Infiltriert - Vincent Voss - E-Book

Infiltriert E-Book

Vincent Voss

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Beschreibung

Stell dir vor, du gehst mit deiner Familie in ein Freibad. Es ist warm und der Himmel wolkenlos. Und dennoch regnet es. In den Nachrichten siehst du, dass es überall auf der Welt geregnet hat. Ohne Wolken. Danach fallen dir Dinge auf. Kleinigkeiten. Störungen im Funk und Fernsehen, weitere Regenfälle, deren Erklärungen dir unglaubwürdig erscheinen. Und einige Menschen verändern sich. Wirken nicht mehr wie sie selbst. Es beginnt bei deinen Arbeitskollegen. Sie benehmen sich fremdartig. Wie ausgetauscht. Bei deinen Freunden. Bei deinen Kindern und deiner Frau. Was würdest du glauben? Was bist du bereit zu tun, um es aufzuhalten?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Phase I

Kapitel 1 – Regen ohne Wolken

Kapitel 2 – Bildstörung

Kapitel 3 – Unterricht

Kapitel 4 – Sie haben eine ungelesene Nachricht

Kapitel 5 – Rauchen im Herrenzimmer

Kapitel 6 – Der Mülleimer

Kapitel 7 – Von Pontius zu Pilatus

Kapitel 8 – Rock n Roll

Kapitel 9 – Hangover

Kapitel 10 – Roboter im Haus

Kapitel 11 – Auspowern!

Kapitel 12 – Igor, es lebt!

Kapitel 13 – »Wasser?«

Kapitel 14 – Papa schweigt

Kapitel 15 – Wenn der Postmann zwei Mal klingelt

Kapitel 16 – Unheimliches Treffen

Kapitel 17 – Nordseeurlaub

Kapitel 18 – Unheimliches Treffen II

Kapitel 19 – Die Merle-Puppe

Kapitel 20 – Einsam in der Großstadt

Kapitel 21 – Nicht ohne meine Tochter

Kapitel 22 – Hafenrundfahrt

Kapitel 23 – Zombies im Hochhaus

Kapitel 24 – Nerds im Hochhaus

Kapitel 25 – Die Schlinge zieht sich zu

Kapitel 26 – Verheimgesteck

Kapitel 27 – Umzug

Kapitel 28 – Im Fernsehen sind nur Außerirdische

Phase II

Kapitel 29 – Hunger

Kapitel 30 – Entschuldigung

Kapitel 31 – Streit unter Brüdern

Kapitel 32 – Ankunft im Hauptquartier

Kapitel 33 – Die Earthlings

Kapitel 34 – Hier kommt Alex

Kapitel 35 – Flo und Tom

Kapitel 36 – Gute Besserung

Kapitel 37 – Watchmen

Kapitel 38 – Zeit zusammen

Kapitel 39 – Watchmen II

Kapitel 40 – Watchmen III

Phase III

Kapitel 41 – Bleiben oder Gehen?

Kapitel 42 – Verfolgung

Kapitel 43 – AEZ Außerirdischenerstaufnahmezentrum

Kapitel 44 – Hat man kein Glück, kommt auch noch Pech hinzu

Über den Autor

Besuchen Sie uns im Internet

www.verlag-torsten-low.de

© 2019 by Verlag Torsten Low,

Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch

teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages

wiedergegeben werden.

Cover: Timo Kümmel

Lektorat und Korrektorat:

L. Rautenberger, T. Low

eBook-Produktion:

M. Berchtold, T. Low

ISBN (Buch): 978-3-940036-50-6

ISBN (mobi): 978-3-96629-306-8

ISBN (ePub): 978-3-96629-307-5

Prolog

Weder die kabbelige See, noch das angedrohte Sturmtief, dessen Ausläufer die Grönländische See erreichten, beunruhigte die Mannschaft der MS Neptun so sehr, wie die Wassermessergebnisse und die Laborwerte der gefundenen Braunalgen, die wie ein dichtes Geflecht das Schiff an seiner Weiterfahrt behinderten. Unerklärlich war der hohe Ammoniak-Gehalt in der Luft, den sie seit ein paar Stunden sogar schon riechen konnten und der Übelkeit bei einigen Besatzungsmitgliedern hervorrief. Ebenso unerklärlich waren die aus den Braunalgen extrahierten, unterschiedlichen Proteinfamilien, die sich gänzlich von jenen in anderen Algenarten unterschieden. Als hätten sie eine völlig neue Spezies entdeckt. Und dann das Methanhydrat. Selbst Lars konnte bei dem Gerede der Besatzung nicht mehr zwischen modernen Seemannsgarn und berechtigter Angst vor einem Schiffsunglück, das sogenannte Methanblasen in Ozeanen verursachen konnten, unterscheiden. »Was kann das sein?«, fragte er stellvertretend für das fünfköpfige Forscherteam, das eigentlich die anscheinend willkürlichen Routen von Pottwalbullen über ein halbes Jahr lang verfolgen und auswerten wollte. Erst vor fünf Tagen waren sie von der Insel Jan Mayen aus Olonkinbyen aufgebrochen um zwei Bullen zu folgen, die auf den Weg in den Norden waren. Und jetzt das. Lars nagte an dem Radiergummi seines Bleistiftes und schlug damit nervös auf die Tischkante. »Ammoniak. Kinesine. Und Hitzeschockproteine. Ich verstehe das nicht.« Er deutete auf einen Wert, der am äußersten Ende der Messskala lag. Waldemar setzte zu einer Antwort an, als der Schiffsmotor erneut erstarb, weil sich die Schraube wieder einmal in den Algen verfangen hatte. Ein Ruck ging durch das Schiff, es wurde von den Wellen hin und her geworfen, die Forscher mussten sich festhalten, um nicht hinzufallen. Dann beruhigte es sich, sie hörten Schritte, Rufe und Lärm von Deck. Gunnar zuckte mit den Schultern. »Ich habe das noch nie gesehen. Und das Methanhydrat macht mir am meisten Sorge gerade.« Der Wert war die letzte halbe Stunde wie ein Wetterfrosch in einem Jahrhunderthoch nach oben geklettert. Kapitän Nisbert wünschte über jeden Anstieg sofort informiert zu werden, Gunnar sandte ihm die Daten auf die Brücke. Lars fahndete indes nach einem Gesamtbild, nach einem System, das in diesem Anstieg verschiedener Werte und in dem Fund des Braunalgenteppichs verborgen lag, aber kein wissenschaftliches Modell ließ sich darauf anwenden. Der Blick auf den nach oben schnellenden Wert trieb Sorge in ihre Mienen. Der Motor wurde wieder angeworfen und Nisbert versuchte, das Schiff mit voller Kraft aus den Fängen der Algen zu steuern.

