Frischfleisch - Vincent Voss - E-Book

Frischfleisch E-Book

Vincent Voss

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Beschreibung

Lasst euch doch BRDigen! Zombies in Deutschland! Das Ende der Zivilgesellschaft! Ein kannibalistischer Gerichtsmediziner aus dem norddeutschen Wakendorf II geht auf einem zurückgezogenen Resthof seiner Leidenschaft nach und wird zum allerersten Untoten. Von dort aus greift das Phänomen um sich und überrollt Deutschland. Lediglich Tim Fabian, ein Journalist und Professor Dr. Robert Jäger, ein Ethnologe, kämpfen gegen das Unmögliche, warnen die Bevölkerung, die gezielt im Unklaren gelassen wird und schmieden einen Plan, der sie zurück nach Wakendorf II bringt. Dort nehmen sie den Kampf gegen die Untoten auf. Vincent Voss erweckt in "Frischfleisch – Nullpersonen" Untote in Deutschland zum Leben, legt die Zivilgesellschaft in Schutt und Asche und zeigt wie Politik und Medien versagen. Zu jeder Zeit hat der Leser das Gefühl, es könne wirklich so passieren. Direkt in der Nachbarschaft. Jetzt! Hier!

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Frischfleisch

Nullpersonen

von

Vincent Voss

Frischfleisch

Nullpersonen

Vincent Voss

© 2019 Verlag Torsten Low Rössle-Ring 22 86405 Meitingen/Erlingen

Besuchen Sie uns im Internet:www.verlag-torsten-low.de

Alle Rechte vorbehalten.

Cover: Timo Kümmel

Lektorat und Korrektorat: L. Rautenberger, T. Low

eBook-Produktion: Cumedio Publishing Services – www.cumedio.de

ISBN (Buch):978-3-940036-38-4 ISBN (mobi):978-3-940036-55-1

Inhalt

Kapitel 1 – Kesh auf Radio Gamma

Kapitel 2 – Hit the road, Jack

Kapitel 3 – Tim und die Toten

Kapitel 4 – Hurra, Hurra, die Schule brennt!

Kapitel 5 – Ein dreckiger Tag

Kapitel 6 – Von Kindern und Bienen

Kapitel 7 – Von Lust und Fleisch

Kapitel 8 – Der Polizist und der Wolf

Kapitel 9 – Tims Blog

Kapitel 10 – Sandra

Kapitel 11 – Die Hesse kommen

Kapitel 12 – Menschenfresserschuldirektor

Kapitel 13 – Unangenehmer Beifahrer

Kapitel 14 – Z is in the air

Kapitel 15 – Der Adler und der Eulenwald

Kapitel 16 – Der Geruch von Leichen

Kapitel 17 – Wenn einer eine Reise tut

Kapitel 18 – Viral, illegal, scheißegal

Kapitel 19 – Ein Adler im Eulenwald

Kapitel 20 – Der Jäger, der Hexer aus Ghana und der Untote

Kapitel 21 – Unbekannt

Kapitel 22 – Blut ist dicker als Urin

Kapitel 23 – Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn

Kapitel 24 – Tims Tunnelblick

Kapitel 25 – Essen auf Rädern

Kapitel 26 – Der Unfall

Kapitel 27 – Tim wird verfolgt

Kapitel 28 – Letzte Meldung

Kapitel 29 – Hier kommt Alex

Kapitel 30 – Neues aus Wakendorf

Kapitel 31 – Blog ohne Blogger

Kapitel 32 – Nachrichten

Kapitel 33 – Einer fehlt

Kapitel 34 – Politik wird auf Toiletten gemacht

Kapitel 35 – Der Gerichtsmediziner und das Böse um ihn herum

Kapitel 36 – Liam und Jack gehen Zelten

Kapitel 37 – Vom Regen in die Traufe

Kapitel 38 – Experimente an Menschen

Kapitel 39 – Wakendorf fällt

Kapitel 40 – Es ist Licht am Ende des Tunnels

Kapitel 41 – Das Diktat der Mobilfunktelefone

Kapitel 42 – Hinter der Tür

Kapitel 43 – Atemlos durch die Nacht

Kapitel 44 – Die Konferenz der …

Kapitel 45 – Turnen mit Untoten

Kapitel 46 – Todgeweiht

Kapitel 47 – Tot geschossen

Kapitel 48 – Tunnelblick

Kapitel 49 – Die Raute im Herzen

Kapitel 50 – Im Nebel Schwarz sehen

Kapitel 51 – Krankenhausessen muss nicht immer schlecht sein

Kapitel 52 – Leichen im Keller

Kapitel 53 – Marsch, Marsch!

Kapitel 54 – Zs im Äther

Kapitel 55 – Nächtlicher Hunger

Kapitel 56 – Mit Congreed durch Hamburg

Kapitel 57 – Kyle und Emma

Kapitel 58 – Jäger spricht türkisch

Kapitel 59 – Schwarz sehen im Rathaus

Kapitel 60 – Hopp, hopp, hopp, Atomkraftwerke stopp!

Kapitel 61 – Das Licht ist aus, wir gehen nach Haus

Kapitel 62 – Nullpersonen ziehen nach Norden

Kapitel 63 – Nachrichten

Kapitel 64 – Auf den Dächern von Wankendorf II

Kapitel 65 – Über und unter den Dächern von Wakendorf II

Kapitel 66 – Hinter Glas

Kapitel 67 – Wakendorf II aus der Luft

Kapitel 68 – Wakendorf II – Am Boden

Kapitel 69 – Das Gute an sich

Kapitel 70 – Der Gerichtsmediziner und das Gute an sich

Kapitel 71 – Hier ruhen die Toten

Kapitel 72 – Cloud 9

Über den Autor

Lesetipps

Dieses Buch ist den Lows, meiner Lektorin Lilly Rautenberger und allen anderen verrückten Z-Nerds gewidmet. Es fängt immer an. Überall. Besser ihr legt euch Vorräte an.

Diese Geschichte, die meisten Figuren sowie die Handlungen und Reaktionen der real existierenden Personen sind frei erfunden. Diese Geschichte stellt dar, wie ein Zombieszenario in Deutschland ablaufen könnte.

Kapitel 1 – Kesh auf Radio Gamma

I don’t know what happened to Antonio Bay tonight.Something came out of the fog and tried to destroy us.

»The Fog«; 1980

11:43 Uhr, Kiel

»Moin! Hier ist Kesh am späten Vormittag und im Ticket-Counter haben wir gleich zwei Tickets für das Big-4-Festival in Hamburg. Kommt, Leute! Ruft an, es ist immer noch so nebelig, da könnt ihr da draußen eh noch nix sehen. Jetzt gibt es aber erst mal die Red Hot Chili Peppers auf die Ohren!« Kesh drückte das Mikro aus und sah dem Newsticker aus der Nachrichtenredaktion nach, der auf ihrem Monitor durchlief. Hatte sie dort gerade Amoklauf im Kindergarten gelesen? Anthony Kiddies sang vom weißen Schnee in Kalifornien, sie wartete währenddessen, dass die Meldung sich im Ticker wiederholte. Das tat sie aber nicht. Hatte sie sich verlesen? Knapp zwei Minuten hatte sie noch Off-Air, sie rief Paddel aus der Nachrichtenredaktion an.

»Was war denn das mit dem Amoklauf im Kindergarten eben? Im Ticker?«, wollte sie von ihm wissen.

»Was war denn das gestern mit dem Typen?«, stellte Paddel eine Gegenfrage und meinte das einem Typen von ihr ins Gesicht geschüttete Bier als Antwort auf einen plumpen Anmachversuch. Gestern war nicht ihr Tag gewesen. Die ganze Woche war nicht ihre Woche. Seit Joscha mit ihr Schluss gemacht hatte, lief sie völlig neben der Spur.

»Ey, der hat eins auf die Ketten verdient, Paddel. Und jetzt der Amoklauf.« Eine Minute noch. Sie sah es in der Ticket-Hotline blinken, ein Anrufer in der richtigen Leitung.

»Amoklauf im Kindergarten?«, fragte Paddel nach.

»Jepp. Lief gerade durch den Ticker.« Durch den Hörer hörte sie ihn tippen.

»Das waren Agenturnachrichten, Kesh. Fangfrisch vom Kutter, aber … Amoklauf im Kindergarten ist da nicht. Bist du dir sicher?«

Sie überlegte. Nein, sicher war sie sich nicht. Sie hatte gestern zu lange gefeiert, hatte immer noch Kopfschmerzen und Nachdurst. Sie war sich aber sicher, dass es einfacher war, jetzt nachzugeben. Hey, sie war nur Moderatorin. Kesh über Mittag auf Radio Gamma, dem etwas verrücktem Sender. Sie war nicht Marietta Slomka. Aber irgendetwas, vielleicht der Hauch eines journalistischen Spürsinns, ließ sie etwas wittern.

»Frag mal bei der Agentur nach, Paddel. Warum sie die Nachricht rausgenommen haben.« Kurze Pause, Paddel stöhnte.

»Kesh, wir sind ein Musiksender, nicht BBC …« zehn Sekunden noch.

»Paddel, komm schon!« Noch eine Pause, Kesh legte einen Finger auf die ON-AIR-Taste.

»Ja, in Ordnung«, gab sich Paddel geschlagen. Sie schaltete die Tickethotline hinzu und ging auf Sendung.

