Friedens- und Konfliktforschung - Ines-Jacqueline Werkner - E-Book

Friedens- und Konfliktforschung E-Book

Ines-Jacqueline Werkner

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Beschreibung

Das Lehrbuch setzt sich mit zwei Schwerpunkten auseinander: Zum einen wendet es sich weltpolitischen Konflikten zu. Es nimmt deren Ebenen und Akteure, Gegenstände sowie Austragungsformen in den Blick und diskutiert aktuelle Konstellationen. Zum anderen stellt das Lehrbuch zentrale Friedensstrategien vor, die für verschiedene Denkschulen stehen, und debattiert ihre Chancen und Hindernisse.

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Seitenzahl: 396

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Ines-Jacqueline Werkner

Friedens- und Konfliktforschung

UVK Verlag · München

Einbandmotiv: © iStockphoto, bestdesign

PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner ist Leiterin des Arbeitsbereichs Frieden an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg und Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.

 

 

 

© UVK Verlag 2020

‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.de

eMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

 

ISBN 978-3-8252-5443-8 (Print)

ISBN 978-3-8463-5443-8 (ePub)

Inhalt

VorwortPart I: Frieden – Begriffliche Vorüberlegungen1 Zum Begriff des Friedens1.1 Gewalt und Frieden bei Johan Galtung1.2 Frieden – mehr als die Abwesenheit von Krieg?1.3 Frieden – eine Utopie?1.4 Friede als Weltfriede?1.5 Fazit2 Frieden und Sicherheit2.1 Was heißt Sicherheit?2.2 Friedens- versus Sicherheitslogik2.3 Fazit3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis3.1 Zur Normativität der Friedensforschung3.2 Zur Praxisorientierung der Friedensforschung3.3 Zur disziplinären Verortung der Friedensforschung3.4 FazitPart II: Weltpolitische Konflikte – Begriff, Formationen und Austragungsformen4 Konflikt – Konzeptionelle Vorüberlegungen4.1 Zum Konfliktbegriff4.2 Konflikte – unerwünschte Erscheinungen?4.3 Konflikte – komplexe Phänomene4.4 Kriegsdefinitionen4.5 Kriegsursachen4.6 Fazit5 Konfliktebenen und Konfliktakteure – asymmetrische Konstellationen5.1 Symmetrie und Asymmetrie im Konfliktgeschehen5.2 Die neuen Kriege5.3 Kritik der neuen Kriege5.4 Der transnationale Terrorismus5.5 Fazit6 Konfliktgegenstände – zentrale Formationen6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges6.1.1 Der Ost-West-Konflikt6.1.2 Der Nord-Süd-Konflikt6.1.3 Der Nahostkonflikt6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen6.2.1 Konflikte um die internationale Vormachtstellung6.2.2 Ethnonationale Konflikte6.2.3 Innerstaatliche Macht- und Herrschaftskonflikte durch fragile Staatlichkeit6.3 Gewalt durch Klimawandel – ein Konfliktszenario der Zukunft?6.4 Fazit7 Austragungsformen von Konflikten – friedenspolitische Herausforderungen durch neue technologische Entwicklungen7.1 Unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung7.2 Der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung7.3 Die Militarisierung des Weltraums7.4 FazitPart III: Friedensstrategien8 Frieden durch Abschreckung8.1 Der (neo)realistische Zugang zum Frieden8.2 Begriff und Funktionsweise der Abschreckung8.3 Nukleare Abschreckung8.4 Fazit9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation9.1 Der institutionalistische Zugang zum Frieden9.2 Das völkerrechtliche Gewaltverbot und seine Durchsetzung9.3 Humanitäre militärische Interventionen9.4 Die internationale Schutzverantwortung9.5 Systeme kollektiver Sicherheit – ein Mythos?9.6 Fazit10 Frieden durch Demokratisierung10.1 Der liberale Zugang zum Frieden10.2 Der demokratische Frieden10.3 Antinomien des demokratischen Friedens10.4 Frieden als Zivilisierungsprozess – das zivilisatorische Hexagon10.5 Fazit11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden11.1 Der konstruktivistische Zugang zum Frieden11.2 Respekt und Anerkennung11.3 Vertrauen11.4 Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit11.5 FazitPart IV: Zum Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland12.1 Zu den Anfängen der Institutionalisierung der Friedens- und Konfliktforschung – ein kursorischer Überblick12.2 Außeruniversitäre Institute12.3 Außeruniversitäre Institute mit Forschungsschwerpunkten im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung12.4 Universitäre Institute und Zentren12.5 Verbände, Netzwerke und Stiftungen12.6 Fazit13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung14 Zur Publikationslandschaft14.1 Das Friedensgutachten14.2 Fachzeitschriften14.3 Lehr- und HandbücherLiteratur

Vorwort

„Es ist begreiflich, daß die Zeitgenossen die Sache so auffaßten. Es ist begreiflich, daß Napoleon meinte, die Ursache des Krieges liege in den Intrigen Englands […]. Es ist begreiflich, daß die Mitglieder des englischen Parlaments der Ansicht waren, die Ursache des Krieges sei Napoleons Herrschsucht; daß der Herzog von Oldenburg als die Ursache des Krieges die gegen ihn verübte Gewalttat betrachtete; daß die Kaufleute glaubten, die Ursache des Krieges sei das Kontinentalsystem, durch das Europa zugrunde gerichtet werde; daß die alten Soldaten und Generale die Hauptursache des Krieges in der Notwendigkeit suchten, sie wieder einmal zum Kampf zu verwenden, und die Legitimisten in der Notwendigkeit, les bons principes wiederherzustellen; daß die Diplomaten überzeugt waren, alles sei davon hergekommen, daß das Bündnis zwischen Rußland und Österreich im Jahre 1809 vor Napoleon nicht kunstvoll genug verheimlicht worden und das Memorandum Nr.178 ungeschickt redigiert worden sei. Es ist begreiflich, daß diese und noch zahlreiche andere Dinge, deren Menge durch die unendliche Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte bedingt ist, den Zeitgenossen als Ursachen des Krieges erschienen; aber wir Nachkommen, die wir die gewaltige Größe des stattgefundenen Ereignisses in ihrem ganzen Umfang zu überblicken und die wahre, furchtbare Bedeutung dieses Ereignisses zu würdigen vermögen, wir müssen diese Ursachen für unzulänglich erachten.“ (Tolstoj 2015 [1867], S.1056)

Fragen nach Krieg und Frieden standen nicht nur bei Lew N. Tolstojs Werk im Mittelpunkt, sie prägten von jeher die Menschheitsgeschichte. Und auch die heutige Friedens- und Konfliktforschung bezieht ihre Bedeutung aus genau diesen essenziellen Fragen. Für sie ist es insbesondere das Ende des Ost-West-Konfliktes, das strukturell zu einer Zäsur führte. Mit dem Wegfall des Systemantagonismus brachen die bisherige Ausrichtung und darauf basierende Grundlagen der Friedens- und Konfliktforschung weg. Ein neuer Bedarf an friedenswissenschaftlichen und friedenspolitischen Kompetenzen tat sich auf. Dies ist insbesondere der größeren Komplexität der politischen Prozesse angesichts grenzüberschreitender und globaler Konfliktkonstellationen geschuldet. Exemplarisch stehen hierfür die neuen Kriege und der transnationale Terrorismus. Sie erfordern in zunehmendem Maße die Bereitstellung analytischer und praktischer Qualifikationen zu essenziellen Fragen von Krieg und Frieden.

