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"Die eisige Kälte, die Fee erfasste, war der präzise Moment, in dem das unaussprechliche Gestalt annahm." Viola verschwindet. Eine Familie gerät ins Wanken. Und mitten in allem: Fee – Ermittlerin mit Herz und Spürsinn. Fee hat ein ungutes Gefühl, als sie ihre Nichte Viola über die Feiertage nach Hamburg ziehen lässt. Paul, Violas Vater, will Weihnachten mit seinen Eltern verbringen – zusammen mit seiner Exverlobten und deren Familie. Doch dann, mitten in der besinnlichen Weihnachtszeit, klingelt überraschend Fees Telefon. Paul ist am anderen Ende – aufgewühlt und verzweifelt. Viola ist spurlos verschwunden. Fee zögert keine Sekunde. Gemeinsam mit Tom macht sie sich sofort auf den Weg nach Hamburg und startet ihre eigenen Ermittlungen. Während die Hamburger Polizei von einer Kindesentführung ausgeht, folgt die erfahrene Psychologin ihren eigenen Spuren – instinktiv, intuitiv, unnachgiebig. Je näher sie der schockierenden Wahrheit kommt, desto mehr verwischen sich die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der tragische Tod ihrer Schwester Maja scheint mehr mit Violas rätselhaftem Verschwinden zu tun zu haben, als sie je geahnt hätte. Was Fee bei ihren Ermittlungen entdeckt, stellt alles infrage, was sie über den Autounfall ihrer Schwester zu wissen glaubte. In diesem emotionalen Familienkrimi muss Fee sich nicht nur dem Alptraum einer besorgten Ersatzmutter stellen, sondern auch ihrer eigenen schmerzhaften Vergangenheit. Denn manchmal führt die Suche nach einem vermissten Kind zurück zu Geheimnissen, die man längst begraben glaubte. Ein fesselnder Regionalkrimi über Familie, Verlust und den unerschütterlichen Willen, das Richtige zu tun – selbst wenn die Wahrheit das Herz zerreißt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
EIN FALL FÜR FELINE
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Nachwort
Deutsche Erstausgabe November 2025
Copyright © 2025 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Buchcover: Florin Sayer-Gabor - 100covers4you.com
Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: GChristo
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstin-rachfahl.de
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Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Violas Hand lag in ihrer. Beruhigend streichelte Fee mit dem Daumen über ihren Handrücken. Sie erinnerte sich noch genau an das winzige Wesen, als Maja ihr das Baby zum ersten Mal in die Arme gelegt hatte. Ein Wunder. Nur wenige Tage zuvor hatte sie das heftige Strampeln des Fötus in Majas Bauch gespürt. Stunden später existierte ein neues Lebewesen auf dieser Welt.
Violas Finger krampften sich um ihre. Fees Herz klopfte bis zum Hals. Suchend sah sie sich auf dem Bahnsteig nach ihrem Schwager Paul um. Menschen drängten an ihnen vorbei. Die einen strömten aus dem übervollen Zug heraus, die anderen bahnten sich einen Weg hinein. Keiner hatte Zeit. Es wurde geflucht und geschimpft, dabei waren sie unterwegs, um die Weihnachtstage mit ihren Familien zu verbringen. Auf dem Hamburger Hauptbahnhof leuchtete die weihnachtliche Dekoration, und sogar ein geschmückter Tannenbaum stand am Ende der Gleise. Der Duft von gebrannten Mandeln lag in der Luft.
Sie blickte hinunter zu Viola, deren Wangen sich rot verfärbt hatten. Die Wollmütze mit dem flauschigen Bommel war hier in Hamburg genauso zu warm wie die dicke, mit Daunen gefütterte Winterjacke. Die Handschuhe hatten sie im Rucksack gelassen. Für den Winterurlaub in Kanada würde sie all das brauchen. Sie hatte Paul extra geschrieben, in welchem Waggon sie die Sitzplätze gebucht hatte. Auf der Anzeigetafel an den Gleisen ließ sich ohne Probleme ablesen, an welchem Gleisabschnitt der Wagen hielt. Erneut wurden sie von einem jungen Mann angerempelt. Fee bekam seinen Rucksack ins Gesicht.
»Au.«
»Tschuldigung. Sie stehen im Weg.«
»Danke für die Nicht-Entschuldigung.«
Der Mann drängelte sich durch die Wartenden und bekam ihre Antwort nicht mit.
»Komm.« Entschlossen zog Fee den Koffer in die Mitte des Bahnsteigs und hielt Violas Hand fest. Aus Angst, sie in dem Gemenge zu verlieren oder um sich an ihr festzuhalten, da war sie sich nicht sicher. Sie war froh, dass sie ihre rumänische Mischlingshündin Ronja, eine Kreuzung zwischen Corgi und ungarischer Bracke, bei ihrer Nachbarin Alex gelassen hatte. Ihr blieb wenig Zeit für die Übergabe ihrer Nichte an ihren Schwager. Ihr Zug zurück fuhr in vierzig Minuten. Sie ärgerte sich. Auf Paul war kein Verlass. Erst mal raus aus dem Gedränge. Wenn sie ein ruhigeres Plätzchen gefunden hatte, würde sie ihn anrufen.
Sie hatten das Ende des Bahnsteigs erreicht. Ein Mann in einem langen Tuchmantel und mit einer Schirmmütze, die sie an den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt erinnerte, ließ suchend die Augen über die Menschen schweifen, die in Richtung S-Bahnen, Busse und Taxis strebten. Sein Blick blieb an ihr hängen. Seine gerunzelte Stirn glättete sich. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, das makellose weiße Zähne zum Vorschein brachte. Aus seinem schwarzen Bart, der sein halbes Gesicht bedeckte, leuchteten sie hervor. Um seine schwarzbraunen Augen bildeten sich Lachfalten. Er ließ sich in die Hocke fallen. Ihre Nichte befreite sich aus ihrer Hand und rannte auf den Herrn zu. Fee hob beide Augenbrauen. Sie hatte sich den Opa von Viola anders vorgestellt: einen kühlen Norddeutschen, der seine Vorfahren locker einhundert Jahre zurück in die Handelskontore von Hamburg verfolgen konnte. Nicht diesen südländischen Mann, dem die Freude, seine Enkeltochter zu sehen, aus jeder Pore strahlte.
Sie entspannte sich. Den Sitz ihres Rucksacks korrigierend, folgte sie ihrer Nichte, die inzwischen hochgehoben wurde. Viola schlang die Arme um den Nacken des Mannes und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er ließ sie zurück auf den Boden gleiten.
»Frau Markwart, nehme ich an. Ich nehme Ihnen den Koffer ab.«
»Das ist nicht nötig, Herr Köhler. Ich begleite Sie noch bis zum Auto. So viel Zeit bleibt. Mein Zug fährt in dreißig Minuten.«
Verwirrt sah er sie an. Viola kicherte los.
»Das ist nicht mein Großvater, das ist Luan.«
Das Lächeln schlich sich zurück auf das Gesicht des Mannes.
