Friedenskonzepte im Wandel -  - E-Book

Friedenskonzepte im Wandel E-Book

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Beschreibung

Die Publikation "Friedenskonzepte im Wandel. Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016" untersucht die Entwicklung der Vergabe des Friedensnobelpreises seit Beginn und fragt nach den jeweiligen zugrunde liegenden Friedenskonzepten des Nobelkomitees bei seiner jährlichen Entscheidung. Neben der systematischen Analyse aller Preisverleihungen wird in zwölf repräsentativen Fallstudien im Detail auf die entsprechenden wissenschaftlichen sowie geopolitischen Kontexte der Friedenskonzepte bzw. der Friedensarbeit der PreisträgerInnen eingegangen. Der Wandel des Friedensbegriffs von der "bloßen" Abwesenheit zwischenstaatlicher Kriege hin zu einem breiten Friedensbegriff, der innerstaatliche Faktoren wie Demokratie, sozioökonomische Gleichheit und Einhaltung von Menschenrechten berücksichtigt, zeigt, dass das Nobelkomitee im Lauf der Zeit eine große Bandbreite von Friedenskonzepten mit dem Friedensnobelpreis auszeichnete, wobei auch eine klare politische Agenda des Komitees in der Auswahl der PreisträgerInnen – zu verstehen in den jeweiligen geopolitischen Kontexten – herausgearbeitet werden konnte.

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Schriftenreihe des Demokratiezentrums WienBand 3

Birgitta Bader-Zaar/Gertraud Diendorfer/Susanne Reitmair-Juárez (Hg.)

Friedenskonzepte im Wandel

Analyse der Vergabe desFriedensnobelpreises von 1901 bis 2016

StudienVerlag

InnsbruckWienBozen

 

 

© 2017 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5894-5

Buch- und Umschlaggestaltung nach Entwürfen von hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Satz: Roland Kubanda

Umschlag: Karin Berner

Titelfotos:

Reihe 1 von links nach rechts:

Jane Addams By US Post Office – US Post Office, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9932328

General_George_C._Marshall, Von Unbekannt –

http://www.dodmedia.osd.mil/Assets/2005/Army/DA-SD-05-00593.JPEG, Gemeinfrei [Public domain], via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=829393

Genehmigung der Verwendung: Friends Service Council (The Quakers)

Von unbekannt – http://nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1947

Logo, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=5041745

Reihe 2:

Wangari Maathai, Flickr, Oregon State University, lizenziert unter der CreativeCommons-Lizenz

Attribution-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0), https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

https://www.flickr.com/photos/oregonstateuniversity/6673976497

Reihe 3 von links nach rechts:

Europaflagge, via Pixabay / Public domain

Nelson Mandela, Flickr, Festival de Cine Africano FCAT, lizenziert unter der CreativeCommons-Lizenz

Attribution-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0), https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

https://www.flickr.com/photos/mcatarifa/9964148903

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.   Gesamtanalyse der Vergabe der Friedensnobelpreise – Längsschnitt

1.1   Methodische Vorgehensweise

1.2   Der Datensatz im Überblick – Was erzählt uns die Quelle?

1.3   Quantitative Auswertung

1.4   Qualitative Auswertung der Diskurse – Welche Friedenskonzepte vertraten die PreisträgerInnen?

1.4.1  Friedenskonzept „Friede durch Recht – Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“

1.4.2  Friedenskonzept „Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsarbeit“

1.4.3  Friedenskonzept „Friede durch Abrüstung“

1.4.4  Friedenskonzept „Frieden durch Entwicklung“

1.4.5  Friedenskonzept „Beilegung konkreter, regional begrenzter Konflikte“

1.4.6  Friedenskonzept „Kodifizierung der Menschenrechte und Demokratisierung“

1.4.7  Friedenskonzept „Klimawandel und Umweltschutz“

2.   Fallstudien zu FriedensnobelpreisträgerInnen und ihren Friedenskonzepten

2.1   Begründung der Fallauswahl

2.2   Das Internationale Friedensbüro, 1910

2.3   Aristide Briand und Gustav Stresemann, 1926

2.4   Jane Addams, 1931

2.5   Friends Service Council und American Friends Service Committee, 1947

2.6   George Catlett Marshall, 1953

2.7   René Cassin, 1968

2.8   Andrei Sacharow, 1975

2.9   Alfonso García Robles, 1982

2.10 Nelson Mandela, 1993

2.11 Vereinte Nationen (UNO), 2001

2.12 Wangari Muta Maathai, 2004

2.13 Europäische Union, 2012

2.14 Schlussbetrachtungen

Quellen und Literatur

Einleitung

Die jährliche Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo findet regelmäßig großen Widerhall in den Medien. Besonders in die Tagespolitik eingreifende Vergaben werden breit diskutiert und auch kritisiert, so etwa 2009 jene an den US-Präsidenten Barack H. Obama für seinen Einsatz für verstärkte internationale Kooperation oder 1994 an Yasser Arafat, Shimon Peres und Yitzhak Rabin für ihre Bemühungen um Frieden im Nahen Osten. Einzelne PreisträgerInnen wie z.B. die junge Malala Yousafzai, die 2014 für ihren Einsatz für das Recht von Kindern auf Schulbildung ausgezeichnet wurde, oder 1993 der südafrikanische Bürgerrechtler Nelson Mandela erreichten einen hohen Bekanntheitsgrad, andere geraten schnell in Vergessenheit. Umso erstaunlicher erscheint es, dass dieser wichtigste internationale Friedenspreis wissenschaftlich noch wenig erforscht ist. Bisherige Studien sind stark biografisch und häufig populärwissenschaftlich ausgerichtet, nur wenige streben eine Kontextualisierung im Rahmen der Diskussionen des Nobelkomitees und der internationalen Beziehungen im Allgemeinen an.

Beispielsweise erschienen zum 100-Jahr-Jubiläum der Preisverleihung 2001 zwei Sammelbände, welche die Biografien der bisherigen PreisträgerInnen in chronologischer Reihenfolge präsentieren und auch versuchen, die jeweiligen Diskussionen im Vorfeld der Verleihung innerhalb des Nobelkomitees zu beleuchten, soweit dies anhand der Quellenlage möglich war (Abrams 2001a; Stenersen/Libaek/Sveen 2001). Diese Bände versuchen auch eine erste Kontextualisierung der internationalen Beziehungen und gelten als wichtige Beiträge zur Forschung im Bereich des Friedensnobelpreises, fokussieren jedoch nicht auf die zugrunde liegenden Konzepte von Frieden. Daneben gibt es Sammelbände zu Lebenswerken von PreisträgerInnen, welche entweder nach ihrer geografischen Herkunft ausgewählt wurden (Kloft 2011), eine bestimmte Zeitspanne abdecken (Gallmeister 1987; Keene 1998; Raschka 2005; Zajonc 2009) oder eine Anzahl von besonders „inspirierenden“ PreisträgerInnen auswählen (Milstein 2009; Melach 2010).

Neben Buchveröffentlichungen gibt es auch zahlreiche Artikel in wissenschaftlichen Journalen, welche das Thema des Friedensnobelpreises und dessen TrägerInnen behandeln. Hier stehen quantitative Untersuchungen einzelner Merkmale im Vordergrund, etwa welche mediale Aufmerksamkeit der Friedensarbeit der PreisträgerInnen direkt nach der Verleihung zuteil wurde (Krebs 2009), wie viele Preise zur „Ermutigung“ und Unterstützung eines bestehenden Friedensprozesses vergeben wurden und wie viele als „Anerkennung“ für ein schon erreichtes Ziel (ebd.), oder welche „Werte“ in den Dankesreden der PreisträgerInnen am häufigsten erwähnt wurden (Kinnier/Kernes et al. 2007). Darüber hinaus gibt es eine Debatte über die vom Nobelkomitee durch die Preisverleihung verfolgte „Politik“ bzw. über die Angemessenheit einiger Auszeichnungen (Bulloch 2008; Adams/Raymond 2008; Bobi 2015). Auch Texte über Alfred Nobel selbst und die „korrekte“ Interpretation seines Testaments sind häufige Themen in der Literatur (Hennig 2014; London 2011; Heffermehl 2010).

Die nun vorliegende Publikation „Friedenskonzepte im Wandel. Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016“ interessiert sich hingegen für die Friedenskonzeptionen, die der Vergabe des Friedensnobelpreises zugrunde liegen, und spürt ihren Veränderungen ab der ersten Preisverleihung 1901 bis zur Gegenwart nach. Dabei werden auch Ergebnisse der Friedensforschung und die internationalen politischen Kontexte der Preisvergaben berücksichtigt, um aufzuzeigen, inwiefern die Vergabe des Preises auch auf wissenschaftliche und politische Entwicklungen im Lauf der Zeit reagierte.

Zur Geschichte des Friedensnobelpreises

Der Begründer des Friedensnobelpreises, der schwedische Chemiker und Erfinder des Dynamits Alfred Nobel (1833–1896), hatte in seinem Testament verfügt, dass die Zinsen aus seinem Vermögen für Preise in den Bereichen Physik, Chemie, Medizin, Literatur und Frieden zu stiften seien. Der Friedenspreis sollte derjenigen Person, egal aus welchem Land, verliehen werden, die sich jeweils im Jahr vor der Verleihung „am meisten oder besten für die Brüderlichkeit zwischen den Nationen, für die Abschaffung oder Verringerung der stehenden Heere und für die Abhaltung und Förderung von Friedenskongressen eingesetzt“ habe (Alfred Nobel’s Will). Erstmals wurde der Preis 1901 verliehen – und gleich geteilt, und zwar zwischen Jean-Henri Dunant (1828–1910), dem Begründer des Roten Kreuzes, und Frédéric Passy (1822–1912), dem Begründer der ersten französischen Friedensgesellschaft 1863 (Ligue internationale et permanente de la paix). Passy gründete zudem 1889 gemeinsam mit William Randall Cremer, dem Friedensnobelpreisträger von 1903, die Interparliamentary Union (IPU), einen Zusammenschluss nationaler Parlamente, mit dem Ziel zwischenstaatliche Schiedsverträge zu erreichen (Uhlig 1988). Die IPU war wesentlich an der Einberufung der Haager Friedenskonferenz 1899 beteiligt (Cortright 2008: 40–43).