Das vorliegende Lehrbuch reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung und zeigt die derzeitigen friedenspolitischen Herausforderungen auf. Es enthält drei inhaltliche Schwerpunkte: Im Fokus der Analyse steht zunächst – als theoretisches Fundament – der Friedensbegriff mit seinen Dimensionen, seinem Verhältnis zur Sicherheit und seinem Selbstverständnis (Part I). Der zweite Part wendet sich weltpolitischen Konflikten zu. Das umfasst Begriff, Formationen und Austragungsformen von Konflikten. Vor diesem Hintergrund analysiert der dritte Part zentrale Konfliktbearbeitungsmechanismen und zeigt aus der Perspektive der großen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen zentrale Friedensstrategien auf. Abschließend gibt das Lehrbuch einen Überblick über den Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland mit seinen Instituten, Netzwerken und universitären Studiengängen sowie einen Einblick in die friedenswissenschaftliche Publikationslandschaft. Die einzelnen Kapitel des Lehrbuches folgen im Wesentlichen der gleichen Grundstruktur: Für das jeweilige Themenfeld werden zentrale Fragestellungen, Grundbegriffe, theoretische Ansätze und empirische Befunde vorgestellt. Eine annotierte Auswahlbibliografie am Ende jedes Kapitels soll helfen, den Einstieg in die entsprechende Thematik zu erleichtern.

Abschließend möchte ich mich ganz herzlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen des Arbeitsbereichs Frieden der FEST bedanken, die durch ihre Anregungen und die vielen gemeinsamen Diskussionen zum Gelingen dieses Lehrbuchs beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Henrike Ilka, die mir bei den Recherchen, der Literaturbeschaffung sowie dem Korrekturlesen eine große Hilfe war und stets auch für Fragen und Diskussionen zur Verfügung stand.

 

Heidelberg, im Juli 2020    Ines-Jacqueline Werkner

Part I: Frieden – Begriffliche Vorüberlegungen

1Zum Begriff des Friedens

„Der Friede ist als Sehnsucht, Hoffnung, Traum oder Verheißung eine der ältesten Ideen der Menschheit; Friedensforschung jedoch ist erst im Atomzeitalter entstanden“. In dieser Formulierung von Georg Picht (1971, S.13) deutet sich bereits ein gewisses Spannungsverhältnis an: Einerseits war und ist der Begriff des Friedens – anders als andere sozialwissenschaftliche Grundbegriffe – allgegenwärtig: in der Politik, in den Medien und in öffentlichen Debatten. Frieden gilt als hohes, wenn nicht sogar höchstes Gut, nach dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung (2007, S.15) vergleichbar mit der Gesundheit eines Menschen (wie Gewalt mit der Krankheit).1 Vor diesem Hintergrund stelle der Frieden eine zentrale Kategorie der Politik dar: „Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich“ (Sternberger 1986, S.76; vgl. auch Meyers 1994, S.17).2

Andererseits ist die Frage, wie der Frieden inhaltlich zu fassen ist, nach wie vor umstritten. So konstatiert der Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel (2002, S.83), die Friedensforschung habe bis heute keinen geklärten Friedensbegriff, ihr Erkenntnisinteresse sei distinkt, aber diffus. Dieser Zustand lasse sich auf verschiedene Ursachen zurückführen: Zum einen sei die Friedensforschung eine sehr junge Wissenschaftsdisziplin, galt sie bis vor wenigen Jahrzehnten noch als „ungesicherte Disziplin“ (Der Spiegel, 18.08.1969). Zum anderen verzichteten einige Friedensforscher und -forscherinnen sogar ganz darauf, den Begriff des Friedens näher zu bestimmen. Aber auch die mittlerweile in der Friedensforschung gängige Formel „Frieden ist mehr als kein Krieg“ (Rittberger 1977) bleibt diffus, hinterlässt sie doch Fragen nach dem, was dieses „Mehr“ ausmacht. Für Thorsten Bonacker und Peter Imbusch (2006, S.130) wiederum stellt der ungeklärte Friedensbegriff gar kein Manko dar, sondern ist eher Ausdruck „einer lebendigen fachlichen und offenen Diskussion über das Profil der Friedens- und Konfliktforschung“. Dabei bewegt sich die Debatte letztlich vor allem um drei Fragen: (1) Ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg? (2) Ist Frieden eine Utopie? Herrscht erst dann Frieden, wenn die Ursachen für Kriege überwunden und diese nicht mehr möglich sind? (3) Ist Frieden teilbar oder nur als Weltfriede vorstellbar? (vgl. auch Brock 1990, S.72).

1.1Gewalt und Frieden bei Johan Galtung

Als zentral kann die auf Johan Galtung zurückgehende Unterscheidung zwischen negativem und positivem Frieden gelten. Er leitet den Friedensbegriff vom Gewaltbegriff ab (vgl. Schaubild 1). Ausgangspunkt ist der „Doppelaspekt“ der Gewalt (Galtung 1975, S.32), bei dem Galtung zwischen personaler (direkter) und struktureller (indirekter) Gewalt differenziert. Die direkte Gewalt zielt unmittelbar auf die Schädigung, Verletzung und in extremster Form auf die Tötung von Personen. Sie ist personal und direkt, insofern es „einen Sender gibt, einen Akteur, der die Folgen der Gewalt beabsichtigt“ (Galtung 2007, S.17; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.86). Strukturelle Gewalt umfasst dagegen all jene Arten von Gewalt, die aus systemischen Strukturen resultieren. Zu den Hauptformen zählen Repression und Ausbeutung. Beide sind nicht notwendigerweise beabsichtigt, auch nicht mehr individuell zurechenbar (sie basieren auf der jeweiligen politischen, ökonomischen und sozialen Verfasstheit der Welt), können aber ebenso töten – durch Verelendung, Hunger und Krankheit (Galtung 2007, S.17; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.86).

Schaubild 1:

Die erweiterten Begriffe von Gewalt und Frieden nach Johan Galtung (1975, S.33)

Nach Galtung greift der eng gefasste – personale beziehungsweise direkte – Gewaltbegriff deutlich zu kurz, denn auf diese Weise bleibe die Gewalt, die von „[v]öllig inakzeptable[n] Gesellschaftsordnungen“ (Galtung 1975, S.9) ausgehe, weitgehend außen vor. Vor diesem normativen Hintergrund plädiert er für den erweiterten Gewaltbegriff. Danach liege Gewalt immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“; sie wird damit zur „Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist“ (Galtung 1975, S.9).

Frieden fasst Johan Galtung als Negation von Gewalt. Der Doppelaspekt der Gewalt findet sich somit auch in seinem Friedensbegriff wieder:

„Ein erweiterter Begriff von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden: Frieden definiert als Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit struktureller Gewalt. Wir bezeichnen diese beiden Formen als negativen Frieden bzw. positiven Frieden.“ (Galtung 1975, S.32)1

Damit scheint der Begriff des negativen Friedens dem alltäglichen Verständnis von Frieden als Abwesenheit von Krieg beziehungsweise friedenswissenschaftlich formuliert als Abwesenheit organisierter militärischer Gewaltanwendung zu entsprechen. Primäre Friedensaufgabe im Sinne dieses eng gefassten Friedensbegriffes stellt dann die Kontrolle und Verminderung offener Gewaltanwendung dar.

Anders beim positiven Frieden: Definiert als Abwesenheit struktureller Gewalt hat er seine Entgegensetzung nicht im Krieg, eher im Unfrieden. Positiver Frieden gilt – in Anlehnung an die obige Gewaltdefinition – als ein Zustand, in dem die Verwirklichung des Menschen möglich wird. Auch wenn sich der Begriff des positiven Friedens mit der Entwicklung ändere – so wie auch der der Gesundheit in der Medizin – werden mit ihm vor allem Aspekte wie Kooperation und Integration, das Fehlen von Repression und Ausbeutung, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie Gerechtigkeit und Freiheit verbunden. Insbesondere stehe der positive Frieden für soziale Gerechtigkeit2, bezeichne diese eine positiv definierte Bedingung, und zwar die nach gleicher Verteilung von Macht und Ressourcen (Galtung 1975, S.32, insb. auch FN 30).