»Moin, Leute. Ihr hört Kesh über Mittag und wir hauen gerade zwei Tickets für das Big-4-Festival mit Metallica in Hamburg raus. Mal sehen, ob jemand in Leitung 10 ist und gewonnen hat. Kesh über Mittag auf Radio Gamma. Moin, wer bist du?«

Kapitel 2 – Hit the road, Jack

Melissa: Why do they call you the Duck?

Rubber Duck: Because it rhymes with »luck.« See, my daddy always told me to be just like a duck. Stay smooth on the surface and paddle like the devil underneath!

»Convoy«; 1978

Der Trick war, sich vorzustellen, man sei eine über einen Stuhl gehängte Socke. Ronnie stellte es sich seit ungefähr zwei Stunden vor. Frankfurter Kreuz, und er musste rüber auf die A7 nach Norden, um vor der Nacht noch die dänische Grenze zu erreichen. Das war zumindest sein Plan. Er sah den Schritt für Schritt vorwärts rollenden Wagen auf dem langen, geraden Teilabschnitt der Autobahn hinterher und vermisste die meditative Entspannung, die er als Socke eigentlich erreichen wollte.

»Scheiße!«, fluchte er, griff nach einem Apfel, der auf dem Beifahrersitz lag und biss ab. Es wird an der schwarzen Katze liegen, die heute Morgen seinen Weg gekreuzt hatte. Auf der Raststätte war sie von links nach rechts geschlichen, als er vom Zähneputzen aus den Waschräumen zurückgekommen war. Seinen Aberglauben gab er nur ungern zu, er hatte ihn von seiner Großmutter geerbt und das Leben hatte ihn gelehrt, dass viele der Prophezeiungen zutrafen, wenn man nur richtig hinsah. Und die schwarze Katze bedeutete für ihn: Pass heute auf!

»Aufpassen, Ronnie!«, sagte er zu sich, biss ein weiteres Mal ab und legte weitere fünf Meter mit seinem 30-Tonner zurück. Sein CB-Funk meldete sich.

»Mensch Jungs, hier Rubber Duck, wer von euch ist denn im Frankfurter Raum unterwegs? Over.«

Rubber Duck. Ronnie grinste. Rubber Duck war schon ein komischer Vogel. Jemand antwortete ihm.

»Rubber Duck, hier Frankie Zwo Null, da komme ich noch hin. So wie es aussieht gegen übermorgen, Over.« Ronnie lachte, Frankie war also auch hier unterwegs. Er schaltete sich dazu.

»Ich bin auf dem Zubringer zur 7, den Flughafen im Rücken. Stau. Ronnie, Over.«

»Arme Säue seid ihr! Wie ich aus einer meiner unzähligen, vertrauensvollen Quelle erfahren habe, wird es rund um den Flughafen bald fürchterlich abgehen. Möglicherweise wird der Flughafenzubringer sogar komplett gesperrt. Over.«

»Komplett gesperrt?«, fragte Frankie nach. »Warum?«

»Irgendein Problem mit einer gelandeten Maschine aus Hamburg. Ein Terror-Angriff wird vermutet. So, habt ihr Wichser mitgehört? TERROR. ANGRIFF.« Rubber Duck lachte. Ronnie pfiff durch die Zähne und war froh, den Flughafen schon hinter sich gelassen zu haben. In die Gegenrichtung staute es sich kilometerweit und, wie zur Bestätigung, sah er dort jetzt Polizei-, Rettungs- und sogar Feuerwehrfahrzeuge durch eine Gasse fahren. Rubber Duck hatte recht. Über Funk bestätigte er Rubber Ducks These und dachte an die schwarze Katze heute Morgen.

»Aufpassen, Ronnie«, flüsterte er.

Kapitel 3 – Tim und die Toten

Holden:  … Sie gucken nach unten und sehen eine Kilonie, Leon, die auf Sie zu kriecht.

Leon: Eine Kilonie, was ist das?

Holden: Wissen Sie, was eine Schildkröte ist?

Leon: Natürlich!

Holden: Ein und dasselbe.

Leon: Noch nie 'ne Schildkröte gesehen. Aber ich verstehe, was Sie meinen.

Holden: Sie bücken sich, greifen nach unten und drehen die Schildkröte auf den Rücken, Leon.

»Blade Runner«; 1982

Tim wusste, wann etwas in der Luft lag, und jetzt und hier lag eine Menge in der Luft. Um das zu wissen, brauchte man kein Journalist sein. Die Frage war nur, was genau ging hier vor sich?

Mit seinem Freund Liam hatte er einen Interviewtermin mit Professor Dr. Rüschelmann, dem Leiter der Rechtsmedizin Hamburg gehabt, weil einer der angestellten Rechtsmediziner offenbar in einen oder mehrere Mordfälle verwickelt war und, zu welchem Zweck auch immer, Körperteile aus der Rechtsmedizin zu sich nach Hause, nach Wakendorf II, auf seinen Resthof mitgenommen hatte. Liam hatte ihn beobachten können, ging aber später von einer Art Krankheit oder Virus aus, das sich auf andere übertrug und sie zu Kannibalen werden ließ. Zu Zombies. Liam hatte es nicht offen ausgesprochen, aber das war, was er meinte. Aber Liam stand nach der Trennung von Sandra auch am Rande eines Nervenzusammenbruchs. So gerne er seinem Freund Glauben schenken wollte, das ging für Tim zu weit. Tim hielt mehrere Morde und Mittäter in der Universitätsklinik für glaubwürdig. Auch hier, in der Rechtsmedizin selbst, wo eben gerade ein Schuss gefallen war und die Gesundheitssenatorin und ein Haufen wichtiger Polizisten im Anzug mit Headset den Eingang und Professor Dr. Rüschelmann sicherten. Der Grund, weswegen ihr Interview abgesagt wurde. Der Grund, weswegen Liam sich Hals über Kopf von ihm verabschiedet hatte, um seinen Sohn Jack aus dem Kindergarten zu holen und, wer weiß wohin, zu verschwinden.

Der Grund, weswegen hier etwas in der Luft lag. Tim witterte einen Skandal und er wollte ihn aufdecken. Doch dafür brauchte er Informationen. Nicht später, wie Rüschelmann ihm versprochen hatte, sondern sofort.

Tim sah sich um. Polizisten hatten die Straße zum Institut vollständig gesperrt, zwischen zwei Mannschaftswagen zogen sich mehrere Beamte um, legten sich ihre Rüstungen an. Vor dem Haupteingang standen die Senatorin, Rüschelmann, einige Angestellte des Instituts und zivile Sicherheitsbeamte. Etwas abseits am Straßenrand, in der Nähe des Torbogens zum Hinterhof, standen vier Bestatter bei ihren beiden Fahrzeugen und rauchten. Es waren keine weiteren Presseleute da, bisher war es seine Exklusivgeschichte. Trotz aller Professionalität, die er sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte, sorgte dieser Gedanke für ein aufgeregtes Kribbeln. Und dieses Kribbeln vertrieb seine Unsicherheit und seine Zweifel, die schon darin gipfelten, zu glauben, Liam hätte womöglich recht gehabt. Tim nickte sich zu, legte sich eine Strategie zurecht, wie er Rüschelmann und die Senatorin jetzt in ein Gespräch verwickeln konnte. Er setzte sich in Bewegung und nahm aus den Augenwinkeln die beiden Fahrstuhltüren im Torbogen wahr. Eine stand offen. Aber niemand sicherte diesen Bereich. Tim änderte seinen Plan und ging zu den Bestattern.

»Entschuldigung, können Sie mir sagen, was genau hier vor sich geht?«, wandte er sich an jenen Bestatter, der ihm am charismatischsten schien.

»Ne, kann ich nicht«, antwortete er. Offenbar hatte Tims Menschenkenntnis versagt. Der ältere Mann drehte sich zur Seite und schloss Tim damit aus.

»Aber Sie arbeiten doch hier, oder? Als Bestatter, meine ich. Warum stehen Sie dann hier nur herum?«, fuhr Tim seine Befragung bewusst unfreundlich fort.

»Weil wir nichts können«, antwortete ein anderer und deutete auf die Polizisten, von denen einige fertig gerüstet bereit standen und einer in ihre Richtung auf sämtliche Zivilisten vor dem Eingang deutete. Wahrscheinlich würden sie bald des Platzes verwiesen werden. Weitere Sirenen ertönten.

»Aber Sie können doch mit dem Fahrstuhl runterfahren. Die Tür steht doch offen. Ich sehe das doch von hier.« Tim zeigte auf die geöffnete Fahrstuhltür. Die Bestatter sahen sich an, wie man sich ansieht, wenn man mit jemand nichts anfangen kann und diesen auch noch für beschränkt hält.

»Was wollen Sie eigentlich von uns?«, fuhr ihn der Ältere an und schnippte seine Zigarette weg. »Ich will jetzt mit dem Fahrstuhl da runter fahren«, antwortete Tim und lächelte. »Geht das?« Wieder wurden Blicke getauscht und Tim sah in ihnen eine Spur Schadenfreude.

»Also der Schlüssel steckt noch. Sie müssen ihn nur nach rechts drehen und dann auf U drücken.« Der Bestatter grinste. »Nur zu. Gehen Sie. Das wird bestimmt lustig da unten.« Zwei Bestattern standen Zweifel ins Gesicht geschrieben, aber sie schwiegen.