»Mir gefällt das alles gar nicht!«, flüsterte Lars und wurde von einem Unbehagen beschlichen, das exponentiell zum Methanwert anstieg. Er setzte sich an seinen Rechner, starrte auf die rätselhaften Werte und einer Intuition folgend lud er die Protokolle in seinen Emailaccount. Währenddessen konzentrierte er all seine Sinne auf das Schiff. Die kabbelige See, der röhrende Motor, die kreischende Schiffsschraube, die sie aus dem Algenteppich befreien sollte, die hektischen Schritte an Deck, die Rufe der Besatzung. Was war das? In was waren sie da hineingeraten? Sie hatten die beiden Pottwale mit Peilsendern markiert, wollten ihre Fährte durch die Tiefsee verfolgen, Wasserproben nehmen, um sagen zu können, ob sich der Salzgehalt maßgeblich verändert hatte, wie zu befürchten stand. Seit drei Tagen hatten sie die Signale der Wale verloren und die Messgeräte spielten verrückt. Und nicht nur das. Nisbert musste feststellen, dass die elektronischen Navigationsgeräte ausfielen und war gezwungen mit altertümlichen nautischen Geräten, wie einer Karte, Zirkel und Kompass den Kurs zu bestimmen. Lars fasste die Ereignisse in ein paar Zeilen zusammen und hoffte, als er auf Senden drückte, es würde sich ausnahmsweise eine Verbindung zum Internet herstellen, was nur noch gelegentlich vorkam und von allen wie ein Sechser im Lotto gefeiert wurde. Es baute sich der Wartekreis auf dem Bildschirm auf. Zumindest keine Fehlermeldung. Lars wollte nach seiner Tasse greifen, als er abhob. Das ganze Schiff hob ab, als hätten sie in einer Achterbahn den Scheitelpunkt überwunden und stürzten in die Tiefe. Schreie, ein Aufprall und Lars hörte, wie das Schiff auf dem Wasser aufschlug, die aufspritzende Gischt, das Kreischen von Metall, dann Stille. Absolute Stille, zwei, drei Sekunden lang. Gunnar und Sarah schrien auf, von Deck erschollen laute Rufe und eilige Schritte. »Was? Was war das?«, rief Victor nach oben.

»… selbst sehen«, wehte eine Antwort von Deck hinunter. Lars stand auf, stürzte zum Aufstieg. Was war das? Es hatte sich angefühlt, als wäre das gesamte Schiff einen Augenblick lang geflogen. «Nein! Bitte nicht!« Gunnar starrte auf den Methanwert, der sich zum Glück aber nicht verändert hatte. Lars nahm zwei Stufen auf einmal nach oben, zog sich am Geländer empor. An Deck hörte es sich an, als hätte es zu regnen begonnen. »Was ist passiert?«, fragte er Leif, der ihm am nächsten stand und die Leichenfänger auf der Backbordseite aufspannte. »Sieh selbst, Lars!«, schrie er und übertönte das Geräusch prasselnden, trommelnden Regens und in Wellen an das Schiff schlagenden Wassers. Es regnete. Und so einen Regen hatte Lars noch nie erlebt. Das Wasser stand wie eine Wand, auf Deck schäumte es und die Abflusssiele schafften es nicht, die Massen ins Meer zu leiten. Lars spürte die Aufregung der Matrosen. Aufregung und … Angst. Nachdem er drei Monate mit dieser Crew reiste, sah er das allererste Mal Angst in ihren Gesichtern. Sein Blick öffnete sich, er suchte nach Wolken und dem angekündigten Sturmtief, doch hinter dem Regen, der wie ein Vorhang die Sicht einschränkte, sah er einen blauen Himmel. Keine Wolken. Kein Sturmtief. Lars blinzelte, glaubte an eine Sinnestäuschung. Wie konnte das sein? Er lief Leif hinterher. »Keine Wolken! Wo kommt der Regen her?« Er musste sich an den Tauen festhalten, das Schiff wurde von den Wellen hin- und hergeworfen und an Deck war die Gefahr deutlich größer hinzufallen. »Das ist kein Regen«, rief Leif, während er aus einer Backskiste ein weiteres Netz holte. »Was?«, fragte Lars nach, er hatte das letzte Wort nicht verstanden. »Das ist kein Regen, Lars! Das Wasser kommt aus der See!« Jetzt hatte Lars die Antwort zwar gehört, aber er verstand es immer noch nicht. Leif brachte den nächsten Leichenfänger an. Lars blieb stehen, hielt sich fest, sah sich um und suchte den Fehler in seiner Wahrnehmung. Der Regen. Der Regen war kein Regen. Es war sprühende Gischt, die das Schiff tränkte, es war Seewasser, das wie auch immer von unten nach oben gesogen wurde. Lars schmeckte Salz. »Das ist … unglaublich!« Lars suchte hinter der Wand aus Wasser nach einer Ursache dieses Phänomens, irgendetwas, das ihm diesen Spuk erklären konnte, als das Schiff fiel. Die Matrosen Leif, Lasse und Waldemar wurden von Bord gerissen, Lars wurde durch die Luft geschleudert, das Wasser, das Meer türmte sich um ihn herum haushoch auf. Das war´s, dachte er und behielt Recht.

Als das Schiff auf dem Wasser aufschlug und zerschellte und kurz bevor das Meer über den Trümmern zusammenbrach, wurde eine Email versandt. Das letzte Lebenszeichen der MS Neptun.

Phase I

Kapitel 1 – Regen ohne Wolken

Es regnete. Flo schlief, blinzelte. Es fühlte sich an, wie der sogenannte Honigtau von Blattläusen, der auf einen rieselte, wenn man unter einem blattlausbefallenen Baum lag. Er atmete tief ein. Pommes, Würstchen, Sonnencreme … die Melange dieser Gerüche … Sommer. Und das im Mai. Das Freibad hatte erst den zweiten Tag geöffnet, aber für ihn fühlte es sich wie Mitte August an. Und genau so voll war es auch. Als sie eintraten, hatte sich eine Schlange vor dem Sprungturm gebildet und selbst weit draußen auf dem Baggersee, noch hinter der orange leuchtenden Kette in der Mitte des Sees, sah man überall Schwimmer, Sonnenanbeter auf Luftmatratzen und in Schlauchbooten, einzeln oder in Gruppen auf dem Wasser.

»Flo!«

Kein Traum. Es regnete tatsächlich. Merle hatte ihn wachgerüttelt, in einer Handfläche Sonnencreme, die Sonnenbrille auf den Kopf geschoben.

»Was ist das?«

Flo rieb sich die Augen, sah sich um. Badegäste, die in den Himmel blickten. Regen. Keine Wolken. Er setzte sich auf. »Wo sind die Mädchen?«, fragte er und suchte den Badebereich nach seinen Töchtern Lynn und Nele ab. Sie hatten sich am Ufer mit anderen Kindern zusammengetan und bauten an einer Staudammanlage. Der Regen schien sie nicht zu interessieren und in unmittelbarer Gefahr befanden sie sich auch nicht.

»Flo! Was ist das?«, fragte Merle.

»Regen?«, antwortete er benommen.

»Ja, aber wie kann das sein?«

Er stöhnte. »Lass mich erst einmal wach werden.« Er sank wieder auf das Handtuch zurück und streckte sich. Seit jeher hatte die Kulisse eines Freibads eine meditative Wirkung auf ihn. Wie auf Knopfdruck befand er sich im Urlaubsmodus und konnte problemlos einen Nachmittag verschlafen. Er rieb sich die Augen. Regen. Regen ohne Wolken. Er setzte sich auf und war wach. Es war lauter als vorhin. Die Badegäste waren aufgeregt, einige packten ihre Sachen und zogen unter die Bäume, Fotos wurden geschossen, andere diskutierten über das Phänomen. Flo sah sich den Film feinen Sprühregens auf seinem Unterarm an. Einbildung? Er glaubte, es würde ihn leicht kitzeln. Er roch daran. Salzig. Es roch nach … Meer.