Der Friedensnobelpreis sticht unter den naturwissenschaftlichen Preisen und jenem für Literatur heraus, zumal er von einem Sprengstoff- und Waffenproduzenten gestiftet wurde. Nobels Interesse an Frieden wird in der Forschung allgemein mit seiner Freundschaft zu Bertha von Suttner (1843–1914) in Zusammenhang gebracht (Fant 1995; Tägil o.J.), der bekannten österreichischen Friedensaktivistin, die 1889 ihren pazifistischen Roman „Die Waffen nieder!“ veröffentlicht und 1891 die Österreichische Gesellschaft der Friedensfreunde gegründet hatte. Gemeinsam mit Alfred Hermann Fried (1864–1921), Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft 1892, gab sie 1892 bis 1899 die Zeitschrift „Die Waffen nieder“ heraus (Gütermann 1987: 19–43). Suttner sollte den Friedensnobelpreis 1905 erhalten, Fried 1911. Nobel war zwar der Meinung, dass Waffen zur Abschreckung notwendig waren und damit Kriege verhinderten, unterstützte aber auch den Pazifismus finanziell, so als Mitglied der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde, auch wenn er der Wirksamkeit der Friedensbewegung skeptisch gegenüberstand (Fant 1995: 362f, 366f; Tägil o. J.). Somit war die Friedensbewegung, die sich im 19. Jahrhundert in vielen Nationen formiert hatte, eng mit dem Friedensnobelpreis verbunden, und es waren auch die europäischen Friedensbewegungen von Anfang an als Preisträger stark präsent.

Ihre Wurzeln hatte die europäische Friedensbewegung bereits nach der Französischen Revolution in den Koalitionskriegen 1792–1815 zwischen Frankreich, insbesondere Napoleon, und den anderen europäischen Mächten. Die Idee des Pazifismus reicht jedoch noch weiter zurück. Insbesondere Freikirchen wie die der Society of Friends/Quäker oder die Mennoniten sprachen sich bereits ab dem 17. Jahrhundert auf der Grundlage des Christentums gegen Krieg und Gewalt aus und sollten die ersten Friedensvereine 1815/16 im angloamerikanischen Raum gründen (Brock 1972). Die ersten Vereine auf dem europäischen Kontinent hatten ihren Ursprung dann in einem von der Aufklärung beeinflussten bürgerlichen Elitenmilieu und entstanden ab den 1820er Jahren in Paris und Genf (Cooper 1991: 13–29; Cortright 2008: 26–32). Die in den folgenden Jahrzehnten in den verschiedenen Nationen gegründeten Friedensvereine waren einerseits von der Idee geprägt, Frieden müsse auf der Grundlage des Völkerrechts geschaffen werden, und setzten ihre Hoffnungen in der Zwischenkriegszeit vor allem auf den Völkerbund. Andere, wie die 1867 in Genf gegründete Ligue internationale de la paix et de la liberté, betonten Gerechtigkeit und Demokratie als notwendige Basis des Friedens (Chatfield 2001: 11144; Cortright 2008: 37f). Auch die Frauenbewegungen, sowohl des 19. wie auch des 20. Jahrhunderts, waren vielfach vom Pazifismus in einem breiteren Verständnis notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen geprägt (z.B. Flich 1987: 418–422; Oldfield 2000). Die Friedensbewegung war zudem schon früh international vernetzt, so im Rahmen internationaler Kongresse (erstmals 1848 in Brüssel) und Weltfriedenskongresse (erstmals 1889 in Paris) sowie durch einen Dachverband nationaler Vereine, das International Peace Bureau, das 1891/92 in Bern entstand (Cooper 1991: 60–139).

Wie schon der Krimkrieg 1853–56 (Cooper 1991: 30f) bedeutete der Erste Weltkrieg eine tiefe Zäsur für die Friedensbewegungen, denn zahlreiche AktivistInnen stellten nun den Patriotismus an erste Stelle (Chatfield 2001: 11145). Für andere brachte der Krieg aber eine Neuorientierung. Beispiele hierfür sind die aus der Frauenfriedenskonferenz von Den Haag 1915 im Jahr 1919 hervorgegangene Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (Women’s International League for Peace and Freedom), die neben Frieden ein breiteres Programm zur Frauenemanzipation verfolgte (Rupp 1997: 26–29; Wilmers 2008), sowie der Zusammenschluss der Kriegsdienstverweigerer in der International War Resisters League (heute: War Resisters’ International) 1921. Der Zweite Weltkrieg bildete eine weitere Zäsur. Im Rahmen der Internationalisierung durch die Vereinten Nationen wurden Menschenrechte nun als zentrale Basis für den Frieden gesehen; es kam aber, auch beeinflusst durch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, im Kalten Krieg zu einem Fokus auf die Abrüstung von Atomwaffen. Sowohl die Bewegung gegen Nuklearwaffen als auch der Vietnamkrieg brachten dann in den 1960er und 1970er Jahren eine Massenbewegung von FriedensaktivistInnen hervor (Carter 1992; Holl 2001: 11151; Giugni 2015: 644f; Ziemann 2007: 5–19). Nach dem Ende des Kalten Krieges orientierte sich der Fokus der Friedensbewegungen wieder neu, so auf der nationalen Ebene etwa gegen Waffenexporte oder den obligatorischen Militärdienst und auf der internationalen Ebene gegen Militäreinsätze wie den Golfkrieg 1990/91 oder den Bosnienkrieg 1999 (Giugni 2015: 645). Ab Ende der 1990er Jahre wurde die Friedensagenda mit einem breiten Spektrum von globalen Problembereichen in Zusammenhang gebracht – zusätzlich zu Menschenrechten auch mit Umweltschutz, sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung (Giugni 2015: 646), eine Entwicklung, die sich auch in den Friedenskonzepten bei der Vergabe des Nobelpreises ablesen lässt.

Vergabe des Friedensnobelpreises

Während die Nobelpreise für Literatur, Medizin, Chemie und Physik in Schweden von den jeweiligen wissenschaftlichen Akademien vergeben werden, ist das norwegische Parlament (Storting), wie im Testament Alfred Nobels vorgesehen, dafür verantwortlich, ein fünfköpfiges Komitee zu wählen, das die PreisträgerInnen bestimmt. Das Storting entwickelte für diese Wahl Statuten, die etwa bestimmen, dass die im Parlament vertretenen politischen Parteien entsprechend ihrer Stärke im Parlament im Komitee vertreten sein sollen. Ein Mitglied wird für sechs Jahre in das Komitee gewählt, Wiederwahl ist möglich. Im Laufe der Zeit hat das Storting diese Regelungen immer wieder angepasst. So gehören beispielsweise seit den 1970er Jahren keine aktiven PolitikerInnen mehr dem Nobelkomitee an, was die Unabhängigkeit der Entscheidung des Komitees gegenüber der norwegischen (Außen-)Politik stärken soll (Johnsen 2012). 1904 wurde ein Nobel Institut in Oslo gegründet, das eine Bibliothek beherbergt, die Nobelsymposien organisiert und das Komitee bei der Auswahl berät.

Bis zum 1. Februar jedes Jahres können mögliche Friedensnobelpreisträger-Innen nominiert werden. Der Kreis derjenigen, die nominieren können, ist groß: frühere und derzeitige Mitglieder des Nobelkomitees sowie dessen frühere BeraterInnen, bisherige NobelpreisträgerInnen (bei Organisationen deren DirektorInnen oder Vorstandsmitglieder), Mitglieder von Regierungen oder Parlamenten sowie Oberhäupter aller souveränen Staaten, Mitglieder des Internationalen Gerichtshofs sowie des Schiedsgerichts in Den Haag, Mitglieder des Institute of International Law und UniversitätsprofessorInnen für Geschichte, Sozialwissenschaften, Recht, Philosophie, Theologie oder Religionswissenschaften ebenso wie RektorInnen von Universitäten und DirektorInnen von Forschungsinstituten zu Frieden oder Außenpolitik. Wie bereits beschrieben, sollen sich die Nominierten besonders für Brüderlichkeit zwischen den Nationen, die Abschaffung oder Verringerung stehender Heere und für die Abhaltung von Friedenskongressen eingesetzt haben. Die Zahl der Nominierten ist im Lauf der Zeit stark angestiegen. 2016 wurde, laut Website des Friedensnobelpreises, ein Höhepunkt mit insgesamt 376 Nominierten erreicht, 228 Personen und 148 Organisationen.

Nach dem 1. Februar trifft sich das Nobelkomitee, es wird die vollständige Liste der KandidatInnen vorgestellt – an diesem Punkt können noch Namen hinzugefügt werden – dann ist der Nominierungsprozess abgeschlossen. In dieser ersten Sitzung wird eine engere Auswahl getroffen. Diese wird von den ständigen BeraterInnen des Nobel Instituts – d. h. dessen DirektorIn und ausgewählten norwegischen UniversitätsprofessorInnen – begutachtet, wofür einige Monate zur Verfügung stehen. Es können auch von ForscherInnen in einem speziellen Gebiet oder Themenbereich Expertisen den KandidatInnen angefordert werden. Wenn alle Gutachten vorliegen, trifft sich das Komitee erneut und diskutiert diese eingehend. Bei Bedarf wird nochmals eine vertiefende Expertise zu einzelnen Nominierten eingeholt. Die Entscheidung wird bei einer letzten Sitzung im Oktober getroffen, kurz bevor diese auch offiziell verkündet wird. Üblicherweise ist die Entscheidung einstimmig, ansonsten bestimmt eine einfache Mehrheit.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises fand anfangs im Rahmen einer regulären Parlamentssitzung statt, als kurze Ankündigung, ohne geladene Gäste und Dankesrede. Nach der Einweihung des Sitzes des Nobel Instituts in Oslo 1905 wurden die Zeremonien bis 1947 in diesem Gebäude abgehalten. Danach fand die Verleihung in der Aula der Universität Oslo statt, seit 1990 wird sie im Rathaus von Oslo veranstaltet. Traditionell ist der 10. Dezember – der Todestag von Alfred Nobel – der Tag der Auszeichnung.

Methodik und Inhalt der Studie

Zunächst gibt eine Längsschnittstudie im ersten Teil der Untersuchung einen Überblick über die bisherige Vergabe des Friedensnobelpreises. Die Quellen für diese Untersuchung bilden – neben biografischen Informationen zu den PreisträgerInnen bzw. Erläuterungen zu Geschichte und Wirken der ausgezeichneten Organisationen – die Reden des norwegischen Nobelkomitees anlässlich der Vergabe sowie, soweit gehalten bzw. überliefert, die Dankesreden (Acceptance Speeches) und Nobelvorträge (Nobel Lectures) der PreisträgerInnen. Auffallend ist, dass diese Reden im Lauf der Zeit immer länger, programmatischer und kritischer wurden, möglicherweise aus dem Grund, dass die steigende Bedeutung des Friedensnobelpreises eine Zunahme an medialer und politischer Aufmerksamkeit nach sich zog.

Aufgrund dieser Quellen wurden quantitative Variablen zur formalen Einordnung der PreisträgerInnen angelegt, etwa die AkteurInnenebene, die – zunehmend globaler werdende – geografische Herkunft, der Wirkungsbereich und die Arbeitsweise. Bei Personen wurde auch das Geschlecht erfasst, was zutage treten ließ, dass nur eine Minderheit der PreisträgerInnen, nämlich 16 Prozent, weiblich war. Das Nobelkomitee war sich zunehmend der Problematik bewusst, denn seit den 1970er Jahren ist allmählich eine Zunahme an weiblichen PreisträgerInnen zu verzeichnen. Neben den genannten Kodierungen wurde auch festgehalten, welche Institutionen oder Gruppierungen von den jeweiligen PreisträgerInnen als die wichtigsten friedensschaffenden AkteurInnen angesehen wurden, z.B. Staat, Zivilgesellschaft oder internationale Organisationen, und auch welche Instrumente und Strategien als besonders effektiv für die Herstellung von Frieden angesehen wurden, wie etwa Verhandlungen, Verrechtlichung oder sozioökonomische Entwicklung.

