Fremde Federn - Martha Grimes - E-Book

Fremde Federn E-Book

Martha Grimes

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Beschreibung

Eigentlich wollte Superintendent Jury von Scotland Yard einmal richtig Urlaub machen. Doch dann soll er in Amerika den Tod Philip Calverts, eines Mitarbeiters der weltberühmten Barnes-Stiftung, aufklären helfen. Zusammen mit Sergeant Wiggins und seinem adligen Freund Melrose Plant fliegt Jury nach Pennsylvania. Noch ahnt er nicht, dass der Tod Philip Calverts nur ein Glied in einer ganzen Kette mysteriöser Verbrechen ist ...

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Martha Grimes

Fremde Federn

Roman

Deutsch von Sigrid Ruschmeier

Buch

Eigentlich wollte Superintendent Jury von Scotland Yard Urlaub machen. Aber dann wird er von einer alten Freundin gebeten, den Tod Philip Calverts, Mitarbeiter der weltberühmten Barnes-Stiftung in Amerika, aufzuklären. Zusammen mit Sergeant Wiggins und seinem adeligen Freund Melrose Plant macht sich Jury auf den Weg nach Pennsylvania. Dort werden die drei Briten von der Schriftstellerin Ellen Taylor empfangen, die ihnen von Beverly Brown berichtet. Die junge Studentin behauptete, ein verschollenes Manuskript Edgar Allen Poes entdeckt zu haben, und sie wusste angeblich etwas über den Mord an Philip Calvert. Doch diese Zeugin kann Jury nicht mehr befragen, denn Beverly wurde ausgerechnet in der Nacht von Edgar Allen Poes Geburtstag an dessen Grab ermordet. Was wusste Beverly also wirklich? Warum musste sie sterben? Und vor allem: Und was hat das alles mit dem Tod von Philip Calvert zu tun? Superintendent Jury, Inspektor Wiggins und Melrose Plant machen sich auf getrennten Wegen an die Ermittlungen, denn die Zeit drängt …

Autorin

Martha Grimes wurde in Pittsburgh geboren und studierte an der University of Maryland. Sie unterrichtete lange Zeit CreativeWriting an der renommierten Johns Hopkins University und gilt selbst als Königin des Kriminalromans. Mit ihren Inspektor-Jury-Romanen hat Martha Grimes eine riesige internationale Fangemeinde erobert. Die Autorin lebt abwechselnd in Washington und Santa Fe, New Mexico.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Horse You Came in On« bei Alfred A. Knopf, New York

Die Zeilen aus dem Poe-Gedicht »Alone« am Ende von Kapitel 23 stammen aus dem Band: »Edgar Allan Poe. Ausgewählte Werke in drei Bänden.« Band III: Dichtung und Briefe. Übertragen von Karl Heinz Berger. Insel Verlag/Anton Kippenberg, Leipzig 1989.

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1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 1993 by Martha Grimes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1994 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN: 978-3-641-18923-5V001

www.goldmann-verlag.de

www.randomhouse.de

Für Laura Scott Perry, eine Freundin in Nickel City.

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmung
TEIL I - CIDER ALLEY
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8ZWISCHENSPIEL
TEIL II - NICKEL CITY
Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36ZWISCHENSPIEL
TEIL III - GIN LANE
Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40
DANKSAGUNGEN

Kultiviert und heiter,verdorben und galant.

F. Scott Fitzgerald über Baltimore

TEIL I

CIDER ALLEY

1

Der Blinde roch etwas Neues in der Cider Alley, einen neuen Gestank, der sich mit dem nach Urin und Schweiß, Bier und Whisky vermischte und aus einem Hauseingang kam (glaubte er zumindest), in dem sonst immer eine Gruppe Männer herumstand. Wenn er durch die enge Straße ging, gab es meist ein paar unverbindliche Begrüßungen – ein Schulterklopfen, die Berührung einer Hand auf seinem Arm, ein lautes Hallo. Mitleidige Gesten und rührselige Worte hasste er und wehrte sie ab. Er fühlte sich den anderen Obdachlosen überlegen: Mit Zähigkeit, scharfem Verstand und spitzer Zunge hatte er seinen Platz auf dem Luftschacht schon über ein Jahr behauptet. Sein Fleckchen. Die Leute kannten ihn.

Der Blinde verabscheute es, wenn ihm jemand zu nahe trat, es sei denn, er selbst fragte nach der Uhrzeit oder dem Weg. Er weigerte sich, den Bürgersteig mit einem weißen Blindenstock abzuklopfen, aber er besaß einen Spazierstock aus Bruyereholz und benutzte ihn durchaus, wenn ihm jemand komisch kam – oder einfach nur lästig wurde.

Nicht mit dem Spazierstock, sondern mit der Schuhspitze blieb er in einem weichen, fremden Gegenstand hängen und schlug beinahe hin. Doch Hindernisse war er gewöhnt, und rasch fand er das Gleichgewicht wieder.

Er war auf die Quelle des ungewohnten Geruchs gestoßen. Er kniete sich hin und strich mit der Hand über rauen Stoff und weiche Haut.

