sich eigentlich fühlte wie immer. Das heißt: Er spürte nichts Ungewöhnliches.
«Wie fühlen Sie sich?»
«Wie immer», sagte Ernst Meister.
«Hm.» Der Arzt verstaute sein Stethoskop. «Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?»
«Aber das wissen Sie doch, Doktor Bülent», erinnerte ihn der Kanzler. «Sie waren dabei.»
«Ich war mit Ihnen auf Rügen.»
«Na also.»
«Da haben Sie täglich acht Stunden gearbeitet.»
Ernst Meister sah seinen Arzt verständnislos an. «Und?»
«Das war kein Urlaub.»
«Ich habe mich bestens erholt», entgegnete der Kanzler und wuchtete sich demonstrativ den Aktenstapel auf den Schoß.
«Ihr Blutdruck und Ihre Blutwerte sagen etwas anderes», erklärte Dr. Bülent und musterte seinen Patienten vielsagend. «Sie bräuchten dringend eine Auszeit.»
«Ich bin der Bundeskanzler!», erklärte Ernst Meister.
«Umso wichtiger, dass Sie sich meinen Rat zu Herzen nehmen», sagte der Arzt knapp, nickte ihm freundlich zu und verließ den Kanzlerbereich des Flugzeugs.
Es klopfte. Rosi. «Einen Kamillentee?»
Ernst Meister zuckte mit den Schultern. «Wenn Sie Doktor Bülent fragen, ja.»
Der Kanzler überlegte, wann er sich zuletzt so auf einen Termin gefreut hatte. Konnte man das überhaupt Termin nennen? Eher eine Verabredung. Zugleich stellte er fest, dass sein Tag durchgeplant war bis in die allerletzte Minute. Kleine Lagebesprechung am Morgen, danach Vieraugengespräch mit der Präsidentin des Verfassungsschutzes, dann der Fraktionsvorsitzende und seine Stellvertreterin, danach dreißig Minuten für Aktenstudium, Abholung durch Fahrbereitschaft, Mittag mit zwei Vertretern der Autoindustrie, Rückfahrt ins Kanzleramt, dann Große Lage, kleiner Empfang für den Botschafter von Doha, Krisensitzung mit dem Bundespresseamt wegen der Umfragewerte, Besprechung mit dem Redenschreiber, Aktenstudium, Empfang für … Aktenstudium! Von 17.30 Uhr bis 18.15 Uhr. Hm. Da wäre er unbeobachtet und könnte sich … Andererseits: Aktenstudium war ihm so wichtig. Es war doch letztlich die Basis von allem. Nur wer die Details kannte, konnte die richtigen Entscheidungen treffen. Aber: Eine Verabredung war eine Verabredung. Und Ernst Meister legte Wert darauf, zu seinem Wort zu stehen.
Nun, irgendwie würde er es schaffen. Man konnte ja vielleicht hier ein paar Minuten früher Schluss machen und dort ein paar weitere Minuten abzwacken. Der Rest würde sich irgendwie rütteln.
Als um Punkt 17.00 Uhr Claus von Röhlig noch nicht auf der Matte stand, Meisters brillanter Texter für die wichtigsten Reden, wurde der Kanzler ein wenig unruhig. Er bat Frau Paulsen, seine Büroleiterin, ihm einen Kaffee zu bringen, den Meister dann dabei beobachtete, wie er langsam abkühlte, weil ihm inzwischen Doktor Bülents Worte wieder in den Sinn gekommen waren (aber mal im Ernst: Wie viel Kamillentee sollte ein Mensch trinken?).
Als Röhlig endlich erschien, war es fast acht nach fünf, und der Blutdruck des Kanzlers war auch ohne Kaffee nach oben geschossen. «Wir halten es kurz heute», verkündete er zur Begrüßung. «Ich will eine Rede, in der wir klarstellen, dass wir die Dringlichkeit der Angelegenheit erkannt haben, sorgsam darüber nachgedacht haben, welche Maßnahmen wir ergreifen wollen, und dass wir nun sicher sind, das Richtige zu tun.»
Claus von Röhlig blickte den Kanzler mit diesem unverschämt müden Lächeln an, für das er eigentlich längst hätte entlassen werden sollen, wäre er nicht so verdammt gut in seinem Job gewesen. «Und was wollen wir damit zum Ausdruck bringen?», fragte er.
«Nun, wir stellen klar, dass wir die Dringlichkeit der Angelegenheit …»
«Ja», fiel ihm von Röhlig dreist ins Wort. «Das sagen wir jedes Mal.»
«Es stimmt ja auch jedes Mal», erwiderte der Kanzler irritiert.
«Und deshalb?», soufflierte von Röhlig.
«Und deshalb haben wir sorgsam darüber nachgedacht …»
«Schon klar», stellte der Redenschreiber fest und klappte sein Notizbuch zu, in das er kein einziges Wort geschrieben hatte.
«Aber wollen Sie denn nicht notieren, was ich …?»
«Solange Sie es nicht aussprechen …», erwiderte von Röhlig mit einem Achselzucken. «Wir können die Rede vom letzten Mal nehmen. Wird keiner bemerken.»