Aus der qualitativen und quantitativen Analyse dieser Quellen wurden dann sieben verschiedene Friedenskonzepte abgeleitet: 1) die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen im Sinne der Stärkung völkerrechtlicher Instrumente wie bilaterale Verträge und zunehmend Kooperationen im Rahmen internationaler Organisationen in Richtung eines Systems kollektiver Sicherheit; 2) humanitäre Hilfe und Flüchtlingsarbeit, die vor allem von der organisierten Zivilgesellschaft, aber auch – im Rahmen der UNO – von supranationalen Organisationen wahrgenommen wurden; 3) Abrüstung, wofür vor allem nichtstaatliche AkteurInnen ausgezeichnet wurden, die zur Überwindung des Sicherheitsdilemmas die Schaffung kollektiver Sicherheitssysteme, den Ausbau internationaler Kooperationen sowie die Beschränkung oder das Verbot spezifischer Waffen und Technologien einforderten; 4) Frieden durch Entwicklung, ein Konzept, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bewegung weg vom negativen Friedensbegriff im Sinne der Abwesenheit von Krieg hin zur Qualität des Friedens im Sinne der Abwesenheit von Not und vor allem die Fokussierung auf innerstaatliche gesellschaftliche Entwicklungen bedeutete, wodurch auch die Zivilgesellschaft stärker in die Pflicht genommen wurde; 5) die Beilegung konkreter, regional begrenzter Konflikte oder Kriege, die als Hindernis für eine friedliche Welt gesehen wurden, wobei auch hier zunehmend die Notwendigkeit der Verbesserung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Strukturen hin zu Gerechtigkeit und Demokratisierung als entscheidend gesehen wurde; 6) besonders nach dem Zweiten Weltkrieg die Kodifizierung der Menschenrechte und Demokratisierung auf rechtlicher Ebene sowie deren praktische Umsetzung; und schließlich 7) Klimawandel und Umweltschutz, ein junges, erst ab 2004 ausgezeichnetes Konzept, das in der Bedrohung der Umwelt eine massive Gefahr für den Frieden sieht.

Neben dieser systematischen Analyse aller Preisverleihungen wird im zweiten Teil des Bandes in zwölf repräsentativen Fallstudien, die die verschiedenen Friedenskonzepte und Dekaden des Untersuchungszeitraums verdeutlichen, im Detail auf die unterschiedlichen Zugänge zu Friedensarbeit und die verschiedenen Definitionen von Frieden sowohl der jeweiligen PreisträgerInnen als auch des Nobelkomitees eingegangen. Diese Fallstudien betreffen: das International Peace Bureau, eine 1891 gegründete Dachorganisation verschiedener nationaler Friedensvereine (Preisvergabe 1910), den französischen Außenminister Aristide Briand sowie den deutschen Außenminister Gustav Stresemann, die beide für ihre Bemühungen um die Beilegung des deutsch-französischen Konflikts ausgezeichnet wurden (1926), die US-amerikanische Sozialreformerin und Feministin Jane Addams (1931), die angloamerikanischen Quäkergruppierungen Friends Service Council und American Friends Service Committee (1947), den amerikanischen Außenminister und Begründer des European Recovery Programs („Marshallplan“) George Catlett Marshall (1953), den französischen Koautor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und Präsidenten des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte René Cassin (1968), den sowjetischen Atomphysiker und Dissidenten Andrei Dmitrijewitsch Sacharow (1975), den mexikanischen Diplomaten und Außenminister Alfonso García Robles (1982), den südafrikanischen Bürgerrechtler und späteren Präsidenten Nelson Mandela (1993), die Vereinten Nationen (2001), die kenianische Universitätsprofessorin, Feministin und Begründerin des Green Belt Movement Wangari Maathai (2004) sowie die Europäische Union (2012).

Die zentralen Ergebnisse der Studie

Die Arbeitshypothese, dass sich das Friedensverständnis von Nobelkomitee und PreisträgerInnen seit 1901 schrittweise von einem engen negativen Friedensbegriff, im Sinne von Frieden als Abwesenheit von Krieg, hin zu einem umfassenden positiven Friedensbegriff im Sinne von Abwesenheit von Furcht und von Not, entwickelte, bestätigte sich im Laufe der Untersuchung. Wenn diese Entwicklung auch nicht als eine lineare aufzufassen ist, so lassen sich dennoch der Zweite Weltkrieg, insbesondere aber die 1970er Jahre in dieser Hinsicht als zentrale Zäsuren festmachen. Es wird deutlich, dass nun zunehmend die Berücksichtigung von Faktoren wie innerstaatliche Demokratisierung, sozioökonomische Gleichheit und Einhaltung von Menschenrechten, inklusive der Rechte von Frauen und Kindern, wie auch der Umweltschutz als zentral für den Frieden gesehen wurden und werden. Diese Entwicklung wurde dadurch unterstrichen, dass das Nobelkomitee offenbar besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie im beginnenden 21. Jahrhundert mit seiner Auswahl der PreisträgerInnen bewusst und aktiv diese Themen als friedensrelevant hervorhob und dabei auch eine Einengung oder Fokussierung der jeweiligen Friedensarbeit der PreisträgerInnen vornahm.

All dies bedeutet auch, dass nicht mehr der Staat als einheitlicher Akteur mit einheitlichen Interessen im Verhältnis zu anderen Staaten im Fokus der Friedensbemühungen steht, sondern nun die Beziehung zwischen Staaten und ihren eigenen Gesellschaften bzw. BürgerInnen. Der Staat wird nicht länger als eine homogene, intransparente Black Box betrachtet, sondern besteht aus verschiedenen Institutionen, AkteurInnen und Interessen, deren Zusammenspiel staatliche Politik nach innen und außen prägt. Auch die Rolle der Zivilgesellschaft als Akteurin der Friedensarbeit veränderte sich, von einer Bittstellerin mit Druckmitteln wie Kampagnen, Öffentlichkeitsarbeit und Meinungsbildung zur selbstbewussten Einforderin von Frieden und Demokratie als Recht.

Die Herausgeberinnen möchten sich bei den Fördergebern dieser Studie, dem Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projekt-Nr. 16774), der Kultur- und Wissenschaftsabteilung der Stadt Wien und dem Zukunftsfonds der Republik Österreich bedanken, ohne die dieses zum überwiegenden Teil von Susanne Reitmair-Juárez, MA durchgeführte, umfangreiche Forschungsprojekt sowie dessen Publikation nicht möglich gewesen wäre. Herrn Univ.-Prof. Dr. Werner Wintersteiner sind wir für wichtige Anregungen und Kommentare im Laufe der Projektentwicklung besonders dankbar. Dr. Manfred Kohler danken wir für die Mitwirkung an zwei Fallstudien. Ein großer Dank gilt auch dem Projektmitarbeiter Simon Machleidt, der uns bei der Auswertung der Quellen unterstützt hat.

Die Herausgeberinnen

1.  Gesamtanalyse der Vergabe der Friedensnobelpreise – Längsschnitt

1.1  Methodische Vorgehensweise

Diese Studie untersucht die Forschungsfrage, inwiefern sich die Friedenskonzepte, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden, im Laufe der Zeit (1901–2016) verändert haben. Die Analyse zielt auf die Ableitung unterschiedlicher Friedenskonzepte aus den verwendeten Quellen. Als Arbeitshypothese wurde formuliert, dass sich das Friedensverständnis von Nobelkomitee und PreisträgerInnen seit 1901 schrittweise von einem engen negativen Friedensbegriff (Frieden bedeutet Abwesenheit von Krieg) hin zu einem positiven Friedensbegriff, der die Qualität des Friedens einbezieht (Freiheit von Not, Freiheit von Furcht), entwickelt hat. Es wird davon ausgegangen, dass diese Öffnung und Erweiterung des Friedensbegriffs weitgehend linear verläuft, sodass etwa ab den 1970er Jahren ein immer umfassenderes Verständnis von Frieden vorherrscht, indem etwa die Regierungsform eines Staates, die sozioökonomische Entwicklung und vor allem die Verteilung von Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft, Bildung, Einhaltung der Menschenrechte etc. als wichtige Elemente nachhaltigen Friedens verstanden werden.

Als Quellen für diese Untersuchung wurden die Reden des norwegischen Nobelkomitees bei der Vergabe des Preises am 10. Dezember jedes Jahres analysiert. Ebenso wurden Acceptance Speeches und Nobel Lectures der PreisträgerInnen verwendet. Diese Texte beziehen sich ausführlich auf die Errungenschaften, für die jemand ausgezeichnet wird. Es wird von Nobelkomitee und PreisträgerIn argumentiert, welche Ziele das jeweilige Engagement verfolgt und warum diese Arbeit als Friedensarbeit verstanden wird, was wiederum auf das dahinterstehende Friedenskonzept schließen lässt. Besonders in späterer Zeit benennt das Nobelkomitee explizit den eigenen Friedensbegriff und argumentiert diesen. Die Wortwahl lässt dabei darauf schließen, dass es (wiederkehrende) Kritik an der Vergabe der Preise und/oder dem dahinterstehenden Konzept von Frieden bzw. an der Interpretation von Alfred Nobels Testament durch das Komitee gibt.

Diese Texte sind fast alle online auf der Homepage des Nobel Instituts in englischer Sprache verfügbar. Für die frühen Jahre ist die Quellenlage nicht vollständig. Es fehlen die Dankesreden von 1901 (Jean Henry Dunant und Frederic Passy), 1909 (Auguste Marie Francois Beernaert und Paul Henri Benjamin Balluet d’Estournelles de Constant), 1910 (Permanent International Peace Bureau), 1911 (Tobias Michael Carel Asser und Alfred Hermann Fried), 1913 (Henri La Fontaine) und 1917 (International Committee of the Red Cross). 1925 (Joseph Austen Chamberlain und Charles Gates Dawes) wurden nur Telegramme der Preisträger mit Danksagungen verlesen, sie waren aber beide nicht persönlich anwesend und hielten keine Reden, ebenso Gustavo Stresemann und Aristide Briand (1926). 1931 konnte Jane Addams nicht an der Verleihung teilnehmen, ihr Co-Preisträger Nicholas Murray Butler war jedoch anwesend und hielt auch eine Rede. 1935 wurde Carl von Ossietzky vom NS-Regime, dessen Gefangener er war, daran gehindert, den Preis entgegenzunehmen und zu sprechen. Dag Hammarskjöld war zum Zeitpunkt der Preisverleihung bereits verstorben, weshalb der schwedische Botschafter Rolf Edberg eine Rede (über Hammarskjöld und seine Überzeugungen) hielt. 1973 lehnte der vietnamesische Politiker Le Duc Tho den Preis ab, dementsprechend war er nicht bei der Verleihung anwesend und es gibt keine Rede. Sein Co-Preisträger Henry Kissinger ließ nur ein Telegramm verlesen. 1975 war der Preisträger Andrei Sacharow bei der Zeremonie verhindert, da er nicht aus der Sowjetunion ausreisen durfte, seine Frau verlas seine Rede. Für den Preis 1976 an Betty Williams und Mairead Corrigan gibt es nur eine Rede (obwohl beide anwesend waren), vorgetragen von Betty Williams. Liu Xiaobo konnte 2010 nicht zur Preisverleihung aus China ausreisen, da er gerade im Gefängnis saß und seinen Prozess erwartete. Es wurde ein Statement von ihm verlesen, das er bereits 2009 veröffentlicht hatte, in dem er seine Arbeit erläuterte und gleichzeitig, wohl in Richtung der chinesischen Behörden, betonte, dass er „keine Feinde habe“.