»Ich hol die Kinder«, verabschiedete sich Merle und lief zum Ufer.

Flo fuhr mit dem Zeigefinger über seinen Unterarm, steckte ihn sich in den Mund und kostete. Salz. Definitiv. Recht hoch konzentriert. Konnte Regen, bzw. Wasser ohne Wolkenbildung durch Thermik in so hohe Luftschichten steigen, dass man es nicht sehen konnte? Er wusste es nicht, aber wenn er eines als Biologe wusste, dann, dass es für jedes Phänomen eine Erklärung gab.

Merle kam mit den Mädchen an der Hand zurück. »Also, was ist das, Herr Biologe?« Und als sie nah bei ihm stand, flüsterte sie: »Kann das gefährlich sein?«

Unauffällig schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, dass das Wasser irgendwie ohne zu Verdunsten in die Luft geraten ist. Zur Wolkenbildung braucht es einen Kondensationskern und der fehlt hier einfach. Wahrscheinlich ist es durch Thermik über einen weiten Weg zu uns gelangt«, erklärte er. »Hier, das ist Salzwasser.« Er rieb mit dem Zeigefinger über seinen Handrücken und hielt ihn Merle zum Probieren hin.

»Lass mal. Meerwasser?«

Flo nickte.

»Mama, das Wasser schmeckt nach Salz«, stellte Lynn fest. Und mit dieser Feststellung hörte der Regen auf. Die Menschen sahen in den Himmel, staunten kurz, vergaßen den Vorfall und genossen weiter den Sommertag im Mai.

Kapitel 2 – Bildstörung

Die Grillkohle im Schuppen war über das Jahr feucht geworden, Flo und sein Nachbar Jan fächelten mit Zeitschriften Luft zu, um sie zum Glühen zu bringen. Nele und Lynn sprangen mit den Nachbarskindern Rico und Lucie auf dem Trampolin, während Merle und Cordula ihr Alsterwasser öffneten, sich zuprosteten, tranken und den Blick ins Grüne schweifen ließen. Üppig. Das Grün war satt und üppig. Mitte April hatte es dieses Jahr noch geschneit, dann war es schlagartig Sommer geworden. »Habt ihr den Regen vorhin mitbekommen?«, fragte Jan. Flo nickte. »Wir waren gerade am Itza baden, ja. Es … war Meerwasser. Muss durch Luftströmungen zu uns gekommen sein. Passiert manchmal«, erklärte Flo, der zwischenzeitlich im Internet nachgeschaut hatte und seine Theorie bestätigt sah. »Aber da waren keine Wolken! Wie kann das sein?«, hakte Cordula nach. »Achtung! Der Herr Lehrer hat auch dafür eine Erklärung«, neckte ihn seine Frau und erntete Gelächter und einen gespielt bösen Blick. »Soll ich es erklären, oder nicht?«, fragte Flo. »Erklär mal«, forderte ihn Jan auf und Flo erklärte Jan, was er wusste und zwischenzeitlich herausgefunden hatte.

»Wie geht es Rico?«, fragte Merle Cordula. Cordula nickte zum Trampolin, wo Rico sich an einem Salto versuchte. »Siehst du ja. Vorhin wäre er noch fast gestorben, hat geschlafen und sogar den Regen verpasst. Und jetzt ….« Merle grinste. »Na, dann. Auf den Sommer!« Sie stießen an und Merle trank ihr Radler mit einem Zug leer.

»Die Kohle ist gut.« Flo legte erst Würstchen für die Kinder und, nachdem die gegessen hatten, das Fleisch auf. Anschließend spielte er mit Jan und den Kindern Fußball, ehe sie die Reste grillten. Kurz vor acht Uhr schaltete Flo auf ARD die Nachrichten ein. »Du hast echt nen Knall mit deinen Nachrichten«, zischte ihm Merle zu, während er im Türrahmen mit einem Bier in der Hand stehen blieb. »Fernsehen!«, rief Lynn, sprang aus dem Knick und lief zum Haus. »Ganz toll, Flo!« Er zuckte mit den Schultern. Gegen Lynns Fernsehtick waren sie machtlos und er hatte keine Lust, seine Gewohnheiten wegen seiner Tochter zu ändern. Zumindest nicht diese. Lynn stürzte, die anderen Kinder im Schlepptau, an ihm vorbei ins Wohnzimmer und stellte sich zwei Schritte vor den Fernseher. »Lynn wird später Regisseurin«, seufzte Flo an Jan gewandt. »Och, das sind ja nur langweilige Nachrichten«, hörten sie Rico jammern.

»Bestimmt«, pflichtete ihm Cordula bei und zog sich ihre Jacke über.