»Danke«, verabschiedete sich Tim und schritt auf die Fahrstuhltüren zu, als wäre das hier und jetzt das Normalste der Welt. In der geöffneten Kabine stand eine Bahre mit einem schlichten Holzsarg und tatsächlich steckte ein Schlüssel im Tastenfeld. U, E, 1 und 2 standen zur Auswahl. Er drehte den Schlüssel, drückte auf U. Die Tür schloss sich und ruckte wieder zurück. Tim zog die Bahre weiter in die Kabine hinein und wiederholte den Versuch. Die Tür schloss sich, und mit einem Quietschen setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, fuhr ins Untergeschoss, zu den Toten.

Die Tür ging auf. Noch bevor Tim etwas sehen konnte, schlug ihm das Gefühl einer drohenden Gefahr entgegen und ein Schauer durchlief ihn. So ähnlich hatte er einmal bei einem Gasrohrbruch in Billstedt empfunden. Es hatte dort eine Explosion und zwei Verletzte gegeben. Er war damals gewarnt gewesen.

Tim ließ ein, zwei Sekunden verstreichen. Vor dem Fahrstuhl stand eine Metallbahre, auf der eine nackte Leiche lag. Tim zuckte zurück. Was hatte er in einem rechtsmedizinischen Institut erwartet? Er beruhigte sich wieder. Daneben eine Bahre, die einen schwarz lackierten Sarg trug. Offenbar waren die Bestatter während ihrer Arbeit unterbrochen und des Hauses verwiesen worden. Tim drückte auf die PLAY-Taste seiner Digitalkamera, trat aus der Kabine und sah in zwei Gewehrmündungen, die auf ihn gerichtet waren.

»Hallo«, grüßte Tim und hob eine Hand. »Ich bin Journalist.«

Sekunden verstrichen, dann wurden die Gewehre herunter genommen, zwei Handbewegungen bedeuteten ihm, er solle leise sein und verschwinden. Er blieb. Und sog mit einem Blick die Situation in sich auf. Vor ihm lag ein sehr breiter und weniger tiefer Empfangsraum. An der gegenüberliegenden Wand konnte er durch Panoramafenster in zwei Obduktionssäle sehen. In dem linken sicherten drei vollgerüstete Polizisten mit erhobenen Gewehren eine Tür, die ins Innere des Instituts führte. Der große Seziertisch in der Mitte des Raumes war blutbesudelt. Von der Wand ging links und rechts jeweils ein Gang ab. Rechts war es totenstill. Trotz aller Anspannung musste Tim bei diesem Gedanken innerlich auflachen. Links standen direkt neben einer Glastür, die in ein Treppenhaus führte, die beiden Polizisten, die ihn bedroht hatten. Zwei weitere Polizisten sicherten mit ihren Gewehren im Anschlag den Gang, wo zwei Personen in weißen Ganzkörperschutzanzügen etwas aus Metallkoffern an den Wänden des Ganges anbrachten. Tim vermutete, sie würden ihn versiegeln wollen. Zwischen den einsatzbereiten Polizisten lehnte sitzend ein verwundeter Polizist an der Wand und ließ sich seine Hand von einem Arzt verbinden. Der Polizist hatte seinen Helm und seine Handschuhe neben sich gelegt und streckte seine Hand aus. Der Arzt, erkannte Tim, trug ebenfalls einen Verband, an dessen Unterseite ein dunkler Fleck zu erkennen war. Tim stockte der Atmen und er musste sofort an Liam denken. Unauffällig hielt er in Hüfthöhe die Kamera auf diese Szene.

»Sind Sie gebissen worden?«, fragte er aus einer Intuition heraus. Liam hatte ihn erst gestern aus dem Wakendorfer Moor angerufen und ihm von einem älteren Ehepaar berichtet, dass einen Polizisten gebissen hatte. Der verletzte Beamte nickte, der Arzt zeigte sich über diese Frage erstaunt.

»Gehen Sie jetzt bitte!«, forderte ihn der eine Polizist auf, verließ die Tür zum Treppenhaus, klappte sein Visier auf und kam auf ihn zu. Der andere meldete Tims Anwesenheit über sein Headset. Tim fahndete hektisch nach Möglichkeiten, um an weitere Informationen zu gelangen. Wenn der Polizist und der Arzt hier gebissen worden waren, sprach das für Liams These. Verrückt, aber so war es. Er trat einen weiteren Schritt in den Raum hinein, um sich nicht in den Fahrstuhl drängen zu lassen.

»Wurden Sie von jemandem gebissen, den Sie für tot gehalten haben?«, fragte Tim mit erhobener Stimme, hielt die Kamera nun offensichtlich auf den Arzt und seinen Patienten.

»Gehen Sie!« Der Polizist kam drohend auf ihn zu.

»Was …?« Dem Arzt fehlten die Worte, der gebissene Polizist nickte, sah zu Boden. Offenbar hatte ihm das Erlebte stärker zugesetzt, als Tim ahnen konnte.

»Verschwinden Sie! Sie setzen sich hier großer Gefahr aus. Wer sind Sie überhaupt?« Der Beamte hob eine Hand, um Tim beim Filmen zu stören und drängte ihn zurück. Tim ließ sich zum Fahrstuhl bewegen.

»Tim Fabian, freier Journalist. Ich wiederhole:« Tim pendelte zur Seite, um den Kontakt zum Arzt und zum Gebissenen nicht zu verlieren. Er filmte weiter.

»War derjenige, der Sie verletzt hat, vermeintlich schon tot?«

»Hauen Sie ab, verdammt! Wir haben keine Zeit für diese Spielchen!«

Der verletzte Polizist wendete sich ab, der Arzt nickte. Alles klar, Tim hatte hier genug Informationen erhalten, hoffte auf gute Bilder.

»Schon gut, ich gehe.« Er steckte die Kamera in die Hosentasche und hob abwehrend die Hände.

»Geben Sie mir die Kamera«, forderte ihn der Polizist vor ihm auf und griff Tim in den Arm.

»Hey, was soll …«

Schüsse explodierten. Tim glaubte, sein Trommelfell müsse platzen, riss seine Arme hoch, hielt sich die Ohren zu, duckte sich und stolperte zurück bis an die Wand. Die Polizisten legten ihre Gewehre an und zielten auf den Gang. Im linken Obduktionssaal wurde geschossen. Tim sah, wie die Polizisten mit ihrem Oberkörper den Rückstoß ausglichen und glaubte, Mündungsfeuer zu sehen. Dann Stille. Verzerrte Stimmen tönten aus den Headsets. Der Arzt stöhnte und kauerte sich zusammen. Tim holte seine Kamera aus der Hosentasche und filmte den Obduktionssaal, solange die Polizisten abgelenkt waren. Gleichzeitig schlich er in den Fahrstuhleingang, um notfalls sofort fliehen zu können. Um seine Kamera, seine Informationen hier raus zu bekommen.

»… Verstärkung … Zivilist, Tim Fabian, freier Journalist«, konnte Tim den einen Polizisten in sein Headset sprechen hören. Leider verstand Tim die Antwort nicht. Gerade als er sich für einen Rückzug entschlossen hatte und sich sein Zeigefinger gen E auf der Tastenarmatur zubewegte, sprangen die Polizisten in dem Obduktionssaal zurück und eröffneten erneut das Feuer. Tim zwang sich, stehen zu bleiben und zu filmen, ein Zusammenzucken aber konnte er nicht verhindern. Ein nackter Mann taumelte durch die Tür in den Saal, eine Salve traf ihn in die Brust, warf ihn zurück an die Wand, aber er blieb stehen. Tim hielt den Atem an.

»Oh Gott!«, flüsterte er. Der Angeschossene wankte wieder voran auf die Polizisten zu.

»Das ist er! Das ist der tote Polizist!«, schrie der Arzt in seine Richtung, dann wurden seine Rufe von weiteren Gewehrschüssen verschluckt. Wieder wurde der Mann zurückgeworfen, fiel dieses Mal sogar hin und verschwand aus Tims Blickfeld. Und stand wieder auf. Jeder in Tims Nähe raunte, jedem schien bewusst zu sein, etwas Einmaliges gesehen zu haben, denn der angeschossene Polizist war tot. War vorher schon tot gewesen, nun, durch die Schüsse, hätte er liegen bleiben müssen. Der tote Polizist aber stakste auf die drei Vollgerüsteten zu, drängte einen von ihnen in eine Ecke des Raumes. Seine Kollegen senkten die Waffen, konnten auf die Gefahr, ihren Partner zu treffen nicht schießen. Einer trat vor, schlug dem toten Polizisten mit dem Gewehrkolben in die Seite. Nichts. Vermutlich musste der Beckenknochen gesplittert und innere Organe verletzt worden sein, doch er brach nicht zusammen, sondern verfolgte stattdessen sein Ziel: Den in die Ecke gedrängten Polizisten angreifen. Er griff sich dessen Arm, drückte ihn zur Seite. Tim konnte sehen, dass die angewendeten Kräfte in keinem Verhältnis zum Erscheinungsbild standen. Der tote Polizist musste über enorme Kräfte verfügen. Der Polizist wand sich aus dem Griff heraus, platzierte ein, zwei Leberhaken. Der andere, der eben zugeschlagen hatte, zielte mit einer Handfeuerwaffe auf den Kopf des Angreifers. Ohne, dass ein Wort gesagt wurde, spürte Tim die Anspannung, die jetzt von den Polizisten in seiner Nähe ausging. Ein finaler Schuss in den Kopf. Das war dreckig. Ein Schuss, der tote Polizist folgte der Flugbahn der Kugel und fiel um. Und stand nicht mehr auf.