Ein Mann. Gestürzt, wahrscheinlich betrunken. Er tastete ihn sorgfältig ab; sein Tastsinn war noch ausgeprägter als sein Geruchssinn. Er berührte etwas Vertrautes, ein grobes Kreuz, das sein Freund immer um den Hals getragen hatte. John-Joy. Seine Finger glitten zuerst über den vertrauten Mund und dann über die Anzugjacke darunter. Bevor er noch mit seinem Gewissen kämpfen konnte, hatte er die Jacke schon genommen und gegen seine eigene vertauscht. Die von John-Joy war unendlich viel besser: teure, feine Wolle, er hatte sich immer gewundert, wer wohl ein solches Kleidungsstück in den Müll geworfen hatte. Nun würde John-Joy aufwachen, wieder zu sich kommen und feststellen, dass er Milos’ alte graue Jacke aus dünnem Leinen trug. Nicht das Wahre für eine Januarnacht. Aber John-Joy, der verstand einen Scherz.

Oder?

Er roch ja gar nicht nach Alkohol. Schnell tastete Milos ihn von Kopf bis Fuß ab. Der Geruch hing schwer in der Luft; Milos musste nicht erst spüren, wie klebrig seine Hand plötzlich war, um Bescheid zu wissen.

Seine Zunge, sein Mund formten sich zu einem Schrei, von dem er wusste, dass er zu hören war, auch wenn er selbst nichts hörte. »Polizei!«

Mit der einen Hand kratzte er über den kalten Stein des Gebäudes; mit dem Stock in der anderen hieb er um sich und brüllte noch lauter: »Polizei! Polizei!«

Die Leute waren immer wieder verblüfft (und er genoss ihre Verblüffung), wie klar und deutlich er sprach, obwohl er fast taub war. Erst vor zehn Jahren war der Unfall passiert, nach dem er allmählich Augenlicht und Gehör verloren hatte. Wenn ihm jemand direkt ins rechte Ohr trompetete, verstand er das Gesagte manchmal, aber mehr war nicht drin. Er schrie noch einmal.

Dann spürte er die Anwesenheit eines anderen; er spürte, dass jemand da war, und fragte sich, ob dieser Jemand in seine Schreie einstimmte. Er sagte der Person, er sei taub und sie solle die Polizei holen, aber nichts rührte sich. Er wusste nicht, was los war. Er streckte die Hand aus und sagte: »Schreiben Sie in meine Hand!«, Er fühlte einen Arm. »Schreiben Sie mir in die Hand!« sagte er noch einmal. Es war seine einzige Möglichkeit zu kommunizieren. Er spürte, wie der Finger der anderen Person ihn berührte, aber er fuhr zu schnell über seine Handfläche. Dämlicher Idiot!, sagte er, außer sich vor Zorn. Wofür hielten sie ihn, für einen Scheißcomputer? »Langsamer, langsamer! Ich verstehe Sie sonst nicht!«, schrie er.

Der Finger malte die Buchstaben »BINICH«. Weiter nichts, nur emsiges Scharren. Er spürte, wie die andere Person sich bückte und wieder erhob, und brüllte mit größter Anstrengung: »Was? Sie verdammter Blödmann! ›Bin ich‹ was? Was heißt ›bin ich‹?« Der Blinde war bekannt dafür, dass ihm immer sofort der Geduldsfaden riss.

Die andere Hand ergriff seine. Jetzt schrieb der Finger ganz langsam die Buchstaben »ICH«. Dann »BIN«. Dann »POL«. Pause. Der bescheuerte Typ nahm sich weiß Gott Zeit, aber er war wenigstens so schlau, kein überflüssiges Wort zu verlieren. Dann »IZEI«.

Wütend – Milos war immer wütend, hatte oft diese stumme Wut gehabt, sogar schon vor dem Unfall – schrie er: »Verdammte Scheiße, was ist das? ›IZEI‹? Verflucht, was ist das?«

Wieder nahm der andere seine Hand, und der Finger schrieb, diesmal schneller: »ICH BIN POLIZEI.«

»Sie hirnrissiges Arschloch!«, rief Milos. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

2

I

Ironischerweise hieß das Mädchen Beatrice. Und ihre Haut war blass und ihr Haar rot. Aber nicht Rossetti-rot, nicht durchscheinend rot wie das Haar der Beata Beatrix an der Wand vor ihr.

Selbst angesichts der unsterblichen Gemälde um sie herum konnten das Mädchen und der Junge ihre sterblichen Hände nicht voneinander lassen. Sie umklammerten und küssten sich ohne Rücksicht auf die Umstehenden, die sie leicht empört anschauten. Sie waren zu sehr ineinander versunken, um auf irgendjemand anderen in der Tate Gallery zu achten, so jung und auf sich selbst bezogen, dass es ihnen völlig gleichgültig war, ein Bild abzugeben, das einen Maler nicht die Bohne gereizt hätte. Purpurrotes Haar und schwarzes Leder (das Mädchen), kurz geschorenes braunes Haar mit einem purpurnen Streifen und schwarzes Leder (der Junge) legten die Vermutung nahe, dass sie Zwillinge waren; doch ihre tastenden Hände legten andere Vermutungen nahe.

Man gewann allerdings nicht den Eindruck, dass sie sich in den Fängen irdischer oder überirdischer Leidenschaften befanden, eigentlich nicht einmal in denen der Fleischeslust. Ihre öffentliche Vorstellung diente allein dem Zweck, der Welt kundzutun, dass sie sich einen Scheißdreck um die Empfindungen anderer scherten, ob diese anderen nun herumspazierten, die wunderbaren Bilder betrachteten oder neben ihnen auf der Bank saßen.

