Fremde Freundin - J. Courtney Sullivan - E-Book
BESTSELLER

Fremde Freundin E-Book

J. Courtney Sullivan

0,0

Beschreibung

Nach „Sommer in Maine“ das neue Buch von Bestsellerautorin J. Courtney Sullivan. „Kleine menschliche und große gesellschaftliche Momente – Ich liebe diesen Roman.“ Meg Wolitzer
Elisabeth ist Journalistin, erfolgreich und im Leben angekommen. Ihre reiche, aber schräge Familie hat sie hinter sich gelassen. Nach zwanzig Jahren New York zieht sie mit ihrem Mann Andrew aufs Land. Ihr Sohn Gil ist gerade zur Welt gekommen, und Andrew jagt seinem Erfindertraum nach. Um sich ihrer Arbeit widmen zu können, engagiert Elisabeth eine Babysitterin. Sam studiert Kunst, kommt aus einfachen Verhältnissen, hat sich eben erst in Clive verliebt und entdeckt gerade ihre klassenkämpferische Seite. Die beiden ungleichen Frauen werden, aus Mangel an Alternativen, Freundinnen. Aber kann das gutgehen? J. Courtney Sullivan erzählt diese ungewöhnliche Beziehungsgeschichte so einfühlsam, spannend und komisch, dass man sie nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 664

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Über das Buch

Elisabeth ist Journalistin, erfolgreich und im Leben angekommen. Ihre reiche, aber schräge Familie hat sie hinter sich gelassen. Nach zwanzig Jahren New York zieht sie mit ihrem Mann Andrew aufs Land. Ihr Sohn Gil ist gerade zur Welt gekommen, und Andrew jagt seinem Erfindertraum nach. Um sich ihrer Arbeit widmen zu können, engagiert Elisabeth eine Babysitterin. Sam studiert Kunst, kommt aus einfachen Verhältnissen, hat sich eben erst in Clive verliebt und entdeckt gerade ihre klassenkämpferische Seite. Die beiden ungleichen Frauen werden, aus Mangel an Alternativen, Freundinnen. Aber kann das gutgehen? J. Courtney Sullivan erzählt diese ungewöhnliche Beziehungsgeschichte so einfühlsam, spannend und komisch, dass man sie nicht mehr aus der Hand legen möchte.

J. Courtney Sullivan

Fremde Freundin

Roman

Aus dem Englischen von Andrea O’Brien und Jan Schönherr

Paul Zsolnay Verlag

Für Leo und Stella

2014—2015

1

Elisabeth

Als sie erwachte, herrschte Stille. Um diese Uhrzeit war niemand auf außer Müttern und Schlaflosen. Der Blick auf den Wecker erübrigte sich, denn sie wusste genau, dass das Baby jede Sekunde losschreien und sie den Kleinen mit noch halb geschlossenen Augen aus der Wiege heben würde, erschöpft, aber pflichtbewusst — und schließlich, wenn sie das warme Bündel erst in den Armen hielt, voller Hingabe.

Beim Anblick ihres schlafenden Mannes wallte kurz Wut in ihr auf, die sich aber rasch wieder legte, sie wechselte die Windel, ging nach unten und fragte sich, was wäre, wenn sie den Kleinen fallen ließe, wenn er sterben würde. Die Antwort war ihr so vertraut wie die Frage: Sie würde aus dem Fenster springen. Nachdem sie das geklärt hatte, küsste Elisabeth ihn sanft aufs Köpfchen.

Die beruhigende Stimme einer Videobotschaft aus dem Internet ging ihr jetzt durch den Kopf: Jedes Mal, wenn ich mein Baby stille, trinke ich ein Glas Wasser, damit ich nicht vergesse, auch für mich zu sorgen. Sie hatte gerade nicht mal die Kraft, ein Glas mit Wasser zu füllen, aber der Gedanke zählte sicher auch.

Im Wohnzimmer gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie erkannte die schwarzen und blauen Schatten, ein Glas, den Couchtisch, von dem sie sich bald trennen müsste, zwei Sessel, die zwei Meter hohe Geigenfeige. Sie hatte die Möbel genauso angeordnet wie im Apartment in Brooklyn, aber irgendwie sah hier alles anders aus.

Elisabeth zog das hässliche Kissen mit dem dämlichen Namen unter dem Sofa hervor. Meine Busenfreundin. Jemand hatte es ihr bei der Babyparty geschenkt, wer, wusste sie nicht mehr, aber diese Person hatte das Ding als Lebensretter bezeichnet und damit den Nagel auf den Kopf getroffen, denn immer, wenn sie sich das Kissen um die Hüfte schlang, hatte sie das Gefühl, in einem Rettungsring zu stillen.

Sie setzte sich und legte das Baby auf ihren gepolsterten Schoß. Hob das T-Shirt, löste den BH. Der Kleine dockte an und saugte drauflos, ein entspannter Rhythmus, der ihr noch vor vier Monaten unmöglich erschienen war. Nach der Geburt hatte sie im Krankenhaus einen einstündigen Stillkurs absolviert. Ständig war Elisabeth dabei weggedämmert und wieder hochgeschreckt, wenn sie mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen war.

Mit der freien Hand hielt sie jetzt ihr Handy über den Kopf des Babys und rief mit dem Daumen Facebook auf. Direkt auf die Gruppe BK Mamas, wie immer. Elisabeth scrollte bis zu der Stelle vor, wo sie vor dem Zubettgehen aufgehört hatte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit stellten Mütter hier ihre unzähligen Fragen. Sie leisteten einander Gesellschaft. Elisabeth stellte sich die Brownstones in ihrem alten Viertel vor, in einer Reihe, allesamt in Dunkelheit getaucht, bis auf die winzigen leuchtenden Displays, die sie miteinander verbanden.

Eine Frau brachte Tipps für einen Langstreckenflug mit Kleinkind. Elisabeth las interessiert alle dreizehn Antworten, obwohl sie kein Kleinkind hatte und in nächster Zukunft keinen Langstreckenflug plante. Jemand hatte eine Frage zur Grippeimpfung. Eine andere brauchte kurzfristig eine Geburtstagstorte mit einem Einhorn drauf. Mimi Winchester, die sich unlängst ein Stadthaus für drei Millionen gekauft hatte, bot für neun Dollar einen gebrauchten Knabenmantel an, Größe 86/92.

Früher hätte sich Elisabeth über solche Frauen lustig gemacht — Frauen mit Abschluss von einer Eliteuniversität, die auf ihrem Fachgebiet glänzten, aber daran scheiterten, einem Neugeborenen die Fingernägel zu schneiden. Jetzt waren sie ihr Rettungsanker. Die einzigen Menschen auf der Welt, die sich mit denselben Themen beschäftigten wie sie, und zwar genauso intensiv, Menschen, die auf jede Frage eine Antwort wussten. Sie erlernten eine völlig neue Sprache, die sich jede Woche wieder komplett änderte. Was sollte man sonst mit seinem angesammelten Wissen anstellen, als es mit anderen zu teilen? Eine Mutter mit einem nur sechs Wochen älteren Kind wurde automatisch zu Elisabeths Prophetin.

Nach zehn Minuten wechselte sie die Brust.

Jemand hatte eine neue Frage gepostet.

Das passt zwar nicht ganz hierher, aber … letzten Monat habe ich meine Eltern in Minneapolis besucht, wie so oft ohne meinen Mann. Dabei habe ich zufällig einen alten Collegefreund wiedergetroffen, der gerade frisch geschieden ist. Jetzt schreiben wir uns ständig Nachrichten. Habe ich eine emotionale Affäre? Soll ich aufhören? Weil es nämlich verdammt SPASS macht, und ich glaube, ich habe ein bisschen Spaß verdient.

Auf dem Profilbild war eine blonde Frau zu sehen, lächelnd und durchtrainiert, dahinter ein großer Typ, der den Arm um sie gelegt hatte. Im Hintergrund sah man weißen Sandstrand, in der Ferne standen Palmen. Vielleicht ihre Flitterwochen. Viele Frauen verwendeten ihre Hochzeitsfotos, auch diejenigen, die sich am lautesten über ihre nichtsnutzigen Gatten beschwerten, wie Elisabeth festgestellt hatte.

Es war doch immer wieder erstaunlich, welche Geheimnisse sie hier preisgaben. Die Gruppe war geschlossen, aber das hieß nur, dass man um Aufnahme bitten musste. Sie hatte 4237 Mitglieder, die — zumindest theoretisch — in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten. Trotzdem hatte man das Gefühl, hier geschützt zu sein. Intim und anonym zugleich.

Dieselben fünfzehn Frauen schrieben Kommentare, jede mit ihrer typischen, absehbaren Meinung zum jeweiligen Tagesthema.

Auf die Frage eines Mitglieds, ob sie sich ein drittes Kind anschaffen sollte, antwortete die selbstgerechte Umweltschützerin, sie hätte wegen des Klimawandels und des ökologischen Fußabdrucks ihrer Familie darauf verzichtet. Als jemand ein Rezept für ein einfaches Hähnchengericht postete, fühlte sich die Umweltschützerin bemüßigt, in einem ellenlangen Manifest zu erklären, warum sie ihre Kinder vegan ernährte.

Mimi Winchester jammerte doch allen Ernstes über ihr Brownstone (wie gern hätte sie eine offene Bauweise!), ihre Putzhilfe (sie will keine Fenster putzen!) und — man fasst es nicht — sogar über ihr Haus in den Hamptons (dieser Verkehr!).

In der Abteilung Kinderfrauenschreck tummelten sich diejenigen, die über Babysitter herzogen, die Kindern Fastfood gaben oder die für angemessen angesehene Zeit am Smartphone überschritten. Es gab allerdings auch solche, die grundsätzlich jedes noch so miese Benehmen der Kinderbetreuung entschuldigten.

