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Sie lernten sich 1928 kennen, als Frida Kahlo gerade einundzwanzig Jahre und Diego doppelt so alt war. Er genoss bereits internationale Anerkennung, als sie noch davon träumte. Aus ihrer stürmischen Beziehung erwuchs vor allem für Frida eine starke Kreativität, doch brachte sie auch großes Leid mit sich. Stets im Schatten ihres Mannes, dessen häufige Untreue sie genau so wie die eigene Eifersucht ertrug, lebte Frida ihren Schmerz auf der Leinwand aus und erlangte so nach und nach das Interesse der Öffentlichkeit. Die beiden engagierten Künstler verkündeten ihre Freiheit in Amerika und Europa und hinterließen hier wie dort die Spuren ihres unglaublichen Talents. In dieser wundervollen Doppelausgabe stellt Gerry Souter nicht nur die Biographien beider Künstler einander gegenüber, sondern hält dem Leser gleichzeitig mit viel Gefühl das dünne Band vor Augen, das die beiden größten mexikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts zusammen hielt.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2019
Autor:
Gerry Souter
Layout:
Baseline Co. Ltd
Vietnam
© Confidential Concepts, worldwide, USA
© Parkstone Press International, New York, USA
© Victor Arnautoff
© Georges Braque, Artists Rights Society (ARS), New York, USA/ ADAGP, Paris
© José Clemente Orozco, Artists Rights Society (ARS), New York, USA/ SOMAAP, México
© Estate of Pablo Picasso/ Artists Rights Society (ARS), New York, USA
© David Alfaro Siqueiros, Artists Rights Society (ARS), New York, USA/ SOMAAP, México
© Banco de México Diego Rivera & Frida Kahlo Museums Trust. Av. Cinco de Mayo n°2, Col. Centro, Del. Cuauhtémoc 06059, México, D.F.
Image Barwww.image-bar.com
Weltweit alle Rechte vorbehalten.
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ISBN: 978-1-64461-834-9
Gerry Souter
Frida Kahlo
&
Inhalt
Frida Kahlo Hinter dem Spiegel
Einleitung
Das wilde Ding
Tod der Unschuld
Señora Diego Rivera
Affäre der Kunst
„Ich brauche dringend Geld!“
„Lang lebe die Freude, das Leben, Diego!“
Schlussfolgerung
Diego Rivera Kunst und Leidenschaft
Einleitung
Von der Lehre zum Meister der Kunst
Sein neues Exil in Europa oder seine künstlerische Suche
Zwischen Malerei und Politik
Ein Kommunist bei den Amerikanern
Die letzten Jahre oder die Rückkehr ins Heimatland
Abbildungsverzeichnis
Anmerkungen
Das klare, von schwarzen Haaren gerahmte Gesicht Frida Kahlos und der Rest ihrer gepeinigten Hülle haben sich den Flammen des Krematoriums ergeben. Die Feuersglut, die zu ihrem letzten Bett geworden ist, verwandelt das tote Fleisch in Asche und beendet die Zeit des ihr ungehorsamen Körpers, der ihren Geist bewahrt hatte. Ihr loderndes Aussehen im Tod war genauso irreal wie ihre Porträts zu Lebzeiten. Und so schnell, wie ihre Asche abkühlte und verglomm, so schnell verschwanden ihr Name, ihre Arbeiten und ihr kurzer Flirt mit dem Ruhm in den schwarzen, unbekannten Tiefen des menschlichen Gedächtnisses.
Vielleicht hätte Frida Kahlo besser 30 Jahre früher bei einem entsetzlichen Busunglück umkommen sollen, aber ihr Körper, ein zertrümmertes Wrack, hielt lang genug zusammen, um eine Legende zu kreieren. Zudem entstand eine Sammlung von Arbeiten, die drei Jahrzehnte nach ihrem Tod wieder die Öffentlichkeit beschäftigen sollten. Ihre Bilder haben Glanzlichter in eine neue Welt gesetzt, die jetzt bereit war, ihre Malerei zu verstehen und mit offenen Armen aufzunehmen. Ihre Gemälde bildeten ein visuelles Tagebuch, eine äußerliche Manifestation ihres inneren Dialogs, der nur allzu oft ein Schmerzensschrei war.
Die Malerin und ihre Persönlichkeit sind eins und dennoch trug sie viele Masken. Im Kreis ihrer Vertrauten dominierte Frida jeden Raum mit ihren geistreichen, barschen Kommentaren: ihre eindeutige Identifikation mit den Bauern von Mexiko bei gleichzeitiger Distanz zu ihnen; ihr Verspotten der Europäer und deren Neigung, sich unter den Fahnen der Impressionisten, Post-Impressionisten, Expressionisten, Surrealisten, Sozio-Realisten und anderen, immer auf der Suche nach Geld und reichen Gönnern oder einem Sitz in den Akademien, zu versammeln.
Und dennoch, so wie ihre Arbeiten immer besser wurden, sehnte sie sich nach Anerkennung für sich und für jene Gemälde, die sie früher als Andenken verschenkt hatte. Was einst als Zeitvertreib begann, vereinnahmte schnell ihr Leben. Fridas Gespräche waren mit vulgärem Straßenjargon gepfeffert, der über ihre kleine Statur, ihre katholische Erziehung und ihre konservative Liebe zu traditionellen mexikanischen Bräuchen hinwegtäuschte.
Ihr Innenleben schwankte zwischen Übermut und Verzweiflung. Sie kämpfte nahezu ständig gegen die Schmerzen, verursacht durch die Verletzungen ihres Rückgrats und ihres Rückens sowie ihres rechten Fußes und Beines, aber auch gegen etliche Pilzinfektionen, diverse Fehlgeburten und Abtreibungen und die andauernden experimentellen „Dienste“ ihrer Ärzte. Die einzige stetige Freude in ihrem Leben war Diego Rivera.
Diego hielt bis zum Ende zu ihr, aber auch Mexiko, das allmählich den Wert dieses bis dahin ungehobenen Schatzes erkannte. Die ihr von ihrem Heimatland lange verweigerte Anerkennung wurde Frida Kahlo erst in einer Einzelausstellung in Mexiko-Stadt zuteil, da, wo ihr Leben begann und seinen allzu kurzen 47-jährigen Bogen spannte. Als sie dahingegangen war, blieben nur die Augen, die uns mit direktem und herausforderndem Blick beobachten, zurück.
Frida Kahlo,Der Traum oder Das Bett, 1940. Öl auf Leinwand, 74 x 98,5 cm. Sammlung Isidore Ducasse, Frankreich.
Frida Kahlo,Selbstporträt, 1930. Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm. Privatsammlung, Boston.
Frida Kahlo,Pancho Villa und Adelita, um 1927. Öl auf Leinwand, 65 x 45 cm. Museo de Arte de Tlaxcala, Instituto Tlaxcalteca de la Cultura, Gobierno del Estado de Tlaxcala, Tlaxcala.
Magdalena Carmen Frieda Kahlo y Calderón wurde am 6. Juli 1907 in Coyoacán, Mexiko, geboren. In ihren Mädchenjahren schien es, wo immer sie ging, als ob sie renne, als ob sie wenig Zeit übrig und noch so viel zu tun habe. Und zu dieser Zeit war Rennen, sich Verstecken und schnell herausfinden, welcher bewaffnete Haufen sich gerade ihrem Dorf näherte, alltägliche Überlebensnotwendigkeit der Mexikaner. Frida änderte allmählich die deutsche Buchstabierung ihres Namens, den sie von ihrem jüdischen Vater Wilhelm (der seinen Vornamen in Guillermo änderte) erhalten hatte, einem in Deutschland herangewachsenen Ungarn.
Dennoch verwendete sie noch in manchen persönlichen Briefen die deutsche Schreibweise „Frieda“. Ihre Mutter Matilde, geborene Calderón, eine fromme Katholikin und Mestizin von indianisch-europäischer Abstammung, hatte streng konservative und religiöse Ansichten über den Platz einer Frau in der Welt. Auf der anderen Seite stand Fridas Vater, ein Künstler und Fotograf mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, der sie ermutigte, für sich selbst zu denken. Guillermo war in La Casa Azul („das Blaue Haus“), an der Ecke der Londres- und Allende-Straße in Coyoacán, von lauter Töchtern umgeben. Inmitten all dieser traditionellen Häuslichkeit klammerte er sich an Frida wie an einen Ersatzsohn, der in seine Fußstapfen als Künstler treten sollte.
Er wurde ihr erster Mentor, der sie aus der traditionellen und von der Mehrheit der mexikanischen Frauen akzeptierten Rolle befreite. Sie wurde seine Assistentin und begann, seinen Beruf zu erlernen, jedoch mit wenig Begeisterung für das Medium der Fotografie. Sie reiste zwar mit ihm, aber vor allem, um da zu sein, falls er einen seiner epileptischen Anfälle erlitt. Guillermo Kahlo war ein stolzer, anspruchsvoller Mann mit geregelten Gewohnheiten und vielen intellektuellen Beschäftigungen, von der Freude an klassischer Musik – er spielte fast täglich auf einem kleinen deutschen Klavier – bis hin zu seiner eigenen Malerei und allgemeinen Wertschätzung der Kunst.