»Ich bin der Chauffeur von Herrn Köhler Senior und führe das Haus für die Familie. Paul hat mir nicht gesagt, dass Sie direkt wieder zurückfahren. Meine Frau, sie ist die Hausdame der Familie, hat ein Gästezimmer für Sie vorbereitet.«
»Das muss ein Missverständnis sein. Es tut mir leid, dass ich Ihnen Arbeit gemacht habe. Doch ich muss zurück. Mein Hund ist bei meiner Nachbarin.«
Luan runzelte die Stirn und schnalzte mit der Zunge. »Ich weiß nicht, ob ich Sie so einfach zurückfahren lassen kann. Die Familie erwartet Sie.«
»Ich dachte, Paul würde seine Tochter vom Bahnhof abholen?«
»Auf keinen Fall. Dafür bin ich da.« Er sah auf Viola herunter und zog an dem Bommel. »Ein wenig warm für Hamburg, findest du nicht?«
Ihre Nichte zog die Mütze von ihrem Kopf. »Paul hat sie mir geschenkt, zusammen mit der Jacke für unseren Winterurlaub.«
»Ah, dafür ist sie natürlich perfekt.«
Er nahm ihrer Nichte den Rucksack ab, warf einen Blick auf den Koffer von Viola, auf Fee, die den Griff fester umschloss. Sie benahm sich albern. Er wandte sich zum Ausgang. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Noch fünfundzwanzig Minuten, bis zur Abfahrt.
Viola lief neben Luan und plapperte munter drauflos. Fee ließ ein wenig Abstand zu den beiden. Es war so typisch für ihren Schwager, mit keiner Silbe zu erwähnen, dass er nicht persönlich seine Tochter abholen würde, sondern seinen Hausangestellten schickte. Sie erinnerte sich, wie er zum ersten Mal in seinem Haus im Sauerland auftauchte, das er ihr zum Wohnen mit ihrer Nichte zur Verfügung stellte. Unfähig, sich ein Frühstück selbst zuzubereiten. Das hatte sie ihm rasch abgewöhnt. Ihre Schwester, die das Fachwerkhaus liebevoll renoviert hatte, war nie in den Genuss gekommen, dort zu leben.
Nach ihrem Tod hatte ihr Schwager zwar den Job bei AutonoMatik angenommen. Aber statt in Berghalle in seinem Haus zu wohnen und sich um seine Tochter zu kümmern, baute er im asiatischen Raum den Vertrieb auf. Sie hingegen übernahm die Aufgabe, ihre Nichte durch die Lebenskrise zu begleiten. Inzwischen lebte sie zusammen mit Viola seit zweieinhalb Jahren in dem Dorf.
Paul war beruflich oft unterwegs. Die gemeinsame Zeit in dem Haus reduzierte sich auf etwa neun Tage im Monat. Vor allem, seit das Unternehmen beschlossen hatte, den Firmensitz nach Frankfurt zu verlegen. Ihr Schwager hatte sich eine 200 Quadratmeter große Eigentumswohnung im Stadtteil Westend-Süd gemietet, nicht weit vom Palmengarten entfernt. Eine teure Wohngegend. Sie wartete jeden Tag darauf, dass er Viola aus ihrem dörflichen Umfeld mit ihren Freunden reißen und in die City verfrachten würde oder womöglich in ein Internat. Statt mit ihrem Schwager offen darüber zu reden, verschob sie das Gespräch. Ein Leben ohne Viola? Ausziehen aus dem Haus? Aber welche Wahl hatte sie, wenn er die Entscheidung traf? Er war ihr Vater und sie nur die Tante.
Fee hatte ihre Wohnung in Hattingen für ein weiteres Jahr vermietet. Insgeheim hoffte sie, dass Paul ihr das Fachwerkhaus verkaufen würde. Aber allein ohne Viola in Berghalle leben? Aktuell konzentrierte sie sich auf ihre Approbation zur Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie. In ihren Augen eine ideale Ergänzung ihres Masters in forensischer Psychologie und ihrer früheren Einsätze in Krisengebieten. Sie hatte ihr ruheloses Leben in eines mit regelmäßigen Alltagsabläufen verwandelt. Gleichzeitig bildete sie ihre Mischlingshündin Ronja zum Rettungshund aus. Sie genoss es, Freundinnen zu haben, mit denen sie etwas unternahm. Außerdem kam Tom vorbei, wann immer sein Dienstplan und seine Fälle es zuließen. Viola und ihre Freunde liebten Tom, der beim Spielen mit ihnen oft selbst zum Kind mutierte. Seit ihrem letzten Kriminalfall, den sie gemeinsam gelöst hatten, standen sie vor einem Wendepunkt. Je länger sie die Entscheidungen vor sich herschob, desto höher türmten sie sich vor ihr auf, und am Ende würde sie alles verlieren. Dafür brauchte sie keine Therapeutin.
Sie starrte die schwarz glänzende Limousine an, an der die Regentropfen abperlten und vor der Luan stehen blieb. Kaum dass sie das Gebäude verlassen hatten, hatte er einen breiten Regenschirm aufgespannt, unter dem Viola und er mühelos Platz fanden. Er hatte den Versuch unternommen, den Schirm über sie zu halten, doch stattdessen hatte sie sich die Kapuze ihrer Jacke übergezogen. Sie reichte Luan den Koffer, den er zusammen mit dem Rucksack im Kofferraum verstaute. Er öffnete für ihre Nichte die hintere Tür. Unter dem Kindersitz lag eine Decke, sodass das schwarze Leder keine Kratzer oder Schmutz abbekam. Viola drehte sich zu ihr um. Das Grinsen in ihrem Gesicht verschwand. Die Pupillen groß und rund, sah sie Fee an. Fee trat zu der Tür, die Luan mit Schirm in der Hand weiter offen hielt.
»Kletter rein. Ich schnalle dich an.« Sie passte die Gurte an Violas Größe an.
»Bestimmt hat deine Oma schon einen riesengroßen Tannenbaum aufgestellt.«
»Ich will nicht nach Kanada.«
»Oh, das wird bestimmt ein großes Abenteuer. Ich habe gehört, dass in Whistler jede Menge Schnee gefallen ist.«
»Aber ich kann gar nicht so gut Skifahren wie Julia.«
»Du darfst nicht vergessen, dass ihre Schwestern sie von klein an mitgenommen haben. Außerdem fand ich, dass du die Kurven klasse hinbekommst.«
»Paul hat gesagt, dass ich in eine Skischule gehe.«
Fee atmete tief durch. Statt ihre Lippen zusammenzupressen, zwang sie sich, sie auseinanderzuziehen. Vor ihrem inneren Auge sah sie genau, wie der Urlaub ablaufen würde: Paul, seine Eltern und wer sonst noch alles mitkam, amüsierten sich köstlich beim Skifahren. Viola hingegen würde jeden Morgen in einer Skischule abgegeben werden. Womöglich hatten Oma und Opa ein Kindermädchen engagiert, das abends auf sie aufpasste, während die restliche Familie Köhler ihre Zeit mit Abendessen in angesagten Restaurants verbrachte, um neue Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Sie hoffte, dass Viola rasch eine Freundin finden würde. Eine falsche Hoffnung, denn ihre Nichte zählte nicht zu den Kindern, die leicht Freundschaften schlossen.