Tim wollte durchatmen, aber die Ereignisse überschlugen sich. Aus dem Treppenhaus sah er die beiden Anzüge tragenden Polizisten herunter eilen. Er war sich sicher, sie kamen seinetwegen. Er verstaute die Kamera und drückte die Fahrstuhltaste. In diesem Augenblick ertönten weitere Schüsse aus dem Inneren der Rechtsmedizin. Die Anzugträger stießen die Glastür auf, sahen ihn und rannten auf ihn zu. Die Fahrstuhltür schloss sich, der Fahrstuhl fuhr an, weitere Schüsse fielen.

»Komm schon, komm schon!« Der Fahrstuhl hielt, Tim beherrschte sich und trat nach draußen. Keine Polizisten, die ihn umstellten. Rechts ging es auf die Straße, wo die gepanzerten Polizisten sich nun aufgereiht hatten und in diesem Moment das Institut stürmten. Schweigend, nur die Tritte ihrer Stiefel waren zu hören. Die Bestatter und ihre Fahrzeuge waren nicht mehr an Ort und Stelle. Tim sah sich den Hinterhof an und entdeckte einen Weg auf das Gelände der Universitätsklinik. Dorthin lief er und erst, als er sich unter Angestellten, Patienten und Besuchern in Sicherheit wähnte, wechselte er in ein eiliges Tempo, ohne zu laufen und sah sich gelegentlich nach Verfolgern um. Zwar konnte er dort keine erkennen, aber ein Gedanke folgte ihm auf Schritt und Tritt: Liam hatte Recht, es gab Untote!

Kapitel 4 – Hurra, Hurra, die Schule brennt!

Hi Ferris! Was macht dein Körper? Stirbst du?

»Ferris macht blau«; 1986

»Krass, Digga, der Typ sieht voll aus wie Leiche, Alter!« K-Yo klopfte Dirk für den gelungenen Handy-Clip auf die Schulter. »Was is´ jetzt mit Ace?«, wollte er wissen. Dirk und Sabrina waren auf dem Weg ins Sekretariat, weil Ace dort die letzte Stunde im Krankenzimmer verbracht hatte. Heute Morgen war er von einem total gestörten Typen an der Bushaltestelle angegriffen worden und hatte ihn fertig gemacht. Dirk hatte alles auf seinem Handy, den Clip hatte er auch schon geteilt. Aber dann war Ace schlecht geworden, weil der Typ ihm in die Hand gebissen hatte. Also, Sabrina vermutete, dass ihm deswegen schlecht geworden war.

»Keine Ahnung, Mann. Wir wollen mal nachsehen …«

»Achtung! Herr Koma ist auf dem Weg ins Sekretariat. Ich wiederhole: Herr Koma ist auf dem Weg ins Sekretariat«, tönte die Stimme des Schuldirektors während der Pause durch die Lautsprecher der Stadtteilschule am Heidberg. Der stetige Pausenlärm durch über 700 Schülerinnen und Schüler verebbte, sickerte doch nach und nach die versteckte Botschaft dieser Meldung durch. Herr Koma. Amok. Ein Amoklauf in der Schule wurde gemeldet und der Amokläufer war im Sekretariat. Lehrer bellten Befehle, sammelten Kinder auf den Gängen ein und trieben sie in die Klassenzimmer, die sie gemeinsam verbarrikadierten.

»Fuck, Alter!«, fluchte Dirk.

»Ace!«, schrie Sabrina und sah zur Ecke, wo der Gang zum Sekretariat begann. K-Yo rempelte einen Schüler an, der an ihm vorbeilief und hinfiel.

»Und jetzt?«, fragte Dirk und drehte sich um.

»Na, weiter natürlich!«, fauchte Sabrina und schubste ihn voran.

»Warte!«, zischte K-Yo, zog den Reißverschluss seines Hoodies und gewährte den beiden einen Blick in seine Innentasche, aus der ein Pistolengriff ragte.

»Scheiße, was soll das, K-Yo?«

»Nur für den Fall, yo!«

Der Flur leerte sich, es wurde stiller, gespenstisch still, draußen fuhr ein Streifenwagen vor und zwei Polizisten stiegen aus. K-Yo, Dirk und Sabrina hörten, wie sich hinter der Ecke die Glastür zum Sekretariat öffnete. Hörten ein Schnaufen, ein Wimmern und ein … seltsames Stöhnen.

»Fuck, so hat der Typ auch gemacht«, meinte Dirk das Stöhnen und sah Sabrina und K-Yo an. Sie drückten sich mit ihren Rücken an die Wand und bereuten ihren Mut. K-Yo hatte seine Hand im Hoodie und umschloss den Griff seiner Schreckschusspistole. Frau Abdallah, ihre Sportlehrerin, rannte um die Ecke. Sie hatte einen jüngeren, weinenden Schüler an der Hand. Beide bluteten.

»Frau Abdallah!« Sabrina versuchte die Lehrerin an der Schulter festzuhalten. Frau Abdallah erschrak und riss sich los.

»Sabrina! Haut ab. Am besten lauft ihr ganz, ganz schnell raus.« Sie hörten wieder dieses Stöhnen und langsame, unsichere Schritte, die sich der Ecke näherten.

»Los jetzt! Macht, dass ihr weg kommt. Jannis, komm, du kommst erst mal mit in meine Klasse. Alles wird gut.« Sie zog Jannis mit sich in Richtung Treppenaufgang.

»Frau Abdallah, was ist denn da los?«, wollte Sabrina wissen. Frau Abdallah verharrte einen Moment und sah Sabrina an. Diesen Blick hatte Sabrina noch nie bei ihr gesehen. Die Lehrerin zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht, Sabrina. Und jetzt haut endlich ab!«

»Chill ma!«, entgegnete K-Yo und zeigte eine verscheuchende Handbewegung. Frau Abdallah schüttelte den Kopf und verschwand mit Jannis im Treppenaufgang. Die schlurfenden Schritte verstummten. Dann wieder ein Stöhnen. Vorsichtig schob Dirk sich an der Wand entlang und hielt sein Handy um die Ecke.

»Das ist Ace!«, zischte Sabrina und hielt sich eine Hand vor den Mund. Ace stand schwankend vor der Glastür zum Sekretariat, stöhnte und ließ langsam seinen Kopf kreisen.

»Fuck, was ist mit ihm?« Dirk verstand die Welt nicht mehr.

»Der sieht auch aus wie Leiche, yo. Hat er irgendwelche Drogen genommen? Meth?«

»Nein!«, widersprach Sabrina energisch.

»Der ist voller Blut!«, stellte Dirk fest, indem er Ace heran zoomte. Hinter Ace ging die Tür auf, jemand näherte sich ihm. Ebenso wankend. Es war Herr Goldmundt, ihr Vertrauenslehrer. Dessen ockerfarbener Pullover war blutbesudelt, der Hals eine klaffende Wunde.

»Zombies!«, stöhnte Dirk. »Das sind Zombies! Ace ist ein Zombie geworden!« Er wurde hysterisch, tippte immer wieder auf das Display und sah zu Sabrina und K-Yo.

»So ein Schwachsinn! Ace ist kein Zombie!«

»Sieh ihn dir an, Mann! Er ist ein Zombie!« Ace sah aus, als würde er lauschen und ihre Stimmen orten.

»Das werden immer mehr Bullen werden, yo! Gleich kommen die rein.«

»Du spinnst total, Dirk!« Sabrina verließ ihr Versteck und ging auf Ace zu.

»Ace! Was ist los mit dir? Hallo Herr …« Sabrina verharrte. War sie sich eben noch so sicher, Ace wäre nur krank, schwer krank und Herr Goldmundt vielleicht auch, erschlug sie jetzt der reale Anblick der beiden. Auf dem Handydisplay hatte es harmloser ausgesehen. Jetzt sah Ace wirklich … tot aus.

»Ace?«, fragte sie. Ihre Stimme wurde brüchig, drei Schritte vor ihm blieb sie stehen.

»Sabrina, komm da weg!«, rief Dirk, sah jetzt auch um die Ecke.

»Hau da ab, yo, die Bullen kommen!« K-Yo kam um die Ecke und starrte entsetzt auf Ace und Herrn Goldmundt.

»Sabrina, yo!«

Ace breitete seine Arme aus und kam schwankend auf Sabrina zu.

»Ace?«, wiederholte sie. Ace stöhnte und fiel Sabrina in den Arm.

»Ace«, hauchte sie.

»Sabrina, yo, komm da weg jetzt! Der ist echt Leiche, Mann!« Ace biss zu. Sabrina schrie, Dirk auch. K-Yo zog seine Pistole und feuerte zwei Mal in die Luft.

»Sabrina, komm weg von ihm!«, brüllte er.