Seine Arbeiten in Öl und Aquarell waren zwar nur durchschnittlich, aber Frida war fasziniert von der Art, wie er die dünnen Pinselstriche eines fotografischen Retuscheurs verwendete, um auf einer bloßen Leinwand Szenen zu schaffen anstatt nur die Doppelkinne eitler Porträtkunden zu überpinseln. Er behielt unbeugsam seine eigene Dualität: nach außen hin aktiv, aber innerlich gefangen von seiner Epilepsie. Wenn er, hingestreckt von einem starken Anfall und auf der Straße liegend, sein Bewusstsein wieder erlangte, kniete Frida an seiner Seite, hielt die Ätherflasche und stellte sicher, dass seine Kamera nicht gestohlen wurde. Guillermo musizierte und las in seiner großen Bibliothek, aber innerlich war er wegen der Sorgen über das fehlende, für den Unterhalt seiner Familie notwendige Geld ständig gereizt. Er trug, laut Frida, eine „stille“ Maske. Sie lernte von ihm jene Selbstkontrolle oder wenigstens den Anschein davon. So war sie in den dunkelsten Momenten ihres Lebens niemals gewillt, öffentlich ein Gesicht zu zeigen, das enthüllen würde, was sich tatsächlich hinter dem stoischen Ausdruck verbarg. Frida Kahlo war verwöhnt, verzogen und leicht zu beeindrucken. Guillermos Erfolg brachte ihm unter Porfirio Díaz eine Stelle bei der Regierung ein, für die er als eine Art Werbung mexikanische Architektur fotografierte, um ausländische Investoren zu locken. Seit 1876 war Díaz Präsident von Mexiko und hatte sich eine darwinistische Philosophie zu Eigen gemacht. Dieses Konzept vom „Überleben des Stärkeren“ ging davon aus, dass alle Regierungsgelder und -programme dazu verwendet wurden, die Reichen und Erfolgreichen zu fördern, während man die wenig produktiven Bauern vernachlässigte. Mexiko wurde der ökonomische Liebling jener Länder des internationalen Handels, die seinen Mineralreichtum und die billigen Arbeitskräfte ausnutzten. Europäische Kultur und Bräuche herrschten vor, während mexikanische und indianische Traditionen auf der Strecke blieben. Díaz wählte persönlich Guillermo Kahlo aus, um ausländischen Investoren die beste Seite Mexikos zu präsentieren und katapultierte so den umherreisenden Porträtfotografen in die begehrte Mittelklasse. Kahlo verschwendete keine Zeit. Er kaufte eine Parzelle im nahe gelegenen Vorort von Coyoacán am Randbezirk von Mexiko Stadt und baute dort ein traditionell mexikanisches Heim mit zum Innenhof geöffneten Räumen, die La Casa Azul, tiefblau bemalt mit roten Zierleisten. Um Frida eine bessere Ausbildung bieten zu können, meldete er sie 1922 an einer freien nationalen höheren Schule in San Ildefonso an, die sie auf ein Hochschulstudium vorbereitete. Sie war eines der aus 2 000 Bewerbern aufgenommenen 35 Mädchen und stieg neben den männlichen Schülern, von denen später einige zu führenden Intellektuellen und Politikern Mexikos werden sollten, zu einer der Klassenbesten auf. Sie genoss ihre neue Freiheit weitab von den stumpfen häuslichen Aufgaben und trieb sich mit einigen Schulcliquen herum. Sie fühlte sich der Cachuchas-Clique zugehörig – benannt nach der Art der von ihnen getragenen Kopfbedeckung, einer Gruppe intellektueller Bohemiens. Diesen kunterbunten elitären Haufen führte Alejandro Gómez Arias an, der in unzähligen Reden wiederholte, dass eine neue Aufklärung Mexikos „Optimismus, Opfer, Liebe, Freude“ und mutige Führung fordere. Sein gutes Aussehen, sein selbstsicheres Auftreten und seinen beeindruckenden Intellekt fand Frida anziehend. Ihr ganzes Leben lang zog sie Männer dieses Schlages an, und sobald sie von ihr erobert waren, wurde jeder von ihnen in ein leidenschaftliches, besitzergreifendes Netz verstrickt. Aber jede Eroberung verwirrte dieses Mädchen vom Land, wenn es darüber nachdachte, was diese maßgebenden Männer wohl in ihr sahen.
Diego Rivera,Akt von Frida Kahlo, 1930. Lithografie, 44 x 30 cm. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Diego Rivera,Akt von Frida Kahlo, 1930. Lithografie, 44 x 30 cm, unten rechts signiert und datiert: D.R. 30. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Von El Universal Ilustrado veröffentlichtes Gedicht
30. November 1922
GEDÄCHTNIS
Ich hatte gelächelt. Nichts weiter. Aber plötzlich wusste ich
in der Tiefe meines Schweigens,
dass er mir folgte. Wie mein Schatten, ohne Schuld und leicht.
In der Nacht schluchzte ein Lied…
Die Indios wurden länger und schlängelten sich durch die Gassen der Stadt.
Eine Harfe und eine Jarana waren die Musik, und die lächelnden dunkelhäutigen Mädchen
waren das Glück.
Im Hintergrund, hinter dem „Z?calo“, glänzte der Fluss
und wurde dunkler,
wie die Augenblicke meines Lebens.
Er folgte mir.
Am Ende landete ich weinend und allein in der Vorhalle
der Gemeindekirche,
geschützt von meiner Bolita-Stola und durchnässt von Tränen.
Brief an Alejandro Gómez Arias
25. April 1927
Gestern war ich sehr krank und sehr traurig; Du kannst Dir nicht vorstellen, wie verzweifelt man sein kann, wenn man so krank ist. Ich empfinde ein grauenhaftes Unbehagen, das ich nicht beschreiben kann, und außerdem habe ich manchmal Schmerzen, die durch nichts gelindert werden können. Sie wollten mir heute das Gipskorsett anlegen, aber es wird wohl Dienstag oder Mittwoch werden, weil mein Vater nicht das Geld hatte – und es kostet sechs Pesos. Es ist nicht einmal so sehr das Geld, weil sie es leicht bekommen könnten. Niemand zu Hause glaubt, dass ich wirklich krank bin, weil ich es noch nicht einmal sagen kann, weil meine Mama, die sich als einzige ein wenig Sorgen [um mich] macht, krank wird. Und sie sagen, dass ich schuld bin, dass ich sehr unvernünftig bin. Also leidet, verzweifelt und so weiter niemand außer mir. Ich kann nicht viel schreiben, weil ich mich kaum herunterbeugen kann; ich kann nicht gehen, weil meine Beine schrecklich weh tun. Das Lesen langweilt mich auch schon – ich habe nichts Schönes zum Lesen – ich kann nichts tun, außer zu weinen, und manchmal kann ich nicht einmal das. Ich empfinde bei nichts Freude; ich habe keine einzige Ablenkung – nur Sorgen – und all meine Besucher ärgern mich nur. […] Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mich diese vier Wände zur Verzweiflung bringen. Alles! Es ist unmöglich, Dir meine Verzweiflung zu schildern.
Frida Kahlo,Der Unfall, 1926. Bleistift auf Papier, 20 x 27 cm. Sammlung Coronel, Cuernavaca.
Sie war klein, schlank, dunkel und ein Krüppel. Als dreizehnjährige war Frida an der wachstumshemmenden Kinderlähmung erkrankt, die ihr rechtes Bein verkümmern ließ. Nachbarskinder hänselten sie mit Rufen wie „pata de palo“ („Holzbein“ oder „Hinkebein“). Um ihr Gebrechen zu kaschieren, trug sie am dünnen Bein mehrere Strümpfe übereinander und der Absatz ihres Schuhs wurde um zwölf cm erhöht. Betrachtet man die Situation der Medizin im Mexiko der 1920er Jahre – heiße Walnussölbäder und Kalzium-Präparate – so hatte sie Glück, noch am Leben zu sein. Um ihr Lahmen noch mehr zu kompensieren, stürzte sie sich auf den Sport: Rennen, Boxen, Schwimmen und Ringen, d. h. jegliche anstrengende Aktivität, die Mädchen offen stand. Aber ihre größte Betätigung blieb die intellektuelle Debatte, und in Arias fand sie einen wahren Seelenverwandten.
1923 wurden sie ein Liebespaar und verbrachten Stunden in der Ibero-Amerikanischen Bibliothek, vertieften sich in Gogol, Tolstoi, Spengler, Hegel, Kant und andere außerordentliche europäische Philosophen. Aus diesem Beisammensein und ihren eigenen Studien entwickelte sich allmählich eine tiefe Affinität zum Sozialismus und der Erhebung der Massen. Für sie waren in jenem Kreis der auf der sozialen Leiter emporsteigenden Studenten diese beiden Konzepte Lippenbekenntnisse, aber Frida blieb für den Rest ihres Lebens eine bekennende und laut vernehmbare Kommunistin. Sie tauschte sogar als eine Bestätigung ihres Engagements für revolutionäre Ideale das Datum, 1910, des Beginns der mexikanischen Revolution, gegen das Datum ihres eigentlichen Geburtsjahres, 1907, aus.