Ende der 1990er Jahre ergänzte Johan Galtung seine Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt um eine dritte Komponente: die kulturelle Gewalt.3 So wird auch vom Galtung’schen Gewaltdreieck gesprochen. Unter kultureller Gewalt werden all jene Aspekte einer Kultur verstanden, die dazu dienen, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen beziehungsweise zu legitimieren (Galtung 2007, S.341). Galtung führt in seiner Definition sechs Kulturbereiche auf: Religion (beispielsweise in Form eines rigiden Monotheismus), Ideologie (wie Nationalismus), Sprache (etwa Sprachsexismus), Kunst (beispielsweise durch den Transport von stereotypen Vorurteilen), empirische Wissenschaft (zum Beispiel in Form des neoklassischen Wirtschaftslebens) sowie formale Wissenschaft (wie der Entweder-Oder-Charakter der Mathematik, wonach Aussagen nur wahr oder unwahr sein können) (Galtung 2007, S.341ff.). Zudem verweist er auf Bereiche wie Recht, Medien und Erziehung (Galtung 2007, S.18). Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs führte vom Doppelaspekt der Gewalt zum Gewaltdreieck (vgl. Schaubild 2).

Schaubild 2:

Das Gewaltdreieck nach Johan Galtung (2007)

1.2Frieden – mehr als die Abwesenheit von Krieg?

Galtungs Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt sowie negativem und positivem Frieden prägt bis heute maßgeblich den friedenswissenschaftlichen Diskurs.1 Dabei bewegen sich die Debatten – nunmehr seit mehr als 40 Jahren – stets um die eine, aber für die Friedensforschung doch zentrale Frage, wie eng beziehungsweise weit der Friedensbegriff gefasst werden sollte. Einerseits lässt sich in der Friedensforschung „ein verbreitetes Unbehagen an einem ‚bloß‘ auf die Negation des Krieges bezogenen Friedensbegriff“ (Brock 2002, S.96) feststellen. Dieses Unbehagen resultiert aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation, in der Krieg durch nukleare Abschreckung vermieden werden sollte – ein Zustand „organisierter Friedlosigkeit“ (Senghaas 1972), ohne Krieg, jedoch stets kurz vor der Katastrophe und der Zerstörung des gesamten europäischen Kontinents. Genau diese Situation hatte Johan Galtung bei seiner Konzeption des erweiterten Gewalt- und Friedensbegriffs im Blick. So blende der negative Friedensbegriff die herrschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen des Friedens aus; mehr noch, er trage mit dazu bei, ungerechte Verhältnisse auf der Suche nach Frieden zu zementieren.

Andererseits mehren sich aber auch die kritischen Stimmen gegenüber dem positiven Friedensbegriff. Dazu gehören vor allem Frankfurter Friedensforscher wie Lothar Brock (1990, 2002), Ernst-Otto Czempiel (1998, 2002), Christopher Daase (1996) oder Harald Müller (2003). Ihre Kritik gliedert sich in verschiedene Argumentationsstränge: forschungspraktische, ethische sowie empirische. Forschungspraktisch wird gegen den positiven Friedensbegriff seine Weite und Unbestimmtheit in Anschlag gebracht. Unklar bleibe, was konkret der Gegenstand des Friedens sei und wo die Abgrenzungen der Friedensproblematik gegenüber anderen gesellschaftlichen Großthemen liegen. Ein Friedensbegriff, der von der Verhinderung und Eindämmung des Krieges über die Schaffung sozialer Gerechtigkeit bis hin zum Umweltschutz alles umfasse, verliere die Fähigkeit „zur unterscheidenden Beschreibung“ (Müller 2003, S.211). „Friedensforschung bzw. die Theoriebildung über Frieden wäre für alles und das heißt im Umkehrschluss für nichts zuständig“ (Brock 1990, S.78). In diesem Kontext fordern die Frankfurter eine Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen.

Aus ethischer Sicht wird befürchtet, dass der positive Frieden zur Legitimation von Gewalt missbraucht werden könne. Werde Gerechtigkeit als wesentliches Moment des positiven Friedens in den Friedensbegriff hineingenommen, stoße man – so Harald Müller (2003, S.212) – auf zwei Probleme: Erstens könnten Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit in Widerspruch zueinander treten. Gewalt könne zur (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit in Anspruch genommen werden.2 Zweitens gebe es verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen, die den positiven Friedensbegriff unbrauchbar machen, abgesehen davon, dass diese auch zu einer neuen Quelle von Gewalt führen können.3 In diesem Sinne argumentiert auch Ernst-Otto Czempiel (1995, S.167): „Da die Gerechtigkeit partikular und fraktioniert ist, ist es auch der Friedensbegriff.“ Frieden sei dann nicht das Werk der Gerechtigkeit, sondern des Gewaltverzichts. Ferner ergebe sich ein ethisches Problem aus der unzulänglichen Differenzierung direkter und struktureller Gewalt, denn während Tod und Verstümmlung irreversible Zustände sind, haben Ausbeutung und Repression zumindest hypothetisch die Chance ihrer Reversibilität (Müller 2003, S.212f.).

Schließlich sei der positive Friedensbegriff mit seiner Intention aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation empirisch überholt. Angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage sei der negative Frieden – die Eindämmung, Beendigung und Verhinderung von Kriegen – wichtiger denn je, während der positive Frieden in dieser Situation fast schon anachronistisch erscheine (Bonacker und Imbusch 2006, S.132). Auch werde mit dem Begriff des negativen Friedens eine qualitative Abwertung insinuiert, die sich empirisch in keiner Weise rechtfertigen lasse. So sei bereits die Abwesenheit kollektiver Gewaltanwendung ein hohes Gut und in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzen (Huber und Reuter 1990, S.22).

Diese Kritik bedeutet für die hier angeführten Vertreter aber nicht, sich im Umkehrschluss für den negativen Frieden auszusprechen; die Forderung besteht vielmehr nach einem engen Friedensbegriff. Was dieses „Mehr“ gegenüber dem negativen Friedensbegriffs ausmachen soll, lässt sich bis heute schwer exakt fassen; und auch die Übergänge – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung – erweisen sich als fließend. Übereinstimmung unter den Befürwortern des engen Friedensbegriffs scheint in der Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen zu liegen. Der Friedensbegriff setze dann auf die „Eliminierung des Krieges“ (Czempiel 2002, S.84), und zwar im substanziellen Sinne: Er fokussiere auf die Verhinderung des Krieges, einschließlich der Bereitschaft zum Krieg, und auf einen Konfliktaustrag, der durch Gewaltverzicht gekennzeichnet sei. Beispielhaft hierfür sei die Definition von Ernst-Otto Czempiel:

„Friede besteht in einem internationalen System dann, wenn die in ihm ablaufenden Konflikte kontinuierlich ohne die Anwendung organisierter militärischer Gewalt bearbeitet werden.“ (Czempiel 1998, S.45)

Das mache die Begriffsdefinition, so ähnlich sie zunächst der des negativen Friedens erscheint, voraussetzungsreich. Sie unterscheide sich deutlich von einem „Friedens“-Zustand zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation; hinzu trete ihre zeitliche Dimension: Friede als dauerhafter Friede.4

Ausgehend von einem eng, aber substanziell gefassten Friedensbegriff werde dann nach den konkreten Bedingungen des Friedens gefragt. Dabei lassen sich verschiedene Zugänge ausmachen: Ansätze auf der Mikroebene zielen auf die individuellen Bedingungen gewaltfreier Konfliktaustragung und umfassen verschiedene Streitbeilegungsmechanismen, Formen friedlicher Konfliktbeilegung, Konflikttransformation oder auch konsensorientierte Konfliktlösungsstrategien.5 Die Mesoebene fokussiert auf gesellschaftliche Friedensbedingungen. Hier spielen Theorien der Demokratisierung und Zivilisierung (Demokratischer Frieden, Zivilisatorisches Hexagon etc.) eine zentrale Rolle. Auf der Makroebene werden vor allem systemische Bedingungen untersucht. Dazu zählen Ansätze, die auf eine Transformation der Struktur des internationalen Systems zielen wie beispielsweise Verrechtlichung, internationale Organisationen und Regime sowie wirtschaftliche Kooperation und Freihandel. Zudem finden sich konstruktivistische Ansätze, die auf eine Veränderung von Wahrnehmungen und der Etablierung einer Friedenskultur setzen.