Elisabeths beste Freundin Nomi hatte ihr mal gesagt, sie ärgere sich wahnsinnig über Freundinnen, die mit Problemen nicht zu ihr kämen, sondern sie bei den BK Mamas ausbreiteten. Letzten Frühling hatte Tanya, eine alte Freundin aus Collegetagen, während des gemeinsamen Abendessens über Belanglosigkeiten geplaudert, nur um zwei Tage später auf BK Mamas um Tipps für einen guten Scheidungsanwalt zu bitten.

»Wenn von ihr nichts kommt, werde ich sie nicht darauf ansprechen«, sagte Nomi.

»Ich glaube, sie geht davon aus, dass du es auf Facebook siehst und sie dann fragst«, sagte Elisabeth.

»Na, da kann sie lange warten.«

Wie die meisten las Elisabeth lieber im Hintergrund mit und postete nie etwas, obwohl sie täglich viel Zeit auf Facebook verbrachte.

Fünf Minuten später hatten sich bereits zwölf Frauen zu Wort gemeldet und der Blondine versichert, was sie mit ihrem Collegefreund tat, sei nur ein harmloser Flirt. Zehn andere rieten ihr, die Sache sofort zu beenden.

Fragen dieser Art wurden hier ungefähr einmal im Monat gestellt und ragten aus den unzähligen Diskussionen zu Themen wie Töpfchen-Training oder Spielgruppen heraus. Wenn eine verriet, dass ihr Mann Alkoholiker war, eine Affäre hatte oder sie selbst am liebsten bei Nacht und Nebel abhauen würde, kommentierten die anderen mit Feuereifer, offenbar angespornt davon, dass man sie in ein Geheimnis eingeweiht hatte.

Das waren die Posts, von denen Elisabeth am nächsten Morgen Andrew erzählte, obwohl sie wusste, dass ihn das alles nicht sonderlich interessierte. Überhaupt gefiel es ihr am besten, wenn sie solche Dinge hinterher mit einer realen Person besprechen konnte. Sie vermisste die Mittwochsverabredungen in Brooklyn, wenn Nomi nicht ins Büro fuhr und sich mittags mit ihr im Crêpes-Laden an der Court Street traf.

An ihr letztes Treffen vor ihrem Umzug erinnerte sie sich noch gut. Sie hatten geredet und geredet, bis der Junge hinter der Theke meinte, er würde jetzt gern zumachen. Danach hatten sie einfach in der schwülen Augusthitze auf dem Gehweg weitergequatscht, genau wie damals auf dem Parkplatz, am letzten Collegetag.

Nomi hatte einst geschworen, nie nach Brooklyn zu ziehen. Das erste Mal, als sie nach dem Brunch in Manhattan ins Taxi gestiegen war, hatte sie Elisabeth wie Barbra Streisand in So wie wir waren über die Stirn gestrichen und gesagt: »Dein Stadtteil ist reizend, Hubbell.« Zwei Jahre später waren sie und Brian dann trotzdem hergezogen. Sie kauften ein Dreizimmerapartment in einem neuen Hochhaus mit Lift und Swimmingpool. Elisabeth hatte immer nur in staubigen Häusern mit Vortreppe, Deckenleisten und knarrenden Parkettböden gewohnt. Wohnungen, die mit Attributen wie »Charakter« und »Charme« auskommen mussten, da sie weder eine zentrale Klimaanlage noch einen Waschkeller hatten.

Dass ihre Freundschaft so lange gehalten hatte, führte Elisabeth zum größten Teil auf ihren völlig gegensätzlichen Geschmack in Sachen Männer und Behausung zurück. Der machte unmöglich, dass eine auf die andere neidisch wurde.

»Begehe ich gerade einen Riesenfehler?«, hatte Elisabeth zum Abschied gefragt, ihre Freundin noch fest umschlossen, das schlafende Baby im Kinderwagen daneben.

»Ja«, hatte Nomi gesagt, »das tust du.«

»Ermutigung geht anders.«

»Ich bin noch sauer, dass du einfach abhaust.«

»Aber ich habe dir doch immer schon prophezeit, dass ich irgendwann wegziehe.«

»Genau. Du redest schon so lange davon, dass ich es irgendwann nicht mehr geglaubt habe.«

Die ganze Zeit hatte Elisabeth das große Glück gehabt, ihre engste Freundin direkt in der Nachbarschaft zu haben.

Vermutlich hing sie deshalb so sehr an der Facebook-Grup-pe — sie half ihr zu vergessen, dass sie jetzt vierhundert Kilometer weit weg wohnte, in einer Stadt, wo sie keine Freunde hatte.

Ich bin dein Freund, hatte Andrew gesagt.

Ehemänner zählen nicht.

Auch er hatte hier keine Freunde gefunden, aber ihm blieben wenigstens Kollegen, und er konnte manchmal mit amüsanten Anekdoten aufwarten.

Meistens ging Elisabeth nach dem Mittagessen mit Gil spazieren und kam dabei an einem Spielplatz vorbei, auf dem Mütter zusammenstanden, miteinander tratschten und lachten.

Meine Güte, du bist doch nicht die Neue in der Schule, schalt sie sich. Geh rüber und stelle dich vor.

Das waren alles erwachsene Frauen. Sie würden nett zu ihr sein oder zumindest so tun. Aber sie brachte es einfach nicht fertig. Eine Mischung aus Unsicherheit und Erschöpfung hinderte sie daran. Und die Angst vor Ablehnung.

Doch noch während sie sich einredete, dass sie sie sowieso nicht kennenlernen wollte, hoffte sie insgeheim, sie würden sie bemerken und ihr zuwinken, was sie jedoch nie taten.

Das Baby trank, bis es satt war und schloss die Augen, sein Kopf fiel herab wie ein Anker auf den Meeresgrund. Elisabeth trug den Kleinen hoch und legte ihn sanft und mit höchster Konzentration in die Wiege, als wäre er eine Bombe, die jederzeit hochgehen könnte, wenn man nicht vorsichtig war.

In den Stunden vor der nächsten Mahlzeit lag sie hellwach im Bett. Dabei brauchte sie dringend Schlaf, weil ihr ein hektischer Tag bevorstand. Heute würde sich eine potenzielle Babysitterin bei ihr vorstellen, sie musste E-Mails schreiben und dann waren da die vielen Stunden, die auf rätselhafte Weise für den Alltag mit einem Säugling draufgingen. Doch statt sich um ihre Nachtruhe zu bemühen, spähte sie immer wieder auf ihr Handy, gespannt, was die BK Mamas über die emotionale Affäre der Blondine zu sagen hatten.

Violet, ihre Therapeutin, würde vermutlich sagen, dass Elisabeth sich damit ablenken wollte — von dem, was sie ihrem Mann verschwieg, von den aktuellen Problemen ihres Schwiegervaters, von dem Verhältnis zu ihren eigenen Eltern, das schon immer gestört gewesen war, sich aber seit Neuestem verschlechtert hatte.

Elisabeth hatte nicht die Absicht gehabt, nach ihrem ersten Termin bei Violet wöchentlich bei ihr aufzukreuzen. Sie wollte nur, dass ihr jemand eine klinische Depression bescheinigte, eine Angststörung oder vielleicht einfach erklärte, dass ihre Sorgen und ihr Gedankenkarussell durch Proteinmangel verursacht wurden. Eine klare Diagnose wollte sie und ein einfaches, sofort wirksames Mittel, das sie sich in der Apotheke oder im Reformhaus besorgen konnte.

Therapie läuft anders, sagte Nomi.

»Postnatale Depressionen sind kein Hirngespinst«, sagte Violet.

»Ich weiß, aber die habe ich nicht«, sagte Elisabeth. »Das war bei mir schon immer so.«

Eigentlich unternahm sie das alles nur wegen Gil. Es war ihr ein dringendes Bedürfnis, sich wieder geradezubiegen, bevor er merkte, dass sie neben der Spur war.

Violet erinnerte sie daran, dass Gedanken nur Schall und Rauch waren. Sie empfahl ihr, Eckhart Tolle zu lesen.

Bei Elisabeths Google-Suche zu Violet stieß sie auf einen Essay, den ihre Therapeutin vor Jahren für eine Anthologie zum Thema Mütter und Töchter geschrieben hatte, daher wusste sie, dass Violet keine Kinder hatte, ihre Mutter verstorben war und ihr armer alter Vater an Alzheimer litt.

Wenn Elisabeth sich bei ihr über ihre Familie ausweinte, fragte sie sich manchmal, wie sehr Violet sich wohl zusammenreißen musste, um sie nicht anzubrüllen: Meine perfekte Mutter ist tot, mein Vater weiß nicht mehr, wer ich bin, aber deine beschissenen Eltern leben einfach weiter. Soll das fair sein?

Violet gähnte oft, was Elisabeths Gefühle verletzte.

Sie schlug die Augen auf und war wach. Nur daran erkannte Elisabeth, dass sie geschlafen hatte. Zehn Minuten? Eine Stunde? Sie wusste es nicht.

Es war fünf Uhr morgens. Das Baby würde jeden Moment aufwachen. Sie fragte sich, wie lange diese enge körperliche Bindung noch bestehen würde, wie lange ihr Körper bereits reagieren würde, bevor ihr Sohn sich gemeldet hatte.

Sie checkte BK Mamas auf ihrem Handy.

Eine Frau namens Heather hatte gegen vier Uhr etwas gepostet, sie wollte wissen, ob sie ihre Milch nach zwei Gläsern Wein abpumpen und wegschütten musste. Die Antworten kamen Schlag auf Schlag, ein einstimmiger Chor: Nein. Heather bedankte sich, dann gestand sie, dass sie Schuldgefühle hatte. Weil sie nicht genug Vitamine zu sich nahm, weil sie ein Oreo genascht und damit gegen ihren Vorsatz verstoßen hatte, wegen des Babys nur Bio-Lebensmittel zu essen.

Schuldgefühle waren der Kitt, der sie zusammenhielt.