Die Atmosphäre in Mexiko-Stadt war durch politische Debatten aufgeheizt und gefährlich. Flüchtige Sprecher traten auf, um jegliches Regime herauszufordern, nur um dann auf der Straße niedergeschossen oder von der Korruption geschluckt zu werden. Díaz wurde von Francisco Madero abgelöst, der sich dreizehn Monate hielt, bis ihn eine tödliche Ladung von Gewehrkugeln seines Generals Victoriano Huerta stoppte. Die populistischen Helden Francisco „Pancho“ Villa und Emiliano Zapata teilten die bäuerliche Bevölkerung des Landes unter sich auf und brachten jeden zur Strecke, der mit ihren Manifesten zur Landreform nicht einverstanden war. Ihnen gelang es aber weder, eine Mehrheit zu bilden noch waren sie aufgrund ihres Temperaments oder Bildung fähig zu regieren. Venustiano Carranza ergriff die Macht, als Huerta aus Mexiko floh und war nicht besser als der Haufen, der ihm vorausgegangen war. All diese Politiker waren letztendlich ein Produkt von Díaz’ eurozentrischen ökonomischen Grundsätzen, die die Reichen ernährten und die Armen ignorierten. In dieses Vakuum wurden die proletarischen Ideale der über Russland hinwegfegenden kommunistischen Revolution geworfen, der dann der Meuchelmord am Zaren und seiner Familie 1917 folgte. Die sozialistischen Theorien von Marx und Engels sahen nach dem Gemetzel der scheinbar endlosen mexikanischen Revolution viel versprechender aus. Und dennoch, trotz der zunehmend politisch-dialektischen Debatten hielt Frida an einigen katholischen Lehren ihrer Mutter fest und – nach einem satirischen Flirt mit europäischer Kleidung und Haltung einschließlich der Travestie als Mann im maßgeschneiderten Anzug – entwickelte sie eine leidenschaftliche Liebe für alle traditionell mexikanischen Dinge. Während dieser Zeit gab der Vater ihr einen Malkasten mit Wasserfarben und Pinsel. Er hatte auf Expeditionen mit seiner Kamera und bei Aufträgen oft Farben dabei. Frida übernahm diese Gewohnheit, wenn sie ihn begleitete.
Frida Kahlo,Porträt von Alicia Galant (Detail), 1927. Öl auf Leinwand, 107 x 93,5 cm. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Frida Kahlo,Porträt meiner Schwester Cristina, 1928. Öl auf Holz, 99 x 81,5 cm. Sammlung Otto Atencio Troconis, Caracas.
Zehn Jahre Revolution hatten Mexikos Wirtschaft zugrunde gerichtet und Guillermo Kahlo seinen Job bei der Regierung gekostet. Matilde entließ ihre Dienerschaft. Dem Leben im Blauen Haus wurde ein Dämpfer aufgesetzt, als die Töchter alle Aufgaben im Haushalt übernahmen. Guillermo schulterte auf der Suche nach Porträtaufträgen erneut seine Graflex-Kamera. Mit dem allgemeinen Aufatmen der Bevölkerung unter der Regierung der beiden Generäle Álvaro Obregón und Plutarco Elías Calles errangen einige der lokalen Intellektuellen und Künstler die Gunst der Ministerien. „Revolutionäre“ Landreformen wurden zwar versprochen, aber unterhalb der Oberfläche war alles wie immer. Das Feuer in den politischen Debatten und den aufkeimenden Bewegungen loderte in der mexikanischen Hauptstadt konstant weiter. Frida wurde in der Schule recht nachlässig, sie erfreute sich mehr der Stimulation durch ihre intellektuellen Freunde als der vorgeschriebenen Studien. Als 15-jährige hatte sie einen scharfen Intellekt. Sie testete politische und philosophische Doktrinen mit Freunden in unschuldigen Debatten, wo schlagende Argumente nicht mit Tod vergolten wurden. Während dieser Zeit erfuhr sie, dass der Erziehungsminister ein großes Wandbild für den Schulhof in Auftrag gab: Die Schöpfung bedeckte eine Fläche von 150 m². Der Wandmaler war der mexikanische Künstler Diego Rivera, der in den vergangenen 14 Jahren in Europa gearbeitet hatte. Assistiert von seiner Frau Guadalupe „Lupe“ Marín und einem Team von Kunsthandwerkern setzte er das Gerüst zusammen und trug buntes Wachs, das Warmluftgebläse benötigt, damit es zu einer Harzbasis schmelzen konnte, auf die bereits mit Kohle skizzierte Mauer. Dieser langsame Glasierungsprozess wurde letztendlich zugunsten eines verputzten Freskos aufgegeben, aber für Frida war die Entstehung der Szene, die sich ihren Weg über die blanke Wand bahnte, faszinierend. Sie und einige Freunde schlichen oft in das Auditorium, um Rivera bei seiner Arbeit zu beobachten. Sein Aussehen war weit entfernt von dem eines hungernden Künstlers. Das Gerüst knirschte unter seinem Gewicht, sobald er darauf hin- und herlief. Alles an ihm war übergroß, vom unbändigen Haarwuchs bis hin zum weiten Gürtel, der seine am Gesäß durchhängende und an den Knien ausgebeulte Hose fest hielt. Die Studenten gaben ihm den Spitznamen Panzón („Fettwanst“). Schließlich endeten diese Verunglimpfungen, als eine andere Gruppe von Studenten, die die Ansichten ihrer elitären ultra-konservativen Eltern repräsentierten, anfingen, andere Wände, an denen die Künstler David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco arbeiteten, zu beschädigen.
Sie behaupteten, dass die Wandgemälde Atheismus und sozialistische Ideologie förderten. Riveras Assistenten bewaffneten sich und agierten als Wächter, wenn sie nicht Farben mischten oder Skizzen auf die Wand übertrugen.
Rivera selbst pflegte das Image eines Revolver tragenden Verteidigers der kreativen Freiheit. Oft tauchte er zu Partys mit großem Colt in seinem Gürtel oder seiner Jackentasche auf. Bereits in sehr jungen Jahren war Frida von ihrem Vater beigebracht worden, die Malerei zu achten. Als Teil seiner Erziehung ermutigte er sie, populäre Drucke und Zeichnungen anderer Künstler zu kopieren. Um die finanzielle Situation zu Hause zu erleichtern, ging sie bei einem Freund ihres Vaters, dem Graveur Fernando Fernández, in die Lehre. Fernández lobte ihre Arbeit und gab ihr Zeit, mit Feder und Druckfarbe zu kopieren. Sie malte mit derselben Begeisterung, mit der sie auch handgefertigte Spielzeuge, Puppen und bunte bestickte Kostüme sammelte: Es war Hobby und zugleich Mittel persönlichen Ausdrucks, nicht etwa als „Kunst“, da sie überhaupt nicht daran dachte, eine professionelle Künstlerin zu werden.
Sie betrachtete die Fähigkeiten eines Künstlers wie Diego Rivera als weit über ihren Talenten stehend. Ihre sehr frühen Arbeiten waren Studien in Farbe und Formen von Gebäuden wie Nimm dir noch eins aus dem Jahr 1925. Es ist ein nach der naiven Auffassung eines Kindes aus der Vogelperspektive gemalter städtischer Platz: der Eselskarren nimmt seinen Weg über eine Avenue im Vordergrund.
Eine andere Arbeit, Paisaje Urbano (Urbane Landschaft), ist eine Komposition von architektonischen Ebenen und linearen Schornsteinen, die eine durch subtilen Gebrauch von Schatten erzielte raffinierte Struktur zeigt. Diese Anwendung verweist auf das Wissen, das sie durch Kopieren unter Fernández’ Anleitung erlangte. Es zeigt auch einen Blick für Komposition, nicht unähnlich den Fotos von Edward Weston, der ein Jahr in Mexiko verbrachte und im Begriff war, Formen und Texturen in ihrer Wechselbeziehung neu zu sehen.
Frida Kahlo,Porträt einer Dame in Weiß, um 1929. Öl auf Leinwand, 119 x 81 cm. Privatsammlung, Deutschland.
Diego Rivera,Porträt der Señora Doña Evangelina Rivas de Lachica, 1949. Öl auf Leinwand, 198,1 x 139,7 cm. Privatsammlung.