»Oh, wer weiß, dann wirst du am Ende sogar besser fahren als Julia.«
Violas Augen füllten sich mit Tränen. »Kannst du nicht mitkommen?«
»Und was ist mit Ronja?«
»Die kann auch mit.«
»Du weißt, dass sie kein Flughund ist. Möchtest du, dass sie für den Flug in einem Käfig eingesperrt wird?«
»Aber Opa hat doch das Flugzeug gechartert.«
»Dennoch wäre sie aus Sicherheitsgründen in einer Box eingesperrt und müsste für den Flug sediert werden, damit sie keine Panik bekommt.«
Fee klemmte sich die Haut beim Verschließen des Anschnallgurts ein. Es kam ihr surreal vor, dass ausgerechnet ihre Schwester in eine reiche hamburgische Kaufmannsfamilie eingeheiratet hatte. Paul war zu dem Zeitpunkt mit Marion von Fürstenberg verlobt gewesen, und die Hochzeitseinladungskarten waren verschickt. Dann war er mit Maja ins Bett gestiegen – oder hatte diese ihn verführt? Egal. Am Ende war sie schwanger. Paul hatte die Hochzeit mit Marion abgeblasen und stattdessen ihre Schwester in einer stillen Zeremonie geheiratet, zum Entsetzen seiner Eltern. Fee hatte seine Exverlobte kennengelernt: eine gebildete Frau mit gepflegtem Äußeren, die in denselben Kreisen verkehrte wie die Familie ihres Schwagers.
Fee küsste Viola auf die Nasenspitze. »Dein Papa freut sich riesig darauf, mit dir in den Urlaub zu fahren und Zeit mit dir zu verbringen.«
»Wieso ist der dann nicht zu uns gekommen? Da hätten wir auch Skifahren können.«
»Na, weil es bei uns nicht sicher ist, ob es Schnee gibt.«
»Kannst du nicht bleiben, bis wir fliegen?«
Soweit es der Gurt zuließ, umarmte sie Viola, die ihren Kopf an ihren Hals vergrub. Fee kämpfte mit den Tränen. Sie hielt nichts von Weihnachten und hatte den Trubel um das Fest nie verstanden. Dieses Jahr hatte sie zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum für die Adventszeit aufgestellt, nicht freiwillig. Tom hatte sich mit Karin, Alfred und Sabine gegen sie verschworen und sie mit dem Baum überrascht. Sie hatte mit den Kindern Weihnachtskekse gebacken und eine Dose bei Alex vorbeigebracht.
Ihre Nachbarin nahm das Geschenk wie üblich nonchalant entgegen und brachte eine Woche später die leere Keksdose zum Nachfüllen zurück. So lief es immer zwischen den beiden Häusern. Die pensionierte Grundschullehrerin war erst vor vier Jahren in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und hatte schnell gemerkt, dass ihre Backkünste nicht mit ihrer Liebe zu Kuchen und Gebäck mithalten konnten. Ihre verstorbene Lebensgefährtin hatte die häuslichen Aufgaben übernommen, jetzt aß sich Alexandra bei ihrer weitläufigen Familie und den Nachbarn durch. Dafür besaß sie eine unendliche Geduld mit Kindern und schaffte es selbst Julia für die Hausaufgaben zu begeistern.
»Gib deinem Papa einen Kuss von mir.«
Viola zog die Nase kraus. Fee erhob sich. Keine Ahnung, wieso sie das gesagt hatte. Sie schloss die Tür und drehte sich zu Luan, der sie betrachtete. Sie hoffte, dass man ihrem Gesicht nicht ansah, wie schwer ihr der Abschied fiel.
»Ich werde Ärger bekommen.«
»Nein, das werden Sie nicht. Niemand von der Familie Köhler möchte mich in ihrem Haus sehen, und wenn jemand etwas anderes behauptet hat, ist es eine Lüge. Es ist besser so, glauben Sie mir.«
»Sie sind anders als Ihre Schwester.«
»Wir beide waren grundverschieden.«
Sie trat aus dem Schutz des Regenschirms. Luan neigte den Schirm, schüttelte das Regenwasser ab, klappte ihn zu und verstaute ihn im Kofferraum. Er stieg auf den Fahrersitz und fuhr los. Fee sah dem Fahrzeug nach. Sie hob die Hand und winkte, ohne zu wissen, ob ihre Nichte hinter den verdunkelten Scheiben ihre Geste spiegelte. Sie blieb stehen, bis die Rücklichter im vorweihnachtlichen Verkehr von Hamburg verschwanden. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von der Wange. Das schlechte Gewissen nagte an ihr, doch sie würde niemals die Schwelle der Köhler-Villa übertreten. Niemals.
* * *
Sie klingelte an dem nachbarlichen Fachwerkhaus mit der grünen Holztür. Ihren Rucksack hatte sie vor ihrer Eingangstür gelassen. Alex öffnete ihr. Fee fiel in die Hocke. Mit leisem Winseln, die Ohren dicht an den Kopf gelegt und mit dem gesamten Körper wackelnd, leckte Ronja ihre Hände. Sie verbarg ihr Gesicht im weichen Fell ihrer Hündin.
»Wie sie das gemerkt hat.« Unglaube klang in Alex´s Worten mit. Fee hob den Kopf, und ihre Nachbarin sah die Frage in ihren Augen. »Sie hat aufgepasst und jeden mit Bellen angekündigt. Josephine hat sich zu Tode erschrocken. Du kennst doch noch meine Großnichte?«
»Ja klar. Wer könnte die vergessen. Ist sie noch immer ein Fan von Harley Quinn?«
»Nein. Das hat sie hinter sich gelassen. Zum Glück.«
»Ich finde das sie ein gutes Vorbild ist.«
»Das ist nicht dein Ernst. Sie ist eine durchgeknallte Schurkin, die diesen Psychopathen mit Jokergesicht vergöttert.«
»Sie ist ein Opfer, das sich aus seiner Opferrolle befreit hat und zu einer starken Frau wurde, auch wenn sie am Ende die falsche Seite wählt.«
Alex musterte sie. »Diskutieren wir gerade über eine Comic-Figur, die der reinen Fantasie entsprungen ist?«
Fee seufzte. Sie streichelte mit festem Druck das Gesicht von Ronja mit beiden Händen entlang. Die Hündin liebte das, genauso wie ihren engen Bademantel, den sie anbekam, wenn sie völlig durchnässt vom Regen war. Alex öffnete die Tür weiter.
»Komm rein. Regina hat mir einen selbstgemachten Birnenlikör geschenkt. Warm schmeckt er besonders gut.«
»Wenn ich stattdessen einen Tee haben könnte?«
»Papperlapapp. Nach dem Erhitzen ist da kaum mehr Alkohol drin.«
Fee schälte sich aus ihrer Jacke und zog die Schuhe aus. »Wer’s glaubt, wird selig«, brummte sie.
»Höre ich da gerade Blasphemie aus deinem Mund?«
»Weder gehe ich zur Kirche, noch gehöre ich einer religiösen Glaubensgemeinschaft an.«
»Umso schlimmer. Abgesehen davon erklärt das einiges. Ich dachte, Viola hätte keine Ahnung von Weihnachten, weil sie aus dem Norden stammt.«
»Dann warst du es, die ihr die Betlehem-Geschichte erzählt hat?«
»Geschichte oder historische Tatsache, wer kann das unterscheiden?«
»Wenn du mich fragst, ist das Buch, das ihr Katholiken Bibel nennt, voller erfundener Geschichten.«
»Nicht nur die nennen sie so. Du darfst nicht vergessen, dass das Volk damals ungebildet war. Seit Beginn der Zeit haben die Menschen sich Geschichten erzählt, um damit ihr Wissen zu vermitteln und zu unterhalten. Setz dich.«
Fee betrat die gute Stube mit dem Kachelofen. Sie nahm auf der Bank Platz. Ronja rollte sich unter dem Tisch zusammen und legte den Kopf auf ihren Fuß. Im Ofen verglühten zwei Holzscheite. Von den Kacheln strahlte eine Wärme ab, die Fee dazu veranlasste, ihren Pulli auszuziehen. Überall waren Weihnachtsengel aus Tontöpfen, Weihnachtsmänner-Gesichter in Holzstümpfen sowie Girlanden aus getrockneten Orangenscheiben verteilt. Lichterketten in Glasbehältern mit Weihnachtskugeln erzeugten ein sanftes Licht. Die ganze Stube roch nach Zimt, Orange und einem Hauch von Muskat. Es weckte Kindheitserinnerungen aus der Zeit vor dem tödlichen Unfall ihrer Eltern. Ihre Mutter hatte Weihnachten geliebt, im Gegensatz zu ihrer Tante. Ein sentimentales Fest, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ihr Onkel hingegen hatte ihnen heimlich Adventskalender geschenkt, die sie geschickt vor ihr versteckten. Seltsam, dass sie sich ausgerechnet heute daran erinnerte.