Laut Statuten des Nobel Instituts kann das Nobelkomitee in einem Jahr auch entscheiden, dass keine/r der Nominierten die von Alfred Nobel vorgegebenen Kriterien für den Friedensnobelpreis erfüllt und die Vergabe aussetzen. Es kann dann im darauffolgenden Jahr der Preis für das vergangene und das aktuelle Jahr vergeben werden. Davon wurde mehrmals Gebrauch gemacht: Elihu Root erhielt den Friedensnobelpreis für 1912, dieser wurde aber erst 1913 vergeben (in diesem Jahr wurde Henri La Fontaine ausgezeichnet). Auch die Preise 1919 (Woodrow Wilson), 1925 (an Chamberlain und Dawes), 1929 (Frank Billings Kellogg), 1933 (Sir Norman Angell), 1935 (Carl von Ossietzky), 1944 (Internationales Komitee vom Roten Kreuz), 1952 (Albert Schweitzer), 1954 (UN-Flüchtlingshochkommissariat), 1960 (Albert John Lutuli), 1962 (Linus Carl Pauling) und 1976 (Mairead Corrigan und Betty Williams) wurden jeweils erst im darauffolgenden Jahr verliehen. Davon zu unterscheiden sind Jahre, in denen das Nobelkomitee verkündete, dass es keinen Preis geben würde, weil es keine bedeutenden Fortschritte hin zum Frieden gegeben habe – darauf wird später eingegangen.

In frühen Jahren waren einige PreisträgerInnen aufgrund von Krankheit, Reisen oder Ähnlichem verhindert – sodass die Zeremonie mit der Rede, die hier analysiert wird, erst später stattfand. Dies mag auch darin begründet sein, dass anfangs das Prestige des Preises nicht so groß war; darüber hinaus waren die Reisemöglichkeiten noch beschwerlicher und die Verleihung auch weniger „institutionalisiert“. Es kam also mehrmals vor, dass Reden nur von VertreterInnen (meist den BotschafterInnen der jeweiligen Länder) verlesen bzw. Jahre später bei einer Veranstaltung gehalten wurden. Dadurch konnten sich die PreisträgerInnen dann auf Entwicklungen nach ihrer Auszeichnung beziehen.

Das Nobelkomitee verliest seine Entscheidung in englischer Sprache. Viele PreisträgerInnen halten ihre Dankesreden in ihrer jeweiligen Muttersprache. Das bedeutet, dass die Texte, die hier als Quellen verwendet wurden, meist Übersetzungen aus der Originalsprache ins Englische sind und die vorliegende Analyse wiederum auf Deutsch durchgeführt wird. Bei manchen Begriffen, die für das Konzept des Friedens oder die Konzeptualisierung von AkteurInnen bedeutend sind, werden daher hier die englischen Begriffe, die im Quellentext verwendet wurden, in Klammern ergänzt. Aus diesen Texten sowie aus (online zugänglichen) Kurzbiografien wurden die Kodierungen für die quantitativen sowie für die qualitativen Variablen, die im Folgenden vorgestellt werden, abgeleitet. Das Gerüst aus Variablen und Ausprägungen wurde im Laufe der Quellenarbeit weiterentwickelt.

Allgemein lässt sich feststellen, dass diese Reden mit der Zeit immer länger, programmatischer und kritischer werden. Das kann als Ausdruck der steigenden Bedeutung des Friedensnobelpreises gesehen werden: Die „Institution“ des Preises und die große Plattform der Verleihung mit der medialen und politischen Aufmerksamkeit, die damit einhergeht, werden zunehmend genützt, um eigene Interessen und Anliegen vorzubringen, öffentlich auf Missstände oder auch auf Fortschritte hinzuweisen und mehr Engagement für den Frieden einzufordern – dies gilt sowohl für das Nobelkomitee als auch für die PreisträgerInnen.

Kodierung der quantitativen Variablen

Für die Erstellung eines quantitativen Überblicks und chronologischen Längsschnitts wurde eine Datenbank angelegt, die kodierte Informationen zu allen PreisträgerInnen enthält. Diese Kodierungen lauten:

Zur formalen Einordnung eines Preisträgers/einer Preisträgerin wurde zunächst die AkteurInnenebene definiert. Dazu wurden drei Kategorien verwendet, nämlich staatlich, nichtstaatlich sowie supranational. Unter staatlichen AkteurInnen werden sowohl Personen als auch Organisationen verstanden, welche im Auftrag eines Staates bzw. in einer politischen Funktion handeln. Sie sind mit formeller (Entscheidungs-)Macht und Handlungsspielräumen ausgestattet, die nichtstaatlichen AkteurInnen in diesem Ausmaß nicht zur Verfügung stehen. Das bedeutet, sie handeln für einen Staat und können für diesen Staat verbindliche Entscheidungen treffen, Abmachungen eingehen usw. Prozesse, die von staatlichen AkteurInnen angestoßen oder dominiert werden, sind demnach top-down organisiert.

Nichtstaatliche AkteurInnen werden als Personen oder Organisationen definiert, die in ihrer Funktionsfähigkeit, Organisationsstruktur und Handlungsweise außerhalb des formellen politischen Systems operieren. Nichtstaatliche AkteurInnen haben weder formelle Entscheidungsbefugnis noch ein Mandat von einem Staat und können keinen Friedensvertrag unterzeichnen. Sie sind Teil der Zivilgesellschaft und versuchen, politische oder gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen, z.B. durch den Aufbau öffentlichen Drucks, Meinungsbildung, Kampagnen, durch Kontakte zu EntscheidungsträgerInnen, Lobbyarbeit usw. Prozesse, die von nichtstaatlichen AkteurInnen angestoßen oder dominiert werden, sind demnach bottom-up organisiert.

Die Unterscheidung in staatliche oder nichtstaatliche AkteurInnen sollte eigentlich eindeutig sein. Jedoch verbinden vor allem vor dem Ersten Weltkrieg die Biographien der Preisträger (Preisträgerinnen finden sich abgesehen von Bertha von Suttner nicht) die staatliche sowie die nichtstaatliche Sphäre auf vielfältige Weise, sodass eine klare Einordnung, für welche Aktivität der Preis vergeben wurde, oft schwer vorzunehmen war bzw. vom Nobelkomitee nicht eindeutig benannt wurde. So wurde einer der beiden Preisträger des Jahres 1902 (Charles Albert Gobat) für Aktivitäten bzw. Funktionen sowohl der staatlichen wie auch der nichtstaatlichen Sphäre ausgezeichnet. Er war ehrenamtlicher Generalsekretär des Internationalen Friedensbüros in Bern, organisierte Konferenzen in dieser Funktion, engagierte sich Zeit seines Lebens in der Friedensbewegung und war auch publizistisch aktiv – scheinbar eindeutig ein nichtstaatlicher Akteur. Jedoch nennt das Nobelkomitee auch sein Engagement für die Interparlamentarische Union, in der sich VertreterInnen aus den Parlamenten der Mitgliedsländer trafen und für eine friedliche Verständigung und Zusammenarbeit ihrer Länder arbeiteten. Parlamente und ihre Abgeordneten sind eindeutig der staatlichen Sphäre zuzuordnen. Letztlich haben wir uns dafür entschieden, Gobat als staatlichen Akteur zu kodieren, da er über lange Jahre hinweg als Abgeordneter tätig war und davon ausgegangen werden muss, dass seine politische Laufbahn (und damit einhergehend sein sozioökonomischer Status) ihm einerseits das private Engagement erst ermöglichten und diesem „nichtstaatlichen Engagement“ andererseits mehr Gewicht verliehen. Besonders vor dem Ersten Weltkrieg waren die meisten PreisträgerInnen in einem Netzwerk verbunden, das die europäischen Friedensbewegungen, das Internationale Friedensbüro und die Interparlamentarische Union personell und inhaltlich eng miteinander verknüpfte. Dieses Netzwerk wird bei der Fallstudie zum Internationalen Friedensbüro näher analysiert.

Unter supranationalen AkteurInnen werden Organisationen oder Personen verstanden, die international oder „überstaatlich“ handeln oder zusammengesetzt sind. Diese AkteurInnen zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass ihnen politische wie rechtliche Zuständigkeiten zukommen, die nicht (mehr) bzw. nicht zur Gänze auf nationalstaatlicher Ebene wahrgenommen werden. AkteurInnen auf der supranationalen Ebene wurden von souveränen Staaten geschaffen und handeln im Rahmen eines staatlich definierten Mandats. Sie sind für die Überprüfung und Implementierung internationaler Verträge und Regime verantwortlich, sollen also Staaten und deren Handeln koordinieren und kontrollieren. Dennoch sind sie nicht mit einer vergleichbaren Entscheidungsbefugnis ausgestattet – sie können Staaten nicht zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen von Handlungen zwingen und können keine effektiven Sanktionen verhängen. Diese Kategorie betrifft vor allem UN-assoziierte Organisationen und deren VertreterInnen sowie die EU.

Als weitere Variable wurde Person oder Organisation eingeführt, wobei beide jeweils der staatlichen, der nichtstaatlichen oder der supranationalen Sphäre zugeordnet werden können. Auch das Geschlecht der PreisträgerInnen wurde erhoben.

Die Variable Wirkungsbereich ist in insgesamt zehn verschiedene Ausprägungen gegliedert und versucht ein „Oberthema“ der jeweiligen Friedensarbeit zu benennen. Die Reihung der Merkmalsausprägungen im Text entspricht dem erstmaligen Auftreten bei der Preisvergabe.

Humanitäre Hilfe bezeichnet „Nothilfe“ in akuten Krisen- oder Kriegssituationen, wie sie bspw. das Internationale Komitee vom Roten Kreuz leistet, das insgesamt dreimal den Friedensnobelpreis erhielt. Darüber hinaus wird auch die Arbeit für und mit Flüchtlingen in dieser Kategorie erfasst.