Obwohl Frida ihre Malerei als einen angenehmen Zeitvertreib betrachtete, hielt es sie nicht davon ab, einen stillschweigend geduldeten Platz im Auditorium zu ergattern, wo sie Rivera bei der Arbeit zuschauen konnte – sogar unter den eifersüchtigen Blicken und Beleidigungen von Lupe Marín. Die Ehefrau brachte Diego regelmäßig in einem Korb sein Mittagessen. Auf diese Art gelang es ihr, ihn im Auge zu behalten, besonders dann, wenn er ein ausnehmend schönes Modell malte. Lupe war seine zweite Ehefrau, und sie kannte ihn sehr gut. Und dann änderte sich schlagartig alles für immer. Kahlo erzählte der Autorin Raquel Tibol folgendes:
Die Busse in jenen Tagen waren zwar absolut dürftig, aber sehr beliebt. Die Straßenbahnen waren leer. Ich stieg mit Alejandro Arias in den Bus und saß bei ihm am Ende neben dem Handlauf. Augenblicke später stieß der Bus mit einer Straßenbahn der Linie Xochimilco zusammen und die Tram drückte ihn gegen eine Hausecke. Es war ein merkwürdiger Zusammenprall, nicht gewaltig, sondern schwerfällig und langsam, bei dem jeder verletzt wurde, ich aber weitaus ernsthafter als die anderen. Ich war damals achtzehn, sah aber viel jünger aus, sogar jünger als meine Schwester Cristi, obwohl ich elf Monate älter war als sie.
Ich war ein intelligentes junges Mädchen, aber nicht sehr praktisch veranlagt, trotz der Freiheit, die ich gewonnen hatte. Vielleicht konnte ich aus diesem Grunde die Situation nicht einschätzen und ich hatte von meinen Verletzungen noch keine Ahnung. Die Kollision hatte uns nach vorne geworfen, und der Handlauf ging durch mich hindurch wie ein Schwert durch einen Bullen. Ein Mann sah, dass ich fürchterlich blutete und trug mich zu einem Tisch in der nahe gelegenen Billardhalle, bis das Rote Kreuz mich abholte.
Als ich meine Mutter erblickte, sagte ich zu ihr: ,Ich lebe noch, und außerdem habe ich etwas, für das ich lebe, und dieses Etwas ist die Malerei.’ Weil ich mich im Gipskorsett, das vom Schlüsselbein bis zum Becken reichte, hinlegen musste, fertigte meine Mutter einen sehr lustigen Apparat an, der die Staffelei unterstützte. Sie war diejenige, die daran dachte, ein Kopfende im Renaissancestil mit einem Baldachin und Spiegel an mein Bett zu bauen, um mein Abbild als Modell zu benutzen.[1]
Die Unfall war grauenhaft. Irgendwie riss die Kollision Frida ihre Kleidung vom Leib und schleuderte sie nackt auf den zerschmetterten Boden des Busses.
In ihrer Nähe hatte ein Maler oder Kunsthandwerker gesessen, der ein Päckchen mit Goldpuder trug. Es platzte auf und bestäubte ihren bloßen Körper. Der eiserne Handlauf hatte ihre Hüfte durchstochen, tauchte in ihrer Vagina wieder auf und ein Blutschwall schoss aus der Wunde und vermischte sich mit dem goldenen Staub. In diesem Chaos fingen die Umherstehenden an zu schreien, als sie ihren bizarr durchlöcherten, gleichzeitig vergoldeten und blutüberströmten Körper sahen, „La Balarina! La Balarina!“.
Einer der Herumstehenden bestand darauf, den Handlauf aus ihr herauszuziehen und griff deshalb nach unten und riss ihn aus der Wunde. Sie schrie so laut, dass sogar die Sirene der heranfahrenden Ambulanz nicht zu hören war.
Eine deutsche Ärztin, Henriette Begun, stellte 1946 ein Krankheitsbild von Frida Kahlo zusammen. Der Eintrag vom 17. September 1925 liest sich wie folgt:
Unterleibswunde durch einen eisernen Handlauf, der die linke Hüfte durchbohrte, durch die Vagina heraustrat und die linke Lippe einriss. Drei Monate Bettruhe im Hospital. Rückgratfraktur von Ärzten nicht erkannt, bis Dr. Ortiz Tirado eine neunmonatige Ruhigstellung im Gipskorsett anordnete. Von da ab hatte sie ein Gefühl konstanter Müdigkeit und manchmal Schmerzen im Rückgrat und rechten Bein, die sie nie wieder loswerden sollte.[2]
Frida Kahlo,Porträt von Miguel N. Lira, 1927. Öl auf Leinwand, 99,2 x 67,5 cm. Museo de Arte de Tlaxcala, Instituto Tlaxcalteca de la Cultura, Gobierno del Estado de Tlaxcala, Tlaxcala.
Frida Kahlo,Porträt von Diego Rivera, 1937. Öl auf Leinwand, 46 x 32 cm. Sammlung Jacques und Natasha Gelman, Mexiko-Stadt.
Brief an Alejandro Gómez Arias
20. Oktober 1925
Nach den Aussagen von Dr. Díaz Infante, der mich beim Roten Kreuz behandelte, bin ich nun außer Gefahr und ich werde mehr oder weniger gesund werden. […] Die rechte Seite meines Beckens ist gebrochen und verschoben. Mein Fuß war verrenkt, mein linker Ellenbogen war verrenkt und wies einen kleinen Bruch auf, und was die Wunden, von denen ich Dir in dem anderen Brief geschrieben habe, anbetrifft: die längste ging von der Hüfte bis zum Schritt durch meinen Körper, und es gab zwei von ihnen. Eine ist bereits verheilt, und die andere ist etwa zwei Zentimeter lang und etwa eineinhalb Zentimeter tief, aber ich glaube, sie wird bald verheilen. Mein rechter Fuß ist von tiefen Kratzern bedeckt und ein weiteres Problem ist, dass […] Dr. Díaz Infante (der sehr nett ist) mich nicht länger behandeln wollte, weil er sagte, dass Coyoacán sehr weit entfernt ist und er einen verletzten Menschen nicht einfach verlassen könne, wenn sie ihn riefen. Also ist er durch Pedro Calderón aus Coyoacán ersetzt worden. Kannst Du Dich an ihn erinnern?
Nun, da jeder Arzt etwas anderes über ein und dieselbe Krankheit sagt, sagte Pedro natürlich, dass er der Meinung ist, dass alles sehr gut aussehe, bis auf den Arm, und dass er sehr bezweifelt, dass ich ihn strecken könne, weil das Gelenk zwar in Ordnung sei, die Sehne aber verkürzt sei und mich daran hindere, den Arm zu strecken, und dass es, wenn ich es doch schaffen sollte, sehr lange dauern werde und erst nach vielen Massagen und heißen Wasserbädern möglich sein werde. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie weh es tut, jedes Mal, wenn sie an mir ziehen, weine ich einen Liter Tränen, auch wenn sie sagen, dass man der Lahmheit eines Hundes und den Tränen einer Frau nicht glauben soll. Mein Bein bereitet mir so große Schmerzen, dass man glauben muss, dass es zermalmt ist. Außerdem pocht das ganze Bein fürchterlich und ich fühle mich sehr unwohl, wie Du Dir vorstellen kannst, aber sie sagen, dass der Knochen mit Ruhe rasch heilen wird und dass ich nach und nach wieder gehen können werde.
Brief an Alejandro Gómez Arias
10. Januar 1927
Ich bin, wie immer, krank. Du weißt, wie langweilig das ist. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, da ich schon länger als ein Jahr in diesem Zustand bin, und ich habe die Nase voll. Ich habe so viele Beschwerden, wie eine alte Frau! Ich weiß nicht, wie es sein soll, wenn ich dreißig bin. Du wirst mich in ein Baumwolltuch einwickeln müssen und mich den ganzen Tag herumtragen müssen; ich glaube nicht, dass Du mich, wie ich Dir einmal gesagt habe, in einer Tasche tragen kannst, weil ich da nicht hineinpassen werde. […] Du musst mir etwas Neues erzählen, weil ich wahrhaftig als ein Blumentopf geboren wurde und niemals das Speisezimmer verlasse. Ich langweile mich so sehr!!!!!! Du sagst, ich solle etwas Sinnvolles tun etc., aber ich habe keine Lust. Ich habe keine Lust, irgendetwas zu tun – Du weißt das ja schon, und darum erkläre ich es Dir auch nicht. Ich träume jede Nacht von diesem Zimmer, und wie sehr ich mich auch bemühe, ich weiß noch nicht einmal, wie ich dieses Bild aus meinem Kopf (der übrigens jeden Tag mehr wie ein Basar aussieht) bekommen soll. Nun!! Was können wir da machen? Warten und warten… […] Und das mir, die ich so häufig geträumt habe, eine Navigatorin oder eine Reisende zu sein! Patiño würde antworten, dass dies eine der Ironien des Lebens ist. Ha ha ha ha! (Lach nicht.)
Aber ich bin erst seit 17 Jahren in dieser Stadt geparkt. Später werde ich sicherlich sagen können: „Ich bin nur auf der Durchreise; ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu sprechen.“ [Dann zeichnete Frida Musiknoten.] Nun, China, Indien und andere Länder zu besuchen, kommt aber erst an zweiter Stelle… Zuerst, wann wirst Du kommen? Ich glaube nicht, dass ich Dir ein Telegramm schicken muss, um Dir zu sagen, dass ich Qualen leide, oder? […] Hey, frage bei Deinen Bekannten nach, ob jemand eine gute Methode kennt, Haar aufzuhellen; vergiss es bitte nicht.