Der Philosoph Georg Picht (1975, S.46) vertritt dagegen die These, es gehöre zum Wesen des Friedens, dass er nicht definiert werden könne. Stattdessen fokussiert er auf die Dimensionen politischen Handelns, anhand derer der Friedenszustand realisiert werden müsse, denn – so Picht (1971, S.33) – „[w]enn wir Frieden herstellen, definiert er sich selbst“. In diesem Kontext deckt er drei Parameter des Friedens auf, die unauflöslich miteinander zusammenhängen: Schutz gegen Gewalt, Schutz vor Not und Schutz der Freiheit. Der Politikwissenschaftler Dieter Senghaas fügt später eine vierte Dimension hinzu: Schutz vor Chauvinismus beziehungsweise positiv formuliert die Anerkennung kultureller Vielfalt (vgl. Senghaas und Senghaas-Knobloch 2017). Nach Picht (1971, S.33) müsse jede Ordnung – innergesellschaftlich wie international – friedlos sein, die eine dieser Dimensionen vernachlässige. Auch wenn Picht explizit auf eine Definition des Friedens verzichtet, lässt sich unschwer erkennen, dass Frieden hier inhaltlich weiter als der negative Frieden gefasst wird.

1.3Frieden – eine Utopie?

Zeichnet der Frieden – und das ist die zweite Frage, die sich an den Friedensbegriff stellt – politische und soziale Vorstellungen einer idealen Ordnung, die auf die Zukunft gerichtet sind, in der Realität aber nicht ihren Ort haben? Die chronischen, aber auch aktuellen Kriege und gewaltsam ausgetragenen Konflikte, nicht zuletzt das Ausbleiben des prognostizierten „Endes der Geschichte“ (Fukuyama 1992) scheinen diese Annahme zu stützen. Aber auch die These vom Krieg als eine Konstante der conditio humana lässt sich, und dafür spricht die europäische Geschichte, empirisch widerlegen.

Wie verhält es sich nun mit dem „unausweichlich Utopische[n] im Reden über den Frieden“ (Brock 2002, S.110)? Betrachten wir den positiven Frieden, lässt dieser eine gewisse Nähe zum eschatologischen Friedensbegriff1 erkennen: Frieden als das Werk der Gerechtigkeit (opus iustitiae pax).2 Das eschatologische Moment ist der Galtung’schen Definition eingeschrieben: Wenn strukturelle Gewalt zur „Standardbeschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Müller 2003, S.212) wird, fällt ihr Abbau – und als Pendant dazu die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit – in den Bereich dessen, was als „handlungsleitende Utopie“ beschrieben werden kann (Czempiel 1971, S.126; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.128).

Aber auch der enge Friedensbegriff kann diese Spannung nicht völlig auflösen. Selbst Frieden im Sinne einer (dauerhaften) Abwesenheit von Krieg scheint unmöglich, solange Gewaltakteure vom Krieg profitieren. Das sind heute nicht in erster Linie Staaten, sondern Akteure unterhalb dieser Ebene (die sogenannten „neuen Kriege“). Das Problem dahinter scheint von grundsätzlicher Natur: Wenn Krieg – so Herfried Münkler (2009, S.367f.) – zu einer Lebensform werde, weil diejenigen, die Gewalt anwenden, davon leben, gerate die historisch gewachsene Trennung von Krieg und Frieden in Gefahr.

Einen Ausweg aus dem „unausweichlich Utopischen“ bietet Czempiels Formel vom Frieden als dynamischer Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit (vgl. Schaubild 3). Czempiel nimmt die zeitliche Dimension des Friedens in den Begriff mit hinein. Frieden gilt nicht als (Ideal-)Ziel oder Zustand gesellschaftlichen und politischen Handelns, sondern wird als ein historischer Prozess der Zivilisierung von Konflikten, d.h. der Institutionalisierung dauerhafter und gewaltfreier Formen der Konfliktbearbeitung begriffen. Damit lässt sich die Realität im historischen Prozess verorten und in Relation zu diesem messen (u.a. Meyers 2011, S.41; Müller 2003, S.217).

Schaubild 3:

Phasenmodell des Friedens nach Ernst-Otto Czempiel (1998, S.65)

1.4Friede als Weltfriede?

Zunehmende Interdependenz und Globalisierung, unter anderem bedingt durch technische Innovationen, politische Entscheidungsprozesse und Maßnahmen zur Liberalisierung des Welthandels, prägen das internationale System. Auch die äußeren Beziehungen von Staaten werden immer enger miteinander verknüpft; ebenso steigt die Zahl der weltpolitischen Akteure dramatisch an. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich eine dritte Frage an den Friedensbegriff, die der räumlichen Dimension und geografischen Reichweite, oder anders formuliert: Ist Frieden teilbar oder nur als Weltfriede vorstellbar?

Prominent für die Sichtweisen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts ist die Rede von Carl Friedrich von Weizsäcker anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1963. Seine dort formulierte erste These lautet:

„Der Weltfriede ist notwendig. Man darf fast sagen: der Weltfriede ist unvermeidlich. Er ist Lebensbedingung des technischen Zeitalters. Soweit unsere menschliche Voraussicht reicht, werden wir sagen müssen: Wir werden in einem Zustand leben, der den Namen Weltfriede verdient, oder wir werden nicht leben.“

Zentraler Bezugspunkt dieser These ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die stetige Entwicklung der Waffentechnik, insbesondere die Existenz von Atomwaffen einschließlich ihres möglichen Gebrauchs. Angesichts dieser Gefahr werde der Frieden zwingend und der Weltfriede zur „Lebensbedingung des technischen Zeitalters“; denn die Alternative zum Frieden sei im Atomzeitalter nicht mehr der Krieg, sondern der „biologische Untergang der Menschheit“ (Picht 1971, S.24). Trifft diese Situationsbeschreibung aber auch auf die heutige weltpolitische Lage zu? Zwei Grundkonstanten haben sich radikal verändert: Zum einen gehört die „organisierte Friedlosigkeit“ des Ost-West-Konflikts mit der nuklearen Abschreckungspolitik der Vergangenheit an.1 Zum anderen sind mit dem Ende des Kalten Krieges aber auch neue Konflikte aufgebrochen, insbesondere sind Kriege – auch in Europa – wieder führbar geworden. Ist damit der Weltfriede noch zwingend?

Die Friedensforschung ist in dieser Frage gespalten. Für viele Vertreterinnen und Vertreter des weiten beziehungsweise positiven Friedensbegriffs ist Frieden unteilbar. Interdependenz und Globalisierung machen es unmöglich, Frieden räumlich zu begrenzen. So sei ein regionaler Friede ein Widerspruch in sich und nur der Weltfriede ein stabiler Frieden (Schwerdtfeger 2001, S.204; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.131). Dieser Aspekt schwingt auch bei Weizsäckers Rede mit, wenn er von einer „allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik“ spricht und damit den Übergang zu einer Weltgesellschaft im Blick hat.