Denk nicht so viel darüber nach, schrieb jemand. Es ist nicht gesund, multivariate Analysen über die Auswirkungen des einmaligen Verzehrs von Oreos anzustellen.

Elisabeth musste lächeln.

Das Baby schrie. Der Tag begann.

2

Die Sommerhitze ließ auch in der zweiten Septemberwoche nicht nach, aber die frühen Morgenstunden waren angenehm. Eine frische Brise kündete von kühleren Tagen.

Bevor Andrew zur Arbeit ging, drehten sie eine gemeinsame Runde um den Teich am nahegelegenen College, ein Abklatsch ihrer früheren Gewohnheit. In Brooklyn waren sie jeden Morgen spazieren gegangen, um sich Kaffee zu holen, hatten in neue Restaurants gespäht und Nachbarn beim Gassigehen gegrüßt. Hier gab es kilometerweit keine Cafés oder Restaurants. Aber Elisabeth machte sich klar, dass sie es so gewollt hatte — Natur, Stille, Vogelgesang in den Bäumen.

Andrew hatte eine French Press gekauft, in der er jetzt Kaffee kochte und ihn ihr vor dem Spaziergang am College in einen Thermobecher füllte.

»Wo sind die College-Schülerinnen eigentlich?«, hatte Andrew gefragt, als sie das erste Mal die Main Street entlangfuhren, die mitten durch den Campus führte.

»Da drüben, wenn ich mich nicht täusche«, hatte sie geantwortet.

Sie zeigte auf die vielen jungen Frauen, die in lachenden Grüppchen an der Ampel standen, auf der Treppe vor dem Wohnheim saßen oder gebeugt unter der Last ihrer Rucksäcke von A nach B eilten. Wie auf den Fotos in den Anmeldeprospekten.

»Nie und nimmer!«, hatte Andrew damals gerufen. »Diese Mädchen sehen aus, als wären sie höchstens in der Sechsten.«

Auch jetzt kam ihnen eine Gruppe junger Frauen entgegen, sie joggten gemeinsam über den Campus. Ihre weißen Windjacken zischten scharf, als sie in Zweierreihen an ihnen vorbeiliefen.

Die meisten lächelten das Baby an, das in seinem Tuch an Elisabeths Brust schlief.

Elisabeth lächelte zurück, um einen fröhlichen Gesichtsausdruck bemüht. Eigentlich war sie sauer, denn Andrew hatte ihr beim Aufwachen mitgeteilt, dass seine Eltern sie abends zum Essen eingeladen hatten, leider hätte er total verschwitzt, es ihr rechtzeitig zu sagen. Am frühen Abend, wenn Andrew von der Arbeit nach Hause kam, konnte Elisabeth endlich ein bisschen Auszeit genießen oder sich gemütlich mit Andrew unterhalten. Diese kostbaren Stunden wollte sie nicht mit ihren Schwiegereltern verplempern.

Sie hatten ihren Wendepunkt am Teich fast erreicht, dort, wo an einem dicken Ast ein Seil baumelte. Elisabeth stellte sich betrunkene Mädchen in abgeschnittenen Jeans vor, die sich daran übers Wasser schwangen und unter viel Gekreische losließen. Die dieselben Dummheiten machten wie sie. Das ganze Leben noch vor sich hatten.

»Diese Grillen sind widerlich«, sagte Elisabeth. »So heißen sie doch, oder? Grillen? Sie sind riesig. Ich finde es eklig, wenn sie auf mir landen, du nicht?«

Andrew zuckte die Achseln: »Auf mir sind noch keine gelandet, dazu kann ich also nichts sagen.«

Sie boxte ihn gegen den Arm. »So fühlt sich das an.«

Versuchen Sie zu erspüren, in welchen Situationen Sie Wut oder Ärger empfinden, hatte Violet ihr geraten. Werten Sie nicht, nehmen Sie diese Momente einfach zur Kenntnis.

Nomi hatte sich unverblümter ausgedrückt: Wahrscheinlich wirst du Andrew nach der Geburt eine Weile lang abstoßend finden. Wenn er dich anfasst, kriegst du vielleicht sogar die Krise. Mach dir keine Sorgen. Das geht vorüber.

Elisabeth fand Andrew nicht abstoßend. Sie konnte sich glücklich schätzen, einen sanftmütigen Mann wie ihn zu haben, einen Partner, der sie verstand. Aber in den letzten Monaten hatte sich so viel verändert. Manchmal fühlte es sich an, als wäre sie in einem überfüllten Zimmer, wo sie sich zwar sehen, aber nicht berühren konnten. Sie war sich nicht sicher, wie und wann sie wieder zusammenfinden würden.

Und dann war da noch dieses Geheimnis, das Violet toxisch nannte.

»Beziehungen zerbrechen nie an den Heimlichkeiten selbst«, hatte Violet ihr erklärt, »sondern an der Tatsache, dass man Geheimnisse hat.«

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen, aber in diesem Fall wäre es glaube ich so oder so vorbei«, hatte Elisabeth entgegnet.

Andrew ging zur Arbeit, Elisabeth unter die Dusche.

Ein Stück aus Folksongs für Kinder plärrte aus ihrem Handy. Es lag auf einem Stuhl vor dem Bad. Gil strampelte in seiner Babywippe, die auf den Fliesen stand. Nach der zweiten Strophe von This Land Is Your Land fing er an zu schreien.

Elisabeth wusch sich die Spülung aus den Haaren und stellte das Wasser ab. Seit einer Woche wollte sie sich die Beine rasieren.

Rasch schlang sie sich ein Handtuch um den Körper und hob das Baby aus der Wippe.

Als sie Nomis Nachricht auf dem Handy las, hob sich ihre Laune.

Brian benimmt sich seltsam. Entweder hat er eine Affäre oder er plant was für meinen Geburtstag.

Geburtstag, schrieb Elisabeth zurück. Darüber brauchte sie gar nicht nachzudenken. Brian war vieles, aber keiner, der seine Frau betrog.

Wieso bist du so sicher?

Weil er der Letzte ist, der fremdgehen würde.

Sind es nicht immer die, von denen man es am wenigsten erwartet?

Nein, das gilt nur bei Mord. Untreu sind die, von denen man es erwartet.

Sie telefonierten nicht mehr miteinander, es gab auch keine Begrüßungen und keine Abschiede, sondern nur noch eine andauernde Unterhaltung, die sie unterbrachen und im Verlauf des Tages wieder aufnahmen. Wenn ihre beste Freundin sie jetzt anrufen würde, konnte das nur bedeuten, dass jemand gestorben war. Damals, als Elisabeth noch in Brooklyn wohnte, war es auch vorgekommen, dass Nomi sie anrief, weil sie sich ausgesperrt hatte.

Gibt’s schon was Neues vom Babysitter?, fragte Nomi.

In einer Stunde stellt sich eine Kandidatin bei mir vor.

Elisabeths Freundinnen aus der Stadt engagierten Kinderfrauen aus der Karibik oder aus Tibet, die sie dafür bezahlten, dem Nachwuchs eine Großmutter zu sein, wie sie die eigene Mutter nie sein würde. Eine Frau, die das Baby liebte und ihre Weisheiten mit ihnen teilte, ohne zu werten. Die nicht auf dem Sofa der Tochter Wein trank, während das Kind weinte, oder einem riet, seine Brust nicht in gemischter Gesellschaft zu entblößen.

Elisabeth hatte sie alle gehört, die Klagen ihrer Freundinnen über das sonderbare Verhalten ihrer Eltern nach der Geburt des Enkelkindes. Doch alles war besser als das, was sie mit ihren erlebte. Vier Monate war Gil schon auf der Welt, und ihre Eltern hatten ihn noch immer nicht gesehen.

Ihr Vater erwartete, dass sie ihn mit dem Kind besuchte.

»Arizona ist herrlich zu dieser Jahreszeit«, hatte er gesagt. »Und perfekt für Kinder. Sie können überall frei rumlaufen.«

»Aber er kann ja noch gar nicht laufen«, hatte sie bemerkt. »Nicht mal sitzen kann er.«

Als Gil auf die Welt kam, erkundete ihre Mutter gerade auf einer Viking-Schiffsreise die Donau. Sie schickte ihm ein Set aus Becher und Schüssel, handgefertigt von Nonnen aus Bukarest, und hatte seither keine Anstalten gemacht, ihren Enkel zu besuchen.

So viele Leute — selbst Fremde — stellten Vermutungen über ihre Mutter an. Nomis Mutter zum Beispiel.

»Deine Mutter ist sicher überglücklich. Es gibt nichts Besseres, als Großmutter zu werden«, hatte sie damals gesagt, als sie Gil besucht und ihm eine selbstgestrickte Decke geschenkt hatte.

Elisabeth hatte zustimmend gelächelt, denn die gute Frau dachte dabei sicher an eine andere Familie, eine, die so war wie ihre eigene.

Schon mit Anfang zwanzig hatte sie sich an ein Leben ohne ihre Eltern gewöhnt. Urlaube verbrachten sie getrennt. Elisabeth war nie nach Kalifornien zurückgekehrt, nicht mal, um sie zu besuchen. Aber seit sie ihre eigene Familie gegründet hatte, musste sie öfter über ihre Herkunftsfamilie nachdenken.

Eigentlich müsste es ihr egal sein, dass sich ihre gefühlskalte, wenig einfühlsame Mutter als gefühlskalte, wenig einfühlsame Großmutter entpuppt hatte, doch das war es nicht. Ihre Eltern hatten jetzt mehr Bedeutung als zu jedem anderen Zeitpunkt ihres Erwachsenenlebens.