Eine Galeriebesucherin saß beinahe Schulter an Schulter mit dem Mädchen, das gerade seine Zunge in den Mund des Jungen schob und wenig überzeugend stöhnte. Als das Mädchen die Frau rechts hinter sich spürte, deren schwere Schulter an der eigenen, versuchte es die unwillkommene Bürde loszuwerden und rückte abrupt (die Zunge immer noch im Mund des Freundes) ein wenig zur Seite. Die Last aber wurde schwerer, die Frau rutschte langsam weiter den Rücken des Mädchens hinunter, bis das Mädchen sich umdrehte und sagte, sie solle sich verpissen, die blöde Kuh.

Aber die Frau, mittleren Alters, überaus schick und geschmackvoll gekleidet, reagierte nicht. Sie wurde immer schwerer, als suche sie an der Schulter des Mädchens Halt.

»He …!«, fing das Mädchen an und riss sich von dem Jungen los, um zwischen sich und der schlummernden Frau Platz zu schaffen. »Meine Da-me!«, sagte sie mit schneidender Ungeduld.

Aber die Dame antwortete nicht, sondern fiel langsam zur Seite auf die Bank.

»Ach, du Scheiße«, flüsterte das Mädchen und stand auf.

II

Sie hieß Bea und er Gabe, und im Gegensatz zu den Wärtern in der Tate Gallery entging Richard Jury die Ironie nicht.

Keine Sekunde hatte das Mädchen aufgehört, Kaugummi zu kauen. Ihr rotes Haar war zu Stacheln hochtoupiert; der schwarze Lederrock bedeckte knapp ihr Hinterteil. Wenn überhaupt, war sie die Underground-Version von Dante Gabriel Rossettis Beatrice.

Im Moment besorgte der Junge, Gabe, das Reden, obwohl Bea seine kehligen Laute mit ihren nicht weniger kehligen fleißig unterbrach. »Woher sollten wir das schnallen? Konnte ja voll blau sein, ey.«

»Oder an der Nadel«, sagte Gabe, ganz der Welterfahrene.

Richard Jury sah, dass es jenseits der Vorstellungskraft dieser beiden lag, dass ein Lebenslicht auch aus anderen Gründen verlöschen konnte. Tot, breit, high – es kam, wie’s kam.

Die tote Frau war auf einer Bahre über den glänzenden Boden weggerollt worden. Inspektor Marks von der Londoner Kripo hatte ihren Abtransport überwacht und unterhielt sich jetzt (sichtlich erleichtert) mit Scotland Yard, Mordkommission, in Gestalt von Superintendent Jury. Jury war vor Marks in dem Raum gewesen und hatte mit Hilfe der Wärter die Leute – ungefähr ein Dutzend – davon abgehalten, fortzugehen.

Er war zufällig in der Tate gewesen, um die »Swagger«-Ausstellung mit den protzigen Bildern der feinen Gesellschaft zu sehen, bevor sie zu Ende ging. Er hielt sich für unterbelichtet, was die bildenden Künste anging, und dachte, ein bisschen Nachhilfe über die Unterschiede zwischen Reynolds und Gainsborough könnte ihm nicht schaden. Von allen Gemäldegalerien in London gefiel Jury die Tate am besten. Und Bea und Gabe hatten ihre schreckliche Entdeckung in seinem Lieblingsraum gemacht, dort, wo er sich gerade befand. Rossetti, Burne-Jones, William Holman Hunt, Millais’ Ophelia – er fand sie alle unbeschreiblich romantisch. Der Junge und das Mädchen hatten vor dem Rossetti-Gemälde am einen Ende der Bank gesessen, die Frau im rechten Winkel dazu vor dem berühmten Bildnis Chattertons.

»Mrs. Frances Hamilton«, sagte Inspektor Marks und schaute in seine Notizen. »Warminster Road, Belgravia. Ausweisen konnte sie sich wahrhaftig – sechs Kreditkarten, Scheckhefte. Aber kein Führerschein.«

Warum kam ihm die Adresse bekannt vor? Jury runzelte die Stirn, wusste aber nicht, wo er sie einordnen sollte. Er hatte sich abseits gehalten, als die Kripo und der Gerichtsmediziner Fotos machten und an der Leiche von Frances Hamilton herumfingerten. Der Arzt vermutete einen Schlaganfall, aber sicher war er nicht. Die verstorbene Mrs. Hamilton sei fortgeschrittenen Alters, aber kaum älter als sechzig, bei guter Gesundheit. Vor einer genaueren Untersuchung könne er ihnen mehr nicht sagen.

»Hat einer von denen gesehen, wie es passiert ist?« Jury deutete mit dem Kopf in Richtung des nervösen Grüppchens Galeriebesucher in einer Ecke des Raumes. Sie wurden von Marks’ Männern befragt.

»Nein. Nur die beiden Jugendlichen. Und gesehen haben die auch erst dann etwas, als sie neben ihnen zusammengesunken ist. Witzig mit den Blagen, da tun sie immer so, als könnte ihnen keiner mehr was vormachen und nichts könnte sie erschüttern. Aber wenn dann wirklich mal jemand abkratzt oder ein Notfall eintritt, gucken sie dumm aus der Wäsche.«

III

Thomas Chatterton, die Haut wie blaues Eis, lag auf dem schmalen Bett, der Arm hing elegant über die Kante, die Finger berührten fast den Boden, als wolle er die Fetzen der Manuskriptseiten, die – auf dem Bild – aussahen wie verstreutes Konfetti, von den blanken Dielen wieder einsammeln. Die Blätter hatte der Dichter zerrissen, bevor er den tödlichen Trank nahm.