»Da wären wir.« Alex stellte einen Becher Tee vor Fee ab sowie ein kleineres Glas, aus dem süßlicher Zimtduft dampfend hochstieg, und nahm ein zweites mit zu ihrem Platz.
»Ich möchte dich ja nicht zum Alkohol verführen. Pfefferminztee ist der einzige, den ich im Haus habe. Ich schaffe auch ein zweites Glas von dem köstlichen Likör.«
Fee nahm den Becher in ihre Hände, die trotz der Wärme in der Stube kalt waren. Alex nippte an ihrem Likör.
»Und hat Paul auf dem Bahnsteig auf Viola gewartet?«
»Nein.«
»Wusste ich es doch. Lass mich raten, du musstest ein Taxi nehmen.«
»Nein, ein Chauffeur hat auf uns gewartet.«
»Ein Chauffeur? Ich fasse es nicht. Aber du hast Viola nicht mit ihm allein fahren lassen?«
Fee senkte den Blick und starrte in den Tee. »Doch.«
»Wie bitte?«
»Doch.«
»Also ehrlich, Fee. Wie konntest du nur. Du kanntest den Mann doch überhaupt nicht. Ist dir klar, was in so einer Großstadt alles für Gefahren für so ein kleines Mädchen lauern? Ich dachte, dass gerade du so etwas weißt. Tom würde dir gehörig den Kopf waschen, wenn er das wüsste.«
»Sie kannte ihn, und wenn ich mitgefahren wäre, dann hätte ich womöglich dort bleiben müssen.«
»Ronja hätte es auch eine Nacht ohne dich überstanden.«
»Aber ich hätte es nicht geschafft.«
Alex öffnete den Mund, schloss ihn wieder und nippte an dem heißen Likör. Es duftete verführerisch. Fee griff nach dem Glas und kostete davon. Die Süße der Birne verteilte sich in ihrem Mundraum. Sie schmeckte nur einen Hauch von Alkohol heraus.
»Kinder brauchen nicht nur Liebe. Sie benötigen Geborgenheit und Sicherheit. Dass sie sich auf Erwachsene verlassen können. All das kann Paul Viola nicht geben, und das weißt du.«
»Sie ist seine Tochter.«
Alex schnaubte. »Aber nur, was die Gene betrifft. Er empfindet sie als Belastung. Als jemanden, um den er sich kümmern muss, für den er Verantwortung trägt, doch im Grunde zeigt er jeden Tag, dass er froh ist, dass du die Verpflichtung übernommen hast. Es ist an der Zeit, dass ihr reinen Tisch macht und ehrlich darüber redet. Es kann so nicht weitergehen. Viola ist bei dir Besser aufgehoben und deshalb sollte das rechtliche Verhältnis geklärt sein. Schluss bin dieser seltsamen Zwischenlösung.«
»Geht so etwas überhaupt?«
»Selbstverständlich. Ich habe es selbst erlebt, dass eine Oma das Sorgerecht für ihren Enkelsohn übertragen bekam weil ihre Tochter nicht in der Lage war, sich um ihn zu kümmern. Es läuft über das Jugendamt, die stellen sicher, dass das Kindeswohl im Vordergrund steht. Stabile Verhältnisse sind für ein Kind wichtig. Viola leidet unter der Unsicherheit.«
»Hat sie dir das erzählt?«
»Nein. Das würde sie nie. Sie hat ihrem Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie hat das Gefühl, ihn zu verraten, weil sie es nicht schafft, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Tom ist für sie eher eine Vaterfigur als Paul.«
»Abgesehen davon, dass es dafür sein Einverständnis braucht, was würde das genau bedeuten? Wäre er dann noch ihr Vater?«
»Er kann dieselbe Rolle in ihrem Leben spielen wie bisher.«
Fee versuchte, in Alex Augen zu lesen, welche Absicht hinter ihren Worten steckte, ein hoffnungsloses Unterfangen.
»Nämlich?«
Alex grinste. »Die des reichen Samenspenders, der jede Menge Kohle gibt, weil er keine Ahnung hat, wie er sonst seine Gefühle zeigen soll.«
»Das ist traurig.«
»Das ist es. Aber er ist nicht deine Baustelle, vergiss das nicht.«
Fee lag mit offenen Augen im Bett. Das Gespräch mit Alex hatte sich fest in ihren Gehirnwindungen verfangen. Ihr war nie der Gedanke gekommen, dass die rechtliche Möglichkeit existierte, langfristig für Viola das Sorgerecht zu erhalten, mit dem Einverständnis ihres Schwagers. Seit dem Tod von Maja hatte sie die Verantwortung für ihre Nichte faktisch getragen. Sie hatte versucht, eine Distanz zu bewahren, damit ihr nicht das Herz zerbrach, wenn Paul sie nach den ursprünglich vereinbarten sechs Monaten wieder zu sich holte. Es war ihr nicht gelungen. Inzwischen waren zweieinhalb Jahre vergangen, in denen sie für ihre Nichte die Ersatzmutterrolle übernommen hatte.
Fee drehte sich auf die linke Seite. Der Mond schien durch das Fenster und tauchte das Zimmer in silberfarbenes Licht. Sie hatte nicht das Recht, Paul seine Tochter zu nehmen. Viola war alles, was ihm von Maja geblieben war. Sie hatte gehofft, wenn er aus Singapur zurückkehrte, dass er mehr Zeit mit ihr verbringen würde. Doch dann war der kaufmännische Geschäftsführer des Unternehmens gestorben, und Paul hatte dessen Position und die Gesellschaftsanteile übernommen. Eine riesige Verantwortung, längere Arbeitszeiten und häufigere Geschäftsreisen. Statt Nähe aufzubauen, hatte sich die Distanz zwischen Tochter und Vater vergrößert.
Fee drehte sich auf die rechte Seite. Sie sah ihren eigenen Schatten an der Wand. Sie lauschte auf die Geräusche im Haus. Es war nie still in einem Fachwerkhaus. Es knackte im Gebälk. Sie hörte Ronja leise winseln. Vermutlich jagte sie in ihren Träumen ein Eichhörnchen den Baum hinauf. Es war seltsam, dass Hunde träumten. Sie versuchte sich vorzustellen, ob es einen Unterschied darstellte, wenn Viola ihre Tochter wäre. Paul hatte ihr zum dritten Mal das Sorgerecht für sein Kind übertragen. Was bedeutete, dass sie alle Entscheidungen traf, ohne seine Unterschrift zu benötigen. Sei es für Schulausflüge, Vereinsbeitritte oder medizinische Notfälle. Sie hatte ihn nicht darüber informiert, dass sie auf den Namen ihrer Nichte einen ETF-Sparplan angelegt hatte. Darauf floss das Haushaltsgeld, das ihr Schwager ihr monatlich zur Verfügung stellte. Sie brauchte für das Haus keine Miete oder städtischen Gebühren zu zahlen. Die Nebenkosten für Strom und Heizung übernahm sie, genauso wie die Lebenshaltungskosten für sie beide. Dafür reichten ihr die Mieteinnahmen aus der Eigentumswohnung in Hattingen sowie die Dividenden aus ihrem Anlageportfolio. Das Leben auf dem Land war günstig im Gegensatz zur Stadt. Es gab nur wenige Möglichkeiten, sein Geld auszugeben. Die Natur und frische Luft gab es umsonst.