«Also, ich muss doch sehr …»
«Ich lasse mir was einfallen, Herr Bundeskanzler.» Der Redenschreiber stand auf und verbeugte sich halb nach japanischer Art, also nicht sehr tief, aber demonstrativ, und Ernst Meister fragte sich unwillkürlich, ob das nun respektvoll oder respektlos gemeint war. Ein wenig ärgerte er sich über von Röhlig. Aber dann bemerkte er mit kurzem Blick zur Uhr, dass das Treffen nur sechs Minuten gedauert hatte! Noch nicht mal zwanzig nach fünf! Hastig riss er die Tür auf und gab Frau Paulsen Bescheid, dass er für ein paar Minuten nicht gestört werden wolle. Und schon war er raus.
Hätte Ernst Meister nicht unter einer ausgesprochen ausgeprägten Orientierungsschwäche gelitten, er hätte den Durchlass zu den Versorgungsgängen schneller wiedergefunden und sich anschließend nicht erst zwischen all den Abluftrohren, Elektrokabeln, Wasserleitungen und geheimnisvollen Schaltkästen verlaufen, die alle paar Meter an der Wand angebracht waren, ehe er endlich die Tür fand, die auf einen weiteren Korridor und schließlich von dort nach draußen führte. Dorthin, wo die Spree friedlich vorbeizog, wo sich gerade eine winzige Wolke höchst effektvoll vor die Sonne schob, wo überraschend viele Spaziergänger und Jogger den Gehweg bevölkerten, von denen die ersten schon ihr Handy zückten, und ein Junge, kaum größer als ein Rollcontainer, rief: «Guck mal, der sieht genauso aus wie der doofe Meister.»
Alle schienen sie da zu sein: die Flaneure, die Instagramer, die Rotznasen, die Touris. Nur das Mädchen mit den Murmeln, das war nicht da.
Nicht, dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Aber es kränkte ihn doch irgendwie. Gut, er war natürlich etwas zu spät dran gewesen. Aber ein bisschen hätte sie schon warten können. Vielleicht war es auch nur, weil er sich fragte, ob sie überhaupt gekommen war. Um fünf hätte er das herausgefunden. Aber kurz vor halb sechs ließ sich das nicht mehr sagen. War die Kleine hier gewesen? Oder hatte sie ihn schon vergessen?
Einen Termin mit dem amtierenden Bundeskanzler vergaß niemand, so viel war klar. Aber wenn man nicht wusste, wer er wirklich war, dann war Meister … nun ja, er war … Im Gefühl, vielleicht einfach nur irgendwer für dieses Mädchen zu sein, spazierte Ernst Meister den Weg am Spreeufer hinunter zu der hübschen Trauerweide, die an der Ecke des Kanzleramts stand, um dann nach links abzubiegen und wenig später die völlig verblüfften Beamten von der Bundespolizei zu grüßen, die den Eingang sicherten. Aus unerfindlichen Gründen sprach ihn auf der ganzen Strecke niemand an. Ob man es respektierte, dass er offensichtlich in Gedanken war? Oder erkannten ihn die Leute bloß nicht, weil sie nicht erwarteten, ihn hier «frei herumlaufen» zu sehen?
Die Aufregung war gewaltig, als der Kanzler mit größtem Selbstverständnis die Sicherheitsschleuse zu passieren versuchte – natürlich vergeblich: Er hatte keine Zugangskarte bei sich, geschweige denn, dass er sich jemals mit seinen biometrischen Daten hatte registrieren lassen. Und durch den Haupteingang hereinspaziert war er auch noch nie, wozu gab es schließlich Tiefgaragen. Die diensthabende Beamtin und ihre zwei Kollegen an der Schleuse kannten ihn nur aus dem Fernsehen. Da hätte ja jeder kommen können!
«Halt!», lautete deshalb das Kommando. «Wo wollen Sie hin?»
«Ich habe hier zu tun», erwiderte Ernst Meister mit seinem üblichen Understatement.
«Haben Sie einen Termin?»
«Einen?» Meister dachte an seinen Kalender, in dem tagtäglich Termine bis in die späten Abendstunden eingetragen waren. «Jede Menge.»
Einer der Wachhabenden flüsterte der leitenden Sicherheitsbeamtin am Empfang etwas zu. Die griff reflexartig nach ihrer Dienstwaffe und öffnete sogar den Druckknopf am Holster. «Ihren Namen bitte?»
«Meister», sagte der Kanzler irritiert. «Sie kennen mich doch.»
Statt ihm zu antworten, sprach die Beamte in ihr Headphone: «Verdächtiger am Haupteingang. Bitte Unterstützung.» Gleichzeitig nickte sie vielsagend den beiden Polizisten zu, die sich dem Kanzler von hinten genähert hatten, und deutete mit dem Kopf zu einer Tür neben der Sicherheitsschleuse.
Der Rest ging so schnell, dass Ernst Meister kaum dazu kam zu protestieren: Einer der Polizisten packte ihn am Arm und fixierte diesen in seinem Rücken, der andere griff ihm unter die Achseln und tastete ihn in Sekundenschnelle ab. Rasch drängten die beiden Männer Ernst Meister zur Seite, einer der Empfangsmitarbeiter öffnete die besagte Tür, er wurde hineingestoßen und war keinen Atemzug später von Bewaffneten umstellt.