Der herrliche Knabe. Hatte ihn nicht jemand einmal so genannt, überlegte Jury. Er saß auf derselben Bank an ungefähr derselben Stelle, wo die Frau vor kaum mehr als zwei Stunden gesessen hatte.

Jury war immer der Meinung gewesen, dass Chatterton ein Leben geführt hatte, wie man es sich trauriger nicht vorstellen konnte. Die siebzehnjährigen Jugendlichen, denen Jury begegnete, waren entweder auf Heroin, klauten Autos oder zockten die Kreditkarten ihrer Eltern ab. Je nachdem, in welchem Stadtteil Londons er gerade zu tun hatte.

Mit siebzehn hatte Thomas Chatterton die literarische Welt mit einem Gedichtzyklus in Erstaunen versetzt. Nach Jurys Überzeugung hatte sich niemand wirklich dafür interessiert, dass die Rowley-Gedichte eine Fälschung waren. Außer Horace Walpole. Der war zu seiner Schande – offenbar zu seiner ewigen Schande – darauf hereingefallen. Verzweiflung und Tod im Alter von siebzehn. Jury schüttelte den Kopf. Ein Leben ohne sichtbaren Erfolg, ohne Geld, ohne ausreichend zu essen und dann von seinem Wohltäter verraten. Chatterton hatte sich nicht einmal literarischen Diebstahl zu Schulden kommen lassen; er hatte alles selbst inszeniert, sich die ganze Sache ausgedacht. Womit hatte er ein solches Ende verdient?

Jury wunderte sich, warum ausgerechnet er über die Ungerechtigkeit des Lebens nachdachte. Er betrachtete die junge Frau auf dem Gemälde von Holman Hunt, die sich von den Knien eines Liebhabers erhob, der sie garantiert verlassen würde. Jury mochte vor allem die Inschrift, die Hunt auf den Rahmen gemalt hatte: »Wer aber ein Gewand in der Kälte raubet, gleicht dem, der einem schweren Herzen Lieder singet.«

Er ging an dem Rossetti vorbei, dem Burne-Jones, Millais’ Ophelia, dem dreiteiligen Bild des unseligen Endes einer treulosen Gattin, und an dem Gemälde, von dem er einen Druck in der Hand hielt: Eine Ehefrau und eine Mutter trauerten um einen Seemann, der auf hoher See ertrunken war. Ein Morgen ohne Hoffnung: Jeder nur vorstellbare Grauton ergoss sich über dieses Bild – das Morgenlicht am Fenster, dahinter die Wellen, der Zinnständer mit der abgebrannten Kerze, die Schatten, die Kleider. Aus der Welt der Frauen war alle Farbe gewichen.

Er kehrte zu der Stelle zurück, an der er seinen Gang durch die Tate begonnen hatte, und setzte sich wieder auf die Bank. Der Tod Chattertons war wohl doch sein Lieblingsbild. Eine Leinwand des Leides.

Er hatte seit zwei Wochen Urlaub, war in Leeds gewesen und hatte sich entschieden: Nein, die endgültige Versetzung nach Bradford würde er doch nicht aushalten. Seine nächste Station würde Stratford-upon-Avon sein und danach Northampton. Er war sich ziemlich sicher, dass Superintendent Pratt ihn mit offenen Armen empfangen würde, die Mordkommissionen in der Provinz waren immer überlastet. Desgleichen Sammy Lasko bei der Polizei in Warwickshire, das wusste er. Aber wenn er ehrlich darüber nachdachte, mit wem er zusammenarbeiten konnte und wollte, lag der reizbare, arrogante, sture Macalvie an allererster Stelle. Auf der Bank in der Tate ließ Jury das Telefongespräch noch einmal an sich vorüberziehen.

»Exeter? Devon-Cornwall? Mit mir wollen Sie zusammenarbeiten?«

»Dreimal richtig geraten. Ein Rekord, sogar für Sie, Macalvie.«

»Ich weiß nicht, Jury. Ich weiß nicht, ob Sie reinpassen. Außer mir merkt hier sowieso keiner, ob jemand beim Sex erstickt ist oder erdrosselt wurde. Wie bitte?«

Die letzten beiden Worte waren offenbar an die Besitzerin der Stimme gerichtet, die in Macalvies Zimmer im Hauptquartier der Polizei von Exeter herumzwitscherte.

»Wie ich höre«, sagte Jury, »hat Gilly Thwaite Ihnen gerade verraten, dass es eins von beidem ist.«

»Eins von beidem, ja. Also, welches?«

»Um Himmels willen, ich bin nicht an Ort und Stelle«, lachte Jury.

»Na und?«

»Ist das ein Test?«

»Klar … warum nicht? Sie wollen ja schließlich einen Job hier, oder?«

Jury lächelte. »Erstickt. Plastiktüte überm Kopf?«

»Stimmt.« Macalvie drehte sich wieder vom Telefon weg.