Dagegen halten Friedensforscher wie Harald Müller (2003, S.216) einen regionalen Frieden für durchaus möglich. Müller bedient sich zum einen des semantischen Arguments: Wenn Frieden nur als Weltfrieden denkbar sei, warum unterscheide man dann beide Begriffe? Zum anderen sei es trotz globaler Interdependenzen nicht zwingend, dass beispielsweise Gewaltkonflikte in Sierra Leone Einfluss auf den Frieden in Skandinavien haben. Ebenso könne man einen Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union konstatieren, auch wenn bestimmte Regionen wie Nordirland oder das Baskenland davon ausgenommen seien oder in vielen EU-Ländern auch innergesellschaftliche Gewalt (zum Beispiel gegenüber Immigrantinnen und Immigranten) existiere. Notwendig sei es aber, die Akteure präzise zu benennen, denn Friede herrsche immer „zwischen bestimmten sozialen und politischen Kollektiven“ (Müller 2003, S.216). Mit Rückgriff auf Lothar Brock (2002, S.106) schlägt Müller vor, als Weltfriede „die Gesamtzahl der Räume, in denen Menschen friedlich zusammenleben“ zu bezeichnen. Damit verbleibe der Weltfriede nicht nur auf der internationalen Ebene, sondern schließe auch die innergesellschaftliche Dimension mit ein.

1.5Fazit

Was kann nun als angemessener Friedensbegriff in der Friedensforschung gelten? Einfache Antworten auf diese Frage wird es angesichts der bestehenden Kontroversen nicht geben können. Der enge Friedensbegriff scheint durch seine inhaltliche Fokussierung auf die Eliminierung des Krieges und seine klare Abgrenzung zu Bereichen wie Entwicklung und Gerechtigkeit, die als Friedensbedingungen fungieren, methodisch-theoretisch wie handlungspolitisch praktikabel. Diese Stärke ist zugleich aber auch seine Schwäche, steht der enge Friedensbegriff doch in der Gefahr, das Wesen des Friedens zu verkürzen. Dagegen ermöglicht der positive Friedensbegriff ein umfassendes Verständnis von Frieden einschließlich einer Friedenspolitik, die auf die Überwindung struktureller Gewalt abzielt, steht aber in der Kritik, so umfassend zu sein, dass er sich einer Operationalisierung entziehe. Statt einer Dichotomisierung sollten die verschiedenen Begriffe und Friedensansätze stärker zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hierbei kann sich das Verständnis von Frieden als Prozess, insbesondere das Phasenmodell des Friedens von Ernst-Otto Czempiel mit seinen Abstufungen als hilfreich erweisen. Aber auch das Bild eines Friedens in konzentrischen Kreisen kann die verschiedenen Erwartungen an den Friedensbegriff miteinander verbinden: mit der Abwesenheit direkter Gewalt beziehungsweise der Eliminierung des Krieges als innersten Kreis und Kern des Friedensbegriffs und der Abwesenheit struktureller sowie kultureller Gewalt als weitere, nicht zu vernachlässigende, wenn auch fernerstehende Friedensinhalte.

Weiterführende Literatur:

Czempiel, Ernst-Otto. 1998. Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga. 2. akt. u. überarb. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Der Autor diskutiert sehr facettenreich den Friedensbegriff und Friedensstrategien. Zentral ist seine Darstellung des Friedens als Prozess.

Galtung, Johan. 1975. Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Dieses Buch gilt als ein Klassiker der Friedensforschung, in dem Johan Galtung seinen zentralen Ansatz der strukturellen Gewalt darstellt.

Sahm, Astrid, Manfred Sapper und Volker Weichsel (Hrsg.). 2002. Die Zukunft des Friedens. Eine Bilanz der Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Ein Sammelband, der prominente Autorinnen und Autoren versammelt und die neueren Debatten in der Friedensforschung (zum Begriff, aber auch zu seinen Akteuren und Strategien) aufgreift und bilanziert.

2Frieden und Sicherheit

„Frieden ist gut – Sicherheit ist besser?“ – Mit dieser rhetorischen Frage macht der Friedensforscher Johannes Schwerdtfeger (1991, S.21) auf die Verdrängung des Friedensbegriffs durch den Sicherheitsbegriff aufmerksam und unterstreicht mit Dietrich Bonhoeffer: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit!“. Diese Entwicklung beklagt auch der Politikwissenschaftler Christopher Daase (2010b, S.9):

„Sicherheit ist der zentrale Wertbegriff unserer Gesellschaft. Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren konkurrierten die Begriffe ‚Sicherheit‘ und ‚Frieden‘ um den Vorrang in Strategiedebatten und Parteiprogrammen. Heute ist ‚Sicherheit‘ der Goldstandard nationaler und internationaler Politik, und vom Frieden wird fast nur noch in politischen Sonntagsreden gesprochen.“

Was steht hinter diesem Wechsel der Termini? Lassen sich Frieden und Sicherheit synonym verwenden? Sind sie wechselseitig aufeinander bezogen im Sinne von „ohne Frieden keine Sicherheit und ohne Sicherheit kein Frieden“? Oder macht es einen erkennbaren Unterschied, von Frieden beziehungsweise von Sicherheit zu sprechen und können Frieden und Sicherheit vielleicht sogar in Widerspruch zueinander geraten?

2.1Was heißt Sicherheit?

Die etymologische Wurzel des Wortes Sicherheit (se cura, lateinisch) steht für „ohne Sorge sein“. In diesem Sinne lässt sich Sicherheit als die Abwesenheit von Bedrohungen definieren. Diese Bestimmung verweist auf die subjektive Dimension des Begriffs, abhängig von persönlichem Empfinden, historischen Erfahrungen oder Einflüssen der Umwelt (vgl. auch im Folgenden Gießmann 2011; Nielebock 2016; Jaberg 2017a).

Später kommt mit dem lateinischen tutus im Sinne von Sicherheit als Schutz eine objektive Dimension hinzu. Diese inhaltliche Erweiterung ist untrennbar mit der Entstehung der Nationalstaaten (mit dem Westfälischen Frieden von 1648) verbunden. Wirkmächtig wurden in diesem Kontext insbesondere die Ausführungen von Thomas Hobbes im Leviathan (1651). In seinem dort entwickelten Gesellschaftsvertrag wurde Sicherheit zum „Zentralbegriff des Staatszwecks“ (Conze 1984, S.845). Danach unterwerfen sich die Bürger und Bürgerinnen freiwillig dem Staat; im Gegenzug dafür garantiert er ihnen Sicherheit.

Mit der Westfälischen Ordnung und der Konstituierung der modernen Nationalstaaten kommt es zugleich zu einer Ausdifferenzierung der Staatsaufgabe Sicherheit, die auch schon in Hobbes’ Leviathan angelegt ist: Zum einen hat der Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen Dritter zu schützen (äußere Sicherheit, vorrangig verstanden als militärische Sicherheit); zum anderen hat er Gefahren für die öffentliche Sicherheit und innerstaatliche Ordnung abzuwehren (innere Sicherheit).

Sicherheit als Staatszweck in Thomas Hobbes’ Leviathan (1651):

„Der alleinige Weg zur Errichtung einer […] allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können“ (Hobbes 1984 [1651], S.134).

„Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes. […] Mit ‚Sicherheit’ ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt“ (Hobbes 1984 [1651], S.255).

Mit den Globalisierungsdebatten der 1970er Jahre und verstärkt mit dem Ende des Kalten Krieges sowie den jüngsten Entwicklungen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind Diskurse um Erweiterungen eines Sicherheitsbegriffs erkennbar, der sich nicht mehr nur auf die staatliche Sphäre und „die äußere und innere Funktionsfähigkeit von Staaten“ (Gießmann 2011, S.548) beschränkt, sondern zunehmend auch die gesellschaftliche und individuelle Ebene einbezieht. Als ein Meilenstein dieser Entwicklung kann dabei – ausgehend von dem Reaktorunglück in Tschernobyl – der Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, der sogenannte Brundtland-Bericht, gelten.