»Wir ziehen wegen meines Jobwechsels um, aber auch, um näher bei Mom und Dad zu wohnen«, hatte Andrew in den Wochen vor dem Umzug immer wieder gesagt, eine vereinfachte Version der Wahrheit, die er mit jedem Aussprechen weiter ausschmückte. »Ihre Hilfe wird uns eine große Erleichterung sein.«

Und jedes Mal biss sich Elisabeth auf die Zunge. Im Großen und Ganzen waren Faye und George begeisterte Großeltern. Aber Unterstützung kam von ihnen nicht. Wenn das Baby in Anwesenheit seiner Großmutter in die Windeln machte, streckte Faye es weit von sich und bemerkte mit gerümpfter Nase: »Da muss aber jemand gewickelt werden!« Ein einziges Mal hatte Elisabeth sie gebeten, zehn Minuten auf ihn aufzupassen, damit sie schnell was einkaufen konnte, und die beiden bei der Rückkehr auf dem Sofa vorgefunden, vor Fayes übergroßem Fernseher, wo gerade Dr. Phil lief. Der Kleine hatte mit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm gestarrt.

Faye war Grundschullehrerin, daher war Elisabeth davon ausgegangen, dass sie eine ganz wunderbare Oma abgeben würde. Doch offenbar brauchte Faye ihre ganze Kinderliebe für die Arbeit. Sie betete Gil an, fühlte sich aber nicht für ihn verantwortlich.

George war ebenfalls ganz angetan von seinem Enkel, aber seit Kurzem mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.

Soweit Elisabeth es beurteilen konnte, waren die meisten Kinder in ihrem neuen Viertel nur halbtags in Betreuung oder blieben gleich ganz bei ihren Müttern zu Hause.

Debbie von gegenüber war Hausfrau und mit einem Versicherungsmakler verheiratet. Die anderen Frauen in der Laurel Street hatten Berufsbezeichnungen, die alles Mögliche bis hin zu bloßem Nichtstun bedeuten konnten: Melody war Maklerin. Pam unterrichtete Yoga. Doch es schien, als hüteten sie hauptberuflich das Heim.

Elisabeth war klar, dass die anderen dasselbe über sie sagen konnten. Nichts war so erniedrigend, als auf die unvermeidliche Partyfrage nach dem Beruf mit: »Ich schreibe Bücher« zu antworten und dafür den mitleidigen Ausdruck des Gegenübers zu ernten. Meist folgte darauf gleich die zweite, vorsichtige Frage: »Haben Sie schon … was veröffentlicht?« Wenn sie dann bejahte, erfüllte dies ihren Gesprächspartner oft mit sichtlichem Unbehagen, als würde sie ihm gleich eine ganze Kofferraumladung ihrer Bücher andrehen.

Besser verliefen solche Begegnungen, wenn Andrew neben ihr stand. Er prahlte auf eine Weise mit ihren Errungenschaften, wie sie es nie fertiggebracht hätte. Ihr Debüt wurde gleich zum Bestseller, sagte er. Oder Simon and Schuster hat sie gleich für drei Bücher unter Vertrag genommen.

Dieses dritte Buch — in einem Jahr fällig und noch nicht mal angefangen — war der Grund, warum sie eine Kinderfrau brauchte. Elisabeth hatte noch nicht mal eine vage Vorstellung, worüber sie schreiben sollte, was ihr eigentlich gar nicht ähnlich sah. Beim letzten Mal war sie nach Abschluss des laufenden Projekts in Gedanken schon beim nächsten Buch gewesen und hatte es kaum erwarten können, damit anzufangen. Sie hatte erwartet, dass sie schon längst darauf brennen würde, zur Arbeit zurückzukehren. Doch in Wahrheit hatte sie fast vergessen, wie sich beruflicher Ehrgeiz anfühlte.

Aus den Erzählungen ihrer Freundinnen wusste sie, dass die Suche nach einer Kinderfrau gewisse Ähnlichkeiten mit der Partnersuche aufwies, sich aber oft noch schwieriger gestaltete. Manche Kandidatinnen erwiesen sich sofort als Ausschuss, die Chemie stimmte von Anfang an nicht, trotzdem musste man das Gespräch bis zum Ende durchziehen. Es kam auch vor, dass sich die mühsam Auserwählte schließlich für eine andere Familie entschied. Nomi hatte eine Frau engagiert, die sich, wie sich hinterher herausstellte, mit falschen Referenzen beworben hatte. Dass so etwas passieren konnte, hatte sie beide in Angst und Schrecken versetzt.

Als Elisabeth ihrer Nachbarin Stephanie von ihrer Suche erzählte, erfuhr sie, dass es an dem kleinen Frauencollege eine große Auswahl an geeigneten Studentinnen gab.

»Ich hab schon ein paar engagiert, und alle waren gut«, sagte Stephanie. »Zumindest haben sie ihren Zweck erfüllt und mir nicht das Haus angezündet.«

Elisabeth dankte ihr für den Tipp, dachte sich aber ihren Teil. Stephanie liebte ihre Kinder offenbar nicht halb so sehr wie sie Gil.

Am Ende versuchte sie es trotzdem mit einer Studentin vom College. Die könnte ja erstmal an drei Tagen die Woche kommen, so als Einstieg. Wenn die Sache nicht funktionierte, wäre sie mit dem Semesterende ohnehin vorbei.

Vor einer Woche war Elisabeth mit Kinderwagen und Handzettel bewaffnet über den Campus gelaufen.

»Könntest du mir zeigen, wo das Hauptgebäude ist?«, fragte sie ein Mädchen mit raspelkurzen Haaren.

Das Mädchen starrte sie an, dann zog es den Ohrstöpsel raus.

»Entschuldigung«, sagte Elisabeth. »Das Hauptgebäude?«

Das Mädchen wies auf ein Backsteinhaus mit kleinen Türmchen.

Drinnen war es still, das Licht trüb. Stephanie hatte ihr vom Schwarzen Brett erzählt, wo Leute ihre Gesuche aushängten. Aber an den Wänden hingen nur Porträtfotos von den jeweiligen College-Präsidenten, zwölf ernst dreinblickende weiße Männer mit fortschreitendem Haarausfall und am Ende der Riege eine triumphierend lächelnde Schwarze. Elisabeth betrachtete sie interessiert, bis Gil anfing zu quengeln und sie damit an den Grund ihres Besuchs erinnerte.

Sie bog um die Ecke. Dort, zwischen den geöffneten Türen des Sekretariats und der Ehemaligenverwaltung, befand sich ein großes Korkbrett voller Aushänge: Die presbyterianische Gemeinde des Viertels lud zum Potluck Dinner ein, das Tierheim suchte Ehrenamtliche. Die meisten Zettel aber stammten von Müttern, die eine Kinderbetreuung brauchten, nur ein paar Stunden die Woche oder gelegentlich am Abend.

Elisabeth war noch ins Lesen vertieft, als zwei Stimmen die Stille unterbrachen.

Ein Mann kam über den Flur, ergrautes Haar, attraktiv in grauem Blazer über der dunklen Jeans, neben ihm ging eine Studentin, die ihn um eine Verschiebung ihres Abgabetermins bat, weil ihre Großmutter gestoben sei.

Der Mann zeigte keinerlei Mitleid.

»Ich brauche eine Kopie der Todesanzeige«, sagte er.

Gnadenlos, dachte Elisabeth. Stur.

Einen Mann, der an einem Frauencollege unterrichtete, konnte man nicht heiraten. Genauso wenig wie einen Gynäkologen. Das hatte was Perverses.

Oder vielleicht auch nicht.

Sie versuchte schon seit einiger Zeit, sich mit ihren ständigen Vorurteilen zurückzuhalten. Als sie versuchte, schwanger zu werden, hatte sie in einem Blogbeitrag gelesen, dass negative Gedanken die Empfängnis beeinträchtigen konnten. Seitdem zwang sich Elisabeth, jedes in ihr aufsteigende Urteil durch das Wort »Banane« zu ersetzen. Es gab Tage, da klang sie wie ein zensierter Brief aus dem Zweiten Weltkrieg: »Und ich habe meine Schwester von Herzen lieb, aber hat sie nicht ein bisschen Banane verdient nach dieser ganzen Banane mit dem Bananentypen?«

Das ging so weit, dass sie eines Nachts geträumt hatte, sie hätte eine Banane auf die Welt gebracht.

Vier potenzielle Kandidatinnen hatten sich auf ihre Anzeige gemeldet. Drei davon waren bereits aussortiert.

Die erste, Silvia, überraschte Elisabeth, weil sie keine Studentin war, sondern eine erwachsene Frau aus El Salvador mit erwachsenen Kindern.

Silvia kritisierte Elisabeths Methode, Gil zum Bäuerchen machen zu ermutigen, und riet ihr, ihn wärmer anzuziehen, da er offensichtlich fror. Das machte Elisabeth nichts aus, denn sie hatte oft den Eindruck, nur sie wisse, was Gil brauchte. Wie anregend, eine Person kennenzulernen, die ihn besser zu kennen glaubte als sie.

Elisabeth war kurz davor, sie zu engagieren, sie wollte nur noch wissen, wo Silvia den Aushang gesehen hatte.

»Ich arbeite nachts als Putzkraft im College«, sagte Silvia, »und brauche einen guten Zweitjob.«

»Aber wenn Sie nachts arbeiten und tagsüber bei mir sind, wann wollen Sie dann schlafen?«

»Ach, ein, zwei Stunden reichen mir. Das mache ich einfach, wenn das Baby schläft.«

War das normal? Dass die Kinderfrau bei der Arbeit schlief?

Silvia musterte Elisabeth von Kopf bis Fuß. »Sind Sie sicher, dass Sie das Baby geboren haben? Sie sind so zierlich!«

Diese Frage hatten ihr schon andere gestellt und Elisabeth hatte sie als Kompliment aufgefasst, aber bei Silvia klang es irgendwie vorwurfsvoll. Obwohl sie klein und zierlich war, fühlte sie sich neuerdings fremd im eigenen Körper. Die Falte an der Stelle, wo ihr Bauch einst straff gewesen war. Ihre Brüste, immer noch klein, aber neuerdings erschlafft. Ihre Hüfte war jetzt breiter, ihre Füße waren zu dick für bestimmte Schuhe. Sie wusste, dass sie das alles schrecklich finden sollte. Manchmal tat sie das sogar. Aber sie betrachtete es auch als sichtbares Zeichen dessen, was in ihrem Körper geschehen war, sowohl das Gewöhnliche als auch das Außergewöhnliche.