Fee drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie starrte an die Decke. Na super. Das kam davon, wenn man vor dem Schlafengehen Alkohol trank. Dann kamen die Gedanken gar nicht mehr zur Ruhe. Nichts. Es würde sich rein gar nichts ändern. Paul hatte durch die Übertragung des Sorgerechts an sie alle elterlichen Verpflichtungen an sie abgegeben. Hey, brauchte er womöglich sogar ihr Einverständnis, um mit Viola nach Kanada zu fliegen? Vermutlich nicht. Ein seltsamer Gedanke, der bisher nie gekommen war.
Fee seufzte und stand auf. Ronja blinzelte in ihrem Körbchen. Mit einem Stöhnen rollte sie sich vom Rücken auf den Bauch, kam mit den Vorderpfoten aus dem Hundekorb und dehnte sich ausgiebig. Kein Wunder, dass es eine Yogaposition mit dem Namen herabschauender Hund gab. Die Tiere wussten, wie man in Schwung kam.
Fee zog ihre Hüttenschuhe an und tapste nach unten in die Küche, gefolgt von Ronja. Ohne einen Schlaftee würde sie keine Ruhe bekommen. Die Hündin rollte sich mit einem Brummen auf der Decke in der Ecke beim Küchentisch zusammen. Fee nahm die Dose mit dem Tee aus ihrer Schublade. Sie öffnete den Deckel und sog tief den Duft der Kräuter ein. Eine lose Abendteemischung aus dem Laden Moonpower. Sie füllte ein Teesieb mit der Mischung, hängt es in den Becher und schüttete heißes Wasser darüber. Den Küchenwecker stellte sie auf acht Minuten. Ihre Neigung zur Hilfsbereitschaft führte dazu, dass sie das Gefühl hatte, dass ohne sie nichts funktionierte. Aber diese Entscheidung würde ihr restliches Leben beeinflussen. Kinder hatten genauso wenig in ihrer Lebensplanung gestanden wie ein fester Partner. Maja war der Familienmensch gewesen, diejenige, die von einem Ehemann und einer weißen Hochzeit träumte.
Fee sah aus dem Küchenfenster. Sie betrachtete die Weihnachtsdekoration der Familie Brieden. An jedem Fenster gab es einen Engel oder einen Weihnachtsmann. Jeder Busch, das Balkongeländer, ja selbst vor dem Haus stand eine große eiserne Laterne, die mit dem Licht der vielen Glühbirnen leuchtete. Karin besaß ein Händchen für Dekorationen. Jede Jahreszeit wurde zelebriert.
Der Wecker rasselte. Fee nahm das Teesieb aus dem Becher und stellte es in die Spüle. Sie lehnte sich an die Küchenzeile und pustete, bevor sie an dem heißen Getränk nippte. Sie sah einen Schatten durch ihren Garten schleichen in Richtung Nachbargrundstück. Fee öffnete das Küchenfenster, dann erkannte sie, wer durch das Gebüsch schlich. Unmöglich, dass Grit unbemerkt ins Haus gelangen würde. Das Mädchen fror ein, kaum dass das Gartenlicht anging. Karin erschien auf der Terrasse.
»Weißt du, wie spät es ist?«
Wenn ihre Nachbarin Karin es darauf anlegte, konnte sie einen strengen Ton anschlagen. Bei Grit, ihrer ältesten Tochter, kam das häufig vor. Julia hingegen, das Küken der Familie, manövrierte sich geschickt durch die Klippen elterlicher Vorschriften. Ihr nahm man nie etwas übel. Ob es Maja damals genauso ergangen war wie Grit?
Sie packte den Griff des Fensters, um es zu schließen. In dem Moment sprang die Nachbarskatze mit einem eleganten Satz auf das Fensterbrett. Er quetschte sich durch den schmalen Spalt. In dieser Katze steckte ein Dämon. Normalerweise jagte er nachts Mäuse, Vögel oder verteidigte sein Revier gegen Eindringlingen. An den Spitzen seiner Ohren hingen Eiskristalle, genauso wie an den Schnurrbarthaaren. Sie schloss das Fenster.
»Deinetwegen hatte ich fast einen Herzinfarkt. Ist es dir draußen zu kalt?«
Bartimäus plusterte sich auf und legte sich auf die Fensterbank. Seine Augen blieben auf das Geschehen im Garten geheftet.
»Verstehe. Dir ist gerade zu viel los. Das verjagt dir die Mäuse.«
Ein dunkles Schnurren ließ seinen gesamten Körper vibrieren. Fee streichelte über sein seidig weiches Fell. Eine weitere Abweichung in ihrem Leben. Sie war eine Hundeliebhaberin und kein Katzenmensch.
* * *
Seltsam, wie sich die Geschwindigkeit eines Tages an einem Feiertag veränderte. Alles lief langsamer. Fee lag gemütlich mit einer kuscheligen Wolldecke auf der Couch und las einen Liebesroman. Neben ihr stand ein Glas mit Wasser, ein Becher mit schwarzem Kaffee und vier Vanillekipferl, die sie mit Viola gebacken hatte. Auf ihrem Smartphone poppte eine weitere Nachricht auf. Diesmal von Tom. Er hatte über Weihnachten Dienst.
Bleibt es beim 26.?
Wieso, hast du es dir anders überlegt?
Nein. Mama. Sie zweifelt an deinem Kommen.
Macht sie ihren Panettone?
Wäre es sonst Weihnachten?
Dann bin ich da.
Wie? Nichts mit ich verzehre mich nach dir? Nur die Aussicht auf den Panettone?
Sie lächelte. Ihr Finger schwebte über dem Display. Doch ihr fiel keine witzige Antwort ein. Sie erinnerte sich an ihre kurze Zeit in Berlin. Der Besuch des Restaurants einer seiner vielzähligen Cousinen. Die Andeutungen. Die Atmosphäre. Ihren Wunsch, seine Nähe zuzulassen. In Toms Lebensplanung stand eine Familie mit allem Drumherum. Sie liebte ihn, aber war sie für diese weitere Änderung in ihrem Leben bereit? Und was, wenn die Beziehung nicht funktionierte? Verlor sie dann nicht ihren allerbesten Freund? Ein weiteres Ping.
Hat mit Viola alles geklappt?
Ja. Sie ist in Hamburg bei Paul. Sie fliegen morgen nach Kanada zum Skifahren.
Na, zum Glück hat sie letztes Jahr die Skischule besucht.
Sie wollte nicht mit. Sie wollte hierbleiben.