Aus dem Bericht der Brundtland-Kommission (1987):

„Konflikte können nicht nur aus politischen und militärischen Bedrohungen der nationalen Souveränität entstehen, sie können ebenso gut ausbrechen infolge von Umweltzerstörungen und des Verspielens von Entwicklungsmöglichkeiten.“ (Kap. 11.37)

„Eine solche Neubestimmung könnte erreicht werden, wenn man sich generell auf eine umfassendere Definition von Sicherheit verständigen könnte und wenn militärische, politische, umweltbedingte und andere Konfliktquellen einbezogen würden.“ (Kap. 11.44)

Daase (2010a, b) unterscheidet vier Dimensionen der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs (vgl. Schaubild 4):

inhaltlich: von der militärischen zur wirtschaftlichen und ökologischen, mittlerweile auch zur humanitären Sicherheit;

von seinem Referenzrahmen her: von der nationalen zur menschlichen Sicherheit;

geografisch: von der territorialen zur globalen Sicherheit sowie

bezüglich der Gefahrendimension: von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge.

Schaubild 4:

Dimensionen des erweiterten Sicherheitsbegriffs nach Christopher Daase (2010a, S.3)

Die inhaltliche beziehungsweise Sachdimension definiert die Problembereiche, in denen Sicherheitsgefahren festgestellt werden. Dabei wird Sicherheit traditionell militärisch verstanden. Das traf insbesondere für die ersten Jahrzehnte der bipolaren Konstellation des Kalten Krieges zu, verbunden mit einem riesigen Nuklearwaffenpotenzial sich gegenüberstehender Großmächte. Erst mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre wurden auch Herausforderungen neuer Art wahrgenommen. Dazu zählten insbesondere die Ölkrisen 1973 und 1979. Seit dieser Zeit gilt Sicherheit nicht mehr nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich als Zugang zu wichtigen strategischen Ressourcen. In den 1980er Jahren, ausgelöst durch das Reaktorunglück in Tschernobyl, erweiterte sich der Sicherheitsbegriff erneut. Bedrohungen werden nunmehr auch ökologisch gefasst. So wird auch der Klimawandel zunehmend unter dem Sicherheitsaspekt verhandelt. Mit den jüngsten Debatten um den Menschenrechtsschutz und die Responsibility to Protect erfährt der Sicherheitsbegriff eine weitere inhaltliche Ausdehnung um den Faktor der humanitären Sicherheit.

Die zweite Dimension bezieht sich auf das Referenzobjekt und damit auf die Frage, wessen Sicherheit gewährleistet werden soll. Aus der Perspektive des politischen (Neo-)Realismus, wie sie dem Leviathan zugrunde liegt, bedeutet Sicherheit die Sicherheit des Staates vor äußeren Feinden (nationale Sicherheit). Im Fokus steht hier die Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität. Liberale Vertreterinnen und Vertreter betonen zudem die Gesellschaft als Referenzobjekt. So heißt es bei Wilhelm von Humboldt: „Diejenigen, deren Sicherheit erhalten werden muss, sind auf der einen Seite alle Bürger in völliger Gleichheit, auf der anderen Seite der Staat selbst“ (zit. nach Daase 2010a, S.10). Zu einem Perspektivenwechsel kommt es mit dem Konzept der menschlichen Sicherheit (human security). Hier steht nicht mehr der Staat oder die Gesellschaft als Gesamtheit, sondern das Individuum im Fokus der Betrachtung. Dieser Ansatz steht im Kontext kosmopolitischer Einflüsse, die dem Individuum und seinen Rechten Vorrang vor Gruppen- und Staatenrechten einräumen. Dabei verfolgt menschliche Sicherheit das Ziel, die Menschen vor direkten und gravierenden Bedrohungen zu schützen und sie zu befähigen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen (vgl. Commission on Human Security 2003). Das umfasst dann auch „neue Gefahren für die Sicherheit“ wie „Kriminalität, soziale Not, Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Migration, illegaler Drogen- und Waffenhandel“ (Daase 2010b, S.10). Der Bericht der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen spricht von sieben Dimensionen menschlicher Sicherheit: von der wirtschaftlichen Sicherheit, der Ernährungssicherheit, der gesundheitlichen Sicherheit, der Umweltsicherheit, der persönlichen Sicherheit, der Sicherheit der Gemeinschaft sowie der politischen Sicherheit (vgl. UNDP 1994, S.24f.).

Die dritte Dimension beinhaltet die Raumdimension und die Frage, für welches geografische Gebiet Sicherheit angestrebt wird. Im traditionellen Verständnis wird mit Sicherheit die Sicherheit des nationalen Territoriums eines Staates gefasst. Dieser staatszentrierte Zugang steht in einem engen Kontext mit realistischen und neorealistischen Theorieansätzen der Internationalen Beziehungen (vgl. Waltz 1979). Regionale Sicherheitsgemeinschaften wie beispielsweise die NATO beziehen Verbündete in das Sicherheitsstreben mit ein; das Territorialprinzip wird regional, in der Regel auf der Basis eines gemeinsamen Wertefundaments, ausgedehnt – am Beispiel der NATO auf den euro-atlantischen Raum. Eine nochmalige Erweiterung erfolgt mit der internationalen Sicherheit. Dieser sicherheitspolitische Ansatz zielt auf staatliche Koexistenz und zwischenstaatliche Stabilität. Dahinter steht eine institutionalistische Perspektive (vgl. Keohane 1989), verbunden mit der Annahme, dass auch unter Bedingungen der Anarchie des internationalen Staatensystems Kooperationen im gegenseitigen Interesse möglich sind. Ein klassisches Beispiel stellen hier Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen dar. Noch weitreichender greift das Konzept der globalen Sicherheit. Es basiert auf kosmopolitischen Ansätzen und steht in einem engen Kontext mit der menschlichen Sicherheit. Globale Sicherheit geht von einer poststaatlichen Konstellation aus mit der „Menschheit als Ganzes und [der] Aussicht auf eine globale Weltgesellschaft freier Individuen“ (Daase 2010b, S.13).

Die vierte Dimension schließlich erfasst die Gefahrendimension. Mit ihr verbindet sich die Art und Weise, wie Gefahren verstanden und Unsicherheiten konzeptualisiert werden: Das kann auf verschiedenen Wegen erfolgen: „als Abwehr von Bedrohungen, als Verringerung von Verwundbarkeit und als Reduzierung von Risiken“ (Daase 2010a, S.15). Traditionell (wie beispielsweise zu Zeiten des Ost-West-Konflikts) steht Sicherheit für die Abwehr von Bedrohungen. Diese beziehen sich auf territorial begrenzte Räume und setzen „die Existenz eines gegnerischen Akteurs, eine feindliche Intention und ein militärisches Potenzial“ (Daase 2010a, S.15) voraus. In Zeiten wachsender ökonomischer und ökologischer Interdependenzen innerhalb der internationalen Staatenwelt lassen sich Gefahren nicht mehr allein durch feindliche Akteure und ihre militärischen Potenziale ausmachen, sondern auch durch „Verwundbarkeiten“ durch externe Effekte im Sinne von Abhängigkeitsverhältnissen, die eigene Handlungsoptionen einschränken. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird zunehmend von Risiken gesprochen. Dazu zählen in erster Linie der transnationale Terrorismus, aber auch die nukleare Proliferation, organisierte Kriminalität oder Migration. Diese Verschiebung von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge bedeutet zugleich, Unsicherheiten auf Ungewissheiten auszuweiten. Eine Sicherheitspolitik, die durch Risiken bestimmt wird, „kann nicht länger reaktiv sein, wie im Falle von Bedrohungen, sondern sie muss proaktiv werden und den Risiken ‚begegnen‘“ (Daase 2010a, S.17).