»Abends wird es noch ganz schön frisch, was?« Merle stand auf, wollte eine Jacke von drinnen holen, als Judith Rakers in den Nachrichten von einem Wetterphänomen sprach, Regen ohne Wolken, das in Teilen Deutschlands zu beobachten gewesen war. Flo war mit ein paar Schritten bei der Fernbedienung und stellte lauter. Die Erklärung des Meteorologen deckte sich mit seiner Theorie. Aber offenbar hatte es in ganz Deutschland ohne Wolken geregnet, es wurden Bilder aus Berlin, München und Köln gezeigt. »Wie du gesagt hast, Herr Lehrer.« Merle schlug ihm leicht auf die Schulter. »Endlich hat dein Biologie-Studium mal einen Nutzen.« »Aber wie kann das deutschlandweit sein?«, fragte Jan und zog die Augenbrauen hoch. Flo stellte sich diese Frage ebenfalls und die Erklärung des Wetterexperten hörte sich weniger wissenschaftlich denn hastig zurechtgelegt an. Fallwinde aus den Alpen, Tief über England, offenbar verwirrte die eigene Erklärung den Wetterexperten so sehr, dass er das Tief in eine völlig falsche Richtung schob und sich entschuldigen musste. »Auch wenn das wenig mit meinem Fach zu tun hat, das hört sich nach Mist an. Wie soll das alles zufällig angehen?« Flo schüttelte den Kopf. »Also so wie er das sagt, kann das überall passieren?«, bohrte Jan nach. »Ich weiß nicht. Ich kann es mir nicht so einfach erklären«, antwortete Flo. »Ich glaube, es ist so viel möglich, es gibt so viele Dinge, die wir uns alle gar nicht vorstellen können«, versuchte Cordula zu beschwichtigen und das Bild begann zu flackern. Jetzt waren Judith Rakers Beine in der oberen Bildschirmhälfte zu sehen, ihr Oberkörper in der unteren. Merle wollte die Antenne verstellen, als ein ätherisches Rauschen vermischt mit einem Geräusch, als würden Steine unter Wasser aneinander geschlagen, aus dem Fernseher drangen. Merle verharrte in ihrer Bewegung, ebenso Lynn, Cordula, Jan und Lucie. Rico drehte sich zu ihnen um. »Was ist das?« Er hielt sich die Ohren zu. Lynn schrie. »Mama! Der Fernseher!« Lynn wurde wütend. Wenn etwas mit dem Fernseher nicht in Ordnung war, konnte sie sehr wütend werden. Flo wollte ihr antworten, helfen, aber etwas irritierte ihn, ließ ihn verharren. Die Stimmung. Die Anderen. Außer Rico und Lynn starrten sie alle gebannt auf den Fernseher, wie eingefroren in Zeit und Raum, lauschten, als würden in den Tönen versteckte Botschaften enthalten sein. Merle. Zwei Schritte und er war bei ihr, fasste sie an die Schulter. Keine Reaktion. »Ma – ma! Was ist mit dem Fernseher?« Lynn sah zu ihrer Mutter, sah zu Flo. »Mama? Was ist mit Mama, Papa?« Er antwortete nicht. Surrealistisch kam ihm das vor. Als würden zerlaufende Uhren die Zeit anhalten. Er kam sich wie in einem Theaterstück vor. Als Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte. »Merle?« Rico sah jetzt auch zu ihm. Er hatte Angst. »Jan? Cordula?«, sprach Flo seine Nachbarn an. Es klang hilflos. Er war hilflos. Weiterhin rauschte und knackte es, als wären die Boxen übersteuert und das Bild flimmerte. Dann war es schlagartig vorbei und alle, die eben noch wie Marionetten auf den Bildschirm gestarrt hatten, schüttelten sich, kamen zur Besinnung. »Mama?«, fragte Lynn. Seine Frau sah zu ihm, ihr Blick ein einziges Fragezeichen. Doch als hätte ihr eine innere Stimme auf ihre Fragen geantwortet, klarte sich ihr Blick auf. Ihr Gesichtsausdruck wurde streng. Und sie wurde anders. »Merle? Alles gut?«, fragte er. »Ja. Es geht mir gut. Aber wir sollten jetzt Schluss machen. Die Kinder sind müde.« »Und Morgen ist Montag«, pflichtete ihr Jan bei und Cordula nickte. »Hä? Was soll das denn jetzt?«, begehrte Lynn auf. »Mama? Papa?« Rico schloss sich dem Aufstand an. »Wir gehen«, sagte Lucie bestimmt und zog Rico mit sich, der Lynn einen fragenden Blick zuwarf. »Papa? Was ist denn hier gerade los?«, wollte Lynn von ihm wissen und sah ihrer älteren Schwester zu, die jetzt den Tisch auf der Terrasse abräumte. Die Nachbarn sammelten ihre Sachen zusammen und verschwanden durch den Garten. »Papa?« »Du darfst jetzt noch fernsehen, Schatz. Hilf mit, dann machen wir es uns gemütlich. Komm, bring die Bälle und die Sprungseile in den Schuppen.« Lynn sah ihn misstrauisch an, verschwand dann aber nach draußen. Er ging zu seiner Frau in die Küche. »Was war das, Merle?« Er legte seine Hände auf ihre Schulter, während sie ihm den Rücken zuwandte und die Gläser ausspülte.

»Was?«

»Mit dir. Und Jan, Cordula, Nele und Lucie. Ihr habt wie Marionetten auf den Fernseher gestarrt. Und wart nicht ansprechbar. Und jetzt. Jetzt bist du … komisch«, erklärte er. Sie hob den Kopf. Er sah ihr Lächeln nicht. »Es ist gleich halb Neun. Ehe die Kinder schlafen ist es Neun.« Sie drehte sich um, umfasste seinen Po und drückte ihn an sich. »Ich habe heute noch so einiges vor mit dir. Wie wäre es, wenn du dich rasierst?«

»Ich …«

Sie küsste ihn.

»Überredet«, flüsterte er.

Kapitel 3 – Unterricht

»Was genau ist euer Problem?« Flo stellte sich neben seine Schüler aus der letzten Reihe im Biologieraum, diese hatten seine Ankunft wegen einer lebhaften Diskussion nicht wahrgenommen und zuckten zusammen. 9ter Jahrgang, Genetik, aber offensichtlich war die Mudda eines Jungen von größerem Interesse. Sie schwiegen, Justin und Maximilian kicherten.

»Seine Mutter …«, Roland zeigte auf Felix, »… hat sich gestern beim Fernsehen wie ein krasser Zombie verhalten.« Roland sah betreten aus dem Fenster, die anderen grinsten.

»Wie ein krasser Zombie? Wieso? Erklärt es mir, bitte.« Felix sah zu Flo, schluckte.

»Sie war irgendwie wie weggetreten. Aber so richtig. Is so. Und der Fernseher … der hat so komische Töne von sich gegeben und das Bild hat geflackert. Ich hab sie dann so angestupst, dann geschlagen.« Mudda geschlagen konnte Flo von einem anderen Tisch hören, das konnten nur Lukas und Ole gewesen sein. Mit ein paar Schritten war er bei ihnen.

»Und? Was ist euer Problem? Lukas? Ole? Erzählt mal. Wir wollen das gerne alle wissen.« Lukas wurde rot, Ole verschränkte die Arme vor der Brust.

»Bei mir war das auch so, Herr Daunert«, meldete sich Alexandra zu Wort. Mutig, wie immer. Streit konnte sie nicht ertragen. Und damit kam sie bei ihm durch.

»Was war bei dir auch so?« Seine Neugier war geweckt worden und er erinnerte sich nur zu gut an das gestrige Ende ihres Grillabends.

»Na ja, meine Eltern waren den ganzen Tag schon so aufgedreht, haben eine Radtour gemacht und so. Abends habe ich meine Ladekabel gesucht und musste runter zu ihnen ins Wohnzimmer.« Musste zu meinen Eltern ins Wohnzimmer. Flo befürchtete schon das Schlimmste, wenn seine beiden Töchter die Pubertät erreichten. »Und dann saßen sie da wie Puppen auf dem Sofa und glotzten so komisch den Fernseher an.«

An dem Kopfnicken einiger anderer Schüler erkannte Flo, dass sie dieses Bild kannten. »Und? Bei euch?«, fragte er in die Runde und das Eis war gebrochen. Einige erzählten, dass sie ihre Eltern, Freunde, Verwandte in einem ähnlichen Zustand erlebt hatten. »Und ist jemand von euch vor dem Fernseher wieder zu sich gekommen und gehörte selbst zu den Weggetretenen?«, frage Flo mit ernster Neugier, denn weder Nele noch Merle konnten ihm bei Frühstück Antwort geben und spielten den Vorfall herunter. Flo sah durch die Reihen seiner Schüler. Sie warfen sich untereinander Blicke zu, schwiegen und Flo konnte in ihrem Schweigen eine Lüge erkennen. Es gab welche aus seiner Schülerschar, die betroffen waren und sich aus falscher Scham nicht trauten, es offen zuzugeben. »Verstehe«, unterbrach Flo die Stille. »Okay.« Er rieb sich das Kinn, hing in seinen Gedanken immer noch seinem eigenen Erlebnis nach. Kollektivamnesie? Wie konnte so etwas geschehen? »Fangen wir mit der Stunde an.« Er schob seine Fragen beiseite. »Vererbung. Habt ihr noch Fragen zur letzten Stunde?«

Alexandra hob die Hand. »Ihre Rot-Grün-Blindheit, Herr Daunert. Wieso hat ihre eine Tochter die Krankheit vererbt bekommen und die andere nicht?« Flo nickte. Einer der wenigen Momente, wo er seine Protanopie sinnvoll nutzen konnte. Und auf Alexandra war Verlass. »Des Pudels Kern liegt in der Erbse«, begann er seinen Unterricht.