Die Kategorie Verrechtlichung internationaler Beziehungen verweist auf Bemühungen, die internationale Anarchie zu beenden oder zumindest einzuschränken. Es sollen Verträge zwischen Staaten erarbeitet werden, die entweder konkrete Konflikte oder Themen betreffen, bspw. Schlichtungsverträge zwischen Staaten; andererseits wird häufig die Notwendigkeit eines umfassenden Völkerrechts analog zum innerstaatlichen (Straf-)Recht eingefordert, sodass Krieg ebenso verboten sein soll wie Mord. Es geht hier um die Beschränkung staatlichen Handelns gegenüber anderen Staaten auf Basis eines allgemein gültigen Rechts sowie dessen Institutionalisierung und Sanktionierung.

Hierbei wurde unterschieden, ob sich ein/e AkteurIn aus der staatlichen oder der nichtstaatlichen Sphäre heraus für die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen einsetzte. Diese Unterscheidung ist notwendig, da es für den konkreten Handlungsspielraum einen großen Unterschied macht, ob man z.B. als Staatspräsident oder Minister einen Schlichtungsvertrag unterzeichnet, oder ob man juristische Expertise zur möglichen künftigen Ausgestaltung von Verträgen zur Verfügung stellt bzw. über die Friedensbewegung versucht, öffentlichen Druck auf staatliche Akteure aufzubauen, damit diese die Verrechtlichung vertiefen. Supranationale AkteurInnen wurden hier mit dem Code belegt, der für staatliche AkteurInnen gewählt wurde (bspw. UNO).

Abrüstung bedeutet, dass die Reduktion bestehender Waffenarsenale, die Regulierung des Einsatzes oder das Verbot bestimmter Waffen als wichtigstes Themenfeld gesehen wurde, um den Frieden zu fördern. 1905 wurde erstmals der Nobelpreis für den Einsatz für Abrüstung vergeben – an Bertha von Suttner, die damit die erste Frau (und Österreicherin) war.

Diplomatie oder Politik wurde bei PreisträgerInnen kodiert, die sich langfristig für friedliche Lösungen von Konflikten eingesetzt haben, allerdings nicht explizit für eine konkrete Errungenschaft, z.B. ein bestimmtes Friedensabkommen, ausgezeichnet wurden, sondern eher für ihr Lebenswerk.

Im Gegensatz dazu wurde die Ausprägung Verhandlungen kodiert. Dies meint die Beilegung eines konkreten Konflikts zwischen zwei oder mehreren Parteien durch Verhandlung oder Vermittlung.

Die Merkmalsausprägung Entwicklung kann in gewisser Weise als inhaltliche Weiterentwicklung der Ausprägung humanitäre Hilfe verstanden werden. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg – auch mit dem Aufkommen der Begriffe Entwicklungsländer, Dritte Welt und Entwicklungshilfe – gehen AkteurInnen, die für humanitäre Hilfe ausgezeichnet wurden, bspw. das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, sowohl in ihrer praktischen Arbeit als auch in ihren dahinter stehenden Konzepten über die Idee des unmittelbaren Helfens hinaus und wenden sich einem „Hilfe zur Selbsthilfe“-Ansatz zu. Bei einigen AkteurInnen geht damit auch eine ausdrückliche Kritik an strukturellen Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern, welche Auswirkungen auf die Entwicklungsmöglichkeiten der armen Staaten haben, einher. Der erste entsprechende Preis wurde 1949 an Lord John Boyd Orr, einen Ernährungswissenschaftler und ersten Direktor der Food and Agriculture Organization (FAO), vergeben.

Der Wirkungsbereich Menschenrechte wurde einerseits kodiert, wenn die Kodifizierung der Menschenrechte im Mittelpunkt der Friedensarbeit stand, wie etwa die Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder die Durchsetzung bestimmter Menschenrechte, z.B. Kinderrechte, Frauenrechte, das Recht auf Asyl oder soziale Rechte. Ein weiterer Aspekt der Menschenrechtsarbeit bezieht sich auf die Durchsetzung der Menschenrechte in einem konkreten politischen System. Hier stehen meist die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen und die Implementierung der Grundrechte innerhalb eines Staates im Vordergrund, wie etwa im Falle des Apartheid-Regimes in Südafrika, der Bürgerrechtsbewegung in den USA oder Rigoberta Menchús in Guatemala. In jedem Fall geht es um das Verhältnis zwischen Staaten und ihren BürgerInnen. Der erste Preis für diesen Themenbereich wurde im Jahr 1951 an Léon Jouhaux vergeben.

Versöhnung als übergeordnetes Thema der Friedensarbeit widmet sich der innergesellschaftlichen Aussöhnung verschiedener ethnischer, religiöser oder sozialer Gruppen. Diese Friedensarbeit ist also auf einen konkreten gesellschaftlichen Kontext gerichtet und versucht bottom-up, alte Konflikte und Gräben zu überwinden und Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen zu finden bzw. gleiche Rechte für diese Gruppen einzufordern. Der Präsident des African National Congress, der Südafrikaner Albert John Lutuli, wurde 1960 als Erster in diesem Bereich ausgezeichnet.

Der Wirkungsbereich Umwelt bezeichnet Friedensarbeit, die die Problematik Klimawandel, Umweltschutz und Ökologie ins Zentrum rückt. Dies ist das jüngste Themenfeld beim Friedensnobelpreis. Erst 2004 wurde Wangari Muta Maathai für ihren Einsatz für Umweltschutz und gegen Klimawandel ausgezeichnet. Dies verdeutlicht, dass Umwelt- und Klimathemen durchaus Konfliktpotenzial in sich tragen, etwa indem sich Verteilungsfragen verschärft stellen.

Die Variable Arbeitsweise hat insgesamt sechs verschiedene Ausprägungen und dient als Überbegriff für die gewählte Strategie oder das Instrumentarium des Preisträgers/der Preisträgerin.

Organisation/Koordination meint, dass Friede durch die Etablierung einer Organisation mit entsprechenden Verfahrensweisen und Prinzipien gefördert werden soll. Durch Institutionalisierung können Normen geschaffen und gestärkt werden, die in weiterer Folge Staaten oder andere AkteurInnen in ihrem Handeln begrenzen. Handlungen im Rahmen dieser Normen oder mit dem Rückhalt und der Reputation dieser Organisation haben die Friedensarbeit ermöglicht oder erleichtert.

Eine politische Arbeitsweise entspricht und verstärkt in gewisser Weise die in der Rubrik Wirkungsfeld vorgenommene Kodierung Politik/Diplomatie. Es geht wiederum um den langfristigen Einsatz für Frieden im Rahmen einer politischen oder diplomatischen Tätigkeit. In Abgrenzung dazu bezieht sich Friedensvertrag/-konferenz auf konkrete Abkommen, Verträge oder Ereignisse.

Wissenschaftlich ist die Arbeitsweise dann, wenn die ausgezeichnete Person oder Institution auf Basis ihrer fundierten Kenntnisse in einem bestimmten Fachgebiet zu Sicherung oder Erhalt des Friedens beiträgt. Ihre Forschungstätigkeit ermöglichte bspw. die Schaffung von Abrüstungsregimen oder den Kampf gegen Mangelernährung.

Unter Meinungsbildung wurde eine Arbeitsweise dann kodiert, wenn etwa auf künstlerischer, literarischer oder journalistischer Ebene sowie durch Bildungsarbeit die öffentliche oder veröffentlichte Meinung im Sinne des Friedens beeinflusst werden sollte. Die Bedeutung der Mobilisierung der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, die in weiterer Folge Druck auf staatliche Akteure aufbauen können, wird in den Quellen immer wieder als zentral herausgearbeitet. Als erstes Beispiel ist hier Bertha von Suttner (1905) zu nennen, die wesentlich über ihre literarischen Werke, vor allem mit ihrem Roman „Die Waffen nieder!“, Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen konnte.

Religion wurde bei religiösen Würdenträgern oder Organisationen kodiert, die vorwiegend aus ihrer religiösen Lehre und Überzeugung heraus handelten. Sie sahen ihre Friedensarbeit als Teil ihrer religiösen Pflicht oder argumentierten damit und motivierten dadurch andere Menschen zu (gewaltfreien) Handlungen.

Als Nächstes wurde versucht, die PreisträgerInnen bzw. ihre Friedensarbeit geografisch zu verorten, wobei die Herkunft von Personen bzw. der Sitz von Organisationen einerseits und die Verortung des Wirkungsbereichs andererseits unterschieden wurden. Es wurden Regionen bzw. Kontinente als Codes vergeben: Afrika, Asien, Australien/Ozeanien, Europa, Nord- und Südamerika, Naher Osten sowie international. International wurde dann gewählt, wenn eine Friedensarbeit nicht geografisch zuzuordnen war bzw. vom Preisträger/der Preisträgerin als genuin international und – zumindest potenziell – die ganze Welt betreffend verstanden wurde. Darüber hinaus wurden Friedensbemühungen, die zwei oder mehr Kontinente betrafen, als „international“ eingestuft. So wurden Bemühungen um die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verständlicherweise nicht auf einen bestimmten geografischen Raum eingeengt, sondern sollten – zumindest dem Anspruch nach – die ganze Welt betreffen. Allerdings muss dabei im Auge behalten werden, dass das Verständnis von „international“ oder „weltweit“ sich von 1901 bis 2016 erheblich verändert – nämlich erweitert – hat.

Um die teils sehr vielfältigen Wirkungsbereiche und Arbeitsweisen, die die einzelnen PreisträgerInnen bearbeiteten bzw. verwendeten, nicht zu stark zu simplifizieren und damit zu verfälschen, wurden bei diesen Mehrfachkodierungen vorgenommen. Es wurden allerdings maximal zwei Codes pro PreisträgerIn vergeben.

Qualitative Operationalisierung der verschiedenen Friedenskonzepte

Neben der Kodierung der oben genannten Variablen wurde auch herausgearbeitet, welche AkteurInnen vom jeweiligen Preisträger/der Preisträgerin als besonders wichtig für die Schaffung von Frieden angesehen wurden (z.B. Staat, Zivilgesellschaft, Internationale Organisation). Daneben wurden die Instrumente und Strategien benannt, die zu Frieden führen sollen, wie etwa Verhandlungen, Verrechtlichung, sozioökonomische Entwicklung etc. Aus der Kombination der quantitativen und qualitativen Variablen konnte das konkrete Friedensmodell des/der jeweiligen Preisträgers/in inhaltlich definiert und daraus verschiedene Konzepte abgeleitet werden.