Sie waren die ersten Einsatzkräfte vor Ort und sahen durch die Glasfassade, wie die Schüler und Schülerinnen in die Klassenräume in Sicherheit gebracht wurden. Einige flüchteten auch auf den Schulhof, wo sie von ihnen zu den Fahrradständern geschickt wurden. Sirenen näherten sich, bald würden alle verfügbaren Einsatzkräfte und ein SEK hier sein, das sah das Protokoll im Falle eines Amoklaufs vor. Da sie keine Schüsse hörten und keine Verletzten sehen konnten, schlichen sie mit gezogenen Dienstwaffen zum Eingang und spähten ins Schulinnere. Leer. Nur vor dem Bereich zur Verwaltung sahen sie Bewegungen. Eine Frau, die einen jüngeren Schüler mit sich in den Treppenaufgang zog und drei Schüler, die dort an der Ecke standen.

Die Beamten warfen sich fragende Blicke zu und beobachteten weiter. Vielleicht war es ein Fehlalarm. Hoffentlich. Der vordere Polizist schob sich vor zu einer Außentür, legte seine Hand auf den Griff. Er sah sich zu seinem Kollegen um, der ihm zunickte. Vorsichtig zog er die Tür auf. Man konnte noch nichts hören, zu laut war es auf dem Schulhof, zu weit waren sie von den drei Schülern entfernt. Der Polizist ging in die Hocke, sein Kollege hielt über ihm die Tür auf. Gebückt drückte sich der Polizist ins Schulinnere und lauschte.

»Sabrina, yo, komm da weg jetzt! Der ist echt Leiche, Mann!« Schreie. Dann fielen zwei Schüsse.

»Sabrina, komm weg von ihm!«

Der Polizist zog sich zurück und nickte seinem Kollegen zu. Eindeutig ein Amoklauf. Sie liefen zurück auf den Schulhof und trieben Schüler und Lehrer soweit es ging zurück. Das würde ein Großeinsatz werden.

Frau Gerbske hatte die Klasse von Frau Abdallah übernommen und sich im Klassenraum mit ihrer 7ten Klasse in Sicherheit gebracht. Nach mehrmaligem Klopfen und Flüstern hatte sie ihnen die Tür geöffnet und sie hereingelassen. Zwei Schüsse fielen.

»Zaida! Um Gottes Willen, was ist denn mit euch passiert? Was ist los?«, rief Frau Gerbske.

»Was ist passiert, Frau Abdallah?«, wollte Leonie aus der ersten Reihe wissen. Beim Anblick der Blutflecke auf ihrer Haut und Kleidung fingen einige ihrer Schüler an zu weinen.

»Kinder, es ist alles gut. Ronja, pssst. Alles ist gut, ich habe mich nur gekratzt. Und Jannis auch«, log sie.

»Naira, kümmerst du dich bitte einmal kurz um Jannis, während ich mich mit Frau Gerbske unterhalte? Der Rest dreht leise die Tische mit den Tischplatten nach vorne um, wie ihr es gelernt habt. Dann die Stühle.« Sie wartete kurz, bis ihre Schüler begannen, aus Tischen und Stühlen eine Barrikade zu errichten. Offenbar spürten sie den Ernst der Lage. Frau Abdallah bedeutete Frau Gerbske mit einem Blick, sich in die Ecke an der Tür zurückzuziehen. Sie schloss die Tür von innen zu und schob das Lehrerpult vor die Tür.

»Das ist kein gewöhnlicher Amoklauf, Vera. Das ist Marcel. Er hat Herrn Goldmundt, Jannis und mich gebissen. Aber er ist nicht er selbst, er ist … ein völlig anderer«, erklärte sie ihrer Kollegin.

»Meinst du, das war eine dieser neuen Drogen? Die, die so aggressiv machen?«

Zaida Abdallah sah an sich herab, sah die immer noch leicht blutende Bisswunde in ihrem Unterarm, die schmerzende Stelle an der Schulter. Sie fühlte sich mit einem Mal unendlich schwach, setzte sich auf das Pult und stützte sich mit einem Arm von der Tür ab.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Und die Schüsse?«

»Keine Ahnung, vielleicht ist die Polizei schon da. Du, ich muss mich kurz hinlegen, ja?« Sie hatte das Gefühl, ihr Kreislauf würde zusammenbrechen. Sie schob zwei Tische in der Ecke zusammen und legte sich sofort darauf. Keine Sekunde zu spät.

»Alles gut?«, fragte Vera Gerbske besorgt.

»Warte. Ja, bestimmt. Warte nur einen Moment. Nur kurz liegen, ja?« Zaida schloss die Augen.

»Frau Gerbske! Ich glaube, Jannis ist schlecht!«, sagte Naira. Vera Gerbske wandte sich um und sah gerade noch, wie Jannis den Mund öffnete und sich auf den Tisch erbrach.

»Ach Gott, Jannis!« Ihr Blick suchte im Klassenraum nach irgendeiner Möglichkeit, das Malheur zu bereinigen. Jannis rutschte vom Stuhl und legte sich auf den Fußboden.

»Zaida?«, wollte sie sich Unterstützung bei ihrer Kollegin holen. Zaida schwieg. Da! In einem Regal fand sie ein altes Handtuch.

»Jannis! Alles in Ordnung? Wie geht es dir?« Sie eilte zu Jannis und noch bevor sie das Erbrochene aufwischte, legte sie ihm eine Jacke unter den Kopf.

»Ich glaube, es geht. Mir ist nur ein bisschen schlecht«, antwortete er tapfer. »Aber Liegen ist ganz gut.« Er sah sie an, sie strich ihm durch das Haar und nickte. »Dann ist ja gut, Jannis«, tröstete sie ihn. Jannis schloss die Augen, seufzte.

»Zaida?«, fragte Vera noch einmal und sah sich um. Zaida schlief. Oder? Sie ging zu ihrer Kollegin, beugte sich über sie und lauschte ihren Atemzügen nach. Tief und fest. Ihre Wunde am Arm hatte aufgehört, zu bluten. Vera ging wieder zum Tisch, wischte das Erbrochene auf, entsorgte es in einem Papierkorb.

»Was ist mit den beiden?«, wollte Maurice wissen.

»Ich denke, sie haben so etwas wie einen Schock. Aber es scheint nicht allzu schlimm zu sein. Frau Abdallah schläft jetzt, Jannis auch, und wir sollten sie auch schlafen lassen.«

Die Klasse sah sie an und einige begannen zu grinsen, ehe sich Gelächter breit machte. Offenbar spielte sich etwas Komisches in ihrem Rücken ab. Vera Gerbske drehte sich um und sah Zaida, wie sie sich ungelenk erhob. Es erinnerte sie an alte Vampirfilme in schwarz-weiß. Diplomatisch lachte sie mit und spielte übertrieben überrascht. »Zaida? Was ist denn mit dir los?« Sie hatte keine Ahnung, warum ihre Kollegin dieses Schauspiel aufführte. Besonders pädagogisch fand sie es angesichts der bedrohlichen Lage nicht. Zaida drehte sich zur Seite, so dass ihre Beine über die Kante rutschten und sie sich hinstellen konnte. Sie wankte, neigte den Kopf, stöhnte kehlig und öffnete ihre Augen. Das Gelächter verstummte.

»Zaida?« Entweder ihre Kollegin schlug mit ihrer Darbietung gewaltig über die Stränge oder aber sie hatte ein medizinisches Problem. Einen Zuckerschock oder ähnliches. Zaida reagierte nicht. Sie wankte zur ersten Reihe, Vera sah Unsicherheit in den Blicken der Kinder.

»Zaida!« Ihr Ton wurde schärfer. Zaida erreichte Jasmins Tisch, streckte die Arme aus und langte nach der Schülerin. Nur das Vertrauen in ihre Klassenlehrerin ließ Jasmin nicht schnell genug zurückweichen. Zaida bekam ihre Haare zu fassen und riss sie zu sich. Jasmin schrie auf, Vera eilte ihr zur Hilfe und riss an Zaidas Arm.

»Hör auf!«, schrie Vera und stockte. Sie konnte den Griff nicht lösen, nicht einmal lockern. Zaida zog die schreiende Jasmin an den Haaren zu sich heran und biss ihr ins Gesicht. Einen Augenblick lang herrschte Stille, sogar Jasmin raubte das Geräusch zerreißenden Fleisches die Stimme. Blut spritzte, dann schrie Jasmin, und alle Schülerinnen und Schüler stimmten ein. Und schließlich auch Vera.

»Za… Za…«, stammelte sie dann und ließ deren Arm los. Zaida wandte sich ihr zu, beugte sich vor und biss ihr in die Schulter. Die Kinder riefen um Hilfe, den Namen der beiden Lehrerinnen, Ideen zur Flucht, alles wild durcheinander. Einige stießen ihre Stühle um, rannten zur verbarrikadierten Tür und schoben das Lehrerpult zur Seite, nur um festzustellen, dass die Tür von innen abgeschlossen war.

Vera Gerbske kreischte vor Schmerzen, wand sich in der Umklammerung, aber konnte sich nicht befreien. Zaida wurde gieriger, biss ihr ins Gesicht, in den Hals. Panik brach aus. Jannis hob seinen Kopf, öffnete seine Augen und stöhnte. Um ihn herum roch es nach Fleisch.

»Yo, Dirk, hör auf, die ganze Scheiße zu filmen, hilf mal!«, wies K-Yo seinen Kumpel an. Dirk und er eilten zu Sabrina, versuchten sie aus Ace Griff zu befreien.