Kapitel 4 – Sie haben eine ungelesene Nachricht

In seiner Pause vor dem Nachmittagsunterricht saß Flo im Lehrerzimmer mit einer Tasse Kaffee vor seinem Laptop. Im Innenhof rauchten Gisela und Kathrin, seine Kollegen Karsten und Rüdiger unterhielten sich leise in der Ruheecke. Für ein Kollegium von über 100 Lehrer war es dementsprechend ruhig. Flo biss von seiner Käsestulle ab, spülte mit Kaffee nach und öffnete seinen E-mailaccount. Spam, Spam und eine ungelesene E-mail, die er sich genauer ansah. Absender Lars Hinrichsen. Betreff: Messerergebnisse und sonderbare Ereignisse.

Die Mail hatte einen unglaublich großen Datenhang mit mehreren 100 MB. Flo wollte sie in den Papierkorb verschieben und stutzte. Lars Hinrichsen. Ein Allerweltsname mit dem sich gut eine Schadmail versenden ließ. Andererseits war er während seines Biologie-Studiums mit einem Lars Hinrichsen auf dem Greenpeace-Schiff Esperanza zwischen Norwegen und Spitzbergen gefahren. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren, obwohl sie sich auf dem Schiff angefreundet hatten. Konnte er ihm eine Mail geschickt haben? War sein Account gehackt worden? Er seufzte und öffnete sie. Ein längerer Text und mindestens 20 Dateianhänge. Messprotokolle. Ein elektronisches Logbuch. Laborergebnisse. Einige Formate und Programme waren Flo durchaus geläufig. Meeresbiologische Forschungsergebnisse. Flo las den Text. Er stammte tatsächlich von jenem Lars Hinrichsen aus seiner Studienzeit und fasste die Ereignisse und Ergebnisse der MS Neptun zusammen. Das hörte sich alles ziemlich unglaublich an. Zum Schluss nahm Lars Abschied als würde er mit einem schlimmen Schicksal rechnen. Konnte das ein Scherz sein? Von Lars? Flo wusste keine Antwort darauf, sah aber, dass die Mail an einen zweiten Empfänger versandt wurde. Eine Frau namens Kassandra von Altmark. Flo hätte die Mail nach dem Lesen in den Papierkorb verschoben, hätte Lars nicht ein vermeintliches Wetterphänomen beschrieben. Regen ohne Wolken, der sich als etwas anderes herausstellte. Er ließ die Mail in seinem Posteingang und beschloss, sie sich nach Feierabend noch einmal genauer anzusehen.

Etwas Unbehagen beschlich Flo, als er Merle aus der Küche ins Wohnzimmer rief, um sich mit ihr gemeinsam die Nachrichten anzusehen. Thorsten Schröder entschuldigte sich für technische Störungen der gestrigen Tagesschau, die das gesamte Sendegebiet betrafen und ließ anschließend Professor Hartmann vom Geomar in Kiel innerhalb einer Minute das Wetterphänomen erklären. Klang plausibel. »Siehst du«, sagte er an Merle gewandt. Sie zuckte mit den Schultern und verschwand wieder zu Nele in die Küche, um ihr bei den Mathehausaufgaben zu helfen. Lynn kam aus ihrem Zimmer heruntergerannt, sie hatte den Fernseher gehört und gab Flo einen Alibi-Gute-Nacht-Kuss. Und sah dann fern. Flo streichelte ihr das Haar. 9 Jahre und so groß. Manchmal glaubte er, die Zeit würde wie ein 100-Meter-Sprinter von ihm weglaufen. Er hatte seine beiden Töchter doch eben erst als Babys in den Schlaf gewiegt. »Lynn. Lynn! Ist noch was?« Sie fuhr herum, stemmte eine Faust in die Hüfte. »Nele und Mama sind voll doof!«, empörte sie sich. Flo seufzte. Er hasste Streit zwischen seinen Töchtern. »Was hat Nele jetzt schon wieder getan?«, fragte er mit singendem Tonfall, den er eigentlich hatte vermeiden wollen. »Nichts. Die beiden haben nichts gemacht und sind trotzdem voll kacke! Und Mama hat Tinkerbell heute nicht gefüttert. Das habe alles ich gemacht.«

»Das hast du toll gemacht, Lynn. Ich rede nachher mit Mama darüber, aber wie du dich um Tinker kümmerst, finde ich super.« Tinkerbell war das fünfte Familienmitglied, ein Zwergkaninchen, das sie sich dieses Frühjahr von einem Züchter geholt hatten. Flo war grundsätzlich gegen Haustiere gewesen, gegen den Namen erst recht, aber letztlich war ihm das grau-weiße Kaninchen ans Herz gewachsen. Lynn wollte antworten, aber Flo bat sie, leise zu sein. Das Wetterphänomen wurde beim Wetterbericht noch einmal thematisiert, denn auch heute hatte es tagsüber immer mal wieder ohne Wolken geregnet. Weltweit zu unterschiedlichen Zeiten. Flo sah Schauplätze in New York, Paris, Tokio und Tel Aviv. Angeblich hatten Tornados große Wassermengen aus dem Atlantik abgesogen und diese über Thermiken weltweit verteilt. Flo nickte zustimmend. »Das müssen gewaltige Wassermengen gewesen sein«, sagte er zu sich selbst. Atlantik … er rief sich die Mail ins Gedächtnis und verschwand in seinem Arbeitszimmer.

Er goss sich einen Whiskey ein und ging zurück ins Arbeitszimmer. Was war das denn? Weder aus den Messergebnissen noch aus dem Text war er schlau geworden. Der Text klang beinahe nach einer Verschwörung und die Daten ergaben keinen Sinn. Vor allem, sie waren unmöglich und mussten eine Fälschung, zumindest aber eine unsaubere Messung sein. Flo hatte diese Kassandra von Altmark gegoogelt und sie entsprach einem weiblichen, jüngeren Ebenbild Erich von Dänikens. Bei allem, was er von ihr in der Kürze gelesen hatte, wusste er nicht, ob es sich um Satire handelte. Aber sie meinte es offenbar ernst und somit bestätige sich sein Verdacht. Über die MS Neptun gab es keine aktuellen Informationen im Netz, aber er hatte keine Lust den Green Warriors wegen einer verwirrten Mail eine Anfrage zu stellen. Flo entschied, Lars und auch Frau von Altmark höflich und distanziert zu antworten, ihnen mitzuteilen, dass er mit der Mail nichts anfangen könne.

Kapitel 5 – Rauchen im Herrenzimmer

Die Mittagssonne schien durch die beiden Fenster des Herrenzimmers seines Elternhauses in Diekholzen und brachte Flo und seinen jüngeren Bruder Tom zum Schwitzen. 2 Minuten jünger, der jüngste Daunert-Drilling. Und das schwarze Schaf der Familie, wie Flo wieder einmal feststellen musste, als Tom begann, einen Joint zu drehen. »Tom!«

»Was? Der Alte weiß doch eh nicht, was das ist.« Tom bröselte etwas Gras auf den Tabak und knetete es säuberlich darunter.