1.2  Der Datensatz im Überblick – Was erzählt uns die Quelle?

Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 vergeben. Laut den Statuten des für die Vergabe gegründeten Nobel Instituts können pro Jahr maximal drei Personen oder Organisationen ausgezeichnet werden. Wenn in einem Jahr niemand einen entscheidenden Beitrag für den Frieden geleistet hat, so kann die Vergabe ausgesetzt werden, und das Preisgeld verbleibt im Fonds. Das Komitee kann auch entscheiden, dass es den Preis erst ein Jahr später vergibt, wie oben bereits beschrieben wurde. Das bedeutet, dass der Preis zwar seit 116 Jahren vergeben wird, durch Mehrfachvergaben einerseits und mehrere Jahre ohne Vergabe andererseits unterscheidet sich die Anzahl der vergebenen Preise aber deutlich von der Anzahl der Jahre. 19-mal wurde kein Friedensnobelpreis vergeben, dagegen gab es in 29 Jahren jeweils zwei PreisträgerInnen. Zweimal wurden sogar drei Preise vergeben. Insgesamt wurden bis 2016 demnach 130 AkteurInnen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

In den Jahren 1914 bis 1916 sowie 1918, 1923 und 1924, 1932, 1939 bis 1943 sowie 1948, 1955 und 1956 sowie 1966, 1967 und 1972 wurden keine Friedensnobelpreise vergeben. Ab 1973 wurde jedes Jahr mindestens ein Preis vergeben.

Vom ersten Jahr an gab es Mehrfachvergaben, also mehr als eine/n PreisträgerIn pro Jahr. Besonders bis Anfang der 1930er Jahre wurden oft zwei Preise vergeben, wobei die beiden PreisträgerInnen häufig für inhaltlich verwandte Tätigkeiten oder Errungenschaften ausgezeichnet wurden bzw. auch zusammengearbeitet haben, etwa Gustav Stresemann und Aristide Briand 1926 für ihren Beitrag zur deutsch-französischen Aussöhnung nach dem Ersten Weltkrieg.

Ein erster Blick auf die Problematiken oder Konflikte, zu deren Beilegung es Auszeichnungen gab, zeigt, dass einige so intensiv waren, dass Versuche zu deren Schlichtung sogar mehrmals mit dem Friedensnobelpreis bedacht wurden. Fortschritte in der Beilegung des Nordirland-Konflikts fanden bspw. zweimal Anerkennung, mit der Preisvergabe an jeweils zwei Personen: 1976 erhielten Betty Williams und Mairead Corrigan als zivilgesellschaftliche Akteurinnen den Preis für die Gründung und Mobilisierung der Friedensbewegung Peace People in Nordirland. Im Jahr 1998 wurden politische Vertreter der Konfliktparteien, nämlich John Hume und David Trimble, geehrt. In diesem Fall konnte der Konflikt so weit entschärft werden, dass er sich dauerhaft auf die politische, gewaltfreie Ebene verlagerte. Dies ist auch im Falle des Apartheid-Regimes in Südafrika letztlich gelungen: Für den Kampf gegen dieses Unrechtsregime wurde der Friedensnobelpreis insgesamt dreimal vergeben, nämlich bereits 1960 an den damaligen Vorsitzenden des African National Congress, Albert John Lutuli, 1984 an Bischof Desmond Mpilo Tutu und 1993 der bekannteste Preis für die friedliche Beendigung des Regimes und den weitgehend gewaltfreien Übergang zu einem demokratischen System an Nelson Mandela und Frederik W. de Klerk.

Nicht immer aber konnten Konflikte, deren Bearbeitung vom Nobelkomitee ausgezeichnet wurden, letztlich beigelegt werden: Der Nahost-Konflikt etwa erhielt ebenfalls dreimal eine Auszeichnung, weil es mehrmals danach aussah, als wären wichtige Schritte zu einem endgültigen Frieden errungen worden. Jedoch wissen wir, dass dieser Konflikt bis heute mit erheblicher Gewalt auf allen beteiligten Seiten ausgetragen wird.

Ebenso wurde mehrmals Arbeit für die Entspannung des schwierigen deutschfranzösischen Verhältnisses ausgezeichnet. Besonders in der Zwischenkriegszeit wurde dieser Konflikt als eine Art Schlüssel für den dauerhaften Frieden in Europa bzw. weltweit gesehen und daher ein Fokus darauf gelegt: 1925 wurden Sir Austen Chamberlain und Charles Gates Dawes für ihre Beiträge zur Entschärfung der Auswirkungen des Versailler Vertrags vor allem auf Deutschland ausgezeichnet, 1926 Aristide Briand und Gustav Stresemann für ihre Verdienste um die Aussöhnung und Annäherung Deutschlands und Frankreichs, und 1927 wurden Ludwig Quidde und Ferdinand Buisson ebenfalls für ihre Verdienste um die Aussöhnung zwischen den beiden Ländern geehrt – allerdings arbeiteten sie auf der zivilgesellschaftlichen Ebene. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Politik ebenfalls das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich als zentral für eine friedliche Nachkriegsordnung angesehen, allerdings wählte man nun einen anderen Weg: Die europäische Integration sollte sich auf immer mehr Staaten und immer mehr Politikfelder ausdehnen und somit letztlich Krieg zwischen den europäischen Staaten unmöglich machen. 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis.

1.3  Quantitative Auswertung

Zuerst soll nun ein quantitativer Überblick über den Untersuchungszeitraum gegeben werden, wobei vereinzelt bereits Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Friedenskonzepte und Zugänge zu Friedensarbeit gezogen werden können.

Personen oder Organisationen?

Von 1901 bis 2016 wurden insgesamt 130 Preise vergeben. Davon gingen 104 Preise bzw. 80 Prozent an Einzelpersonen und 26 Preise bzw. 20 Prozent an Organisationen. Wenn man die Verteilung Person – Organisation im Laufe der Zeit betrachtet, so ergibt sich keine auffällige Clusterung der Organisationen in einem gewissen Zeitraum. Die 1920er Jahre sind die einzige Dekade, in der keine Organisation ausgezeichnet wurde. Die regelmäßigen und häufigen Vergaben von Friedensnobelpreisen an Organisationen zeigen, dass diese von Beginn des Friedensnobelpreises an als relevant für Friedensarbeit betrachtet wurden, und zwar vorwiegend zivilgesellschaftliche Vereinigungen: Von den insgesamt 26 Organisationen sind 16 der nichtstaatlichen Sphäre zuzuordnen, die übrigen zehn arbeiten auf supranationaler Ebene, wobei als früheste supranationale Organisation 1938 das Nansen International Office for Refugees geehrt wurde.

Sechsmal wurde eine Organisation gemeinsam mit einer Einzelperson, meist ein/e RepräsentantIn der Organisation, ausgezeichnet: 1995 wurde gemeinsam mit den Pugwash Conferences auch deren Begründer und Leiter Joseph Rotblat geehrt; 1997 gemeinsam mit der International Campaign to Ban Landmines deren, laut Nobelkomitee, bekannteste und aktivste Sprecherin Jody Williams; 2001 gemeinsam mit der UNO deren damaliger Generalsekretär Kofi Annan; 2005 gemeinsam mit der International Atomic Energy Agency (IAEA) deren damaliger Generalsekretär Mohamed El Baradei; ebenso wie 2006 gemeinsam mit der Grameen Bank deren Gründer Muhammad Yunus. 2007 wurde neben dem Intergovernmental Panel on Climate Change auch Al Gore mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Er ist zwar kein Vertreter des Panels, wurde jedoch vom Nobelkomitee als „der Kommunikator“ in Sachen Klimawandel bezeichnet.

Die Wirkungsfelder der Organisationen sind recht breit gestreut. Wie bereits angeführt, wurden in den Kategorien Wirkungsbereich und Arbeitsweise öfters zwei Merkmalsausprägungen kodiert, sodass es 31 „Wirkungsfelder“ gibt, die für die 26 Organisationen kodiert wurden: fünfmal Abrüstung, dreimal Entwicklung, elfmal humanitäre Hilfe, je dreimal Menschenrechte, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus nichtstaatlicher Position sowie aus staatlicher Position, und je einmal standen Umwelt, Politik/Diplomatie und Verhandlungen im Mittelpunkt der Friedensarbeit. Es ist auffällig, dass das Wirkungsfeld Menschenrechte zwar insgesamt bei 29 PreisträgerInnen zentral war, aber nur drei davon Organisationen waren (UNHCR 1954, ILO 1969, Amnesty International 1977).

Als Arbeitsweisen wurden 34 Codes für die 26 Organisationen vergeben, wobei wenig überraschend die Ausprägung Organisation/Koordination mit 21 Vergaben dominiert. Zwei Preise wurden an Organisationen für konkrete Friedensverträge oder -konferenzen vergeben (International Campaign to Ban Landmines, IAEA), zwei für religiös begründete Friedensarbeit (Quäker), fünf für wissenschaftliche und vier für langfristige politische oder diplomatische Arbeit. Man kann daraus den ersten vorläufigen Schluss ziehen, dass aus Sicht des Nobelkomitees vor allem durch Institutionalisierung und Verrechtlichung von Zusammenarbeit verschiedener AkteurInnen zu unterschiedlichen Themen Frieden erreicht oder gesichert werden kann.

Frieden als Männersache?

Von den 104 Personen, die insgesamt den Friedensnobelpreis bekamen, waren 88 Männer und nur 16 Frauen, was 88 bzw. 15 Prozent entspricht. Die sehr niedrige Frauenquote unter den PreisträgerInnen wurde selbst vom Nobelkomitee einmal kritisch angemerkt, wobei jedoch keine Erklärung versucht, sondern lediglich erwähnt wurde, dass das Nobelkomitee in der Vergangenheit zu wenige Frauen ausgezeichnet habe (Award Ceremony Speech 1997). 1905 erhielt Bertha von Suttner als erste Frau den Friedensnobelpreis. Sie war eine persönliche Freundin von Alfred Nobel, und es wird vermutet, dass er unter anderem aufgrund ihres Einflusses eine Auszeichnung für Frieden als fünfte Preiskategorie stiftete. Suttner wurde für ihre Rolle in der europäischen Friedensbewegung sowie ihre Publikation „Die Waffen nieder!“ ausgezeichnet. In der (etwas martialischen) Sprache der damaligen Friedensbewegung wurde sie als „Generalissimo“ der europäischen Friedensbewegung bezeichnet (Award Ceremony Speech 1905). Die nächste Frau, die den Friedensnobelpreis bekam, war Jane Addams im Jahr 1931 (gemeinsam mit Nicholas Murray Butler). Sie wurde zwar hauptsächlich für ihren Einsatz für Abrüstung und ihre Rolle in der internationalen Frauenfriedensbewegung ausgezeichnet. Dennoch werden in der Begründung des Komitees vor allem ihre Rolle als Frau und die jeder Frau inhärente Friedensliebe und soziale Wärme hervorgehoben, die auch ihr soziales Engagement im sogenannten Hull House in Chicago inspiriert hätten. Wir erkennen eine deterministische, biologistische Sprache: Friedensliebe sei jeder Frau inhärent; eine größere Machtposition der Frauen in der Politik würde automatisch Kriege beenden (Award Ceremony Speech 1931). Emily Greene Balch hat 1946 als dritte Frau den Friedensnobelpreis bekommen. Sie und Jane Addams hatten lange zusammengearbeitet. Auch hier standen Abrüstung sowie Balchs Engagement in der Frauen- und Friedensbewegung im Vordergrund. Die Reden des Nobelkomitees zeigen deutlich, dass das damals vorherrschende gesellschaftliche Frauenbild diese eher auf „weiche“ Arbeitsbereiche wie soziales Engagement und karitative Arbeit festlegte, weshalb diese Aspekte in der Arbeit der beiden Frauen stark betont wurden, obwohl die Preise eigentlich für Errungenschaften im Feld der Abrüstung vergeben wurden. Die Fallstudie zu Jane Addams zeigt auf, wie das Nobelkomitee ihre umfassende Arbeit auf einige Aspekte reduzierte, um die Vergabe des Preises an sie zu begründen.