Sie starrte auf das Display und wartete auf eine Antwort von Tom. Er ließ sich Zeit. Kein Wunder. Die Einladung bei der Familie hatte für sie und Viola gegolten. Ursprünglich hatte Paul geplant, zwischen den Feiertagen mit Nour ein neues Konzept für den Vertrieb auszuarbeiten. Kurzfristig änderte er seine Pläne. Sie hatte keine Ahnung weshalb. Er bestand darauf, dass Viola Weihnachten in Hamburg verbrachte und er sie mit in den Urlaub nahm. Pünktlich am sechsten Januar wären sie zurück. Am Siebten fing die Schule wieder an. Ihre Finger schwebten über dem Display. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Tom war ihr bester Freund. Wenn sie mit jemandem ihre nächtlichen Gedanken teilte, dann mit ihm.
Alex hat etwas gesagt.
Was dich beschäftigt?
Ja.
Was hat sie gesagt?
Dass Kinder Sicherheit und Geborgenheit brauchen.
Du hast für Viola ein Nest gebaut.
Was wenn es keine vorübergehende Lösung wäre, sondern eine endgültige?
Sie starrte auf das Display, wartete auf die Antwort. Ihre Hände schwitzten. Eine Ewigkeit verging, bevor die drei Punkte erschienen.
Eine schwerwiegende Entscheidung. Bist du dir sicher?
War nur so eine Idee.
Viola liebt dich. Du bist ihr safe haven. Paul ist ihr Vater, und es würde für sie einen Konflikt bedeuten. Eine Frage der Loyalität.
Du denkst, es ist falsch.
Ich weiße es nicht. Faktisch ist es der Fall, seit Maja gestorben ist. Ich verstehe deine Beweggründe dahinter. Aber ist dir die Konsequenz bewusst?
Bei mir klingelt es an der Tür. Bis Donnerstag.
Eine glatte Lüge. Sie aktivierte den Startbildschirm auf ihrem Smartphone und stellte es auf: nicht stören. Blöd, blöd, blöd. Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie sprang auf und tigerte in der Wohnung herum. Ronja öffnete die Augen und verfolgte ihre ruhelose Wanderung durch das Wohnzimmer. Sie stoppte und holte sich ein Puzzle aus dem Schrank – das half immer.
* * *
Fees Smartphone spielte ein klassisches Klavierstück ab. Ihr Wecker für den Anruf bei Viola. Sie wählte aus ihren Favoriten Pauls Nummer. Es klingelte durch bis zur Voicemail. Sie runzelte die Stirn, glich ihre Nachrichten ab und die vereinbarte Zeit. Vier Uhr nachmittags Heiligabend. Ein weiteres Mal rief sie ihn an. Diesmal kam ein Besetztzeichen. Sie stand auf, tigerte durch das Wohnzimmer. Es fiel ihr schwer, die Unruhe abzuschütteln, die sie erfasste. Albern schimpfte sie vor sich hin. Sie schlug den Weg in die Küche ein, holte sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit kaltem Wasser. Ihr Smartphone vibrierte. Paul.
»Frohe Weihnachten.«
»Tut mir leid. Ich war gerade in einem Telefonat mit Nour.«
»Gibt es Probleme, in der Firma?«
»Nein.« Das klang knapp. »Viola.«
Im Hintergrund hörte sie das Stimmgewirr von vielen Leuten. Eine Band spielte moderne Weihnachtslieder.
»Ich dachte, ihr würdet zu Hause feiern?«
»Hatten wir auch vor. Doch dann kam eine Einladung von den von Fürstenbergs. Warte, sie muss hier irgendwo sein.«
»Die Bescherung findet bei ihnen statt?«
»Nein. Wir verlegen sie auf morgen früh. Ist ja kein Drama. Merle, hast du Viola gesehen? Ihre Tante möchte sie sprechen.«
Fee hörte die Antwort nicht, weil Paul das Gespräch auf Halten gesetzt hatte. Sie setzte sich an den Küchentisch. Mit den Fingern trommelte sie auf die Platte.
»Sorry, Feline, aber können wir den Anruf nicht auf morgen verschieben?«
»Nein. Ich habe Viola versprochen, dass wir heute telefonieren.«
»Sie ist kein kleines Baby mehr.«
»Wo ist sie?«
»Sie spielt irgendwo. Das Haus ist groß.«
»Paul!«
Der Lärm verebbte. Ihr Schwager schien einen anderen Raum betreten zu haben. »Hier bist du. Wieso versteckst du dich? Ich habe dich überall gesucht. Du weißt doch, dass Feline anrufen wollte. Hier. Und wenn du fertig telefoniert hast, möchte ich dich wieder bei der Feier sehen. Es geht nicht, dass du im Haus der Fürstenbergs umherwanderst. Das gehört sich nicht.«
Fee hörte, wie eine Tür geschlossen wurde.
»Viola?«
»Ja.«
Fee atmete tief durch. »Lass mich raten, du bist in der Küche?«
»Nein. Es gibt eine Bibliothek. Marion hat sie mir gezeigt und mir Kinderbücher gegeben. So bin ich aus dem Weg und störe nicht.«
»Du und stören? Was für ein Quatsch. Sagt ihre Mutter das?«
Nur selten erwähnte ihr Schwager Konstanze von Fürstenberg. Doch wann immer er über sie sprach, hatte sie das Bild einer stocksteifen, erzkonservativen Person vor sich. Fee lauschte angestrengt. Am anderen Ende blieb es still.
»Viola? Bist du noch da?«
»Schneit es bei uns?«
»Es ist kalt, und heute Morgen hat es geregnet. Ronja und ich sind klatschnass geworden. Die doofe Nuss hat sich geschüttelt, bevor ich ihr den Bademantel anziehen konnte. Lotta sah jedoch viel schlimmer aus. Ich bin froh, dass Ronja nicht weiß ist.«
Am anderen Ende hörte sie ein Kichern. Fee versuchte bewusst, ihre Muskeln zu entspannen.
»Ist Julia mit dir gegangen?«
»Nein. Marlene. Julia ist zu aufgeregt. Wie ist es bei dir? Bist du aufgeregt?«
»Wir machen heute keine Bescherung.«
»Gibt es noch andere Kinder auf der Feier?«
»Ein paar.«
»Spielt ihr zusammen?«
»Nö.«
»Warum nicht?«
»Die spielen an ihren Smartphones oder schauen einen Film, der nur für Große ist.«
Fee schloss die Augen. Am liebsten hätte sie sich ins Auto gesetzt, wäre nach Hamburg gefahren, um ihre Nichte abzuholen.
»Marion fährt auch mit nach Kanada und ihr Bruder Maximilian mit seiner Familie. Finn, sein Sohn, ist so alt wie Marlene, aber ganz anders. Merle, seine Schwester, ist eigentlich okay, aber total alt.«
»Wie alt ist denn total alt?«
»19. Sie hat einen Freund, der auch mitkommt, und die zwei knutschen die ganze Zeit herum. Er hat ihr sogar die Hand unter ihren Pullover geschoben, dabei sollte sie auf mich aufpassen.«
»Soll ich mit Paul sprechen und dich abholen?«
Die Stille am anderen Ende dehnte sich. Fee biss sich auf die Zunge. Sie trug eine Mitschuld daran, dass sich die beiden immer weiter voneinander entfernten. Sie und ihre Bereitschaft, sofort einzuspringen, wenn es zwischen Vater und Tochter ein Problem gab.
»Paul freut sich auf mein Gesicht, wenn er mir sein Geschenk überreicht. Oma hat gesagt, er hat sich viele Gedanken gemacht. Hat er dich gefragt?«
»Nein.«
»Und Nour?«
Ihre Nichte besaß ein feines Gespür. Zwischen ihr und Nour hatte sich ein tiefes Band gebildet. Zwei Seelen, die einen geliebten Menschen verloren hatten. Außerdem verbrachten Paul und seine Vertriebsleiterin viel Zeit miteinander.