»Hör auf damit. Für 75 ist er noch ganz schön rüstig«, antwortete Flo und beobachtete seinen Bruder. Karsten trat ins Herrenzimmer, während Tom den Klebestreifen des Blättchens anleckte und die Tüte zusammendrehte.

»Was soll das denn, Tom?«, fragte er gewohnt streng. Der älteste Daunert-Drilling.

»Flo und ich kiffen zur Feier des Tages. Willste auch?« Karsten schüttelte herablassend den Kopf. »Nein, Danke. Und ich frage mich, wie man nur auf so kranke Ideen kommen kann. Hier sind Kinder, Thomas! Und, was wenn Papa hier rein kommt?«

»Entspann dich, Karsten.« Tom zündete die Tüte an, inhalierte tief. »Kinder und Frauen haben im Herrenzimmer nichts zu suchen. Und Papa …« Er sog ein weiteres Mal. »Papa weiß gar nicht, was das hier ist.« Er reichte Flo den Joint. Flo zögerte, nahm ihn dann an, nur um Karsten zu ärgern und inhalierte tief. Karsten setzte sich an den Kaffeetisch, wie er es immer tat. Die Beine übereinander geschlagen, die Untertasse in der linken Hand haltend und mit abgespreiztem kleinen Finger trank er Kaffee, musterte Flo und Tom über die Gläser seiner Brille hinweg. »Bei dir ist alles gut, Karsten?«, wollte Tom wissen, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. »Ja, Danke.«

»Hast du auch den Regen ohne Wolken abbekommen?«, trieb Tom ihre Unterhaltung fort. »Nein. Äh, ja, doch.« Tom und Flo sahen sich an, grinsten. »Was denn jetzt, Karsten?«, hakte Tom nach.

»Ich … Wir waren unterwegs, als es passierte. Ein bisschen Regen halt. Ich verstehe die ganze Aufregung darum nicht.« Flo nahm noch einen Zug, reichte Tom den Joint zurück. »Du als Amtsleiter hast doch bestimmt ne Menge Fragen deswegen erhalten, oder?«, wollte Flo wissen. Karsten sah ihn an, dann Tom, stand auf und verließ das Herrenzimmer. »Was ist denn mit dem los?«, lachte Tom, schüttelte den Kopf und rollte die Asche im Aschenbecher ab. Flo überlegte, ob Karsten sich auffällig oder sonderbar verhalten hatte, kam aber zu keinem Ergebnis. »Keine Ahnung. Merle und Nele verhalten sich gerade komisch«, sagte er und nahm den Joint wieder entgegen. »Ach ja. Wieso?«

»Kann ich nicht sagen. Abweisend. Anders. Seit einer Woche sind sie mir irgendwie fremd.« Aus den Augenwinkeln sah er, wie Merle auf das Herrenzimmer zusteuerte und gab Tom hektisch die Tüte zurück. Merle öffnete die Tür, wollte eintreten. »Herrenzimmer«, erhob Tom seine Stimme. »Hier dürfen nur Männer rein. Ist Familientradition«, erklärte er etwas milder. Merle sah sich auf eine Art um, die Tom in seinem Zustand noch fremder vorkam als sonst. Sie erinnerte ihn an ein im Wasser treibendes Krokodil. Er lächelte schief. »Soll ich wieder …« »Nein, schon gut«, unterbrach sie ihn, trat hinaus und schloss die Tür hinter sich. »Siehst du! Das meine ich.« Flo fühlte sich bestätigt.

»Sex?«, fragte Tom.

»Was?«

»Ob ihr Sex habt. Tu nicht so verklemmt. Ist meistens in Beziehungen ´n Streitthema.«

»Ja. Ja, haben wir. Momentan immer abends, vor dem Schlafengehen. Aber weißt du, auch das ist komisch. Kaum sind die Kinder im Bett, fällt sie beinahe über mich her. Aber es ist trotzdem irgendwie … kalt.« Tom lachte. »Kalt. Alter, Merle ist ein rattenscharfes Gerät, Mann. Wie kannst du da sagen, es sei kalt.« Tom nahm drei kurze Züge, prüfte die Tüte mit geübten Blick und reichte sie an Flo.

»Das verstehst du nicht, Tom. Und ich auch nicht.«

Die Tür wurde geöffnet. Ihr Vater reckte seinen Kopf ins Herrenzimmer und roch. »Was ist das denn?«

»Zigarren, Paps«, antwortete Flo und drückte den Joint im Aschenbecher aus. »Bah! Mutter hat das Essen fertig. Kommt jetzt, Jungs. Und was ist mit deiner Frau, Florian. Die ist so reserviert heute.« Flo sah zu Tom und warum auch immer, beide brachen in schallendes Gelächter aus. Flo hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt.

Kapitel 6 – Der Mülleimer

Joggen, Kopf freilaufen. Flo lief die Hofeinfahrt hinunter und bog links den Alstertalweg in Richtung Hochmoor und Alster ab. Er hatte eine schöne Strecke bis zur Steinbrücke vor sich und um diese Uhrzeit würde er sie vermutlich für sich haben. Nebel war aufgezogen, wallte auf der Straße und in den Gärten zwischen den Häusern. Dankwarts Hund bellte ihm hinterher, er kam langsam in das richtige Tempo, um abzuschalten. Und blieb schlagartig stehen.

In der Kurve stand ein Lastwagen des Wegezweckverbands mit leuchtenden Warnlichtern und ein Mann in Arbeitsmontur zog einen weißen Mülleimer auf den Bürgersteig und stellte ihn vor einem Einfamilienhaus ab. Er stieg hinten auf das Trittbrett, der Wagen wendete in der Kehre, fuhr zur Hauptstraße und verschwand im Nebel. Sonntag, 22:45 Uhr. Flo schüttelte den Kopf. Warum bekam man sonntags um diese Uhrzeit einen Mülleimer geliefert? Und dann einen Weißen?

Er sah sich um, schlich zum Mülleimer, hob den Deckel an und spähte hinein. Leer. Leer und neu, der Geruch von Plastik schlug ihm entgegen. Er schloss den Deckel, suchte nach einem Aufkleber, einem Hinweis, welchem Abfall dieser Behälter galt. Weiß. Er zuckte mit den Schultern und lief weiter. Kurz darauf hatte er die letzte Straßenlaterne hinter sich gelassen, das letzte Haus des Dorfes erreicht. Benjamin, der dort lebende Esel, wieherte ihm nach, ehe er nur noch Wiesen, Felder und kleine Baumbestände um sich im dichten Nebel wusste. Fernab der Zivilisation, so fühlte er sich und dafür reichten im Grunde nur wenige Schritte. Er fand den richtigen Rhythmus, inhalierte den Duft von Wasser, Nebel, Moor und Nacht und war ganz bei sich. Zeit, um nachzudenken.

Und das war bitter nötig. Über sich. Über seine Familie und über seine Frau im Speziellen. Seit einer Woche fühlte er sich, als wäre er mit einer Fremden zusammen und hätte ein Wechselbalg in seine Familie geschmuggelt bekommen. Nele redete kaum noch mit ihm, Merle nur das Nötigste. Dafür fiel sie jede Nacht über ihn her und obwohl er sich vorgenommen hatte, zu widerstehen, wurde er jedes Mal schwach und gab sich hin. Tom hatte ihm nicht helfen können, meinte, er solle mal wieder richtig saufen gehen. Auch mit Karsten hatte er das Gespräch gesucht, aber sein Bruder war sehr reserviert gewesen. Sein Bruder … Merle … Nele … Vielleicht hatte ihn auch die Midlife-Crisis eingeholt und er verhielt sich komisch, sonderte sich ab und suchte neue … Impulse.