Mit diesen Erweiterungen des Sicherheitsbegriffs gehen zugleich Gefahren einher. Das Streben nach Sicherheit gilt neben Herrschaft und wirtschaftlicher Wohlfahrt als elementare Staatsaufgabe (vgl. Czempiel 2004, S.8), begründet es nach Thomas Hobbes überhaupt erst die Existenz des Staates. Wenn aber Sicherheit „zum Maßstab politischen und gesellschaftlichen Handelns“ erhoben wird, liegt in der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs die Gefahr, „sämtliche sozialen und politischen Beziehungen als Abwehr von mutmaßlichen Bedrohungen zu verstehen“ (Gießmann 2011, S.543). Dieses Phänomen wird unter dem Schlagwort der „Versicherheitlichung“ (securitization) verhandelt. Dafür steht die in den 1990er Jahren von Barry Buzan, Ole Waever und Jaap de Wilde entwickelte und stark im Konstruktivismus verankerte Kopenhagener Schule (vgl. Buzan et al. 1998). Sie setzt bei der subjektiven Dimension von Sicherheit an. Danach konstruieren Sprechakte, konkret die Benennung von Problemen als Sicherheitsprobleme, einen Ausnahmezustand, der außerordentliche Maßnahmen rechtfertigt und bestehende Entscheidungswege außer Kraft setzen kann.1

2.2Friedens- versus Sicherheitslogik

Die Begriffe Frieden und Sicherheit lassen Parallelen, aber auch Divergenzen erkennen. Einerseits zeigt der erweiterte Sicherheitsbegriff – wie am Beispiel menschlicher Sicherheit – „eine große Nähe zu den von Picht eingeführten Konstitutionsbedingungen des Friedens“ (Nielebock 2016, S.9) auf. Die Kriterien menschlicher Sicherheit nach dem Bericht der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP 1994, S.3) als freedom from fear (Freiheit von Furcht) und freedom from want (Freiheit von Not) korrespondieren offensichtlich mit den Picht’schen Parametern des Friedens (Schutz gegen Gewalt, Schutz vor Not und Schutz der Freiheit). Andererseits erweisen sich Frieden und Sicherheit aber auch als „differente Kategorien“ (Jaberg 2017a, S.43) und „nicht […] auf gleicher Ebene verrechenbare Größen“ (Daase und Moltmann 1991, S.45). Beide Begriffe implizieren unterschiedliche Logiken. Dahinter stehen eigene Formen beziehungsweise Grammatiken, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben und das Denken und Handeln innerhalb der jeweiligen Kategorien prägen (vgl. Jaberg 2017b, S.170).

Nach der Friedensforscherin Sabine Jaberg (2017a, S.46) zeigen sich in der Auseinandersetzung mit den Begriffen Frieden und Sicherheit zwei kategoriale Differenzen: Während erstens Frieden nur gemeinsam mit anderen Akteuren verwirklicht werden könne und in diesem Sinne einen sozialen Begriff darstelle, müsse Sicherheit – insbesondere in ihrem traditionellen Verständnis als Sicherheit vor oder gegen andere – als „asozialer Begriff“ gefasst werden, der vom einzelnen Akteur her denke. So komme im Kontext von Sicherheit dem Anderen keine eigene Wertigkeit zu, diese ergebe sich vielmehr aus der Relevanz für das eigene Sicherheitsstreben. Zweitens setze Frieden – zielt dieser Begriff auf Gewaltfreiheit – den Akteuren Grenzen. Das „wechselseitige Anerkennungsverhältnis“ fordere von ihnen als innere Haltung „Liebe“, „Güte“ und die „Einsicht in die prinzipielle Untauglichkeit gewaltsamer Mittel“ sowie im konkreten Handeln „den Abbau gewaltgenerierender Strukturen und den Aufbau friedlicher Bearbeitungskapazitäten“. Eine Sicherheitslogik weise „diesbezüglich keine immanenten Schranken“ auf. Im Gegenteil, sie tendiere zur Grenzenlosigkeit bezüglich (a) der Wahl der Mittel, denn auch Krieg werde unter Umständen als legitim erachtet; (b) des Zeitrahmens, der gegebenenfalls ein präemptives oder gar präventives Agieren gerechtfertigt erscheinen lasse; (c) der Reichweite, wonach prinzipiell jedes Politikfeld als sicherheitsrelevant betrachtet werden könne (Versicherheitlichung) sowie (d) der Reaktion der Exekutive, von der Dramatisierung der Lage bis hin zu einer Eskalation im Handeln (vgl. Jaberg 2014).

 

Auch die Friedensforscherin Hanne-Margret Birckenbach (2014) differenziert zwischen einer Friedens- und Sicherheitslogik. In ihren Ausführungen fokussiert sie auf fünf zentrale Prinzipien friedenslogischen Denkens und Handelns:

das Prinzip der Gewaltprävention (mit der Zielsetzung, „vorausschauend deeskalierend tätig“ zu sein);

das Prinzip der Konflikttransformation (basierend auf dem Verständnis, dass Gewalt nicht außerhalb, sondern zwischen Konfliktparteien entsteht, und auch der eigene Anteil an Gewalt reflektiert werden muss);

das Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung (mit dem Ziel, in einer zunehmend interdependenten Welt „Gelegenheiten für einen verstärkten Austausch von und mit möglichst vielen politischen und gesellschaftlichen Kräften [zu suchen]“);

das Prinzip der Einhaltung universaler Normen (um „an ihnen die Legitimität der eigenen Interessen und Handlungsweisen sowie die zur Problembearbeitung eingesetzten ideologischen, militärischen, ökonomischen und politischen Machtquellen [zu prüfen]“) sowie

das Prinzip der Reflexivität (wonach das Eingestehen des eigenen Scheiterns nicht wie beim sicherheitslogischen Denken als Schwäche gilt, sondern als „eine Fähigkeit, die zu verbesserten Resultaten führen kann“).

2.3Fazit

Bei Frieden und Sicherheit handelt es sich – das haben die obigen Ausführungen aufzeigen können – um durchaus differente Begriffe. Insbesondere verweisen sie auf unterschiedlich eingenommene Perspektiven. Dabei lässt sich die Debatte um eine Friedens- und Sicherheitslogik auf einen zentralen Punkt bringen:

„[D]ie Sicherheitslogik mit ihrer auf Abgrenzung zielenden Orientierung befördert Sicherheit gegen einen anderen, die Friedenslogik weist dem Gegenüber dagegen eine zentrale Rolle als mitverantwortlichem Partner für die Qualität der Beziehung zu“ (Nielebock 2016, S.10).

Was folgt nun aber aus dieser begrifflichen Differenz von Frieden und Sicherheit? Hanne-Margret Birckenbach (2012, S.42; Hervorh. d. Verf.) spricht von einer „Friedenslogik statt Sicherheitslogik“ und räumt damit dem Frieden den sachlichen Vorrang ein. Und auch für Sabine Jaberg (2017a, S.43) „gebührt aus ethischer Perspektive dem Frieden der Vorzug“. Beide Friedensforscherinnen setzen auf einen Perspektivenwechsel und die konsequente Einlösung einer Friedenspolitik. Dagegen plädieren Christopher Daase und Bernhard Moltmann (1991, S.35) für ein „integriertes Verständnis von Friedens- und Sicherheitspolitik“:

„Auch wenn dem Frieden der sachliche Vorrang einzuräumen ist, muß die Sicherheitspolitik auf ihrem temporären Vorrang bestehen, denn Friedenspolitik ohne den realistischen Blick auf die internationale Lage wird am nationalen und innergesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnis scheitern. Sicherheitspolitik aber ohne das Korrektiv des Friedens ist nicht friedensfähig.“

Beide Auffassungen müssen nicht in Widerspruch zueinander treten, lässt sich ein integratives Verständnis von Frieden und Sicherheit durch eine Konvergenz beider Begriffe erreichen (vgl. Jaberg 2017a, S.47ff.), auch wenn diese nicht völlig zur Deckung gebracht werden können. Konzepte wie beispielsweise die auf die Palme-Kommission von 1982 zurückgehende Gemeinsame Sicherheit verweisen – und das zeigt sich bereits am Begriff der Gemeinsamen Sicherheit selbst – auf Möglichkeiten einer friedensfähigen Sicherheitspolitik. Ein solches Konzept ist voraussetzungsreich und zielt, verbunden mit der Annahme, dass Sicherheit nicht voreinander, nur miteinander zu suchen ist, auf eine konsequente Abkehr jeglicher Abschreckungspolitik (vgl. Kapitel 11.4; auch Werkner 2019a).