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Ich bleibe. Frohe Weihnachten, Fee.«
»Frohe Weihnachten, Viola, und du weißt, dass du mich jederzeit anrufen kannst.«
Ihre Nichte beendete das Gespräch ohne ein weiteres Wort. Kurz überlegte sie, die Nummer erneut zu wählen und Paul den Kopf zu waschen. Aber er kannte sie inzwischen. Er würde ihre Anrufe ignorieren oder sein Smartphone komplett auf stumm stellen. Puh, was für ein Geschenk hatte er ihr diesmal gekauft?
* * *
In der Kirche war es stockdunkel. Karin hatte sie abgeholt, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, den Heiligabend bei Familie Brieden zu verbringen. Sie schaffte es nicht, ihrer Freundin eine weitere Abfuhr zu erteilen.
»Danke, dass du mit mir kommst.«
»Darf ich überhaupt in die Kirche gehen?«
Karin hakte sich bei ihr ein. »Ja, logisch. Immerhin könnten wir dich evangelisieren. Ein verlorenes Schäfchen, das wir zur Herde zurückholen.«
»Dafür müsste ich katholisch gewesen sein, und das war ich nie. Meine Eltern hielten nichts von den kirchlichen Institutionen.«
»Hast du was von Viola gehört?«
»Wir haben heute Nachmittag miteinander telefoniert.«
»Ist sie aufgeregt wegen Kanada?«
»Nein, darüber haben wir nicht gesprochen. Sie klang einsilbig.«
»Sie hat sich so darauf gefreut, Weihnachten hier zu verbringen. Julia hat angeboten, mit ihr zu tauschen.«
»Das hat sie nicht.«
»Doch.« Karin seufzte, und obwohl Fee ihr Gesicht nicht sah, wusste sie, dass sie die Augen verdrehte. »Dieses Kind ist nicht von uns. Ich schwöre es dir. Jemand hat sie im Krankenhaus ausgetauscht.«
»Sie ist deiner Mutter ähnlich.«
»Gott im Himmel bewahre uns davor.«
»Also, wie läuft das Ganze ab?«
»Lass dich überraschen.«
»Dir ist klar, dass ich null Ahnung habe, wie so eine Liturgie abläuft.«
Karin hielt inne und drehte sich zu ihr. »Wow, ich bin beeindruckt. Du kennst den Begriff für den Ablauf eines Gottesdienstes.«
Fee bemerkte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Ihre Freundin lachte.
»Du hast recherchiert.«
Die Glocken fingen an zu läuten. Ein wohltönender, warmer Klang von tiefen und hellen Tönen. Karin hakte sich wieder unter.
»Jetzt müssen wir uns beeilen, sonst bekommen wir keinen Platz mehr hinten, und du musst mit mir in der ersten Reihe sitzen.«
»Auf keinen Fall.«
In der Kirche herrschte Dunkelheit, so wie draußen. Der Geruch von Weihrauch hing in der Luft. Sie waren vom Marktplatz die Treppe hoch durch das seitliche Portal in das linke Seitenschiff getreten. Karin zog sie zu einer der vorletzten Reihen, in der ihre Mutter und ihre Schwester saßen. Sie überließen Fee den Platz an der Wand. Sie setzte sich, ihre Freundin hingegen kniete sich hin und faltete die Hände. Husten. Rascheln. Das Öffnen der Tür und wieder das Schließen. Ein dicker Vorhang verhinderte, dass die kalte Luft von draußen in die Kirche drang.
Fee stellte fest, dass auf ihrer Seite überwiegend Frauen saßen. Vorne, neben dem Mittelgang, stand die Figur der Mutter Gottes mit dem Jesuskind im Arm. Die Kirche war in drei Abschnitte unterteilt: In der Mitte der breite Hauptgang, der vom Altar bis nach hinten zum Turm führte. Links und rechts davon jeweils längere Sitzbänke, dann ein schmaler Gang und dahinter kürzere Bänke, die bis an die Wände reichten. Auf der rechten Seite saßen vorwiegend Männer. Ihre vorderste Bank stand vor der Figur des gekreuzigten Jesus.
Dicke Säulen trugen das Dach, auf ihnen waren biblische Szenen gemalt. Doch statt eines prunkvollen Himmels mit Engeln, Sternen und kunstvollen Ornamenten entdeckte Fee überall Pflanzen – an den Wänden, auf den Säulen, sogar an der Decke. Die Kirche hatte etwas Ursprüngliches. Schlicht und naturverbunden.
Helle Glocken ertönten. Alles erhob sich. Fee drehte den Kopf nach hinten in den Turm. Die Orgel setzte ein. Langsam zog der Pastor mit seinen Messdienern von dem dortigen Eingang in die Kirche ein. Weihrauch erfüllte die Luft. Die Menschen hoben an zu singen, und Fee bekam eine Gänsehaut. Diese kirchlichen Rituale besaßen etwas Mythisches.
Am Ende der Liturgie blieben die Leute draußen stehen. Sie tauschten ein paar Worte und wünschten sich frohe Weihnacht. Einige neugierige Blicke trafen Fee, die scheu neben ihrer Nachbarin stand. Sie kam sich fehl am Platz vor und trat langsam den Rückweg an. Ihre Freundin holte sie auf halber Strecke ein.
»Und?«
Fee betrachtete Karin belustigt. »Ich gebe zu, es war ein Erlebnis. Gleichzeitig bestätigt es mich in meinem Vorurteil.«
»Das da wäre?«
»Kirchliche Machtausübung. Ich kann verstehen, dass es Menschen Halt gibt, ein Teil der Gemeinschaft zu sein. Feste Regeln und das Wissen um Vergebung, sofern ich zur Beichte gehe. Doch wieso gibt es keine Frauen in der Kirche?«
»Bist du blind? Da waren mehr Frauen als Männer, außerdem hat eine Lektorin aus der Bibel gelesen.«
»Doch Pastorin können sie nicht werden. Mir gefällt das Frauenbild nicht. Die Ausgrenzungen, das Anderssein und die blutige historische Kirchengeschichte, die weit davon entfernt ist, das zu spiegeln, was die Kirche selbst lehrt. Die Gemeindemitglieder sollen nicht selbst denken, sondern den Worten des Predigers sowie der Bibel folgen.«
»Puh. Damit wird es für Viola nicht leicht werden in der Gemeinde.«
»Es ist nie leicht, anders zu sein.«
Fee saß senkrecht im Bett. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Im Zimmer war es dunkel. Dann begriff sie, was sie geweckt hatte. Sie schnappte sich ihr Smartphone und nahm den Anruf an.
»Verdammt, Feline, es ist das fünfte Mal, dass ich versuche, dich zu erreichen. Weißt du, wie spät es ist?«
Sie schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Gestern Abend, am ersten Weihnachtstag, hatte sie sich mit Sabine und Karin getroffen. Ein Mädelsabend, der bis Mitternacht mit Gesprächen gefüllt war. Daran lag es nicht, dass es ihr schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Kaum dass sie von Sabine wieder zu Hause angekommen war, hatte sie eine innere Unruhe ergriffen, die sich nicht abschütteln ließ. Weder mit dem Lesen von Fachliteratur, Puzzeln noch mit Abendtee. Am Ende hatte sie eine Schlaftablette genommen. Sie blinzelte. Paul verlor die Geduld.