»Scheiße, verdammte!«, fluchte er. Und kam ins Schwitzen. Er war viel zu schnell geworden, sprintete schon beinahe und erreichte wieder den Ortseingang. Er sah auf seinen Tracker. Bestzeit. Immerhin das, aber abschalten hatte er nicht wirklich können. Er lief in die letzte Kurve, als ihn ein Geräusch innehalten ließ. Er verlangsamte sein Tempo und erschrak. Ebenso wie sein Gegenüber. Ein hagerer Mann mit schütterem Haar zog den weißen Mülleimer vom Bürgersteig zu seiner Hofeinfahrt, blieb stehen, sah erschrocken zu Florian, nickte kurz und eilte zu seinem mannshohen Gartentor. »Entschuldigen Sie«, sagte Flo und ging dem Mann hinterher. Er kannte ihn, hatte ihn bei dem alljährlichen Osterfeuer gesehen und schon öfter beim Dorfschlachter getroffen. »Entschuldigen Sie, wofür sind denn die weißen …« Der Mann huschte durch die Toreinfahrt und schloss die Tür hinter sich, ohne zu antworten. »Entschuldigung.« Flo klopfte zaghaft an die Tür. Keine Reaktion. Er fand das Verhalten des Mannes sonderbar. Sicher, um diese Zeit auf der Straße angesprochen werden, mag Unbehagen auslösen, aber er war dem Mann kein Fremder. »Tss«, machte er und ging schnellen Schrittes den kurzen Weg nachhause.

Leise öffnete er die Tür, als das Licht im Flur anging. »Da bist du ja endlich«, empfing ihn Merle und lächelte.

Kapitel 7 – Von Pontius zu Pilatus

Florian verzichtete auf seinen Mittagsschlaf und rief stattdessen den Bürgermeister an. Und war überrascht, als dieser sich tatsächlich meldete. »Guten Tag. Hier spricht Florian Daunert. Ich wohne auch in Wakendorf II und habe letztens beobachtet, dass einige Haushalte mit weißen Mülleimern ausgestattet wurden. Im Alstertalweg. Können Sie mir sagen, für was diese Tonnen sind?«

Pause. »Weiße Tonnen?« »Ja. Gestern … Nacht sind die Haushalte beliefert worden.« »Und wo?« »Im Alstertalweg. So gegen 23 Uhr«, antwortete Florian. Wieder folgte eine kurze Pause, ehe der Bürgermeister antwortete. »Nein. Das ist mir nicht bekannt, dass wir in Wakendorf neue Tonnen haben. Weiße Tonnen … nein, da kann ich nicht weiterhelfen. Vielleicht fragen Sie einfach mal beim Ordnungsamt in Kisdorf nach«, riet ihm der Bürgermeister und gab ihm eine Durchwahl. Flo sackte innerlich zusammen. Warum war alles so kompliziert in der letzten Zeit? Er zögerte, dann wählte er die Nummer des Ordnungsamtes. Und schilderte an dieser Stelle sein Problem.

»Weiße Tonnen?«, antwortete der Ordnungsbeamte und versuchte erst gar nicht, seine Unfreundlichkeit zu verbergen.

»Ja, genau.«

»Die gibt es nicht.«

»Aber ich habe doch gestern Abend eines ihrer Fahrzeuge gesehen und beobachtet wie Haushalte bei mir im Dorf beliefert wurden.«

»Gestern? Gestern war Sonntag. Unmöglich.« Flo zählte stumm bis zehn. »Ich sagte doch, ich habe es gesehen«, antwortete er. »Und ich sagte doch, dass es nicht möglich ist. Es gibt hier keine weißen Tonnen.«

»An wen kann ich mich sonst wenden?«, wollte Flo wissen.

»Fragen Sie in Kiel nach, wenn Sie mir nicht glauben. Vielleicht sind das ja so Tonnen, die Ländersache sind.« Flo ließ sich eine weitere Nummer geben und rief in Kiel an. Auch dort konnte man ihm keine Auskunft geben. Flo beendete das Gespräch. »Ich bin doch nicht verrückt, Mann. Ich hab das doch selbst gesehen!«, schimpfte er und rief seinen Bruder Karsten an. In dessen Behörde. Als Amtsleiter einer 150.000 Einwohner-Stadt würde er etwas wissen müssen. Nach dem dritten Klingeln nahm sein Bruder das Gespräch entgegen. »Daunert.«

»Hallo Karsten, ich bin´s Florian. Sag mal hast du kurz Zeit? Kann ich dich mal was fragen?«

»Hallo Florian. Ja, das kannst du. Weil du doch mein Bruder bist.« Weil du doch mein Bruder bist … Flo wunderte sich kurz über diese Antwort. »Okay. Ich habe gesehen, wie hier weiße Mülltonnen an Haushalte verteilt wurden und weder der Bürgermeister, noch das Ordnungsamt des Kreises, noch die Landesbehörde konnte mir sagen, was das für Tonnen sind. Weiße Tonnen. Ohne Aufschrift. Sie sind in der Nacht angeliefert worden.« Flo erwartete einen Wutausbruch seines Bruders. Die ungehaltene Frage, warum er ihn mit so einer Kleinigkeit behellige. Ob er nicht wisse, wie viel er zu arbeiten habe ... Aber Karsten antwortete nicht und schwieg. »Ich kann dir dazu nichts sagen, Florian. Auf Wiederhören«, antwortete er und legte auf. Flo nahm den Hörer vom Ohr und betrachtete das Telefon, als würde dort eine Antwort verborgen liegen. Eine Antwort darauf, warum sich sein Bruder so sonderbar verhielt. Karsten hatte noch nie ein Gespräch so beendet. Karsten war, wenn er keine Antwort wusste, auch noch nie so leise geblieben. Entweder war etwas mit Karsten, oder … er war mit den weißen Mülltonnen auf eine Sache gestoßen, die nicht öffentlich werden sollte. Weiße Mülltonnen googelte er und fand heraus, dass es in Österreich welche für ungefärbtes Glas gab. In Deutschland waren keine weißen Mülltonnen im Einsatz. Er stöhnte und fragte sich, in was er da hineingeraten war. Alles, wirklich alles schien kompliziert zu werden. Und es nagte an ihm die Angst, dass er selbst es war, der es kompliziert machte. Vielleicht war Karsten gestresst, vielleicht war er nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er beim Geburtstag ihres Vaters mit Tom gekifft hatte. Und er, Florian, dichtete sich langsam eine Weltverschwörung zusammen, um seine Midlife-Crisis zu überwinden. Anstatt in diesem Dilemma tatenlos zu versinken, rief er Karsten daheim an, um in Erfahrung zu bringen, ob es seinem Bruder gut ginge. Wahrscheinlich würde er damit weiteren Ärger provozieren und Karsten würde ihn heute Abend anrufen und anschreien. Das war es wert. Alexander, Karstens ältester Sohn, nahm ab. »Hallo Alex, hier ist Flo. Sag mal, ist Karsten da?«

»Hallo, Onkel Florian. Nein, Papa und Mama arbeiten noch. Und Freya und Wilhelm sind noch im Kindergarten oder in der Schule. Bei mir ist Latein ausgefallen.«

Onkel Florian. Karsten forderte von seinen drei Kindern, ihn und Tom mit Onkel anzureden. Flo fand, dass es für eine unnötige Distanz sorgte.