Erst 1976 wurden dann die nächsten Frauen ausgezeichnet, nämlich Betty Williams und Mairead Corrigan für die Gründung der Friedensbewegung Peace People, die sich für ein Ende der Gewalt im Nordirlandkonflikt einsetzte. 1979 wurde Mutter Theresa für ihre humanitäre Hilfe ausgezeichnet, die sie aufgrund ihrer Lesart des Evangeliums ausführte. 1982 folgte mit Alva Myrdal die einzige Frau aus der staatlichen Sphäre. Sie war als Ministerin mit Abrüstungsfragen betraut und setzte sich vor allem für atomare Abrüstung ein. Ihr Ziel war eine „nuklearwaffenfreie Zone Europa“. In den 1990er Jahren finden sich dann gleich drei Frauen: Aung San Suu Kyi 1991, Rigoberta Menchú 1992 und Jody Williams 1997. Erstmals waren nun auch Frauen dabei, die außerhalb Europas oder der USA beheimatet waren bzw. arbeiteten, ebenso wie 2003 Shirin Ebadi aus dem Iran und 2004 Wangari Muta Maathai aus Kenia. 2011 wurden in einem Jahr drei Frauen geehrt, nämlich Ellen Johnson Sirleaf und Leymah Gbowee aus Liberia, die für ihren gewaltfreien Einsatz für ein Ende der (sexualisierten) Gewalt in diesem Land eintraten sowie Tawakkol Karman als Journalistin und Aktivistin im Jemen im Rahmen des Arabischen Frühlings. Malala Yousafzai ist die bisher letzte und gleichzeitig auch jüngste Frau bzw. Preisträgerin überhaupt, die 2014 für ihren gewaltfreien Kampf für das Recht auf Bildung für alle Kinder ausgezeichnet wurde.

Wenn man den Wirkungsbereich der 16 Frauen betrachtet, so wurde ihre Friedensarbeit siebenmal im Bereich Menschenrechte, fünfmal für Abrüstung, dreimal für (innergesellschaftliche) Versöhnung und jeweils einmal für Entwicklung, humanitäre Hilfe, Umwelt sowie Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus nichtstaatlicher Position verortet. Die Kategorien Politik/Diplomatie, Verhandlungen sowie Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus staatlicher Position trafen auf keine Nobelpreisträgerin zu. Als Arbeitsweise wurden insgesamt 22 Merkmalsausprägungen identifiziert, von denen 15 Organisation/Koordination betreffen, drei Meinungsbildung und je eine Politik, Wissenschaft, Friedensvertrag/-konferenz und Religion.

Insgesamt ist auffallend, dass es so wenige weibliche Preisträgerinnen gibt. Dies mag die tatsächlichen gesellschaftlichen und vor allem politischen Machtpositionen der Frauen widerspiegeln: Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Frauen nur selten in der Öffentlichkeit bzw. in politischen Ämtern oder prominenten Positionen vertreten – dementsprechend war auch ihr Beitrag zum Frieden in der Welt(-politik) wenig sichtbar, was dann auch zu wenigen Auszeichnungen führte. Besonders bei dem frühen Preis für Bertha von Suttner wird in der Rede des Nobelkomitees betont, wie außergewöhnlich ihre führende Rolle als Frau in der europäischen Friedensbewegung sei (Award Ceremony Speech 1905). Als weitere Faktoren, die für dieses Missverhältnis der Geschlechter verantwortlich sein könnten, kann unter anderem das Verfahren zur Auswahl der FriedensnobelpreisträgerInnen genannt werden. Der Modus von Vorschlag und Auswahl der PreisträgerInnen wurde bereits oben erklärt. Je mehr Männer im Personenkreis sind, der PreisträgerInnen nominieren kann, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass sie wiederum Männer vorschlagen.

Aus welcher Machtposition heraus arbeiten die PreisträgerInnen?

Wenn man die Variable Akteursebene betrachtet, also die Verteilung zwischen staatlichen, nichtstaatlichen und supranationalen AkteurInnen, so ergibt sich folgendes Bild: Insgesamt wurden 40 staatliche AkteurInnen (31 Prozent) ausgezeichnet, 71 PreisträgerInnen (55 Prozent) waren nichtstaatliche AkteurInnen und 19 (15 Prozent) supranationale AkteurInnen. Das Zahlenverhältnis zeigt, dass die nichtstaatlichen AkteurInnen insgesamtüberwiegen. Dies wird allerdings relativiert, wenn man die staatlichen und supranationalen AkteurInnen als „staatsnahe“ Bereiche zusammendenkt: Dann stehen 45 Prozent staatliche bzw. suprastaatliche AkteurInnen 55 Prozent zivilgesellschaftlichen PreisträgerInnen gegenüber. Daraus kann abgeleitet werden, dass das Nobelkomitee insgesamt dem Staat als Akteur auf der internationalen Ebene sowie internationalen Regimen, internationaler Zusammenarbeit oder Verrechtlichung (supranationale AkteurInnen) eine wichtige Rolle bei der Friedensschaffung beimisst, obwohl die zivilgesellschaftliche Ebene (Friedensbewegungen) von Beginn der Preisvergabe an als sehr bedeutend eingeschätzt wurde und sich der Friedensbegriff im Laufe der Zeit deutlich erweiterte, wie wir später noch sehen werden: weg von zwischenstaatlichen hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen.

Abb. 1: Akteursebene der FriedensnobelpreisträgerInnen, 1901–2016

Wirkungsbereiche der FriedensnobelpreisträgerInnen

Wie im Kapitel zur Methodik erläutert, wurden bei der Variable Wirkungsbereich Mehrfachkodierungen vorgenommen, wobei maximal zwei Codes vergeben wurden. Einzig bei Nelson Mandela und Fredrik de Klerk 1993 wurden drei Wirkungsbereiche (Verhandlungen, Menschenrechte und Versöhnung) kodiert. Insgesamt wurden somit für die 130 Friedensnobelpreise 165 verschiedene Merkmalsausprägungen „Wirkungsbereich“ vergeben.

Abb. 2: Wirkungsbereiche der FriedensnobelpreisträgerInnen, 1901–2016

Ein sehr wichtiges Themenfeld ist die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Insgesamt wurden 41 PreisträgerInnen (25 Prozent) für Verdienste in diesem Bereich ausgezeichnet. Dabei wurde jedoch weiter zwischen staatlichen AkteurInnen, die für Verrechtlichung eintraten (22 bzw. 13,3 Prozent) und nichtstaatlichen AkteurInnen (19 bzw. 11,5 Prozent) differenziert. Wie bereits erläutert, wurden supranationale AkteurInnen hierbei als staatliche AkteurInnen kodiert. Ausschlaggebend für diese Festlegung waren die relative Machtposition und der Handlungsspielraum, der AkteurInnen real zur Verfügung steht. Betrachtet man also den Wirkungsbereich Verrechtlichung insgesamt, so wurden die meisten Preise hierfür vergeben.

Ebenfalls häufige Wirkungsbereiche waren Verhandlungen (30 Preise) und Menschenrechte (29 Preise). Abrüstung (vorwiegend atomare Abrüstung) wurde bei 22 PreisträgerInnen als zentrales Handlungsfeld herausgearbeitet (13,3 Prozent). Humanitäre Hilfe war bei 16 AkteurInnen ausschlaggebend für die Auszeichnung (9,7 Prozent), Entwicklung und innergesellschaftliche Versöhnung je neunmal (5,5 Prozent). Hingegen wurde nur sechsmal Politik oder Diplomatie ausgezeichnet (3,6 Prozent). Als jüngstes Themenfeld kam 2004 Umwelt (bzw. Klimawandel) auf die Agenda des Nobelkomitees. Insgesamt wurden nur drei Friedensnobelpreise (1,8 Prozent) dafür vergeben, zwei davon im gleichen Jahr (Al Gore und IPCC 2007).

Aus rein quantitativer Sicht ist erkennbar, dass sich das Nobelkomitee stark auf AkteurInnen konzentriert hat, die das Völkerrecht und dessen Vertiefung und Stärkung als zentrales Thema und Instrument zur Erlangung oder Sicherung des Friedens sahen. Dementsprechend sind auch Verhandlungen zur Lösung eines konkreten Konflikts, die dann in ein konkretes Abkommen, also ein völkerrechtliches Instrument, mündeten, häufig mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Das deutet auf ein stark verankertes Verständnis von Frieden als Rechtssicherheit hin, was auch in den Reden seit Beginn des Preises sowohl vom Nobelkomitee als auch von den PreisträgerInnen immer wieder betont wurde: Friede brauche Sicherheit und Sicherheit bedeute vorwiegend Rechtssicherheit. Es wurde häufig mit einer Analogie zum innerstaatlichen Rechtssystem argumentiert: Innerstaatlich sei Gewalt verboten bzw. Regeln unterworfen und es gebe Sanktionen für Verstöße. Die Menschen leben in diesen Staaten weitgehend friedlich, daher müsse man dieses System von klaren Regeln und Sanktionen auf die internationale Ebene übertragen, um somit die Anarchie zu beenden und Gewalt als legitimes Mittel der Politik zu verbieten.

Darüber hinaus wurde Verrechtlichung neben Abrüstung von Beginn an als geeignetes Mittel gesehen, um das Sicherheitsdilemma der Staaten zu überwinden: Staaten rüsten auf, da sie sich von der Bewaffnung der jeweils anderen Staaten bedroht fühlen. Dies wird wiederum von den anderen Staaten als Bedrohung empfunden und führt zu weiterer Rüstung. Durch die Schaffung internationaler Verträge werden die Beziehungen der Staaten zueinander geordnet und der Aufbau von Vertrauen bewirkt. Dementsprechend sinkt das Misstrauen und Unsicherheitsgefühl der Staaten, was eine schrittweise allgemeine Abrüstung ermöglicht bzw. erleichtert. Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen spielte also auch für die Abrüstung eine wichtige Rolle, wie in zahlreichen Reden von PreisträgerInnen erläutert wurde.