»Er hat mich, er hat mich gebissen«, stammelte sie. K-Yo stieß Ace zurück, zog Sabrina hinter sich, Herr Goldmundt drängte sich an Ace vorbei, packte Dirk am Arm.

»Ey, Herr Goldmundt!«, rief Dirk, wollte seinen Arm aus dem Griff ziehen, konnte mit der anderen Hand aber selbst nicht greifen, weil er in ihr sein Handy hielt und fallen lassen wollte er es nicht. Herr Goldmundt biss ihm in die Hand.

»Dirk, komm jetzt!«, rief K-Yo und richtete die Pistole auf Ace, der auf sie zu wankte.

»Alter, verdammt!«, schrie Dirk, zerrte und zog, aber Herr Goldmundt hatte sich in seine linke Hand festgebissen. Angst und Panik zogen wie ein Unwetter auf und vertrieben den Schmerz. Dirk schlug seinem Lehrer mit dem Smartphone ins Gesicht. Mehrmals. Jeden Schlag begleitete er mit einem schrillen Schrei, bis Herr Goldmundt von ihm abließ und zurück taumelte.

»Komm! Schnell!«

Dirk hielt sich die Hand, umrundete Ace und stellte sich zu K-Yo und Sabrina. Er filmte weiter.

»Was jetzt, Digga?«

K-Yo zuckte mit den Schultern, wollte antworten, als sie die Schulsekretärin Frau Schuster und Direktor Beckmann durch die Glastür treten sahen. Ihr Gang war unsicher, staksig, ihre Körper blutend und von Bisswunden übersät. Herr Beckmann war nicht mehr an seinem Gesicht, sondern nur noch an seinem Anzug zu erkennen. Ace und Herr Goldmundt taumelten mit ausgestreckten Armen auf K-Yo und seine Freunde zu.

»Raus!«, schlug Sabrina vor. Sie wichen zurück, sahen hinaus. Jetzt standen schon drei Streifenwagen dort, Polizisten unterhielten sich, einer zeigte ständig in ihre Richtung, während er seine Kollegen informierte. K-Yo sah auf die Waffe in seiner Hand.

»Nein, geht nicht, yo. Ich hab Waffe!«

»Dann rauf in die Klasse!« Dirk eilte zum Treppenaufgang.

»Nicht rauf. Durch den Fahrradkeller raus«, bestimmte K-Yo und sie liefen los. Ace, Herr Goldmundt, Frau Schuster und Rektor Beckmann wankten, orientierten sich unbeholfen und folgten ihnen.

»Sie waren die ersten hier? Wie ist die Lage?«, fragte der Einsatzleiter. Der Polizist nickte, ehe er antwortete. »Ein Amoklauf. Wir haben einen Schüler beobachten können, wie er zwei Mal in die Luft geschossen hat. Viele Lehrer haben sich nach Anweisung in ihre Klassenräume in Sicherheit gebracht.«

»Nach Anweisung?«

»Die Schule hat ein Training mitgemacht.«

Der Einsatzleiter lachte trocken auf und sah sich um.

»Verletzte?«

»Wir stehen mit einer Lehrerin per Telefon in Kontakt. Sie sagt, es hätte im Sekretariat Verletzte gegeben. Eine Kollegin und einen Schüler. Aber sie sind nicht angeschossen worden.« Der Einsatzleiter gab drei Polizisten per Handzeichen den Befehl, den Schulhof zu räumen. Nicht mehr lange, und die ersten Schmeißfliegen von der Presse würden auftauchen. Die können dann auch gleich draußen warten.

»Nicht angeschossen? Wie sind sie dann verletzt worden?« Er legte sich eine Schussweste an.

»Ähm, angeblich gebissen worden.«

Der Einsatzleiter verharrte in der Bewegung und sah den Polizisten an. Prüfte dessen Worte.

»Gebissen«, wiederholte er. »Die Kids sind echt krank geworden in den letzten Jahren.« Er zog den Bauch ein, um die Weste zu schließen und musste sich dabei anstrengen. »Na ja«, presste er hervor, »Amoklauf ist Amoklauf. Wir werden behutsam vorgehen. Geduldig. Weiß man, wo der Schütze sich aufhält?«

»Er ist im Treppenaufgang verschwunden. Aber nicht allein. Bei ihm waren zwei weitere Schüler. Und dann sind ihm vier weitere Personen gefolgt. Aber so genau konnten wir das nicht beobachten. Und …« Der Polizist überlegte und schüttelte dann den Kopf.

»Was ›Und‹?«, hakte der Einsatzleiter nach.

»Also, … die anderen vier, die den Schützen verfolgt haben, die sind sonderbar gegangen. So, als wenn sie was getrunken hätten vielleicht. Langsam, wankend.«

»Verstehe. Keine Schüsse, sondern Bisse und die Angegriffenen verfolgen wankend die Täter.« Er sah dem Polizisten in die Augen, der verlegen den Blick senkte.

»Nichts für ungut, ich glaube Ihnen. Hab schon viel Scheiß erlebt und die Kids sind wirklich … ach, das habe ich ja schon gesagt. Auf jeden Fall hört es sich nicht normal an. Holen Sie mir die Lehrerin mit dem Kontakt in die Schule.« Er schlug dem Polizisten auf die Schulter und wandte sich an seine Einheit. »Jungs, bringt euch in Position! Es wird ein langer Tag werden.«

Im Treppenaufgang musste Sabrina eine Pause einlegen, hielt sich die Bisswunde an der Schulter und stützte sich an der Wand ab. K-Yo spähte ins Foyer.

»Fuck, yo, die folgen uns! Schnell, runter!« Er drängte Sabrina weiter, Dirk steckte sein Handy weg und stützte sie. An der Tür zum Keller musste Sabrina sich anlehnen, besser wäre, sie könnte sich kurz hinlegen.

»Geht´s?«, flüsterte Dirk. Er fühlte sich auch etwas schwindelig, presste seine Hand an den Oberkörper, um die Blutung zu stoppen.

»Psst!«, zischte K-Yo, der noch auf der Treppe stand, ging in die Hocke, drückte sich eng an die Wand und linste nach oben. Schritte. Stöhnen. Stille. Die Stille ließ sie erschauern, es war, als würden die da oben wittern. Dann hörten sie wieder Schritte, K-Yo sah ihre Schatten an der Wand die Treppe hinauf gehen, nickte Dirk und Sabrina zu. Als er Ace und die anderen nicht mehr hören konnte, schlich er zu Sabrina und Dirk.

»Was geht mit euch?« Die beiden sahen nicht gut aus. Blass, erschöpft, irgendwie krank. Wie … sie erinnerten ihn an jemanden, aber er kam jetzt nicht darauf.

»Ich muss mich vielleicht nur mal kurz hinlegen«, antwortete Sabrina.

»Jetzt? Hier?« K-Yo zeigte um sich herum auf den nackten und Graffiti-verzierten Beton.

»Vielleicht im Keller. In der Bib«, schlug Dirk vor und meinte die Schülerbibliothek.

»Ja. Aufs Sofa.« Sabrina lockte die Vorstellung.

»Okay, chillen wir!« K-Yo öffnete ihnen die Tür in den Keller und folgte ihnen. Im Schein der flackernden Neonröhren und aktuellen Erlebnisse folgte ihnen die Angst auf Schritt und Tritt bis zur Bibliothek, einem spärlich eingerichteten Raum, der aber über eine Lese-Sofa-Ecke verfügte. Sabrina ließ sich auf das Sofa fallen, Dirk setzte sich in den Sessel, holte sein Handy heraus und sah sich die Aufnahmen von eben an.

»Lass ma´ beeilen mit dem Chillen, yo!« K-Yo stand in der Tür und behielt den Gang im Blick, sein linkes Bein folgte einem schnellen Rhythmus, den nur er hören konnte.

»Klar«, antwortete Dirk. Er wurde immer müder, konnte kaum noch seinen Kopf aufrecht halten. Er legte das Handy auf die Sofalehne, drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. K-Yo sah zu Sabrina und Dirk, die beide tief atmeten und chillten. Er stöhnte, holte sich Dirks Handy, um den Clip zu sehen, steckte sich einen Kopfhörer ins Ohr und gab sich Fard. An wen erinnerten ihn Dirk und Sabrina? Diese Frage geisterte immer noch in seinem Kopf herum, fast, als wolle sie ihm irgendetwas sagen. Bloß was?

Kapitel 5 – Ein dreckiger Tag

Es liegt nicht an der Wissenschaft und Technologie, sondern am Menschen. Wir sind wahnsinnig stolz drauf, Computer erfunden zu haben, aber mit uns selbst kommen wir am allerwenigsten klar. (…) Aber eines weiß ich genau. Wir sind alle mitschuldig an dieser Entwicklung.

» Großangriff der Zombies«; 1980

Ein Tag, der dreckig beginnt, endet auch dreckig, hat sein alter Herr immer gesagt und er hat Recht behalten. Beim Rasieren geschnitten, beim Kaffeekochen die Hand verbrüht und sein Magen schmerzte. Und jetzt das!

»Verdammt, geh ran, du alte Planschkuh«, schimpfte er, warf einen wiederholten Blick auf das Dossier seines Staatssekretärs und rieb sich den Bauch.