Die zweite Kandidatin, zweites Studienjahr, blau gefärbte Strähne, ging mitten im Gespräch ans Handy. Kein »Tut mir leid, ich muss da ran, es ist ein Notfall«, nein, sie reckte einfach mitten in Elisabeths Ausführungen den Finger in die Luft und sagte »Hi!« zu ihrem Anrufer.

Die Dritte hatte nur Erfahrung mit älteren Kindern vorzuweisen, und zwar als Betreuerin in einem Zeltlager. Als sie Gil in den Arm nahm, hielt sie ihm keine stützende Hand unters Köpfchen. Blitzschnell nahm Elisabeth ihr das Kind weg, möglicherweise ein bisschen ruppig, und sagte, sie würde sich bei ihr melden.

Die vierte Kandidatin hatte einen Termin um neun. Auf die Anzeige hatte sie sich mit einer E-Mail gemeldet. Darin stand, sie habe vergangenen Sommer in London Kinder gehütet. Elisabeth wusste, dass sie sich keine allzu große Hoffnungen machen sollte, doch in Gedanken sah sie es schon vor sich: eine britische Kinderfrau, die Gil vergötterte, aber mit der nötigen Strenge erzog.

Julie Andrews als Mary Poppins.

Julie Andrews als Maria von Trapp.

Um fünf vor neun stand sie mit dem schlafenden Gil auf dem Arm am Fenster und sah eine plumpe Brünette in Oversize-T-Shirt und Flipflops auf ihr Haus zuschlappen.

Und vorbeigehen.

Also doch nicht, dachte Elisabeth.

Sie hatte Kaffee gekocht und Muffins und Croissants hingestellt, als erwarte sie Gäste zum Brunch. Für die anderen hatte sie das auch getan. Das Mädchen mit der blauen Strähne hatte gefragt, ob sie die Reste mitnehmen dürfte.

Elisabeth hatte noch nie als Arbeitgeberin ein Vorstellungsgespräch geführt. Als sie jünger war, war sie überzeugt, dass sie es im Ernstfall schon hinbekommen würde, denn allein die Tatsache, dass sie am Hebel säße, würde ihr Autorität und Kontrolle verleihen.

Sie ging ein weiteres Mal die To-do-Liste auf ihrem Handy durch. Duschen. Babysitter. SCHREIBEN? Manchmal notierte sie sich Dinge, die sie bereits erledigt hatte, damit sie was zum Abhaken hatte. Wenn hinter einer Aufgabe ein Fragezeichen stand, war schon klar, dass sie sie auf keinen Fall erledigen würde.

Um neun klingelte es an der Tür. Vor ihr stand das Mädchen im Oversize-T-Shirt und lächelte breit. War sie einfach weitergegangen, damit sie nicht zu früh auftauchte? Oder hatte sie sich verlaufen?

»Du bist sicher Sam, oder?«, flüsterte Elisabeth, nachdem sie mit der freien Hand die Fliegengittertür aufgeschoben hatte. Mit der anderen hielt sie das schlafende Kind. »Ich bin Elisabeth. Und das ist Gil.«

»Hi«, erwiderte das Mädchen leise. Aufgeweckt, so klang sie.

Sie trat ins Haus und sah sich um.

Im Flur lag ein weicher blauer Läufer, zu beiden Seiten blitzte Parkettboden hervor. Linker Hand ging es ins große, sonnendurchflutete Wohnzimmer. Rechts war eine Holztreppe mit weißem Geländer. Auf halber Höhe befand sich ein Buntglasfenster, in das sich Elisabeth schon bei der ersten Besichtigung verliebt hatte. Bei diesem Anblick hatte sie bereits gewusst, dass sie das Haus kaufen würden, noch bevor sie ein einziges Zimmer gesehen hatte.

»Ihr Haus gefällt mir sehr«, sagte Sam. »Es hat so eine friedliche Atmosphäre.«

Elisabeth hätte fast verächtlich geschnaubt, doch dann nahm sie kurz Bestand auf: ihre einfache Hemdbluse, die schwarzen Leggings. Sie war barfuß, hatte das Haar zu einem losen Knoten hochgebunden. Da war das Silbertablett mit Gebäck, Simon and Garfunkel sangen leise aus dem Bose-Lautsprecher. Das Baby steckte in einem weichen, weißen Schlafanzug. Ja, von außen betrachtet wirkte es sicher friedlich.

Das Mädchen konnte nicht ahnen, wie es in Elisabeths Kopf aussah. Das gefiel ihr.

»Ahh, was für süße Locken!«, sagte Sam.

Das sagten die meisten, wenn sie Gil zum ersten Mal sahen. Diese Worte erfüllten Elisabeth mit unangemessenem Stolz, als hätte sie ihn so gemacht.

Er war mit einem goldblonden Lockenschopf auf die Welt gekommen, der ihn von Anfang an zu etwas Besonderem machte. Krankenschwestern kamen in ihr Zimmer, nur um die Locken zu sehen.

Sie nannten Elisabeth Mom, Andrew war Dad.

Die Erste, die sie so genannt hatte, war nicht älter gewesen als Sam.

»Sie sollten drei Motrin nehmen, Mom«, hatte sie gesagt. »Mom, wenn Sie hochmüssen, drücken Sie einfach auf die Klingel. Bitte nicht selbst aufstehen!«

Elisabeth war noch so wirr gewesen, dass sie kurz überlegt hatte, ob das Mädchen tatsächlich ihre Tochter war.

Später erklärte Nomi ihr, dass die Schwestern das so machten, damit sie sich nicht die Namen sämtlicher Eltern merkten mussten, die sie nach achtundvierzig Stunden nie mehr wiedersehen würden. Elisabeth dachte sich, dass sie den frischgebackenen Eltern damit vielleicht auch helfen wollten, die Ereignisse der letzten Stunden zu verarbeiten und sich an ihre neuen Rollen zu gewöhnen.

»Was darf ich Ihnen anbieten, Sam?«, fragte sie jetzt. »Kaffee? Pellegrino?«

»Danke, nichts. Sie können mich gern duzen.«

Sam schlüpfte aus ihren Schuhen.

»Lassen Sie … lass die doch ruhig an!«, sagte Elisabeth, freute sich aber über die Geste. Keine von den anderen hatte daran gedacht.

»Könnte ich mir kurz die Hände waschen?«, fragte das Mädchen.

Elisabeth wies auf eine schmale Tür. »Da ist die Gästetoilette.«

Das Händewaschen dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Es fühlte sich irgendwie übergriffig an, im Flur auf ihren Gast zu warten, deshalb setzte sich Elisabeth aufs Sofa.

Da schlug Gil die Augen auf.

»Hallo, mein Liebling«, flüsterte sie. »Hier ist eine Freundin, die dich kennenlernen möchte.«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass Sam offenbar doch keine Britin war.

Als sie aus dem Bad kam, saß Gil auf Elisabeths Schoß, die großen, blauen Augen aufgerissen.

Sam seufzte.

»So ein hübscher Kerl!«, rief sie, und Elisabeth war ihr sofort verfallen.

»Bitte«, sagte sie, »setz dich doch und erzähl uns ein bisschen über dich. In deiner E-Mail hast du geschrieben, du hast als Kinderfrau in London gearbeitet? Deswegen dachte ich auch …« Sie lachte.

»Was?«, fragte Sam.

»Ich habe gedacht, dass du vielleicht einen britischen Akzent hättest.«

»Ach so. Nein. Tut mir leid. Ich hab nur den Sommer dort verbracht. Bei einer Familie mit achtzehn Monate alten Zwillingen und einem Neugeborenen. Lauter Jungs.«

»Du liebe Güte!«

»Eigentlich war es nur halb so wild«, sagte Sam. »Kinder habe ich schon immer gehütet. Ich bin die Älteste von vier Geschwistern und habe neunzehn jüngere Neffen.«

»Um Gottes willen!«

»Meine Mutter wollte nie, dass ich als Nanny arbeite, ich sollte Kellnerin werden, das sei anständiger. Aber ich arbeite für mein Leben gern mit Kindern.«

»Ich habe jahrelang gekellnert. Daran ist nichts Anständiges, glaub mir«, sagte Elisabeth lächelnd. Sie schob Sam das Tablett mit dem Gebäck hin. »Wie hat dir London gefallen? Ich fand es immer toll, war schon ein paarmal dort.«

»London ist klasse«, sagte Sam. »Mein Freund Clive wohnt dort. Er ist Brite. Ich hoffe, ich kann ihn dieses Jahr so oft wie möglich besuchen. Es ist teuer, aber seine Schwägerin arbeitet für British Airways, wenn wir über sie Standby fliegen, ist es billiger.«

»Studiert Clive auch?«

»Nein, er … hat schon einen Abschluss.«

Gern hätte Elisabeth weitergebohrt, aber Andrews Stimme mahnte sie. Grenzen respektieren!

»Und was studierst du?«, fragte sie stattdessen.

»Freie Kunst und Anglistik, im Doppelstudium. Mein Dad macht sich immer darüber lustig und behauptet, er weiß nicht, welcher Abschluss sinnloser ist. Er wollte, dass ich Wirtschaft studiere.«

»Ich habe schon mit vielen Anglisten gearbeitet«, sagte Elisabeth. »Aus denen ist auch was geworden. Mach dir keine Sorgen.«

»Was machen Sie?«, fragte Sam. »Wenn ich Sie das fragen darf?«

»Natürlich darfst du. Ich bin Journalistin. Zwölf Jahre lang habe ich bei der Times gearbeitet.«

»Oh, spannend!«

»Ja, das war es.«

Elisabeth erzählte ihr nicht, dass sie und die Hälfte ihrer Freunde sich vergangenes Jahr für eine Abfindung entschieden hatten, weil sie fürchten mussten, dass sie sechs Monate später arbeitslos gewesen wären.