Frida Kahlo,Nachdenken über den Tod, 1943. Öl auf Leinwand, auf Masonit montiert, 44,5 x 36,3 cm. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Diego Rivera,Selbstbildnis, 1906. Öl auf Leinwand, 55 x 54 cm. Staatliche Sammlung des Staates Sinaloa, Mexiko-Stadt.
Die Verwüstung von Frida Kahlos Körper kann man nur ahnen. Aber die Konsequenzen waren weitaus schlimmer, als sie realisierte, dass sie überleben würde. Dieses vitale, lebhafte junge Mädchen an der Schwelle von unzähligen Karrieremöglichkeiten war auf eine bettlägerige Invalidin reduziert worden.
Nur ihre Jugend und Vitalität retteten ihr das Leben, aber was für ein Leben sah sie vor sich? Die Fähigkeit ihres Vaters, genug Geld zu verdienen, um seine Familie ernähren und Fridas Arztrechnungen bezahlen zu können, hatte sich im gleichen Maß wie die mexikanische Wirtschaft verschlechtert.
Dies ließ nur noch einen Krankenhausaufenthalt für einen weiteren Monat zu:
im überfüllten, sehr armen und unterbesetzten Rote-Kreuz-Hospital, in dem eine Krankenschwester 25 Patienten im Alleingang zu versorgen hatte, lag Frida in einem schrecklichen, sklavenähnlichen Quartier, und die Mahlzeiten waren so abscheulich, dass sie kaum genießbar waren.[3]
Nach einiger Zeit, in der sie an ihr Bett gefesselt war, eingehüllt in Gips und Bandagen, wurde sie endlich nach Hause entlassen.
Da sie von ihren Freunden in Mexiko-Stadt getrennt war, führte sie eine umfangreiche Korrespondenz, besonders mit Alejandro Arias. Ihre sexuelle Partnerschaft war schon vor dem Unfall beendet und sie hatten sich darauf verständigt, dass jeder von ihnen andere Partner kennen lernen konnte. Sobald sie sich jedoch als „Freunde“ trafen, tat Frida Alejandros Angebereien mit weiblichen Eroberungen achselzuckend ab.
Er wiederum war betrübt, sobald sie junge Männer aufzählte, mit denen sie geschlafen hatte. Sie waren sich zu ähnlich. Während Frida sich vom Unfall erholte, schickten Alejandros Eltern ihn nach Europa, um in Berlin zu studieren. Die lange Trennung und das weltliche Abenteuer kühlten sein für das zurückgelassene mexikanische Kleinstadtmädchen übrig gebliebenes Feuer beträchtlich ab.
Frida dagegen hielt, während sie in ihrem Gipsgefängnis lag, erfüllt von mitleidigem Verlangen, ihn zu sehen, den ihn überflutenden Briefwechsel aufrecht.
Wenn du kommst, werde ich nicht fähig sein, dir das anzubieten, wonach du dich sehnst. Anstatt kurze Haare zu tragen und zu flirten, habe ich nur noch kurze Haare und bin nutzlos, was schlimmer ist. All diese Dinge sind eine konstante Marter.
Das Leben ist in dir, aber ich kann es nicht haben. Das ist sehr töricht, und ich leide mehr, als ich sollte. Ich bin ziemlich jung, und es wird möglich sein, geheilt zu werden, nur kann ich es nicht glauben; ich sollte es nicht glauben, oder? Du kommst sicher im November.[4]
Schrittweise behauptete sich ihr unbeugsamer Wille und sie begann, innerhalb ihrer begrenzten Möglichkeiten Entscheidungen zu treffen. Im Dezember 1925 konnte sie ihre Beine wieder benutzen. Eine ihrer ersten, schmerzvollen Reisen führte sie kurz vor Weihnachten nach Mexiko-Stadt, zum Haus von Alejandro Arias. Sie wartete vor seiner Tür, aber er kam nie nach draußen, um sie zu sehen. Kurz darauf wurde sie von durchdringenden Rückenschmerzen geplagt und immer mehr Ärzte machten sich in ihrem Leben breit. Da erst wurden ihre drei, vorher nicht diagnostizierten Wirbelsäulenfrakturen entdeckt und sie sofort wieder völlig in Gips eingepackt. Gefangen und unbeweglich nach jenen kurzen Tagen der Freiheit begann sie, ihre Optionen realistisch zu betrachten. An der höheren Schule hatte sie Studien begonnen, die sie auf eine medizinische Laufbahn vorbereiten sollten. Dieser Traum verblasste aber, als sie ihre physischen Einschränkungen akzeptierte.
Während dieser Gewissensprüfungen verbrachte sie die Zeit mit dem Malen der Szenen in Coyoacán und mit Porträts von Verwandten und Freunden, die sie besuchten. Als Künstlerin kehrte sie an den Ort ihres schrecklichen Unfalls nur einmal in einer Bleistiftzeichnung zurück, die ihren verbundenen Körper mit dem kleinen, zusammengedrückten und gegen die Ecke der Markthalle geschobenen Bus, sowie den Straßenbahnwagen zeigte.
Es war eine katharsische Zeichnung, ihrer Imagination entsprungen und wich von den Zeugenaussagen anderer ab.
Wie viele Male hatte sie wohl in ihren Träumen des Nachts und in Tagträumen neben dieser schrecklichen Szenerie gestanden, bevor sie diese zeichnete, um sie dann unfertig liegen zu lassen? Das Lob, das ihre Gemälde erhielten, überraschte Frida. Sie entschied bereits bevor sie eines begann, wer das Gemälde erhalten würde – oft schrieb sie den Namen des Empfängers auf die Leinwand. Frida gab sie als Andenken weg, schrieb ihnen keinerlei Wert zu, außer als Ausdruck ihrer Gefühle. Von diesen frühen Bemühungen gelang es ihr am besten durch ihre Porträts, die Abgebildeten zu beeindrucken. Sie standen in ihrer Originalität für sich, ohne technische Tricks oder aufgesetztes Sentiment. Ihre erfolgreichste Arbeit war ein Selbstporträt, das sie in einem weiteren vergeblichen Versuch, ihn zurück zu gewinnen, eigens für Alejandro Arias malte.
Mit diesem Gemälde begann sie eine bemerkenswerte, lebenslange Serie voller Reflektionen, introspektiv und gleichzeitig enthüllend, die ihre Welt innerhalb dieses bröckligen körperlichen Flickwerks prüfte.
Offiziell wurde das Selbstporträt im Samtkleid, ihr Geschenk an Alejandro 1926, „Dein Botticelli“ genannt [sic].
Während seiner Tour durch Europa hatte Alejandro erwähnt, dass italienische Mädchen „so exquisit ausschauen, als ob sie von Botticelli gemalt wären.“
Frida Kahlo,Kleines Mädchen mit Windel (Porträt von Isolda Pinedo Kahlo), 1929. Öl auf Leinwand, 65,5 x 44 cm. Privatsammlung.
Diego Rivera,Delfina und Dimas, Datum unbekannt. Öl auf Leinwand, 31 x 24 cm. Privatsammlung.
Frida Kahlo,Porträt von Eva Frederick, 1931. Öl auf Leinwand, 63 x 46 cm. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Frida fügte dem einige der eleganten Manierismen des Malers Agnolo Bronzino (1503-1572), einem ihrer Lieblingskünstler, hinzu. Im Porträt hält sie ihre Hand offen Arias hin, womöglich in Sehnsucht nach Versöhnung. Ihre Haut strahlt im elfenbeinfarbenen Ton und gesundem Rouge auf ihren Wangen; es ist nicht das teigige Gesicht einer kapitulierenden Invalidin. Ihr starrer Blick ist unter übertriebenen Augenbrauen direkt und herausfordernd. Was sie mit ihrer geöffneten Bronzino-Hand hergibt, nimmt sie mit dem Trotz einer Überlebenden zurück. Dieser stoische, prüfende und nicht lächelnde Blick ist die Pose, die sie im Leben angenommen hatte. Als wollte sie ihrer Mitteilung eine Zeitspanne hinzufügen, schrieb sie auf den unteren Teil der Leinwand:
Für Alex, Frida Kahlo im Alter von 17 Jahren,
September 1926 – Coyoacán – Heute ist immer noch.
In anderen Worten sagt sie „falls du mich jemals geliebt hast, dann ist heute noch immer, und diese Liebe ist noch da.“
Frida Kahlo hielt die eigene anspruchsvolle Realität konstant aufrecht; niemandem, auch nicht Diego Rivera, gelang es jemals, in ihr Innerstes vorzudringen.
Frida malte 1927 und 1928 Porträts der Personen, die ihr nahe standen. Sie fing die eisige Schönheit ihrer Freundin Alicia Galant ein.
Fridas jüngere Schwester Cristina wurde in schimmernden Pastelltönen und mit einem fein ausgeführten, resoluten Gesicht wiedergegeben. Frida malte ihre kleine Nichte Isolda Pinedo Kahlo baumwollweich mit der Lieblingspuppe des Kleinkindes, die unbeachtet zu deren Füßen liegt.
Aber ihre Augen streifen umher, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, weg von der Langeweile des Sitzens. Fridas Selbstvertrauen wuchs parallel zu ihrer Leichtigkeit, mit der Technik umzugehen, mit jedem Gemälde. Die gestörte Beziehung zu Alejandro Arias ist in seinem Porträt von 1928 offensichtlich.