Jury hörte, wie Gilly Thwaites ohnehin schon schrille Stimme – er nahm zumindest an, dass es sich um die Stimme von Macalvies Spurensicherungsexpertin handelte – noch schriller wurde, dann ein Getöse, als ob ein Regal umkippte, dann jede Menge zerbrechendes Glas und dann ein Jammern, das in einen grauenhaften Schrei überging.

»Schönen Gruß von ihr. Hören Sie, sie hat den Job.«

»Ich habe nur geraten.«

»Ich auch.«

In Exeter fiel der Hörer auf die Gabel. Macalvies Art, auf Wiederhören zu sagen.

Jury seufzte. Wenn er London leid war, musste er, wie Dr. Johnson vorhergesagt hatte, das Leben leid sein.

Chatterton war es leid gewesen.

Jury verließ die Tate.

3

»Also, wirklich, Mr. Jury«, sagte Mrs. Wassermann und umklammerte nervös die schwarze Handtasche, »ich meine, dieser Mr. Moshegeiian macht einen Fehler, wenn er Carole-anne damit betraut, die Wohnung bei uns im ersten Stock zu vermieten.« Weiß hoben sich ihre Finger von dem schwarzen Leder ab, das Gesicht unter dem schwarzen Hut war bleich. Mrs. Wassermann hatte sich für einen ihrer seltenen Ausflüge zu ihrer Cousine in Bromley umgezogen und wollte sich gerade zur U-Bahn-Station Angel begeben. Aber jetzt befand sie sich erst einmal in Jurys Wohnung, einer von vieren in dem Reihenhaus, und richtete den Blick zur Zimmerdecke – dem Fußboden besagten Apartments in der ersten Etage.

»Mrs. Wassermann, ich würde mir keine Sorgen machen, Carole-anne wird schon nicht an jemand Unpassenden vermieten. Sie kennen sie doch – sie ist pingelig.«

Carole-anne wohnte in der kleinsten und billigsten Wohnung im obersten Stock, die dank ihrer Übereinkunft mit dem Hausbesitzer noch billiger wurde; für einen Mietnachlass nahm sie ihm die Verwaltung der leeren Wohnung ab. Mr. Moshegeiian, Lette oder Litauer und ein kluger Kopf, hatte sofort begriffen, dass die Wohnung todsicher weggehen würde, wenn Carole-anne sie den Interessenten zeigte, besonders, wenn diese männlichen Geschlechts waren. Doch davon ganz abgesehen, wäre Mr. Moshegeiian Miss Palutskis Überzeugungskünsten ohnehin erlegen.

»Und Mr. Moshegeiian ist auch nicht von gestern«, fügte Jury hinzu.

»Das sind Besitzer von Elendsquartieren nie«, flötete Mrs. Wassermann.

Jury lachte. »Ich würde dieses Haus ja nun kaum als Elendsquartier bezeichnen, Mrs. Wassermann.« Er inspizierte einen Socken, den er in die Reisetasche packen wollte. Ein Loch, durch das man die Faust stecken konnte. Er warf ihn in den Papierkorb. »Und Carole-anne ist wirklich eigen.« Das wiederum war nicht übertrieben, wenn »eigen« in diesem Fall auch einen spezifischen Carole-anneschen Hintersinn annahm.

»Aber genau das ist ja das Problem, Mr. Jury. Jetzt war doch neulich abends erst so ein reizendes junges Paar hier, um sich die Wohnung anzusehen. Sie waren extra aus Wandsworth gekommen. Frisch verheiratet, und sie haben gesagt, es sei genau, was sie suchten. Aber nein. Ihre Kreditwürdigkeit sei unter aller Sau, erzählt Carole-anne mir.« Mrs. Wassermann sah geknickt aus, als lasse auch ihre Kreditwürdigkeit arg zu wünschen übrig. Sie war zwar auch nicht von gestern, aber manchmal schwamm sie einfach nicht auf Palutskischer Wellenlänge. Die Palutskischen Wellen verschlangen jedes männliche Wesen zwischen zwanzig und sechzig in Reichweite der lapislazuliblauen Augen. Reizende junge Paare hingegen überging Carole-anne, als hätte sie einen weißen Stock in der Hand und einen Blindenhund an der Leine.

Seit neuestem empfand Mrs. Wassermann die leere Wohnung über Jurys als Bedrohung Nummer eins, ein unermesslich weites, brachliegendes Stück Stadtlandschaft, in Gefahr, von Ratten und Räubern überrannt zu werden. Mrs. Wassermann war den ganzen Tag zu Hause, und zwar meistens allein, wo doch Jury so oft fort war und Carole-anne ihrer Variante eines »festen« Jobs in Covent Garden nachging, sprich: stundenweise (wie es ihr in den Kram passte) und nur, wenn es dem hoffnungsvollen Beginn ihrer Schauspielerkarriere nicht in die Quere kam.

Nun wurde das Problem sogar noch drückender, denn Carole-anne war auch nachts nicht da, schon seit zwei Wochen nicht mehr, seitdem das Stück, in dem sie eine winzige Rolle ergattert hatte, in Chiswick lief. Jury hatte Mrs. Wassermann zur Premiere eingeladen und war überrascht gewesen, dass das Mädchen Theater spielen konnte (Mrs. Wassermann war nicht überrascht gewesen, denn sie glaubte, Carole-anne könne alles). Tatsächlich war das Mädchen das Einzige gewesen, das anzusehen sich lohnte. Ansonsten quälte sich die Inszenierung dahin und zappelte wie ein Fisch, der sich nur ungern an Land ziehen lässt. Carole-anne glänzte. An dem Abend hatte Jury den Regisseur und Produzenten kennen gelernt, einen albernen Schwätzer, der meinte, das Stück ginge ins West End. Carole-anne meinte, es ginge den Bach runter.