»Und jetzt schreibe ich ein Buch«, fügte sie hinzu.

»Wahnsinn! Ihr erstes?«

»Mein drittes.«

»Wow!«

»Weißt du schon, was du nach dem Studium machen willst?«

Sam wirkte verlegen. »Ich male wahnsinnig gern, das mochte ich schon als Kind. Aber natürlich ist das kein Job.«

»Für manche schon«, sagte Elisabeth.

»Ich würde gern in einer Kunstgalerie arbeiten, vielleicht unterrichten«, sagte Sam. Sie richtete sich auf. »Entschuldigung. Ich wollte noch sagen, dass ich viel Erfahrung im Umgang mit Kindern habe. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und schon für mehrere Leute hier in der Stadt gearbeitet, die sehr zufrieden mit mir waren. Kinderhüten am Abend und am Wochenende, das habe ich während der Schulzeit zigmal gemacht.«

»Und wenn du drei volle Tage unter der Woche hier arbeitest, kannst du das mit dem Studium vereinbaren?«

»Ich bin im letzten Jahr«, sagte Sam. »Nicht besonders anstrengend. Außerdem habe ich bisher auch schon in der Mensa gearbeitet und meine Seminare entsprechend gewählt, bin das also gewohnt.«

»Sehr schön«, sagte Elisabeth. Sie hatte eine Liste mit Fragen, aber keine Ahnung, wo sie sie hingelegt hatte. Eigentlich sollte sie mehr Fragen stellen, das hatte sie vor lauter Plauderei ganz vergessen.

Sam sah sich um. »Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Seit einem Monat.«

Elisabeth und Andrew hatten vor zehn Jahren das erste Mal über einen Umzug aufs Land gesprochen, schon bei ihrem dritten Date. Sie hatten viele Häuser besichtigt und Lebensentwürfe anprobiert, die ihnen damals noch gar nicht passten — kleine Farmen am Hudson River, Kolonialstilhäuser in New Jersey, sogar Strandcottages in Maine hatten sie in Betracht gezogen, denn damals, Mitte Juli, hatten sie sich fast vorstellen können, dort das ganze Jahr über zu wohnen.

»Einen Makler sollte man nur beanspruchen, wenn man es ernst meint«, sagte ihre Schwiegermutter, neuerdings für die Rechte dieser Berufsgruppe engagiert.

Aber Elisabeth wusste selbst nie so richtig, ob sie es ernst meinten oder nicht. New Yorker jammerten gern über ihre Stadt: die Menschenmassen, die chronisch unpünktliche U-Bahn, die Hektik. Jeder normale Mensch würde woanders hinziehen. Man unterschied New Yorker nicht anhand ihrer Viertel, sondern anhand der Stadt, in die sie fliehen wollten: L. A. oder Portland oder Austin oder ihren ursprünglichen Heimatort. Aber jedes Mal, wenn jemand tatsächlich umzog, war sie geschockt. Ihre Freundin Rachel war in den Vorort von Cleveland gezogen, wo sie geboren wurde. Seitdem schwärmte sie oft von den Vorzügen ihrer neuen alten Heimat.

»Im Sommer ist jeden Freitag Bierfest im Botanischen Garten, da sitzen wir im Gras und probieren Craft-Beer von verschiedenen Brauereien«, hatte Rachel ihr schon mindestens fünfmal erzählt.

Es klang nett, aber wie oft konnte man im Botanischen Garten Bier trinken? Und was machte man danach?

Für Elisabeth und Andrew war das Leben in der Stadt immer nur eine Übergangslösung gewesen, obwohl sie beide zwanzig Jahre dort gewohnt hatten, länger als irgendwo sonst, länger sogar als an dem Ort, den sie Heimat nannten. Sie hatte sich immer gefragt, was sie schließlich zum Umzug bewegen würde. Ein Kind vermutlich. Aber Gil war nicht der Grund gewesen, sondern die Situation mit Andrews Vater. Und die Situation mit Andrew.

Oft wusste Elisabeth nicht, was sie eigentlich hier tat. 32 Laurel Street. So lange hatten sie nach dem perfekten Ort gesucht, und jetzt war sie hier gelandet, im Niemandsland.

Wenn sie jemand vor ihrem Umzug gefragt hatte, wohin es gehen sollte, hatte Andrew stets »Upstate« geantwortet.

»Aber nicht das coole Upstate«, hatte sie bei solchen Gelegenheiten fast zwanghaft hinzugefügt. »Nehmt den Ort, den ihr euch vorstellt, und dann nochmal dreihundertfünfzig Kilometer weiter.«

Wenigstens sah ihr Haus nicht so aus wie alle anderen im Viertel. Ihre Nachbarn hatten alte Häuser im Cape-Cod-Stil abgerissen und sich hässliche Klötze hingestellt, die den letzten Zentimeter ihres Grundstücks ausfüllten.

Ihr Haus war ein Original. Klein, aber hübsch. Eine glänzend rote Tür, Efeu rankte die weiße Holzfassade empor, die, wie die Maklerin ihr geraten hatte, alle vier bis fünf Jahre gestrichen werden sollte. Elisabeth und Andrew nickten abwesend — seit sie erwachsen waren, hatten sie immer nur in Apartments gewohnt und sich abgesehen vom Wechseln einer Glühbirne nie mit Renovierungen beschäftigt.

Gil streckte jetzt die Händchen nach Sam aus und krähte, er wollte offenbar mitreden.

»Darf ich?«, fragte Sam.

»Natürlich.«

Sie nahm ihn hoch und richtete das Wort an Gil, wie man es mit Kindern machte. »Ich sehe schon, dass ich es hier mit einem außergewöhnlich klugen Kerlchen zu tun habe, Gilbert«, sagte sie. »Wir haben sicher viel Spaß miteinander.«

Er umklammerte Sams Haarbüschel, und beide lachten.

Elisabeth strahlte. »Ach, du hast wirklich ein Händchen für ihn.«

»Er ist ja auch ein echter Sonnenschein.«

»Das ist er. Wir haben Glück.«

»Wollen Sie noch mehr Kinder?«, fragte Sam ganz nebenbei, den Blick noch auf Gil gerichtet.

Eine seltsame Frage für ein Vorstellungsgespräch. Aber Sam war noch jung und ahnte offenbar nicht, wie aufgeladen so eine Frage sein konnte. Und hatte sie sich nicht erst vor ein paar Tagen bei Andrew beklagt, wie unheimlich sie es fand, dass hier alle so heimlichtaten? In der Stadt hatte es sie gestört, dass die Leute ihr Leben zur Schau stellten. Sie stritten sich oder aßen zu Mittag oder zupften sich vor aller Augen in der Subway die Brauen. Aber ihre Nachbarn, die mit aufgesetztem Lächeln und pflichtschuldigem Winken aus der Tür direkt in ihre SUVs hasteten, waren weitaus schlimmer.

»Ich wollte immer nur eins«, sagte Elisabeth. »Mein Mann Andrew hätte am liebsten einen ganzen Stall voll. Mal sehen, was kommt.«

Klang das nicht unbeschwert? Sorglos? Bereit, alles Weitere dem Schicksal zu überlassen? Sie dachte an die beiden Embryos, die in einer Kryobank in Queens lagerten, eingefroren in Flüssigstickstoff.

Andrew hatte deswegen Alpträume.

Viermal im Jahr bekamen sie eine Rechnung über zweihundertzweiundsechzig Dollar von Weill Cornell. Die Lagerkosten waren immer gleich, egal, wie viele Embryos man besaß, daher stieß Elisabeth die Summe mit der in Klammern aufgeführten Zahl 2 regelmäßig sauer auf.

In den Anfängen, als In-vitro-Fertilisation für sie noch graue Theorie gewesen war, hatten sie in einem Artikel gelesen, dass im ganzen Land vermutlich mehr als eine Million eingefrorene Embryos ungenutzt lagerten. Paare, die auf diesem Weg mehrere Kinder gezeugt hatten, aber nur eines wollten, befanden sich in einer Art Schwebezustand, denn sie konnten das, was einmal ihr Kind werden könnte, nicht einfach vernichten, wollten es aber auch nicht austragen.

Andrew fand es unfair, potenzielles Leben zu zeugen und es dann einfach dort einzulagern. Sie hatte ihm schwören müssen, so etwas nie zu tun.

Kurz überlegte sie, Sam das alles zu erzählen, doch sie hielt sich zurück.

»Es ist Zeit für Gils nächste Mahlzeit. Ich hole sein Fläschchen«, sagte Elisabeth und erhob sich. »Ich stille ihn, füttere aber mit Flaschennahrung zu.«

Sie leierte die übliche Litanei herunter. »Meine Milch reicht nicht aus. Die ersten drei Monate habe ich vierzig verschiedene Kräuter eingenommen und mir einen Riesenstress gemacht. Drei Stillexpertinnen habe ich aufgesucht. Diesen widerlichen Tee getrunken, von dem mein Schweiß wie Ahornsirup gestunken hat. Jedes Mal nach dem Stillen abgepumpt, alle zwei Stunden, sogar mitten in der Nacht. Irgendwann habe ich beschlossen, Milchnahrung zuzufüttern, und dann war Ruhe.«

Ihre heftigen Schuldgefühle hatten sie damals selbst überrascht. Sogar jetzt vermied sie es noch, anderen Müttern davon zu erzählen.

»Ich habe mal gelesen, dass Charles Manson gestillt wurde«, sagte Sam munter. »Seitdem gehe ich davon aus, dass es völlig egal ist, ob man stillt oder die Flasche gibt.«

Elisabeth lächelte.