Er sieht in seinem ersten Herrenanzug wie ein Schuljunge aus. Sein Ausdruck ist gequält und unsicher. Der Junge im Gemälde hat entweder eine große Gelegenheit verpasst und ist völlig ahnungslos oder, noch wahrscheinlicher, hat er sich vor dem leidenschaftlichen, allverzehrenden Feuer gedrückt und ist erleichtert.
Wie fast alle Männer ihres Lebens blieb er ein enger Freund im Dunstkreis gegenseitiger Faszination, die sie beide am Anfang anzog.
Frida hatte sich 1928 so weit erholt, dass sie sich ihrer orthopädischen Korsetts entledigen konnte. Sie floh aus der engen Welt ihres Bettes und verließ auch La Casa Azul wieder um des sozialen und politischen Eintopfs willen, der Mexiko-Stadt hieß.
Sie begann erneut, die berauschende Welt der mexikanischen Kunst und Politik zu entdecken.
Frida verschwendete keine Zeit, sich ihren früheren Kameraden aus den verschiedenen Cliquen der höheren Schule anzuschließen.
Aber von einem zum anderen Kreis unterwegs, traf sie sich bald mit einer Anzahl ehrgeiziger Politiker, Anarchisten und Kommunisten, die sich zu der expatriierten amerikanischen Tina Modotti hingezogen fühlten.
Tina war eine schöne Frau, die 1923 zusammen mit ihrem Geliebten, dem künstlerisch asketischen, amerikanischen Fotografen Edward Weston, nach Mexiko gekommen war, um Fotografie zu studieren.
Als er 1924 wieder nach Kalifornien zurückging, blieb sie, um ein kurzweiliges Leben als exzellente Fotografin und Gefährtin einer Reihe von Revolutionären zu beginnen.
Während des 1. Weltkriegs und den frühen 1920er Jahren flohen viele amerikanische Intellektuelle, Künstler, Dichter und Schriftsteller auf der Suche nach erschwinglichem Leben und politischem Idealismus zunächst nach Mexiko und später nach Frankreich.
Sie schlossen sich zusammen, um des anderen Werk zu loben oder zu verdammen.
Windige Manifeste wurden entworfen, während sie ununterbrochen an einem einzigen, jahrelangen, berauschenden Fest teilnahmen, innerhalb dessen sie von einem Apartment beziehungsweise Salon zum anderen und wieder zurück taumelten.
Während die Meisten Teil einer kunterbunten Ansammlung rechtzeitig vor Bankrott und hohen Schulden über die Grenze geflohener Exilanten waren, trugen einige tatsächliche Talente ihren Glanz zur mexikanischen Gesellschaft bei. John Dos Passos lebte für einige Zeit in Mexiko Stadt ebenso wie Katherine Anne Porter und der Dichter Hart Crane[5]. Diese Auswanderer brachten eine sentimentale Vision der sich auf Feldern plagenden Bauern in Mode und warben für die mexikanische Lebensauffassung des „fiestas y siestas“, unterbrochen nur von gelegentlichen blutigen Bauernrevolten und politischen Morden.
Frida Kahlo, Der Bus, 1929. Öl auf Leinwand, 25,8 x 55,5 cm. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Zu dieser tequilagefüllten debattierenden Gesellschaft stieß Diego Rivera mit seiner enormen Präsenz: der Verlorene, der, aus Moskau hinausgeworfen, nach vierzehn Jahren Auslandsaufenthalt nach Hause zurückkehrte.
Trotz der rüden Behandlung durch stalinistische Kunstkritiker und unverhohlener, durch die russische Regierung an ihn gerichteter Morddrohungen, falls er die Stadt nicht verlasse, glaubte Diego, der Kommunismus sei die Rettung der Welt.
Bald nach seiner Ankunft im Jahr 1921 spürte er pro-mexikanische Kunstbewegungen auf, Wand- und Staffeleimaler, Fotografen und Schriftsteller. Innerhalb dieser tief mexikanischen Gesellschaft passte Tina Modottis Kreis aus Expatrioten und Sympathisanten genau in das Umfeld der Partei.
In dieser Zeit arbeitete Diego auch an einer weiteren Wandbildserie für das Erziehungsministerium.
Frida wurde von diesem stimulierenden Kreis angezogen und schloss Freundschaft mit Tina Modotti. Sie besaßen ähnlich heißblütige Persönlichkeiten und sinnliche Vitalität, tranken und tanzten in den diversen Salons bis tief in die heißen mexikanischen Nächte.
In den schwülen Zimmern voller betrunkener Exzentriker und vergesslicher Anhänger verschärfte sich die politische Rhetorik und häufig genug wurden künstlerische Leistungen denunziert.
Herausforderungen bedurften gelegentlich der Abhilfe durch eine kleine Schießerei, aber die Schießkunst wurde nach einem Liter Tequila natürlich nicht besser, und normaler Weise waren, sobald sich der Qualm verzogen hatte, das Mobiliar, Wände und Straßenlaternen oder, in einem bestimmten Salon, ein Schallplattenspieler, die einzigen Opfer gewesen.
Frida erinnert sich an ihr erstes Treffen mit ihrem zukünftigen Ehemann:
Wir lernten uns zu einer Zeit kennen, als jeder Pistolen trug; und wenn sie sich danach fühlten, schossen sie einfach auf die Straßenlaternen in der Avenida Madero.
Diego schoss einmal auf ein Grammophon während einer von Tinas Partys. Das war zu der Zeit, als ich mich für ihn interessierte, obwohl ich mich vor ihm fürchtete.[6]
So hatte die kleine und physisch noch gebrechliche Frida Kahlo eine Chance, den alten weichen Panzón in einem anderem Licht zu sehen, wie er einen rauchenden Colt in der Hand hielt und der überfüllte Raum plötzlich still wurde.
Der behäbige Wandmaler hatte verborgene Persönlichkeitsschichten, aber offensichtlich auch ein Paar sehr virile cojones („Hoden“).
Und Diego sah im Blick des Schulmädchens, das seiner ehemaligen Frau Lupe Marín direkt gegenüber gestanden hatte, dasselbe Feuer aufleuchten, aber er hielt ihm stand. Dies war mehr als ein verwöhntes Kind der Bourgeoisie, das durch den Zigarrenrauch zurücklächelte und ihr intelligentes Vokabular durch vulgären Straßenjargon wirksam unterstrich. Sie forderte ihn heraus und Diego, schon immer kampflustig, verweigerte nie eine Herausforderung.
Der eigentliche Zeitpunkt ihres ersten Treffens ist schwierig herauszufinden, da beide kunstvolle Geschichtenerzähler waren und gerne die Wahrheit verbogen, um sie der momentanen Situation anzupassen. Da gibt es eine charmante Geschichte, in der es heißt, dass Frida aus ihrem Bett stieg, einige ihrer Arbeiten unter den Arm nahm und mit einem Stock dorthin humpelte, wo Diego an der Wandmalerei für das Erziehungsministerium arbeitete. Sie rief zu ihm hoch: „Diego, komm runter!“
Diego Rivera,Das Atelier des Künstlers, 1954. Öl auf Leinwand, 179 x 150 cm. Sammlung Acervo Patrimonial de la Secretaría de Hacienda y Crédito Público, Mexiko.
Frida Kahlo,Ex voto, um 1943. Öl auf Metall, 19,1 x 24,1 cm. Privatsammlung.
Er guckte auf den Hof hinunter zum jungen Mädchen, das eine blau-weiße europäische Schuluniform trug, mit langen Zöpfen und einem Stock.
Da er sich gern und leicht von der Arbeit ablenken ließ, stapfte er die wackeligen Treppen hinunter. Sie sagte:
Ich bin aber nicht hierher gekommen, um zu flirten, obwohl du ein notorischer Weiberheld bist. Ich will dir nur meine Bilder zeigen. Wenn du sie interessant findest, sag es mir; falls nicht, sag es mir auch, weil ich dann etwas anderes finden werde, um meine Familie zu unterstützen.
Der große Mann mit struppigem Kopfhaar und der farbverschmierten, um seinen Gurt gewickelten Schürze sieht sich jedes Gemälde an. Er nimmt eins und schaut es länger an.
Zuallererst mag ich das Selbstporträt. Das ist ursprünglich. Die anderen drei Bilder scheinen von Dingen, die du irgendwo gesehen haben musst, beeinflusst zu sein.
Nun geh nach Hause, und male noch ein Bild. Nächsten Sonntag werde ich kommen und sagen, was ich davon halte.
Frida beendet ihre Geschichte: „Er tat nur das und stellte fest, dass ich talentiert war.“[7] Wenn diese romantische Geschichte glaubwürdig ist, stellte Diego Rivera mehr als nur die Tiefe ihres Talents fest.