»Der Socken, den Sie da wegwerfen, ist doch noch völlig in Ordnung«, sagte Mrs. Wassermann und rettete ihn aus dem Papierkorb. »Den kann ich problemlos stopfen.« Sie öffnete ihre Handtasche und verstaute den Socken. Trübselig betrachtete sie Jurys Koffer. »Und Sie fahren schon wieder weg.« Missbilligend schnalzte sie mit der Zunge.

»Nicht lange – nur ein paar Tage. Ich will meinen Freund in Northants besuchen.«

»Ach ja, den Grafen. Warum besucht er Sie nicht?«

»Na ja, wenn er nach London kommt, wohnt er immer im Brown’s. Sie wissen doch, in Mayfair.«

Mrs. Wassermann ließ nachdenklich den Verschluss ihrer Handtasche auf- und zuschnappen. Dann sagte sie: »Überlegen Sie doch mal. Wäre es nicht schön für ihn, wenn er, na, Sie wissen schon, eine kleine Zweitwohnung hätte?«

Ihr Blick war zur Decke gerichtet.

4

I

»Wie ich gehört habe, hat es Sie voll Stoff erwischt, Sir.« Wiggins schaute von seinem Taschenbuch hoch, als Jury ins Büro spaziert kam.

»Voll Stoff erwischt?« Jury warf seinen Regenmantel in Richtung Garderobenständer und traf wieder daneben.

Wiggins wedelte demonstrativ mit dem Buch.

»Das sagt man in den Staaten, Sir. In diesen Büchern über das Siebenundachtzigste Revier sagen sie es dauernd. Es bezieht sich auf die, die Dienst haben, wenn ein Verbrechen angezeigt wird. Das sind die, die es ›voll Stoff erwischt‹.« Wiggins hatte die Wendung offenkundig lieb gewonnen. »Das Siebenundachtzigste Revier. Von Ed McBain.«

»Na, dann wäre mir doch lieber, es hätte Ed voll Stoff erwischt. Ich habe keinen Dienst; ich habe Urlaub. Wenn man es denn als solchen bezeichnen kann.«

Aber der Sergeant bedauerte ihn nicht. Ihn hatte man schließlich gezwungen, in den Aufenthaltsraum der Kollegen umzuziehen, während sein und Jurys Büro frisch gestrichen wurde. Er war allergisch gegen Farbe. Das bedeutete, entweder den Zigarettenqualm und die Gerüche des Aufenthaltsraums zu ertragen oder die giftigen Dämpfe der Farbe. Wiggins’ Leben war permanent in Gefahr, es schien für immer und ewig zwischen Regen und Traufe, Scylla und Charybdis gefangen zu sein.

»Er ist aber sehr gut, Sir.«

Jury machte Schubladen auf und zu. »Wer?«

»Ed McBain. Sehr authentischer Hintergrund. Es ist geradezu eine Erholung, mal etwas von einem Autor zu lesen, der weiß, wie die Polizei wirklich arbeitet, statt dieser Schreiberlinge, die sich aus den Fingern saugen, was ihnen passt. Da kriegt man amerikanische Cops mal so richtig mit.«

»Ich wusste nicht, dass Sie Krimis lesen.« Lautstark knallte Jury eine weitere Schublade zu.

»Tu ich eigentlich auch nicht, außer denen hier. Ich habe einen gelesen, den fand ich ziemlich flott, und da habe ich mir noch einen besorgt.«

Das Telefon klingelte; Jury riss es mit dem ersten Läuten hoch. Ein paar »Ja«, dann ließ er den Hörer fallen.

»Der Chef?«, fragte Wiggins, ohne auch nur von dem Buch aufzuschauen.

Jury zuckte zusammen. »Nein. Fiona. Mich hat’s voll Stoff erwischt.«

Wiggins kicherte, und Jury begab sich von dannen.

Fiona Clingmore hob den handtuchumschlungenen Kopf von dem tragbaren Dampfbad und sagte: »Ich dachte, Sie hätten Urlaub. Eine Schande ist das.«

»Wo ist er denn? Ich dachte, er wollte mich unbedingt sehen.«

Sie deutete mit der Schulter ins Ungewisse. »Beim stellvertretenden Polizeipräsidenten. Von da aus hat er angerufen. Was machen Sie denn so an Ihren freien Tagen?«

»Frei« nannte man das. »Bin während der letzten zehn Tage elfmal im Kino gewesen. Ich dachte, ich bringe es besser auf einen Schlag hinter mich.«

»Warum fahren Sie nicht irgendwo hin, wo es sonnig und warm ist? Sie sollten Ferien an der Costa del Sol machen, nicht er.« Fiona klopfte sich eine astringierende Lotion aufs Gesicht und schielte in den Spiegel, um ihre vergrößerten Poren zu begutachten. »Wenn er das nächste Mal nach Spanien fährt, will er Cyril mitnehmen, sagt er. Er hat Infomaterial von diesen Tierschutzleuten in die Hände gekriegt und gesehen, was für skandalöse Sachen sie dort machen. Auf einem Bild hat so ein Spanier eine Katze an einem Bein gepackt und schwingt sie über sich im Kreis herum – können Sie sich das vorstellen?« Fiona schüttelte den Kopf, damit ihr Haar schön locker fiel, und zischte empört: »Na ja, ein Mann, der einem Kater was in den Thunfisch mischt … Das arme, wehrlose Tier.« Sie holte ihren Kulturbeutel hervor.