»Kann ich dir wirklich nichts anbieten? Ich habe Kaffee gekocht.«

»Kaffee wäre super, wenn es keine Umstände macht.«

»Kein bisschen!«

3

Kaum war Andrew zur Tür hereingekommen, streckte ihm Elisabeth schon das Kind entgegen. »Kannst du ihn bitte halten?«, fragte sie. »Ich muss mal.«

Als sie ihn vor ein paar Stunden im Büro angerufen hatte, um ihm die gute Nachricht von der neuen Kinderfrau zu überbringen, hatte er gesagt: »Du musst mir heute Abend alles über sie erzählen!«

Übersetzung: Ich bin gerade beschäftigt. Fasse dich kurz.

In ihrer Ehe waren sie von Anfang an gleichberechtigt gewesen. Er kochte, sie spülte das Geschirr. Er saugte, machte die Wäsche, wischte die Küche. Sie putzte das Bad, was die meisten für die schlimmste Aufgabe im Haushalt hielten, obwohl nichts leichter war. Wenn einer von ihnen mehr machte als nötig, dann war es Andrew.

Aber manchmal kam es ihr vor, als wäre sie allein für das Kind zuständig. Zuerst hatte sie es auf biologische Umstände zurückgeführt, aber Gil war mittlerweile vier Monate alt und bekam das Fläschchen, und trotzdem kümmerte sie sich nachts um ihn und achtete darauf, wann Windeln, Cremes oder Kleidung gekauft werden mussten.

»Seine Hosen werden ihm langsam zu eng. Ich glaube, er braucht eine Nummer größer«, hatte sie vor einer Woche gesagt, woraufhin Andrew dummerweise gefragt hatte: »Welche Größe hat er denn jetzt?«

Sie wusste ja, dass es zum Teil an Andrews neuem Job lag und an der Tatsache, dass sie den ganzen Tag zu Hause war. Theoretisch war sie noch in Elternzeit, obwohl die genaue Definition für Selbstständige, die zu Hause arbeiteten, ziemlich schwammig war. Elisabeth fürchtete jedoch, dass es nicht nur das war und die Elternschaft ihr Zusammenleben auf unerwartete Weise neu definiert hatte.

Am Abend war sie erschöpft, genervt und fertig mit der Welt. Der Rückzug ins Badezimmer vermittelte ihr mehr Wohlbehagen als jedes Wellnesshotel, so viel Entspannung wie ein Urlaub in Saint Barts.

Zwanzig Minuten waren schon vergangen, doch sie saß immer noch auf der Toilette, scrollte sich durch ihre Handyfotos vom Baby. So war es jedes Mal: Kaum war sie Gil endlich entkommen, erfasste sie eine große Sehnsucht nach ihm. Am Tag der Entlassung aus dem Krankenhaus waren ihr die Tränen gekommen, als sie sich vorstellte, dass er irgendwann aufs College gehen und ausziehen würde.

»Du wirst hier wohnen bleiben und pendeln«, hatte sie zu ihm gesagt.

Nie zuvor hatte sie jemanden vermisst, bevor er überhaupt gegangen war.

Elisabeth schrieb Nomi eine Nachricht.

Wir haben eine Kinderfrau!

Super! Wie ist sie so?

Ist fast mit dem College fertig. Will Malerin werden. Supersympathisch. Haben zwei Stunden gequatscht.

Wieso?

Sie war interessant. (Und es kann sein, dass ich mich seit Wochen nur mit Andrew unterhalten habe.)

Einen Augenblick später leuchtete ihr Handy auf. Sie dachte, es wäre Nomi, doch stattdessen kam eine Nachricht von ihrer Schwester.

Ähm … ist mir ECHT peinlich, aber könntest du mir 200 Dollar leihen? Zahl auch zurück, sobald ich kann — nächste Woche ist die Sache durch!

Sie spürte den vertrauten Kloß im Magen.

Klar, schrieb Elisabeth zurück. Kein Problem.

Sie fand es schrecklich, dass ihr die Sache mit ihrer Schwester immer so auf den Magen schlug.

Zur Beruhigung stattete sie den BK Mamas einen Besuch ab. Es war wie ein Reflex, den sie nicht kontrollieren konnte, wie ein Stottern oder ein Zucken. Jemand hatte eine furchtbar traurige Geschichte gepostet, über ein Kind, das von der Pflegefamilie misshandelt wurde. Dazu gab es eine Online-Petition. Sie unterschrieb, ohne sich die Einzelheiten durchzulesen. Ihr kamen die Tränen. Warum war sie auf diese Seite gegangen? Elisabeth war sich sicher, dass sie etwas gesucht hatte, aber was?

Sie spürte, dass Andrew vor der Tür stand.

»Schatz? Alles klar da drin?«

Auf seine höfliche, aber passiv-aggressive Art fragte er, was zum Teufel sie so lange auf dem Klo machte.

Sie stand auf und spülte.

»Menschen sind Ungeheuer«, sagte sie in der Tür.

»Hmm?«

»Ach, da stand was im Internet. Das willst du gar nicht wissen.«

»Okay. Wir sollten uns langsam fertigmachen.«

»Einmal, vor Jahren, da lag dein Gürtel auf dem Bett und ich habe mich damit geschlagen, weil ich wissen wollte, wie sich das anfühlt. Das hat höllisch wehgetan. Wie kann man einem Kind so was antun? Ich habe nicht mal fest zugeschlagen, und es hat so wehgetan!«

»Na, du hast eben eine niedrige Schmerztoleranz.«

»Ach ja? Woher willst du das wissen?«

»Weil es dir schon wie ein Boxhieb vorkommt, wenn eine Grille auf deinem Arm landet.«

Sie müssten nicht lange bleiben, sagte er auf dem Weg zu seinen Eltern. Seine Mutter wolle nur, dass George das Baby mal wieder zu Gesicht bekäme. Sie mache sich wieder Sorgen um ihn.

»Die letzten drei Nächte hat er sich in seinem Zimmer mit seinen Büchern und Akten vergraben«, sagte Andrew. »Er braucht dringend Ablenkung.«

»Oder sie«, sagte Elisabeth.

Ihr Schwiegervater George war schon seit einiger Zeit von einer Idee besessen. Sie sei ihm gekommen, hatte er Elisabeth vor Monaten erzählt, als er einen Fremden in ein Handy schreien hörte, dass Amerika keine globale Supermacht mehr sei.

»Dieser Mann sagte: ›Wir sind schon seit sechzig Jahren nicht mehr die größte Nation der Welt. Das reden wir uns nur immer noch ein‹«, hatte George ihr damals erzählt. »Das hat mich richtig wütend gemacht. Den Rest des Tages habe ich mich gefragt, wieso es so gekommen ist. Hing ich da einem nostalgischen Gefühl aus der Schulzeit nach, als wir der Flagge jeden Morgen die Treue schworen und das wirklich ernst meinten?«

Danach meinte George, eine Art Muster zu erkennen. Im Alltag sprach er nur noch darüber, wie schlimm es um die Dinge stand. Die Leute seien sich einig, dass alles schlechter werde statt besser.

»Den kleinen Mann lassen sie im Stich. Die da oben machen, was sie wollen«, hatte er Elisabeth erklärt. »Wir sind auf uns gestellt. Wie ein hohler Baum. So sehe ich das. An der Oberfläche wirkt dieses Land mehr oder weniger so wie immer. Aber dahinter ist nichts mehr, das es stützt. Keine Integrität, kein Halt. Das grüne Laub und der hohe Stamm, alles unwichtig. Ein hohler Baum bleibt nicht lang stehen.«

Das Gästezimmer im Erdgeschoss, das auch als Georges Arbeitszimmer diente, war vollgestopft mit Zeitungsausschnitten und ausgedruckten Artikeln zur Untermauerung seiner Theorie, als könnte jederzeit jemand hereinschneien und Belege verlangen. An den Wänden hingen dutzende vollgekritzelte Post-its.

Wenn ihre Schwiegermutter das Zimmer betrat, zog sie ein Gesicht, als hätte sie sich in das Geheimversteck eines Serienmörders verirrt.

»Was willst du damit erreichen, George?«, hatte Elisabeth sie einmal fragen hören.

»Die Leute geben sich die Schuld, aber es liegt am System. Das will ich aufdecken. Die Bürger dieses Landes sollten auf die Straße gehen statt Tabletten gegen Depressionen zu nehmen.«

»Und was willst du dagegen tun?«, fragte Faye.

Seit Andrew im Kindergartenalter war, hatte George mit seinem Unternehmen ein gutes Einkommen erwirtschaftet. Es umfasste eine kleine Flotte von Limousinen, mit denen er und ein paar Angestellte Leute vom Flughafen abholten und durchs Valley chauffierten. Vor drei Jahren hatte George beschlossen, zusätzliches Geld in die Firma zu stecken. Dazu hatte er mit einem Teil von seiner und Fayes Altersvorsorge drei nagelneue Lincolns gekauft. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte er nicht wählen können. Ein halbes Jahr später eroberte Uber mit direkten Buchungen und günstigeren Fahrten die Gegend und verdrängte ihn komplett vom Markt.

Seither arbeitete George selber als Uber-Fahrer. Es sei schrecklich, erzählte Faye. Demütigend. Die Bezahlung eine Zumutung. Die Hälfte der Fahrgäste waren betrunkene College-Studenten. Für einen feuchten Händedruck durfte George seinen Kunden die Koffer durch den Flughafen und die Treppe hochschleppen.

»In der App heißt es, man muss den Fahrern kein Trinkgeld geben«, sagte Faye erbost. Elisabeth wunderte sich, dass Faye das Wort »App« benutzte.

Eine Zeitlang hörte sie von Faye, dass George abends schon um sieben ins Bett ging, keinen Appetit hatte und einsilbig wurde, was für ihn völlig untypisch war.