Weiterführende Literatur:

Gießmann, Hans J. 2011. Frieden und Sicherheit. In Handbuch Frieden, hrsg. von Hans J. Gießmann und Bernhard Rinke, 541-556. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieser Beitrag gibt einen guten Überblick über die begrifflichen Parallelen und Divergenzen der beiden Begriffe Frieden und Sicherheit.

Jaberg, Sabine. 2017. Frieden und Sicherheit. In Handbuch Friedensethik, hrsg. von Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling, 43-53. Wiesbaden: Springer VS. Ausgehend von der Definition von Frieden und Sicherheit verhandelt die Autorin beide Begriffe als differente Kategorien und diskutiert Möglichkeiten einer kategorialen Konvergenz.

Nielebock, Thomas. 2016. Frieden und Sicherheit – Ziele und Mittel der Politikgestaltung. Deutschland & Europa: Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft (71): 6-17. Hierbei handelt es sich um einen gut zugänglichen Beitrag zur friedenswissenschaftlichen Debatte beider Begriffe.

3Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis

Der Diskussion um den Begriff des Friedens und der ihm eingeschriebenen Logiken schließt sich eine weitere Frage im Rahmen dieses Lehrbuchs unmittelbar an: Was heißt Friedensforschung? – oder anders gefragt: Was tun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wenn sie sich dem Untersuchungsgegenstand Frieden zuwenden?

Diese Frage wird in gleicher Weise divers diskutiert wie der Friedensbegriff selbst. In den Anfangsjahren der Institutionalisierung wurde der Friedensforschung teilweise sogar ihr Status als Wissenschaft abgesprochen. Diesem Einwand lag „ein positivistisches Verständnis von objektiver Wissenschaft“ zugrunde, „vor dem sich Friedensforschung in der Tat nicht rechtfertigen“ ließ. So stellt der Frieden „kein gegebenes Objekt“, sondern „eine konkrete Utopie“ dar. Friedensforschung heißt demnach, über „Bedingungen dieser Utopie“, das heißt über ein „noch nicht realisierte[s] Ziel“ zu forschen (Huber 1971, S.45).

Folgend soll exemplarisch auf drei Definitionen verwiesen werden, die – zu sehr unterschiedlichen Zeiten entstanden – eine relative Stabilität dessen anzeigen, was unter Friedensforschung zu verstehen ist (vgl. Bonacker 2011, S.68):

In den Empfehlungen der Struktur- und Findungskommission zur Friedensforschung vom Januar 2000, einer interdisziplinär und breit aufgestellten Arbeitsgruppe von Friedensforscherinnen und -forschern, eingesetzt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Vorbereitung zur Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung, heißt es dazu:

„[Die Friedens- und Konfliktforschung] befasst sich erstens mit der Frage, welche Faktoren dazu beitragen, dass aus Konflikten gefährliche Konflikte werden und welche Möglichkeit zu ihrer Einhegung bestehen. […] Die Friedens- und Konfliktforschung richtet zweitens ihre Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen und Bedingungen eines andauernden – aus Sicht der Beteiligten: gelungenen – Friedens“ (Struktur- und Findungskommission zur Friedensforschung 2000, S.259).

In den jüngsten Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung vom Juli 2019 findet sich folgende Definition:

„Die Friedens- und Konfliktforschung befasst sich insbesondere mit Ursachen, Formen, Dynamiken und Folgen von Konflikten und Gewalt sowie mit Möglichkeiten der Prävention, Einhegung oder Beilegung von Konflikten und der dauerhaften Stabilisierung von Frieden.“ (Wissenschaftsrat 2019, S.13)

Ähnlich formulierte er es bereits fünfzig Jahre zuvor. Friedensforschung soll – so der Wissenschaftsrat der Bundesregierung im Mai 1970 – „die Probleme erforschen, die den Frieden in der Welt bedrohen, und die Bedingungen für die Erhaltung bzw. Schaffung des Friedens ermitteln“ (zit. nach DGFK 1983, S.14).

Damit kristallisieren sich für Friedensforscher und -forscherinnen zwei zentrale Tätigkeitsbereiche heraus: die Analyse von Konflikten und deren Ursachen (vgl. Part II dieses Lehrbuchs) sowie die Erarbeitung von Friedensstrategien zu ihrer Einhegung (vgl. Part III dieses Lehrbuchs). Diese beiden hier exemplarisch aufgeführten Definitionen zeigen den engen Zusammenhang von Frieden und Konflikt auf. Nach Harald Müller (2012, S.158, 155) sind sie „ein siamesischer Zwilling“, bei dem man „über den einen nicht sprechen [kann], ohne den anderen mitzuführen“. Das erklärt zugleich die in der Literatur häufig synonyme Verwendung der Termini „Friedensforschung“ und „Friedens- und Konfliktforschung“.

Weitaus kontroverser als die Beschreibung dessen, was Friedensforschung inhaltlich umfasst, ist ihr Selbstverständnis (vgl. Bonacker 2011, S.68). Das beinhaltet vor allem drei Aspekte: Fragen der Normativität, der Praxisorientierung und der disziplinären Verortung der Friedensforschung.

3.1Zur Normativität der Friedensforschung

Debatten um die Normativität der Friedensforschung stehen symptomatisch für die Auseinandersetzung mit der sogenannten „kritischen Friedensforschung“. Diese Strömung ist in den 1970er Jahren in Abgrenzung zur traditionellen Friedensforschung entstanden und steht in einem engen Zusammenhang mit Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt und des positiven Friedens (vgl. u.a. Senghaas 1971a). Während Vertreterinnen und Vertreter der traditionellen Friedensforschung ausgehend von einem negativen Friedensbegriff und einem realistischen Paradigma wesentlich auf Konfliktmanagement setzten (um Gefahren – beispielsweise des Abschreckungssystems – zu reduzieren), ging es den Protagonistinnen und Protagonisten der kritischen Friedensforschung um dahinterliegende strukturelle Ursachen und damit um eine umfassendere, vor allem auch herrschaftskritische Perspektive. Sie sahen vor allem in der Herrschaftsform eine zentrale Konfliktursache und ein Instrument zur Unterdrückung von Konflikten. So warfen sie der traditionellen Friedensforschung auch vor, Friedensforschung lediglich als „Befriedungsforschung“ zu verstehen.1

Mit dieser Phase verbindet sich eine stark normativ geprägte Friedensforschung, die ihren Ausdruck im „Engagement zum Frieden“ (Kaiser 1970, S.58) findet. In diesem Kontext zieht Karlheinz Koppe (2006, S.60) wie zuvor auch schon Johan Galtung eine Parallele zu den ethischen Standards in der Medizin: Wie jeder Arzt durch den Eid des Hippokrates der Erhaltung des Lebens verpflichtet sei, habe auch der Friedensforscher der Maxime si vis pacem para pacem2 zu folgen. Auch für Harald Müller (2012, S.160f.) stellt Normativität ein konstitutives Merkmal der Friedensforschung dar. Ihm zufolge gebe es drei Pfeiler, die als normative Richtschnur friedenswissenschaftlichen Arbeitens dienen können: erstens das Ziel der Minderung physischer Gewalt, zweitens – ausgehend vom Verständnis des Friedens als soziale Beziehung – die Befriedung eines Handlungssystems sowie drittens die Einnahme der Opferperspektive (im Sinne ziviler Opfer).

Was heißt Normativität?