Jury sank in den Bürostuhl und beobachtete das arme, wehrlose Tier. Es tüftelte wahrscheinlich gerade eine thermodynamische Gleichung aus, mit deren Hilfe es sich auf den Trinkwasserbehälter heben konnte. Der schmale Vorsprung war zu winzig, als dass Cyril sich darauf hätte setzen können, mehr als der Pappbecher passte nicht hin. Unter der Öffnung stand einer. Jury fragte sich, was für einen Anschlag auf Chief Superintendent Racer der Kater nun wieder plante, bei dem Wasser vonnöten war, denn Cyril saß beileibe nicht nur da und wartete, dass Fiona den Hahn aufdrehte und Blasen hochblubbern ließ. Eine Weile noch starrte er den Behälter an und stolzierte dann in Richtung Chefbüro.

Fiona seufzte. »Gleich ist er bestimmt wieder am Faxgerät.« Sie machte aber keine Anstalten, ihn von dort wegzuholen.

Jury nahm auf dem Stuhl vor Racers Schreibtisch Platz, dessen Drehstuhl gegenüber von Cyril belegt worden war. Jury sah seinen Kopf knapp über die Tischplatte schauen. Etliche Möbelstücke waren in eine Ecke geschoben und mit Abdeckplanen belegt, weil auch dieses Zimmer renoviert werden sollte. In einer anderen Ecke lehnten Stuckteile von der Decke. Es sah nach Generalüberholung aus, sehr hinderlich beim Arbeiten, aber überaus angenehm, weil man ein Erkleckliches mehr an Zeit im Club verbringen konnte.

Cyril hatte nur Augen für das neue Faxgerät. Seit Racer Cyrils Thunfisch mit Beruhigungsmitteln gewürzt und ihn in ein Tierheim verfrachtet hatte, sah Jury förmlich, wie alle möglichen Vergeltungsschläge in Cyrils Kopf Gestalt annahmen.

Da saßen sie beide nun, und jeder für sich machte Pläne. Jury dachte wieder über eine eventuelle Versetzung in die Provinz nach und überlegte, ob er es Racer gegenüber erwähnen sollte. Bisher hatte er es noch niemandem erzählt. Macalvie, Northants und Superintendent Pratt, der Polizeibezirk Warwickshire und Stratford-upon-Avon kamen ihm in den Sinn. Er würde in Stratford Halt machen, bevor er nach Northants weiterfuhr.

Das Faxgerät piepte zweimal und fing an zu summen. Cyril stand sofort bereit. Schon war er auf dem Tisch und pirschte sich an den Apparat heran. Er und Jury beäugten das Papier und lauschten, wie das Gerät es Zentimeter für Zentimeter ausspuckte. Jury beugte sich darüber und las. Das Fax war vom stellvertretenden Polizeipräsidenten. Aber weiter kam er nicht, denn blitzschnell hatte Cyril es sich geschnappt und zu Boden flattern lassen. Dann blinzelte er Jury träge an, als harre er weiterer Vorschläge, die dieser bezüglich des Fax haben mochte. Jury zuckte mit den Schultern.

Cyril glitt vom Tisch, nahm das Papier zwischen die Zähne und zog es quer durch den Raum ins Vorzimmer. An der Tür blieb er stehen, als suche er das Büro nach Fiona ab, die sich offensichtlich mit ihrem Kulturbeutel zur Toilette bemüht hatte. Jury seinerseits bemühte sich zur Tür, um weiter zuzusehen.

Das Fax lag auf dem Boden unter dem schmalen Vorsprung des Wasserbehälters, auf dem der gefüllte Pappbecher stand. Der Kater vollführte eine rasche, ballettreife Drehung in der Luft und haute den Becher herunter. Jury und Cyril beobachteten, wie das Blatt sich voll Wasser saugte. Alsdann verarbeitete Cyril es mit Pfoten und Krallen zu einem matschigen Ball.

Herein marschierte Fiona. »War dieser Kater wieder am Wasserbehälter?« Sie deponierte den Make-up-Beutel auf dem Schreibtisch. Ihre Lippen schimmerten hellrot, die Lider beschrieben einen schwungvollen Bogen in den verschiedensten Blau- und Lavendeltönen. »Und Sie stehen einfach daneben?« Sie hob den Becher und den faserigen Papierklumpen auf und beförderte beides in den Papierkorb.

II

Racer schlug auf die Taste der Gegensprechanlage und blaffte Fiona an. »Hat der Stellvertretende nicht angerufen?« Als sie verneinte, erkor er Jury zum Objekt seines gereizten Missfallens. »Wenn Sie Ärger vermeiden wollen, sollten Sie sich nicht hier rumtreiben.«

»Ich treibe mich auf Ihr Geheiß hier rum.« Wenn Jury auf dem Mond wäre, würde Racer ihn mit einer Raumfähre herunterholen lassen.