Eine vermeintliche Flugzeugentführung. Die Maschine aus Hamburg stand auf dem Rollfeld des Frankfurter Flughafens, sie hatten Kontakt zu den Piloten, die abgeschottet im Cockpit saßen und einer durchgeknallten Stewardess, die sich auf einem Klo eingeschlossen hatte. Die faselte von Kannibalen an Bord der Maschine, alle seien übereinander hergefallen und hätten sich totgebissen. Er hatte schon häufiger das Gefühl gehabt, dass Stewardessen einen gewaltigen Hackenschuss hatten, und das hier bestätigte ihn nur mal wieder. Aber dennoch, irgendetwas ging dort vor und wollte ihm seinen Tag und seine aufstrebende Karriere versauen. Vermutlich waren es Terroristen und in seiner Amtszeit als Ministerpräsident war es seine erste Erfahrung mit so etwas. Die Hamburger Innensenatorin ging immer noch nicht ran und ließ ihn warten. Dann ein Bild. Ihr Gesicht. Auf einer Länderkonferenz im Herbst letzten Jahres waren sie mächtig aneinander geraten, ihre reservierte Begrüßung zeigte ihm, dass sie sich daran erinnerte.

»Frau Doktor Kallmann, wir haben hier ein Problem mit einer aus Hamburg kommenden Maschine, die hier vor zwanzig Minuten gelandet ist. Haben Sie Hinweise, die Sie mir geben können?«, fragte er.

»Herr Förster, unsere Behörden tauschen sich doch untereinander aus. Ich wüsste nicht …«

»Hören Sie, Frau Kallmann!« Ihr Gesicht verzog sich, weil er ihren Doktortitel unterschlagen hatte. Treffer, dachte er. »Ich wende mich direkt an Sie, weil ich vermeiden will, dass uns beiden die Geschichte um die Ohren fliegt. Je eher wir die Kuh vom Eis haben, desto besser. Wir haben drei Passagiere mit arabischem Hintergrund auf der Passagierliste. Sind diese Namen Ihrer Behörde bekannt? Inoffiziell, meine ich.« Er sah, wie sie überlegte. War sie nervös? Förster gewann in den verstreichenden Sekunden mehr und mehr den Eindruck. Ir-gendetwas stimmte nicht. War dreckig. Sofort zog sich sein Magen zusammen.

»Herr Förster, kann ich vertraulich mit Ihnen sprechen?«, fragte sie und sah ihn eindringlich an. Seine politische Routine legte ihm schon eine Phrase auf die Zunge, er zögerte und wägte ihr Angebot ab.

»Erzählen Sie!« Aufrichtig.

»Wir haben bei uns in Hamburg, aber auch in Schleswig-Holstein, ein aktuelles und nicht erklärbares … Phänomen«, begann sie zaghaft.

»Ein nicht erklärbares … Phänomen?«, hakte er nach. Diese Erklärung barg mehr Fragen als Antworten.

»Genau. Es ist nicht einfach zu erklären. Es könnte eine Art Krankheit sein, das prüfen wir derzeit noch. Wir haben es gerade mit mehreren Übergriffen von Personen zu tun, die nicht ansprechbar sind und nicht mit standardpolizeilichen Mitteln aufzuhalten sind.«

»Terroristen! Also, doch!«, schnaubte er und rieb sich die Stirn.

»Nein!«, widersprach sie. »Keine Terroristen. Die Täter … weisen keine Vitalparameter auf. Nach allen medizinischen Erkenntnissen sind sie tot.« Ein weiteres Schmerzenswelle zog durch seinen Bauch, er sah, wie sie ihn taxierte, warf einen Blick zu Alfred, seinem Staatssekretär, der hilflos mit den Schultern zuckte, und setzte sich. Er musste sich umsehen und vergewissern, dass er tatsächlich in seinem Büro saß. Was hatte ihm Kallmann gerade erzählt?

»Könnten Sie das bitte wiederholen, Frau Dr. …«

»Die Täter sind nach medizinischen Erkenntnissen Tote, Herr Förster. Sie atmen nicht, sie haben keinen Herzschlag, keine eigene Körpertemperatur. Kurzum …«

»Sie verarschen mich gerade, oder?«, platzte es aus ihm heraus und er fuhr wieder aus seinem Stuhl empor.

»Nein!«

Er hielt sich den Bauch, atmete tief durch.

»Sie wollen sagen, an Bord der Maschine, die hier bei mir auf dem Flughafen steht, befinden sich Tote, die andere Passagiere und das Personal angreifen?« Er erinnerte sich an die durchgeknallte Stewardess und fragte sich, ob Kallmann während ihres Studiums vielleicht auch als Stewardess gejobbt hatte.

»Wir nehmen gerade mehrere solcher Fälle wahr. Die Bundesregierung ist informiert«, antwortete sie.

»Mehrere Fälle von was? Von Toten, die andere angreifen? Und die Bundesregierung weiß schon davon?« Förster hatte Mühe, seine Stimme zu beherrschen. Per Handzeichen gab er zu verstehen, dass vor zwei Minuten ein Kaffee auf seinem Tisch zu stehen gehabt hätte. Kallmann wollte antworten, aber er sah auf dem Monitor, dass es nun Bilder aus der Maschine gab.

»Einen Augenblick bitte!« Er spielte den Stream auf einem zweiten Monitor ab, nickte ihr zu.

»Wir hatten in Schleswig-Holstein einen Polizisten, der von einem Seniorenpaar gebissen wurde. Der Polizist verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus und erwachte am nächsten Morgen wieder in der Rechtsmedizin, wo er das Personal angegriffen hat«, fuhr Dr. Kallmann fort, während er mit einem Auge über eine Endoskop-Kamera über das Dach in das Flugzeuginnere reiste. Offenbar waren die SEK-Beamten schon unbeschadet auf das Dach gelangt. Parallel dazu wurde ihm die Verbindung zu den Flugzeugkapitänen, der durchgeknallten Stewardess und dem Einsatzleiter vor Ort zugeschaltet. Er fuchtelte mit den Armen herum, bis die hysterische Stimme der Stewardess von einem Mitarbeiter auf ein Minimum heruntergeregelt worden war.

»Was hat Ihr Polizist mit meiner Maschine zu tun?«

»Der Angriff auf den Polizisten fand in Schleswig-Holstein statt, dort mehren sich ähnliche Vorfälle derzeit. In Hamburg ebenso. Es ist gut möglich, dass sich jemand Infiziertes in dem Flieger befand. Wir prüfen das gerade, aber das wird nicht einfach. Und vor allem dauert es und Zeit haben wir nicht.«

»Infiziertes …«, wiederholte Förster und rieb sich das Kinn. »Was sagt Mutti zu dem Ganzen?« Dr. Kallmann überhörte den Kosenamen der Kanzlerin. »Es wird eine Sondereinheit zusammengestellt, die an den betreffenden Orten operieren soll. Weiterhin wird ein Bundeswehreinsatz überlegt, da heißt es aber aus dem Kanzlerhaus, das würde zu viel Staub aufwirbeln.«

»Die Bundeswehr?« Er war entsetzt. Wer kam denn auf so eine bescheuerte Idee? Mittlerweile hatte die Kamera den Innenraum des Flugzeugs erreicht und zeigte die ersten Bilder aus dem Kabinentrakt. Schlagartig wechselte seine gesamte Aufmerksamkeit dorthin, er hörte Kallmann nicht weiter zu. Auf den ersten Blick hatte es friedlich ausgesehen. Verstörend irgendwie, aber friedlich dabei. Viele Passagiere saßen nahezu regungslos auf ihren Sitzen, der Rest bewegt sich apathisch im Mittelgang. Später fielen ihm ihre Bewegungen auf. Sie wirkten eingeschränkt. Verlangsamt. Dann nahm er ihre Verletzungen wahr. Als hätte sein Bewusstsein ihn vor diesem Anblick schützen wollen. Die aufgerissenen Gesichter, die offenen Wunden an Armen und Beinen, ein vollständig zerfetztes Kind auf einer Sitzreihe. Förster mutmaßte, dass es ein Kind war. Aufgrund der Größe.

»Diese Schweine«, presste er hervor.

»Hören Sie mir überhaupt noch zu?« Dr. Kallmann. Förster tauchte wieder in die Wirklichkeit auf, beherrschte sich.

»Wir haben gerade die ersten Bilder von dem SEK aus dem Innenraum der Maschine erhalten«, erklärte er. »Vielen Dank für ihre Informationen.« Er nickte ihr zu und beendete das Gespräch. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Er musste handeln.

»Sehen Sie das auch?«, fragte er den Einsatzleiter.

»Ja.«

»Und wie ist die Lage?«

»Wir haben drei Einheiten auf dem Dach. Bereit zum Einstieg. Die Maschine ist strategisch umstellt. Die Piloten können außerhalb eines Schusswechsels über einen Notausstieg evakuiert werden. Die Stewardess aber nicht.« Die Stewardess! Auch wenn er von ihr genervt war, wollte er ihre Sicherheit nicht gefährden. Sie musste da raus. So viel war klar. Außerdem nagte der Gedanke an ihm, sie könne Recht haben. Er stellte die Verbindung zu ihr wieder etwas lauter, im Augenblick schwieg sie.

»Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«, fragte er den Einsatzleiter und prägte sich die Kamerabilder ein. Das Schweigen dauerte ungewöhnlich lange.