Sein ursprüngliches Interesse am kecken jungen Mädchen, dessen draufgängerische Haltung ihn bezaubert hatte, wandelte sich in tiefen Respekt und in Anerkennung als Künstlerkollegin, die ihm auf mehreren Niveaus ebenbürtig war. Es dauerte nicht lange, bis er von seinem braunen Stetson den Staub abschüttelte, seine ausgeleierte Jacke ausschüttelte, die Spitze seiner Stiefel hinten an den Hosenbeinen polierte und jeden Sonntag in La Casa Azul auftauchte. Diego wurde zu ihrem Verehrer. Fridas Mutter war gegen diese Verbindung. Sie verglich Diego mit einer großen Kröte, die in der Türöffnung steht.
Guillermo Kahlo nahm daher Diego auf die Seite und führte ihn zum Innenhof. Diego mag wie eine fette Kröte ausgesehen haben. Er mag zwanzig Jahre älter als sie gewesen sein. Er war geschieden – zwei Mal – ein Atheist und Kommunist noch dazu, aber er war auch ein berühmter Maler, der Aufträge, Geld und sowohl den Respekt der Regierung als auch den der Künstlergemeinschaft, also alles hatte, wonach Guillermo Kahlo strebte. Guillermo beugte sich vor:
„Ist dir klar, dass sie ein kleiner Teufel ist?“
Diego nickte.
„Ich weiß.“
Guillermo unternahm einen letzten Versuch:
„Sie ist eine kranke Person, und ihr ganzes Leben lang wird sie krank sein. Sie ist intelligent, aber nicht hübsch. Denk darüber nach, wenn du willst. Wenn du sie heiraten möchtest, gebe ich dir meine Einwilligung.“
Diego nickte wieder:
„Gracias.“
Guillermo nickte ihm zu.
„Nun gut, du bist gewarnt.“[8]
Frida Kahlo,Baum der Hoffnung, bleibe stark, 1946. Öl auf Masonit, 55,9 x 40,6 cm. Sammlung Isidore Ducasse, Frankreich.
Frida Kahlo,Porträt der Lucha Maria, einem Mädchen aus Tehuacán, (Sonne und Mond), 1942. Öl auf Masonit, 54,6 x 43,1 cm. Privatsammlung.
Brief an Alejandro Gómez Arias
31. Mai 1927
Ich bin fast fertig mit dem Porträt von Chong Lee [Miguel Lira]. Ich werde Dir ein Foto davon schicken. […] Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich werde mich selbst überzeugen müssen, dass es fast sicherlich notwendig ist, operiert zu werden. Sonst vergeht die Zeit und plötzlich hat man hundert Pesos an Diebe verschwendet – das ist es, was die meisten Ärzte sind. Die Schmerzen in meinem schlechten Bein bleiben immer gleich und manchmal tut mir auch das gute weh; es geht mir also immer schlechter und ich habe nicht die leiseste Hoffnung, dass es besser werden wird, weil ich dafür die wichtigste Sache brauche: Geld. Der Ischiasnerv ist beschädigt, ebenso ein anderer Nerv – dessen Namen ich nicht kenne –, der bis in die Genitalien reicht. Ich weiß nicht, was mit zwei Wirbeln los ist und es gibt viele weitere Dinge, die ich Dir nicht erklären kann, weil ich sie selbst nicht verstehe. Ich weiß also nicht, worin die Operation bestehen wird, weil es mir niemand erklären kann. Du kannst Dir angesichts all dessen, was ich Dir berichte, vorstellen, wie viel Hoffnung ich haben werde, zwar nicht gesund, aber doch besser zu werden, wenn Du hier eintriffst. Ich verstehe, dass es in diesem Fall notwendig ist, großen Glauben zu haben, aber Du kannst Dir nicht einen Augenblick lang vorstellen, wie sehr ich leide, vor allem weil ich nicht glaube, dass ich mich wieder erholen werde. Ein Arzt, der sich für mich interessieren würde, könnte es wenigstens schaffen, dass ich mich ein wenig besser fühlte, aber all diese Ärzte, die mich behandelt haben, sind Geizhälse, die sich kein bisschen für mich interessieren und ihre Zeit mit Diebstahl verbringen. Ich weiß also nicht, was ich tun soll, und es nutzt nichts, zu verzweifeln. [...] Lupe Vélez dreht ihren ersten Film mit Douglas Fairbanks, wusstest Du das?
Wie sind die Kinos in Deutschland? Was hast Du sonst noch über die Malerei gelernt und gesehen? Wirst Du nach Paris gehen? Wie ist der Rhein, die deutsche Architektur? Alles.
Frida Kahlo,Die gebrochene Säule, 1944. Öl auf Masonit, 39 x 30,5 cm. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Frida Kahlo,Selbstporträt mit Affe, 1938. Öl auf Masonit, 49,5 x 39,4 cm. Albright-Knox Art Gallery, Buffalo (New York).
Brief an Alejandro Gómez Arias
23. Juli 1927
Mein Alex:
Ich habe gerade Deinen Brief erhalten… Du schreibst, dass Du ein Schiff nach Neapel nehmen wirst und es fast sicher ist, dass Du auch die Schweiz besuchen wirst. Ich möchte Dich um einen Gefallen bitten: sage Deiner Tante, dass Du zurückkommen möchtest, dass Du dort unter keinen Umständen länger als bis Ende August bleiben möchtest… Du kannst Dir nicht vorstellen, was jeder Tag, jede Minute ohne Dich für mich bedeuten… Cristina [Fridas jüngere Schwester] ist immer noch sehr hübsch, aber sie ist sehr gemein zu mir und meiner Mama. Ich habe ein Porträt von Lira gemalt, weil er mich darum gebeten hat, aber es ist so schlecht geworden, dass ich nicht verstehen kann, wie er mir sagen kann, dass es ihm gefällt. Sehr schrecklich. Ich schicke Dir kein Foto, weil mein Vater wegen des Umzugs noch nicht alle Fotoplatten geordnet hat; aber es ist es auch nicht wert, weil es einen sehr kitschigen Hintergrund hat und er wie eine Pappfigur aussieht. Ich mag nur ein Detail (einen Engel im Hintergrund), Du wirst es sehen. Mein Vater hat auch Aufnahmen von den anderen gemacht, von Adnana, von Alicia [Galant] mit dem Schleier (sehr schlecht) und von dem einen, das Ruth Quintanilla sein sollte und das Salas gefällt. Sobald mein Vater weitere Abzüge für mich gemacht hat, werde ich sie Dir schicken. Er hat bislang nur einen von jedem Bild gemacht, aber Lira hat sie mitgenommen, weil er sagt, dass er sie in einem Magazin, das im August herauskommen wird (er hat schon mit Dir darüber gesprochen, oder?), veröffentlichen wird. Es soll Panorama heißen, und zu den Autoren des ersten Heftes werden unter anderem Diego, Montenegro (als ein Dichter) und wer weiß wie viele andere gehören. Ich glaube nicht, dass es sehr gut werden wird. Ich habe Rios Porträt bereits zerrissen, weil Du Dir nicht vorstellen kannst, wie sehr es mich immer noch geärgert hat.
Flaquer wollte den Hintergrund (die Frau und die Bäume) behalten, und das Porträt beendete sein Leben wie Johanna von Orleans. Morgen ist Cristinas Namenstag. Die Jungs werden herüberkommen, ebenso wie die beiden Kinder von Herrn Cabrera, dem Rechtsanwalt. Sie sehen ihm gar nicht ähnlich (sie sind sehr dumm) und sprechen kaum Spanisch, weil sie zwölf Jahre lang in den Vereinigten Staaten gelebt haben und nur für die Ferien nach Mexiko kommen. Die Galants werden ebenfalls kommen, la Pinocha [Esperanza Ordonez] et cetera. Allein Chelo Navarro kann nicht kommen, weil sie wegen ihres Babys noch im Bett liegt; sie sagen, es sei sehr niedlich. Dies ist alles, das hier bei mir zu Hause los ist, aber nichts davon interessiert mich.
Morgen wird es eineinhalb Monate her sein, seitdem ich das Korsett bekam und vier Monate, seitdem ich Dich das letzte Mal gesehen habe. Ich wünschte, dass das Leben im nächsten Monat beginnen würde und ich Dich küssen könnte. Wird dies wahr werden?
Deine Schwester,
Frieda
Frida Kahlo,Selbstporträt mit „Bonito“, 1942. Öl auf Leinwand, 55 x 43,5 cm. Privatsammlung.
Frida Kahlo,Selbstporträt mit Affe und Papagei, 1942. Öl auf Masonit, 54,6 x 43,2 cm. Privatsammlung.