»Zehn Uhr. Hast du was getrunken?«
»Nein.« Fee ließ sich zurück in das Kissen fallen. »Wieso rufst du an? Ich dachte, ihr würdet im Flugzeug auf dem Weg nach Kanada sitzen.«
Sie hörte sein hektisches Atmen am anderen Ende. Alarmiert richtete sie sich wieder auf.
»Paul?«
»Ist Viola...«
Fee sprang aus dem Bett.
»Paul.«
»...bei dir?«
Sie klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Kinn und sah sich suchend nach ihren Kopfhörern um. Da, auf der Kommode. Sie griff danach und blieb mit dem Zeh am Fuß des Bettes hängen.
»Scheiße«, fluchte sie. Sie hockte sich auf das Bett und rieb sich den kleinen Zeh. Von dem Schmerz brach ihr der Schweiß aus. »Red mit mir. Wieso sollte sie bei mir sein?«
»Hat sie dich angerufen?«
»Nein. Wo ist sie?«
»Was hast du ihr an Heiligabend am Telefon gesagt? Welche Flausen hast du ihr verflucht nochmal in den Kopf gesetzt?«
»Ich? Flausen? Bist du völlig übergeschnappt? Was ist los? Wo ist sie?«
»Weg.«
Fee erstarrte mitten in der Bewegung. Ein zitroniger frischer Duft zog durch ihr Schlafzimmer. Eisige Kälte berührte sie. Die Angst, die sie erfasste, kam nicht allein von ihr.
»Was meinst du mit weg?«
»Sie ist weg. Abgehauen. Verschwunden. Die anderen sind ohne mich geflogen. Ich habe keine Ahnung, was du ihr erzählt hast. Sie war gestern Morgen total traurig und hat sich nicht mal über ihr Pony gefreut. Das war ihr sehnlichster Wunsch. Also, welche Flausen hast du ihr in den Kopf gesetzt? Himmel Herrgott, ist dir klar, wie dringend ich diesen Skiurlaub brauchte? Weißt du, wie anstrengend mein Job ist? Wie viele Arbeitsplätze damit zusammenhängen?«
»Du hast ihr ein echtes Pony geschenkt?«
»Nicht irgendeins. Es ist ein deutsches Reitpony, das im Bundeschampionat gewonnen hat. Ein Wallach aus den besten Blutlinien.«
»Und wie genau hast du dir vorgestellt, soll das funktionieren?«
»Das ist ja wohl kein Problem bei euch auf dem Land.«
Fee schluckte den Ärger hinunter. Fokussier dich. Sie rieb sich über das Gesicht, lief die Treppe hinunter in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an.
»Hast du im Stall nachgeschaut?«
»Im Stall? Welchem Stall?«
»Na, das Pony muss ja irgendwo stehen, oder habt ihr es mit nach Hause genommen?«
»Es ist echt nicht der richtige Zeitpunkt für deinen Sarkasmus, Feline. Natürlich nicht. Es steht noch bei dem Besitzer.«
»In Hamburg?«
»Blödsinn, in Großmaischeid. Eine Freundin von Britt hat mir das Gestüt empfohlen. Deren Tochter hat in der Dressur viele Preise gewonnen. Die Zucht ist bekannt dafür, dass ihre Ponys ausgezeichnete Sportler sind.«
»Britt vom Empfang?«
»Dort arbeitet sie nicht mehr. Yvette arbeitet sie als meine Assistentin ein.«
»Viola hat noch nie auf einem Pferd gesessen.«
»Kein Grund, ihr nicht die beste Ausbildung zu ermöglichen. Der Wallach ist zehn Jahre alt und ist perfekt für Anfängerinnen geeignet.«
»Sie ist sieben. Jedes Mädchen träumt in jungen Jahren von einem eigenen Pferd. Das bedeutet nicht, dass sie am Ball bleibt, und schon gar nicht, dass sie den Ehrgeiz entwickelt, auf Turnieren zu starten.«
»Dann wird es halt wieder verkauft. Wo ist dein Problem? Ich bin ihr Vater, und es ist mein Geschenk.«
»Wer kümmert sich darum? Du?«
»Nun, das ist alles geregelt. Es gibt einen Stall direkt im Nachbardorf bei dir. Dort steht auch das Pferd von der Tochter von Britts Freundin.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung von Pferden.«
»Dafür gibt es Leute. Können wir uns auf das Wesentliche konzentrieren? Viola.«
»Hast du das Haus abgesucht? Den Garten? Vielleicht hat sie sich nur versteckt, weil sie nicht nach Kanada mitwollte.«
»Welches Kind möchte nicht in einen Skiurlaub nach Kanada?«
»Ohne Gleichaltrige? Nur mit Erwachsenen?«
»Sie wird in der Skischule welche kennenlernen.«
Fee zog sich an. In ihrem Kopf ratterte es. Nur nicht in Panik geraten. Viola war ein vorsichtiges Kind, keines, das mit Fremden mitging – das hatte Tom ihrer Clique oft genug eingebläut. Kurz schob sich das Bild der strahlenden Leyla, die den Applaus auf der Freilichtbühne empfing, in ihre Erinnerungen. Nours Tochter, die einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Rasch verdrängte sie den Gedanken wieder. Das war eine vollkommen andere Situation.
»Was ist mit Marion?«
»Was soll mit ihr sein?«
Fee verdrehte die Augen.
»Ihr wart Heiligabend bei den von Fürstenbergs. Viola liebt Bücher. Sie war in der Bibliothek, als du ihr das Telefon gebracht hast. Sie könnte bei ihr sein. So weit wohnt ihr nicht auseinander.«
Marions Stimme aus dem Hintergrund drang zu ihr. »Sie ist nicht bei uns. Hast du noch eine andere Idee?«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Warte, ich stelle das Telefon auf Lautsprecher, dann kann Marion mithören.«
»Hi Marion. Also, wann habt ihr sie zuletzt gesehen?«
»So gegen neun Uhr Abends ist sie hoch in ihr Zimmer?«
Die Frage von Paul richtete sich an Marion.
»Du wolltest vor dem Schlafengehen nochmal bei ihr nachschauen. Wir sind gegen Mitternacht ins Bett.«
Paul räusperte sich. Marion schwieg.
»Gestern Abend fand bei uns ein gemeinsames Abendessen statt. Marion hat bei uns übernachtet, weil sie morgens mit uns zum Flughafen fahren wollte.«
»Es ist mir egal, ob ihr miteinander schlaft oder nicht. Hast du nach ihr geschaut?«
»Nein.«
»Seid ihr sicher, dass sie ins Bett gegangen ist?«
Wieder sprach am anderen Ende niemand ein Wort.
»Also nein. Informiert die Polizei. Ich brauche mit dem Auto, wenn alles gut geht, vier Stunden. Setzt euch hin und geht den gestrigen Tag von Anfang bis Schluss durch. Jedes noch so winzige Detail kann wichtig sein.«
»Sie ist garantiert auf dem Weg zu dir. Du hast ihr etwas vorgejammert, weil du dich geärgert hast, dass sie Weihnachten nicht bei dir verbringt.«
»Wie genau stellst du dir das vor? Dass sie sich ein Taxi ruft, zum Hauptbahnhof fährt und sich ein Ticket kauft? Woher weiß sie, welche Zugverbindung sie nehmen soll? Von welchem Geld hat sie die Karte bezahlt, und glaubst du ernsthaft, jemandem von der Bahn würde es nicht auffallen, wenn ein Kind ohne Begleitung fährt?«