»Nein«, antwortete der Mann dann. »Nicht so, nicht in dieser Größenordnung. Bei einem kleineren, beteiligten Personenkreis hätte ich auf einen üblen Drogenrausch getippt, aber das hier …« Weitere Bilder wurden aufgeschaltet, auch die anderen beiden Teams waren mit ihren Kameras drin. Die Bilder glichen sich. Ein Massaker. Mit vielen apathischen Schwerverletzten. Verdammt, die Stewardess war wohl doch nicht verrückt, irgendetwas stank hier gewaltig. Kaum, dass er an sie gedacht hatte, meldete sie sich mit belanglosen Fragen. Er stellte sie stumm.

»Und? Würden Sie reingehen?«, fragte er den Einsatzleiter.

Wieder folgte eine längere Pause.

»Ich weiß es nicht. Die Entscheidung liegt bei Ihnen«, antwortete der Einsatzleiter. Förster sah zu seinem Staatssekretär, der den Kopf schüttelte. In den meisten Fällen folgte er seinem Berater. In diesem aber nicht. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weswegen er Ministerpräsident war und der andere nicht.

»Wir gehen rein!«, gab er den Befehl.

»Wir gehen rein!«, gab der Einsatzleiter das Kommando. Mehmet und Paul sahen sich an, Paul hob die Platte an und legte sie lautlos auf das Flugzeugdach.

»Du als Erster, Kanake!«, sagte Mehmet. Ein alter Witz zwischen ihnen. Paul trat die Plastikverkleidung ein, sprang in den Mittelgang des Flugzeugs, während Mehmet durch die Öffnung Feuerschutz gab und nach bewaffneten Gegnern Ausschau hielt. Nichts. Die Situation war völlig untypisch und entsprach nichts, was sie aus ihrer Ausbildung oder der Praxis hätten kennen können. Sie wurden angestarrt, Köpfe reckten sich zu ihnen um, Passagiere wandten sich um, unbeholfen und langsam. Ein Mann mit einer Halswunde, groß und tief wie eine Faust, fiel dabei zu Boden, schlug mit dem Gesicht auf und arbeitete sich wieder hoch.

»Rot, negativ. Wiederhole, Rot negativ!«, meldete Paul die Abwesenheit bewaffneter Terroristen. »Frischwasser, zahlreich, rot.« Viele schwerverletzte Zivilisten. Auch Team 2 und 3 hatten keinen Feindkontakt. Mit dem Sturmgewehr vor der Brust sprang Mehmet hinunter und sicherte den Gang in Richtung Cockpit ab. Er ließ seinen Blick durch die Kabine schweifen.

Unmöglich.

Die verletzten Zivilisten verhielten sich seltsam, nicht der Situation angemessen, nicht ihren Verletzungen angemessen. Einer dickeren Frau fehlte das halbe Gesicht, er konnte den heraushängenden Sehnerv eines fehlenden Auges sehen, dennoch zerrte sie lautlos und beharrlich an ihrem Gurt. Sie hätte schreien sollen. Schreien MÜSSEN. Mehmet wurde unbehaglich. Etwas lief hier falsch. Er wollte sich gerade zu Paul umdrehen, als er zwischen zwei Sitzreihen zuckende Beine bemerkte. Er trat einen Schritt nach vorn, beugte sich vor und spähte dorthin. Eine Stewardess und eine ältere Frau knieten über den Beinen eines Mannes und fraßen diese. Der Mann lebte.

»Helfen Sie mir!«, flehte er, als er Mehmet bemerkte, die Hände um das Metall der Sitze geklammert. Mehmet sah, er wollte um sich treten, doch es fehlte ihm die Muskulatur dafür. Seine Oberschenkel waren abgenagt.

»Sie fressen ihn auf«, flüsterte Mehmet ins Headset. Dann hörte er Paul schreien und Schüsse fielen im Heck des Flugzeugs.

»Sie sind drin«, meldete der Einsatzleiter und Förster entspannte sich ein wenig. Er atmete die angestaute Luft aus, sah aus dem Fenster und registrierte erst jetzt, wie er sich den Bauch rieb. Aus der Schreibtischschublade holte er sich eine Magentablette und spülte sie mit drei Schluck Wasser runter.

»Keine bewaffneten Attentäter, viele Verletzte, auch schwer Verletzte. Die Piloten sind raus. Wir holen jetzt nach und nach …« Förster hörte ein Rauschen, hektische Stimmen, undeutlich verzerrt, und … Schüsse.

»Das waren Schüsse, oder?« Er sah zu seinem Sekretär, dem die Sorgen auch ins Gesicht geschrieben standen.

»Was ist da los bei Ihnen?«

Förster bekam keine Antwort, hörte stattdessen den Einsatzleiter so laut Kommandos schreien, dass er sie nicht verstehen konnte und etwas, dass sich anhörte wie Schüsse, die man aus einem Fernseher oder aus Lautsprechern hörte. Das alles klang gar nicht gut. Überhaupt nicht.

»Verdammt, was ist da bei Ihnen los? Antworten Sie!«, schnauzte er, sein Sekretär bedeutete ihm mit winkenden Händen, sich zu beruhigen. Förster ignorierte ihn. Klick. Der Einsatzleiter hatte die Verbindung unterbrochen. Förster rieb sich die Stirn, bemühte sich um Selbstbeherrschung. Er schwitzte und sammelte sich.

»Das hört sich ganz schön dreckig an, was?«, wandte er sich an seinen Sekretär.

»Sie hätten noch weitere Informationen von Dr. Kallmann einholen sollen«, sagte dieser. Förster schüttelte den Kopf. Immer dieses analytische Nachtreten. Die Leitung öffnete sich wieder, der Einsatzleiter.

»Herr Ministerpräsident, wir haben Probleme. Zivilisten sind nicht weiter von den Tätern zu unterscheiden. Erbitte erweiterten Feuerbefehl.« Was zur Hölle war ein erweiterter Feuerbefehl?

»Reden Sie Klartext mit mir. Was heißt das?«

»Ich bitte Sie darum, auch auf mögliche Zivilisten das Feuer eröffnen zu dürfen.« Förster musste sich setzen. Er nahm noch eine Magentablette.

Paul hatte gedacht, die Verletzten hätten sich an ihm abstützen wollen. Das war nicht der Fall. Sie waren nicht beeinträchtigt, sie bedurften keiner Hilfe, denn sie griffen ihn an. Zwei Männer auf dem Gang, eine Frau kam zwischen zwei Sitzreihen auf ihn zu. Statt sich an ihm abzustützen, wollten sie ihn zu sich ziehen, wollten ihn beißen. Er stieß den vorderen mit dem Gewehrkolben weg, schlug dem anderen mit dem Ellenbogen ins Gesicht, aber außer der Wucht seiner Schläge, richtete er keinen nachhaltigen Schaden an, wie er erwartet hätte. Sie taumelten zurück, schwankten und kamen wieder auf ihn zu. Zwei weitere folgten ihnen. Die ältere Frau zwischen den Sitzreihen klammerte sich an seinen Arm, hing an ihm und biss zu. Er spürte den Biss trotz der Panzerung in seinem Oberarm.

»Verdammt!« Er riss sich von ihr los, überwand seine Hemmungen und schlug ihr mit der Faust mitten ins Gesicht. Und noch einmal. Das sollte reichen und sie niederstrecken. Ihr Kopf ruckte zurück, einen Augenblick glaubte er, sie würde zwischen die Sitze fallen, aber sie steckte beide Treffer weg, fing sich und kam wieder mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Und die beiden anderen von vorne. Und die beiden dahinter. Es waren nur Sekunden seit ihrem Einstieg vergangen. Er begann, zu schreien.

»Paul!«, rief Mehmet, sah wie drei Passagiere an seinem Kameraden rissen und zerrten, hörte eine Salve von Team 3 am Ende der Maschine.

»Feindkontakt«, meldete er. »Verletzte Zivilisten greifen uns an.« Es ließ sich nicht länger codiert beschreiben. Er bemerkte, wie ein Jugendlicher mit Kopfhörern und blutgetränktem Jack-and-Jones-Sweater und ein älterer Mann mit offener Halswunde auf ihn zukamen. Der Mann hielt eine Zeitung in seiner Hand umklammert, als würde er sie gleich lesen wollen und dennoch … Mehmet war sich sicher, dass er eigentlich auf die Intensivstation gehörte. Oder hätte tot sein müssen. Stattdessen … Stattdessen wankten sie auf ihn zu und Mehmet spürte in diesem Moment, dass von ihnen etwas Böses ausging. Dass sie böse waren.

»Erweiterter Feuerbefehl!«, schrie Mehmet ins Headset, hielt sein Gewehr wie einen Speer, nahm zwei Schritte Anlauf und schlug mit dem Kolben auf den Hinterkopf des Mannes, der sich an Paul festgeklammert hatte und ihn beißen wollte. Dessen Kopf flog zur Seite, aber er hielt sich mit aller Kraft an Paul fest, sodass er nicht umfiel. Nicht nur das, er zog sich wieder an Paul hoch und Paul ging dabei in die Knie. »Rückzug«, bellte der Einsatzleiter. Mehmet warf einen Blick auf den Ausstieg im Dach. Er würde es schaffen können, aber Paul? »Brauche den Feuerbefehl. Massiver Angriff!«