»Die Familie dieser Hamilton kennt den stellvertretenden Polizeipräsidenten. Darauf warte ich. Auf Informationen.«

Nun tat es Jury leid, dass er das Fax nicht gelesen hatte. »Na und? Ich kenne den Herrn auch, aber deshalb muss ich mich doch nicht gleich auf einen Fall ansetzen.«

»Einerlei, aus unerfindlichen Gründen – fragen Sie mich, verdammt noch mal, nicht, warum, Jury – will die Familie Sie.«

»Die Familie kennt mich nicht.«

Racers Erwiderung bewegte sich zwischen süffisantem Grinsen und affektiertem Lächeln. »Allem Anschein nach doch.«

»Ich kenne niemanden, der Hamilton heißt.«

»Es war ein anderer Name.« Racer hämmerte wieder auf die Gegensprechanlage ein und befahl Fiona, ihn mit dem Stellvertretenden zu verbinden. »Die Frau – eine Freundin von ihm – hatte einen Neffen, oder die tote Frau – Herrgott, ich kann mir nicht alle Einzelheiten merken –, der irgendwo in der Nähe von Philadelphia ermordet worden ist. In den Staaten.« Racer suchte auf seinem Schreibtisch herum, schaute unter der Auflage nach. »Verdammt, wo sind die Flugtickets? Hier hatte ich sie. Und wo sind meine Farbproben? Die waren auch hier.«

»Ich komme nicht ganz mit. Was hat ein Mord in den Staaten mit uns zu tun?«

»Das Opfer ist hier geboren.«

»Und?«

Racer beendete seine Suche nach Flugtickets und Farbproben, haute wieder auf die Gegensprechanlage und fragte Fiona, ob sie den Stellvertretenden an der Strippe hätte. »Und die Frau ist eine Freundin von ihm.« (Wie behandeln eigentlich Sie ihre Freunde, Jury?)

»Hören Sie, angeblich bin ich in Urlaub. Die Cops, die es dort erwischt hat, erledigen das schon. Und zwar garantiert lieber selbst.« Wütend stand Jury auf. Normalerweise hatte er mehr Geduld. Neuerdings nicht mehr.

»Machen Sie sich doch nicht gleich ins Hemd. Kein Mensch will etwas von Ihnen. Sie brauchen doch bloß mal bei der Frau vorbeizugehen und begütigend auf sie einzuwirken. Mehr nicht.«

Der stellvertretende Polizeipräsident war nicht da. »Seine Aushilfssekretärin« – Fiona empfand immer eine große Genugtuung, wenn jemand in den höheren Rängen eine Aushilfskraft hatte – »möchte wissen, ob Sie das Fax bekommen haben?«

»Habe ich das, Miss Clingmore? Woher soll ich das wissen, wenn ich nicht im Büro bin?« Racer stierte das Faxgerät an. »Und wo, zum Teufel, sind meine Flugtickets, Miss Clingmore? Ich hatte sie hier unter meine Schreibtischauflage geklemmt!«

Racers Urlaub hatte selbstverständlich Priorität, allererste.

Jury meinte zu hören, wie Fiona ein paarmal hintereinander Kaugummiblasen platzen ließ. Es knallte wie ganz feine Pistolenschüsse. »Sie wollten das Faxgerät ja in Ihrem Büro haben, oder? Vielleicht ist es auf den Boden gefallen.«

»Auf dem Boden habe ich nachgesehen.«

»Also sie sagt, sie hat’s geschickt, mehr weiß ich auch nicht.«

»Hören Sie auf, meine Zeit mit Streitereien zu vergeuden, und rufen Sie sie noch einmal an. Verflucht!« Racer stellte die Gegensprechanlage aus. »Mir ist unbegreiflich, wie der Sauhaufen hier funktionieren soll. Das ganze Zivilpersonal kann ja nicht mal bis drei zählen. Der widerliche Kater wäre eine bessere Tippse.«

Das Faxgerät rülpste und stotterte dann seine Nachricht heraus. Racer riss sie ab, las und sagte: »SW3, Jury. Warminster Road. Belgravia. Sie heißt Cray.«

5

Sie hatte beide Hände auf die Messingtürgriffe gelegt, öffnete die Doppeltür zu dem eleganten Salon und legte einen Auftritt hin, der bei jeder anderen Frau theatralisch gewirkt hätte. Lady Cray.

Und sie sah genauso aus wie damals, dachte Jury, als er sie das letzte Mal im Lake District gesehen hatte. Das war bei der öffentlichen Sitzung zur Feststellung der Todesursache von Helen Viner gewesen. Vielleicht trug Lady Cray sogar dasselbe maßgeschneiderte, silbergraue Wolle-Seiden-Kostüm, genau passend zu ihren Augen, Augen von jener Kristallfarbe, jenem schwer definierbaren Grau, das Waterford-Blau heißt. Der Januarnachmittag war mit Lady Cray im Bunde. Fahles, silbernes Licht ergoss sich dekorativ über die blassblauen chinesischen Teppiche und ließ die Schale aus Waterfordkristall auf dem kleinen Rosenholztisch funkeln; es malte Streifen auf die beiden Sofas und die Polstersessel, die mit einem blass blaugrauen, schimmernden Stoff bezogen waren.

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