Eine wichtige Anmerkung zu diesem ersten vorläufigen Ergebnis ist, dass der Begriff „Sicherheit“ zwar in fast allen Reden seit 1901 vorkam – sowohl seitens des Komitees als auch seitens der PreisträgerInnen –, allerdings muss davon ausgegangen werden, dass sich das dahinterstehende Konzept stark verändert hat. Um nur zwei „Pole“ von unterschiedlichen Sicherheitsbegriffen aufzuzeigen: In den ersten Jahren des Friedensnobelpreises wurde Friede eindeutig mit Rechtssicherheit gleichgesetzt. In den jüngsten Jahren der Vergabe des Nobelpreises tauchte als Gegenpol das Konzept der human security auf, das alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst und weit über das bloße materielle „Überleben“ der Menschen hinausgeht.

Die ebenfalls häufige Auszeichnung von Arbeit im Bereich der Menschenrechte zeigt außerdem, dass das Komitee zahlreiche AkteurInnen auswählte, die ein breites Friedenskonzept teilten: Nicht die Abwesenheit von Krieg sei ausschlaggebend, sondern die Qualität dieses Friedens, wobei unter anderem die Achtung der Menschenrechte als Indikator für diese Qualität verwendet wurde. Da die Menschenrechte erst 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als universell deklariert und daraufhin diskursiv wirkmächtiger wurden, wird dieser Themenbereich erst nach dem Zweiten Weltkrieg für den Friedensnobelpreis relevant. Die erste Auszeichnung für Arbeit in diesem Bereich wurde 1951 an Léon Jouhaux vergeben.

Ein ebenfalls starkes Thema ist Abrüstung, wobei vorausgeschickt werden kann, dass es hauptsächlich um atomare Abrüstung ging, deren Bedeutung nach den Abwürfen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki besonders betont und als einzige Möglichkeit für das langfristige Überleben der Menschheit argumentiert wurde. Auch wenn das Nobelkomitee über weite Strecken ein breites Friedenskonzept verfolgte, wie an der großen Bedeutung des Themenfelds Menschenrechte erkennbar ist, wurde dennoch der Reduktion bzw. dem Verbot von Waffen im Allgemeinen und einzelnen Technologien immer wieder große Bedeutung beigemessen. Dies wurde in der Zwischenkriegszeit, in der Nachkriegszeit, in der Hochphase des Kalten Kriegs und in der Ära der sogenannten neuen Kriege deutlich.

Ebenso wie Abrüstung würde auch humanitäre Hilfe eher auf ein enges Friedenskonzept verweisen, wobei auch hier im chronologischen Überblick gesagt werden kann, dass sich dieser Themenbereich vorwiegend auf die Zeiten während bzw. unmittelbar nach großen Kriegen beschränkte (Erster und Zweiter Weltkrieg, Vietnam u. ä.). Das Verständnis von humanitärer Hilfe erweiterte sich langsam, so dass ein Übergang von diesem Themenbereich zu „Entwicklung“ beobachtet werden kann. Es sollte nicht mehr nur um die Linderung von Not gehen, Hilfe zur Selbsthilfe sowie die Bearbeitung der Ursachen von Armut oder Konflikten wurden wichtiger. Dies deutet auch einen sich weitenden Friedensbegriff an. Besonders klar wird dies bei United Nations International Children’s Emergency Fund UNICEF (1965). Dessen Mandat war ursprünglich, unterernährten Kindern und ihren Müttern im Nachkriegseuropa zu helfen, um Hunger, Krankheiten sowie Kindersterblichkeit zu reduzieren. Bald jedoch erholte sich Europa wirtschaftlich und der Arbeitsbereich von UNICEF verlagerte sich auf die nun großteils dekolonisierten sogenannten Entwicklungsländer. Dabei veränderte sich auch die Arbeitsweise der Organisation, die nun Bildungsprogramme, medizinische Kampagnen usw. beinhaltete und stärker die Rolle der Mütter in den Blick nahm.

Unterschiedliche AkteurInnen fokussieren unterschiedliche Wirkungsbereiche

Je nach Akteursebene sind Unterschiede in den Wirkungsbereichen zu beobachten. Es wurden den 71 nichtstaatlichen AkteurInnen insgesamt 85 Wirkungsbereiche zugeordnet (s. Abb. 3). Das Feld Menschenrechte dominiert mit 23 Nennungen, gefolgt von Verrechtlichung der internationalen Beziehungen (20) und Abrüstung (12). Der Einsatz für Menschenrechte und deren Einhaltung in der Realität scheint also ein zivilgesellschaftlicher Schwerpunkt zu sein. Dies erscheint naheliegend, ist es doch Aufgabe der Staaten, die Menschenrechte zu garantieren bzw. zu schützen. Wenn dies eingefordert wird oder werden muss, so kommt diese Forderung aus dem nichtstaatlichen Bereich. Auch Versöhnung ist fast ausschließlich ein nichtstaatliches Themenfeld: Nur de Klerk 1993 war Politiker.

Im Gegensatz dazu dominieren bei den 40 staatlichen AkteurInnen, die insgesamt in 54 Wirkungsfeldern tätig waren, Verhandlungen (23) und ebenfalls Verrechtlichung der internationalen Beziehungen (16). Dies bestätigt bisherige erste Rückschlüsse, dass staatliche AkteurInnen über die Verhandlung und Schaffung von völkerrechtlichen Instrumenten (Verrechtlichung) oder konkrete Verträge den Frieden in der Welt gestalten und institutionalisieren möchten.

Den 19 supranationalen PreisträgerInnen wurden 24 Wirkungsfelder zugeordnet, wobei Abrüstung, humanitäre Hilfe und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen jeweils fünfmal genannt wurden. Aus dieser Gegenüberstellung ist abzulesen, dass die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen für alle drei Akteursebenen ein wichtiger Aspekt ist.

Arbeitsweisen der PreisträgerInnen

Anhand der Wirkungsbereiche der PreisträgerInnen sind also erhebliche Unterschiede zwischen den drei Akteursebenen zu erkennen. Dies gilt auch für die Variable Arbeitsweise. Die nächste Grafik zeigt, dass auch die Art, wie für Frieden gearbeitet wurde, zwischen den Akteursebenen variiert (s. Abb. 4). Zunächst wollen wir aber einen Blick auf die Gesamtverteilung werfen.

Auch bei dieser Variable gab es Mehrfachkodierungen. Die wichtigste Arbeitsweise ist bei weitem „Organisation/Koordination“, die 73-mal vergeben wurde (39,2 Prozent). Hierbei ist, wie erwähnt, gemeint, dass Prinzipien, Regeln und Strukturen einer Institution und die dadurch möglich werdende Arbeit bzw. Autorität von AkteurInnen zentral für den Erfolg der Friedensarbeit waren. Bspw. kann das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nur deswegen auch in äußerst gefährlichen Situationen vergleichsweise frei handeln, weil die Prinzipien der Organisation, wie etwa absolute Unparteilichkeit, Neutralität und Hilfe ohne Ansehen der Person, ihr große Autorität verschaffen. Daher wird das IKRK auch von den meisten Konfliktparteien respektiert. Als solche „Autorität“ in diesem Feld der humanitären Hilfe war es dem Komitee möglich, sich für die Verrechtlichung von Kriegssituationen (humanitäres Völkerrecht) einzusetzen, neue Konventionen voranzutreiben und Staaten bei Verstößen öffentlich mit Nachdruck anzuklagen. Die Dominanz dieser Kategorie ergänzt den Befund aus der Analyse der Variable Wirkungsbereich, dass „Verrechtlichung“ und „Verhandlungen“ sehr wichtige Handlungsfelder für FriedensnobelpreisträgerInnen waren – somit wird auch durch diese Variable unterstützt, dass Friede seitens des Nobelkomitees sehr stark mit Institutionalisierung und Verrechtlichung verbunden wurde. Das zeigt weiters, dass Frieden, auch wenn er breit definiert wird, ganz wesentlich von Staaten „gemacht“ oder „zerstört“ wird, denn Rechtsträgerinnen in den internationalen Beziehungen sind wesentlich die Staaten.

Abb. 3: Wirkungsbereiche der PreisträgerInnen nach Akteursebene, 1901–2016

Als nächstgrößere Ausprägung der Variable Arbeitsweise ist Politik mit 36 (19,4 Prozent) zu nennen, dicht gefolgt von Friedensvertrag/-konferenz, mit 35 (18,8 Prozent). Das verstärkt ebenfalls den Eindruck, dass Friede wesentlich von Staaten getragen und somit als zwischenstaatlicher Zustand konzeptualisiert wird.

„Weichere“ Instrumente wie Meinungsbildung und Wissenschaft wurden jeweils 16-mal kodiert (je 8,6 Prozent). Wenn über den Weg der Meinungsbildung der Friede gestärkt werden sollte, deutet das darauf hin, dass die innerstaatliche Ebene, die Gesellschaft und der mögliche Druck auf die Politik, der von der Zivilgesellschaft ausgehen konnte, als relevant angesehen wurden. Wissenschaft verweist darauf, dass sowohl die öffentliche Meinung als auch die Politik durch wissenschaftlich fundierte Argumente überzeugt werden sollten. Insgesamt zehnmal (5,4 Prozent) wurde Religion als Arbeitsweise gewählt, was bedeutet, dass die religiöse Lehre und darin verankerte Prinzipien die konkrete Strategie der Friedensarbeit und die Argumentationen der AkteurInnen wesentlich beeinflussten. Zu nennen wären hier etwa die religiösen Würdenträger Nathan Söderblom, der für die Ökumene eintrat, der südafrikanische Bischof Desmond Tutu und der ost-timoresische Bischof Carlos Filipe Ximenes Belo, die ihre konkrete Arbeit wesentlich auf religiöse Lehren bzw. ihre Autorität als religiöse Würdenträger stützten. Ebenso zählen der Dalai Lama oder Martin Luther King dazu, die zwar nicht für ihre Rolle als Seelsorger ausgezeichnet wurden, jedoch durch ihre religiös geprägten Argumente und Werte auf die Gesellschaft Einfluss nahmen. Interessant erscheint der Zusammenhang zwischen Arbeitsweise und Akteursebene, wie er in Abb. 4 deutlich wird.

Abb. 4: Arbeitsweise der FriedensnobelreisträgerInnen nach Akteursebene, 1901–2016

Woher kommen die PreisträgerInnen?

Die Verteilung der Herkunft der FriedensnobelpreisträgerInnen zeigt, aus welcher geografischen Region eine Person stammt bzw. wo eine Organisation ihren Hauptsitz hat. Hier wurden Nord- und Südamerika als getrennte Regionen benannt, der Nahe Osten, der nicht eindeutig einem Kontinent zugeordnet werden kann, wurde als solcher kodiert. Die Sowjetunion, Herkunftsort von Michail Gorbatschow und Andrei Sacharow, wurde Europa zugezählt, um Mehrfachnennungen zu vermeiden. Die International Campaign to Ban Landmines ist ein loses Netzwerk aus NGOs aus mehreren Kontinenten und hat durch ihren Netzwerkcharakter keinen „Hauptsitz“, der als Herkunftsort kodiert werden könnte – daher wurde hierfür die Bezeichnung „International“ gewählt.