Doch statt einer Depression bekam George eine Obsession. Er verschrieb sich ganz der Theorie vom Hohlen Baum und widmete sich dem Leid des kleinen Mannes. Andrew ärgerte sich darüber, dass George sich keinen neuen Job suchte und sich hinter einem sinnlosen Projekt verschanzte, statt den Tatsachen ins Auge zu blicken. Elisabeth betrachtete das Ganze als eine Art Therapie, seine Methode, sich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen, ohne die Dinge zu nah an sich heranzulassen, was allgemein nicht Georges Art war.

»Wenn du es hier in einem Jahr immer noch schrecklich findest, ziehen wir zurück«, sagte Andrew jetzt, im Auto.

»So schrecklich finde ich es gar nicht. Außerdem habe ich Die Brücken am Fluss gesehen. Zieht die Ehefrau erst in die Heimatstadt des Mannes, bleibt sie für immer dort. Als Gegenleistung bekommt sie ein Wochenende leidenschaftlichen Sex mit Clint Eastwood.«

»Wenigstens darauf kannst du dich freuen.«

Genau genommen wohnten sie nicht in seiner Heimatstadt, die heruntergewirtschaftet und dauergrau war, egal bei welchem Wetter. Ihr Haus lag nur zwanzig Minuten von der nächsten Collegestadt entfernt, wo, so hatte Elisabeth es sich ausgemalt, sie Seminare besuchen, äthiopische Spezialitäten essen und generell alle Vorteile genießen würde, die sich so boten, wenn man in der Nähe eines intellektuellen Zentrums wohnte.

In Wahrheit war es seltsam, irgendwo zu wohnen, wo sich alles um den Campus drehte, ohne selbst etwas mit dem College zu tun zu haben. In der Stadt nannten es alle nur »das College«, genau wie alle damals, in ihrer alten Welt, über New York als »die Stadt« gesprochen hatten und über Gilbert als »das Baby«. Natürlich gab es andere, aber die spielten keine Rolle.

Bis jetzt hatte Elisabeth an einer einzigen Lesung teilgenommen, von einer Dichterin, die ihr gefiel. Sie hatte erwartet, dort einen Haufen älterer Damen in langen Kaschmir-Strickjacken anzutreffen, aber es waren nur Studentinnen anwesend. Als sie reinkam, drehten sich alle nach ihr um und musterten sie, als käme sie vom Mars.

Im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometern gab es ganze drei Colleges. Das Frauencollege um die Ecke, eine staatliche Universität, so groß und weitläufig, dass sie sie zuerst für eine Stadt gehalten hatte, und das Hippie-College, wo Andrew seine Tage verbrachte und wo man nicht an Noten glaubte und es auch keine Schreibtische gab. Die Seminare fanden auf Matten am Boden statt.

Nach so vielen Jahren in Brooklyn hielten sich Elisabeth und Andrew für unheimlich progressiv. Doch jetzt bemerkten sie, dass sie sich geirrt hatten.

»Im Labor hat einer meiner Studenten heute erzählt, er sei pansexuell«, erzählte Andrew kürzlich beim Abendessen.

»Was bedeutet das?«

»Dass er sich zu allen Geschlechtern hingezogen fühlt.«

»Also ist er bi?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Er nimmt Geschlecht nicht wahr. Oder vielleicht doch, aber das macht eine Person für ihn nicht anziehend.«

»Aha. Aber er fühlt sich zu beiden Geschlechtern hingezogen, also ist er bi. Richtig?«

»Nein, weil Geschlecht ein Spektrum ist, kein binäres System. Er sagt, dass man Kindern nur ein Geschlecht zuordnet, weil die amerikanische Medizin in ihrer heteropatriarchialischen Weltsicht immer noch in binären Mustern denkt. Im Grunde genommen sollten wir Gil nicht in diese Muster pressen. Wir sollten ihm erlauben, sich frei zu entscheiden.«

»Hm«, machte sie nachdenklich.

Es kam ihr vor, als stünde die Menschheit vor dem Anbruch einer neuen Zeit. Vielleicht wurde die Welt toleranter, und ihr Kind würde mit völlig anderen Grenzen aufwachsen als sie. Genderneutrales Spielzeug war total angesagt. Ihre Freundinnen würden ihren Töchtern lieber harte Drogen geben als eine Barbie. Sie war neugierig, wie sich das wohl auf Gils Generation auswirken mochte, auf deren Körperbild und Denkweise.

Kurz dachte Elisabeth daran, wie sie damals gewesen war — die Neugier, die Aufregung, die sie empfunden hatte, wenn sie Menschen befragte, deren Leben so ganz anders verlaufen war als ihr eigenes. Es hatte sie immer überrascht, wie bereitwillig völlig fremde Menschen einer Journalistin wie ihr Rede und Antwort standen, selbst am schlimmsten Tag ihres Lebens. Vielleicht besonders dann.

»Ich bin so neidisch auf dich«, hatte sie zu Andrew gesagt. »Meine aufregendste Unterhaltung der letzten Woche hatte ich mit dem Paketzusteller. Ich habe ihm erklärt, dass unsere Adresse 32 Laurel Street lautet. Er hat steif und fest behauptet, sie lautet 23.«

Einheimische wie ihre Schwiegereltern schimpften über die Colleges. Sie würden zu viel Verkehr verursachen, wären voller eingebildeter Akademiker, die hochnäsig auf normale Menschen herabschauten. Dabei vergaßen sie allerdings, dass es die Restaurants und Hotels und Tankstellen und Lebensmittelläden in diesem kleinen Winkel der Welt ohne das Geld dieser Akademiker wohl nicht geben würde. In unmittelbarer Nähe zu den Colleges standen hübsche Häuschen, es gab ausgefallene Läden und Musikkneipen und vegane Cafés. Dahinter herrschte abrupt Wüste.

Vor Jahren hatte George ihr erzählt, dass die Gegend wegen der Sägewerke und Papierfabriken so wohlhabend gewesen sei. Es hatte auch eine Getränke-Abfüllanlage gegeben und eine Zahnbürstenfabrik. Als diese Werke den Betrieb einstellten, kam nichts anderes nach. Jetzt herrschte in fast allen Städten in diesem Landstrich Leerstand und Verfall. Es gab nur wenige Geschäfte, Bars und Restaurants, bei manchen erinnerten nur noch die Schilder an das, was dort einmal gewesen war und nie mehr wiederkehren würde.

Mancherorts, vor allem in der Nähe der Molkereibetriebe und Obstplantagen, hatten sich Einwanderer aus El Salvador und Mexiko und viele Puerto-Ricaner angesiedelt. Im alten Five-and-Dime in Weaverville wurde nur noch Spanisch gesprochen. Dort wurden jetzt mexikanische Gewürze und Getränke und Süßigkeiten verkauft.

Elisabeth gefiel das — eine ganz normale amerikanische Kleinstadt beheimatete jetzt Menschen und Dinge, die man dort nicht erwartete. Ansonsten aber war es dort deprimierend. Leerstand, Häuser, die keiner kaufen wollte. Nicht mal mehr eine Schule. Die Kinder fuhren mit dem Bus ins nächstgrößere Zentrum.

Als sie ankamen, schlief das Baby auf dem Rücksitz.

»Vielleicht sollte ich mit ihm hier draußen bleiben«, sagte Elisabeth. »Du kannst meinen Teller rausbringen.«

»Haha!«, sagte Andrew. »Netter Versuch.«

Kaum standen sie an der Hintertür, war Gil hellwach und verrenkte sich den Hals, um seine neue Umgebung zu betrachten.

Die Tür führte direkt in die seit den Siebzigern nicht mehr renovierte Küche. Gelbes Linoleum, Einbauschränke mit Furnierholz und darüber eine Zierleiste mit lilafarbenen Tulpen, von Faye höchstpersönlich mit der Schablone aufgemalt.

Sie eilte vom Herd herbei und nahm Gil aus Andrews Armen.

»Hallo, Baby«, sagte Faye und hielt ihn ins Licht.

Der Hund kam herein und heulte.

»Duke, sei nicht eifersüchtig!«, sagte Faye. »Du weißt doch, dass wir dich genauso liebhaben.«

Sie sah Elisabeth und Andrew an, als hätte sie sie gerade erst bemerkt.

»Das Essen ist fast fertig«, sagte sie. »Bœuf Stroganoff.«

»Mmm, lecker«, sagte Andrew, der Bœuf Stroganoff nicht ausstehen konnte.

Als Kind wollte er Koch werden, doch dieser Plan war an dem vermeintlich zu geringen Einkommen gescheitert. Stattdessen hatte er Kochen zum Hobby erklärt. Elisabeth hatte sich schon oft gefragt, woher er es so gut konnte, denn seine Mutter würzte grundsätzlich alle Speisen mit derselben Gewürzmischung.

Als die Großmutterliebe nach dreißig Sekunden erschöpft war, gab Faye Andrew das Baby zurück. Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Unsere Freunde von der Citibank haben uns schon wieder einen Drohbrief geschickt. Wir haben neunzig Tage für die nächste Rate, sonst fliegen wir raus. Dein Vater tut, als wäre nichts. Als müsste er die Sache nur lange genug aussitzen, dann würde die Bank irgendwann nachgeben. Wenn ich mit ihm darüber reden will, behauptet er, er hätte zu tun.«

Elisabeth kramte eifrig in der Windeltasche. Wenn Faye über ihre Finanzen sprach, hätte sie am liebsten sofort das Thema gewechselt, es begraben oder erstickt, damit es endgültig vom Tisch wäre.

Seit letztem Jahr besaßen George und Faye ihr Haus eigentlich nur noch auf dem Papier. Sie hatten so oft Hypotheken aufgenommen, dass sie der Bank mittlerweile mehr schuldeten, als sie einst dafür bezahlt hatten.

Aus Georges Arbeitszimmer ertönte ein Krachen, offenbar war irgendwas Schweres heruntergefallen.

Faye richtete sich auf. »Und bei euch? Gibt’s was Neues?«