Brief an Alejandro Gómez Arias
31. April [1927], Sonntag, Tag der Arbeit
Mein Alex,
ich habe gerade Deinen Brief vom 13. bekommen, und dies war mein einziger glücklicher Moment in all dieser Zeit. Obwohl ich mich immer weniger traurig fühle, wenn ich an Dich denke, helfen mir Deine Briefe noch mehr. Ich wünschte, ich könnte Dir mein Leiden, Minute um Minute, erklären. Seitdem Du fortgegangen bist, geht es mir schlechter und ich kann mich nicht einmal für einen Moment trösten oder Dich vergessen. Sie haben mir am Freitag das Gipskorsett angelegt, und seitdem ist es das reinste Martyrium, das mit nichts sonst vergleichbar ist. Ich fühle mich erstickt, meine Lungen und mein ganzer Rücken schmerzen furchtbar, und ich kann noch nicht einmal mein Bein berühren. Ich kann kaum gehen, geschweige denn schlafen. Stell Dir vor, sie haben mich zweieinhalb Stunden lang nur an meinem Kopf aufgehängt und dann stand ich länger als eine Stunde auf Zehenspitzen, während [das Korsett] mit heißer Luft getrocknet wurde, aber als ich nach Hause kam, war es immer noch ganz feucht. Sie haben es mir im Hospital de las Damas Francesas angelegt, weil ich im Hospital Frances mindestens eine Woche hätte bleiben müssen, weil sie es sonst nicht gemacht hätten. In dem anderen Krankenhaus begannen sie um 9:15 Uhr mit der Prozedur, und ich konnte es schon gegen etwa 13 Uhr verlassen. Sie haben weder Adriana [Fridas Schwester] noch irgendjemand anderen hereingelassen, und ich musste ganz allein furchtbar leiden. Ich werde dieses Martyrium drei oder vier Monate ertragen müssen, und wenn ich mit seiner Hilfe nicht gesund werde, möchte ich wirklich sterben, weil ich es nicht mehr aushalte. Es sind nicht nur die physischen Schmerzen, sondern ich habe auch nicht die kleinste Unterhaltung. Niemals verlasse ich dieses Zimmer, ich kann nichts tun, ich kann nicht laufen. Ich bin völlig verzweifelt und vor allem bist Du nicht hier. Zu allem übrigen höre ich nur schlechte Nachrichten. Meine Mutter ist immer noch sehr krank, sie hatte in diesem Monat sieben Schlaganfälle, und mein Vater ist ebenfalls krank und pleite. Es gibt wirklich Anlass, völlig verzweifelt zu sein, meinst Du nicht? Ich verliere jeden Tag an Gewicht, und ich habe an nichts mehr Freude. Die einzige Sache, die mich glücklich macht, ist, dass die Jungs mich besuchen; am letzten Donnerstag kamen Chong, el Güero Garay, Salas und Goch, und sie werden Mittwoch wiederkommen. Aber auch dies lässt mich leiden, da Du nicht bei uns bist.
Deiner kleinen Schwester und Deiner Mutter geht es gut, aber ich bin mir sicher, sie würden alles geben, um Dich hier zu haben; tue alles, was Du kannst, um rasch zurückzukommen. Zweifle nicht einen Moment, dass ich noch genau derselbe Mensch sein werde, wenn Du zurückkommst. Und Du – vergiss mich nicht und schreibe mir häufig. Ich freue mich fast schmerzhaft auf Deine Briefe; sie sorgen dafür, dass es mir gut geht.
Höre niemals auf, mir zu schreiben, mindestens einmal in der Woche; Du hast es versprochen. Schreib mir, ob ich Dir an die mexikanische Botschaft in Berlin oder an denselben Ort wie sonst schreiben soll. Ich brauche Dich so sehr, Alex!
[Wasserzeichen als Unterschrift]
Brief an Guillermo Kahlo
San Francisco, Kalifornien, 21. November 1930
Lieber Papa,
wenn Du wüsstest, wie sehr ich mich über Deinen Brief gefreut habe, würdest Du mir jeden Tag schreiben. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie glücklich er mich gemacht hat. Die einzige Sache, die mir nicht gefallen hat, ist, dass Du mir geschrieben hast, dass Du immer noch ungeduldig bist, aber da ich wie Du bin, verstehe ich Dich sehr gut, und ich weiß, dass es sehr schwierig ist, sich unter Kontrolle zu halten. Bemühe Dich auf jeden Fall so gut Du kannst; tue es wenigstens für Mama, die so lieb zu Dir ist. Diego hat wirklich laut darüber gelacht, was Du mir über die Chinesen geschrieben hast, aber er sagt, er wird sich um mich kümmern, so dass sie mich nicht kidnappen können. Mir geht es gut, ich erhalte Injektionen von einem gewissen Dr. Eloesser, der von deutscher Abstammung ist, aber besser Spanisch als jemand aus Madrid spricht, so dass ich ihm alles, was ich fühle, klar erklären kann. Ich lerne jeden Tag ein wenig Englisch und ich kann zumindest die wichtigsten Sachen verstehen, in Geschäften einkaufen etc., etc.
Schreibe mir in Deiner Antwort, wie es Dir und Mama und allen anderen geht. Ich vermisse Dich sehr – Du weißt, wie sehr ich Dich liebe –, aber wir werden im März sicher wieder zusammen sein und viel reden. Vergiss nicht, mir zu schreiben und lass mich wissen, wenn Du Geld brauchst. Diego schickt seine wärmsten Wünsche und sagt, dass er Dir nicht schreibt, weil er so viel zu tun hat.
Ich sende Dir all meine Zuneigung und tausend Küsse. Deine Dich anbetende Tochter, Frieducha.
Hier ist ein Kuss.
Schreibe mir alles, was Du tust und erlebst.
Frida Kahlo,Selbstporträt im Samtkleid (Detail), 1926. Öl auf Leinwand, 12,5 x 17 cm. Museo Frida Kahlo, Mexiko-Stadt.
Frida Kahlo,Porträt des Ingenieurs Eduardo Morillo, Datum unbekannt. Öl auf Masonit, 39,5 x 29,5 cm. Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Am 21. August 1929 heiratete die 22-jährige Frida Kahlo standesamtlich den 42-jährigen Diego Rivera in Begleitung einiger enger Freunde im Rathaus von Coyoacán. Offizielle Trauzeugen waren ein homöopathischer Arzt und ein Perückenmacher.
Der Richter war ein Freund von Rivera aus seinen Studententagen an der Schule der Bildenden Künste. Diego, sein Haar nach hinten geglättet, stand kerzengerade im einfachen grauen Anzug, seinem Stetson, weitem Gürtel und dem Colt im Hosenbund. Frida, die sich von ihrem Dienstmädchen einen langen Rock mit Bluse geliehen hatte und über ihrer Schulter eine rote Rebozo-Stola trug, reichte kaum bis an seine Oberarme.
Dadurch ergab sich der Eindruck von einer kleinen dunklen Porzellanpuppe neben einem immens großen Porzellanmops. Nach der Zeremonie posierten sie für einen Fotografen von La Prensa. Die begleitende Geschichte liest sich folgendermaßen:
Vergangenen Mittwoch heiratete in dem nahe gelegenen Dorf Coyaocán der umstrittene Maler Diego Rivera Fräulein Frida [sic] Kahlo, eine seiner Studentinnen. Die Braut war, wie man sehen kann, im einfachen Gewand gekleidet und der Maler Rivera wie ein Amerikaner ohne Weste.
Die Heirat war überhaupt nicht pompös und wurde in aller Bescheidenheit in einer sehr herzlichen Atmosphäre ohne Prunk und ohne feierliche Anmaßung durchgeführt. Den frisch Verheirateten wurde nach der Trauung von einigen Freunden ausführlich gratuliert.
Danach bewegte sich die Party zur Casa Azul. Matilde Kahlo war immer noch wütend und murmelte, dass Rivera nun wie ein „fetter Bauer“ aussah – immerhin eine Verbesserung im Vergleich zur „fetten Kröte“.
Lupe Marín war auch eingeladen und nach einer ausgiebigen Tequilaprobe schob sie ihre Hände unter Fridas Rock und zog ihn hoch.
„Seht ihr diese zwei Stöcke?“ schrie Marín. „Das ist es, womit Diego sich abfinden muss, und er war meine Beine gewöhnt!“ Sie hob ihren eigenen Rock hoch und zeigte ihre wohlgeformten Schenkel zum Vergleich.
Frida griff nach ihr. Freunde hielten die beiden Frauen zurück, und Frida lief vor Wut aus dem Zimmer. Diego hatte seinen Spaß daran zu sehen, wie zwei Frauen um ihn kämpften, von denen er verführt und geheiratet worden war. Um weiter zu feiern, ging er in die Bar.
Seine fröhliche Stimmung setzte sich bis in die frühen Morgenstunden fort, als er seinen getreuen Colt zog und so besoffen und benebelt wie er war, zu zielen versuchte und losfeuerte. Die Gäste gingen in Deckung, bis der Abzugshahn leer klickte und die Patronen verbraucht waren.
Frida kochte innerlich und verbrachte die Nacht nicht mit ihm. Tatsächlich zog sie tagelang nicht in sein Haus, 104 Paseo de la Reforma, ein.[9]
Obwohl man es damals nicht wissen konnte, stellten diese Hochzeit und ihre Nachwirkungen einen Mikrokosmos ihres restlichen gemeinsamen Lebens dar.
Señora Rivera war gerade dabei, in seinem Haus den Haushalt einzurichten, als Diego zum Direktor der San Carlos Akademie, seine Alma Mater der Jugend, ernannt wurde. Innerhalb von zwei Wochen stießen Diegos Schulreformen aber auf heftigen Widerstand und er wurde ohne viel Federlesens aufgefordert, den Campus wieder zu verlassen.