»Mhm, Okay. Alex, geht es euch gut? Ich frage nach, weil ich … Karsten bei Opa etwas … angeschlagen fand. Bedrückt vielleicht«, erklärte Flo den Grund seines Anrufs.

»Uns geht es gut, Onkel Florian«, antwortete Alexander und Flo analysierte das Gehörte. Den Tonfall, die Betonung selbst, die Pause zwischen seiner Frage und Alexanders Antwort. Er kam zu dem Schluss, dass sich auch sein Neffe bedrückt anhörte.

»Ist wirklich alles in Ordnung, Alex?«, hakte er in einem wissenden Ton nach. Alexander antwortete nicht sofort. Florian konnte ihn sich vorstellen, wie er bei sich im Wohnzimmer stand und innerlich aufgeregt nach einer Antwort suchte. Alexander wollte es immer schon allen recht machen und lügen konnte der Junge einfach nicht. Selbst am Telefon nicht. »Alex, alles gut?« Und mit dieser Frage hörte Flo Alex schluchzen.

»Alex! Junge, was ist los?« Mit dieser heftigen Reaktion hatte Florian allerdings nicht gerechnet. Alexander war immer sehr beherrscht und gerade mit seinen schon 16 Jahren hatte er auf ihn wie ein junger Mann gewirkt. Sein Verhalten überraschte Florian und er konnte es sich nicht erklären. Es sei denn, ein schicksalsschweres Ereignis hatte ihn aus der Bahn geworfen. Flo traf diese Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Irgendetwas Schlimmes hatte die Familie seines älteren Bruders erschüttert. Eine Krankheit, die sie ihm verheimlichen wollten, weil sie sie selbst noch nicht akzeptieren konnten. »Alex, es tut … entschuldige bitte, ich wollte nicht … du musst nicht darüber reden, Alex, ja?«, versuchte Florian zu beschwichtigen. Alex konnte sich dennoch nicht zusammenreißen. »Ich … ist schon gut, Onkel Florian.« Alexander holte mehrmals tief Luft, ehe er weitersprechen konnte. »Es ist nur … im Moment sind alle so komisch. Mama, Papa, Maximilian und sogar Constanze«, antwortete sein Neffe.

»Was meinst du mit komisch, Alex? Haben Sie irgendetwas? Sind sie … krank? Einer von ihnen?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Seit letzter Woche sind sie alle anders. Ich kann es nicht beschreiben und mit niemandem darüber reden. Als wären es andere Menschen. Fremde.«

Andere Menschen. Fremde. Flo schluckte trocken. Genauso empfand er es auch mit Merle und Nele. Verheimlichten sie alle irgendetwas? Ein Geheimnis über das sie sich ausgetauscht hatten, aber das er, Lynn und Alexander nicht wissen durften? Flo dachte an eine tödliche Krankheit, Krebs zum Beispiel. Aber warum wurden ausgerechnet sie dann nicht eingeweiht? Das machte keinen Sinn. »Andere Menschen«, wiederholte Florian, weil er länger nichts gesagt hatte.

»Ja. Wie ausgetauscht. Sie reden mit mir, machen alles so, wie sie es sonst auch machen, aber es wirkt, als hätten sie alles nur auswendig gelernt«, erklärte Alexander. Treffender hätte Flo seine eigenen Beobachtungen und Erlebnisse der letzten Woche nicht beschreiben können. »Ich glaube, ich kenne das, Alexander. Aber hast du eine Idee, warum das so ist?«, fragte er und hörte bei Alexander ein Geräusch im Hintergrund. Eine Tür, die zuschlug. »Mama ist zurück!«, sagte Alexander und Flo hörte Panik in seiner Stimme aufkeimen. »Sag ihr bitte nicht, dass wir darüber gesprochen haben, Onkel Florian. Versprochen?«

»Klar.«

»Mama? Onkel Florian ist am Telefon!«, rief Alexander. »Sie kommt«, flüsterte er an ihn gewandt. Florian hörte Schritte. »Hallo Florian«, begrüßte ihn Elisabeth. »Du möchtest bestimmt deinen Bruder sprechen. Er arbeitet noch. Soll er dich nachher zurückrufen?« Kühl und reserviert war sie schon immer gewesen, aber Flo war sich nicht sicher, ob sie schon einmal so kühl gewesen war. So unpersönlich. Deinen Bruder. So hatte sie Karsten ihm gegenüber noch nie genannt. »Geht es euch denn gut«, fragte sie, als hätte sie seine Gedanken und eine dazugehörige Antwort auf einem Teleprompter gelesen.

»Ja. Ja, uns geht es gut. Und euch?«

»Uns geht es hervorragend, Florian.« Sie betonte seinen Namen so, wie sie ihn noch nie ausgesprochen hatte. Flo-ri-an. »Soll Karsten dich also zurückrufen?«

»Ja, gerne. Wenn er Zeit und Lust hat. Ich will dann auch nicht weiter stören, Elisabeth.«

»Gut.« Sie legte auf. Florian stellte das Telefon auf die Basisstation und sah kopfschüttelnd aus dem Fenster in den Garten. Sein Verhältnis zu Karsten und Elisabeth war bestimmt nicht das herzlichste, aber Karsten war sein Bruder und er liebte ihn. Und das Gespräch mit ihm und auch das mit Elisabeth hatten ihn getroffen. Als hätten sie das alles auswendig gelernt. Er wollte gerade aufstehen, als das Telefon klingelte. Nummer unbekannt. Er nahm das Gespräch an und erwartete Karsten aus der Behörde. Wütend, aufgebracht und maßregelnd. »Von Altmark«, meldete sich eine weibliche Stimme. »Spreche ich mit Herrn Florian Daunert?« Flo konnte die Anruferin im ersten Moment nicht zuordnen. Von Altmark … Er erinnerte sich an die Mail von Lars. Frau von Altmark war die zweite Empfängerin gewesen. Kassandra von Altmark. »Ja«, antwortete er knapp und wartete ab. »Herr Daunert, schön dass ich Sie persönlich am Apparat habe. Was halten Sie von dem Regen ohne Wolken in jüngster Zeit? Haben Sie ihn erlebt?« Ihre Art war fordernd, forsch und beinahe unhöflich. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das sagen sollte«, antwortete er und überlegte, das Gespräch einfach zu beenden. Er bekam Kopfschmerzen. Er mochte eigentlich nicht telefonieren und die bisherigen Gespräche des Tages, änderten nicht unbedingt etwas an dieser Tatsache. Andererseits hatte er sich über den plötzlichen Gesprächsabbruch von Elisabeth geärgert. Also harrte er aus. »Vielleicht, weil Sie Fragen haben. Also, hat Sie der Regen auch erwischt? Sie oder Ihnen nahestehende Personen? Haben Sie die Sendestörungen in Funk und Fernsehen miterlebt?« Sie wurde lauter, es klang nach einem Verhör. »Warum wollen Sie das wissen?«

»Waren Sie im Regen, ja oder nein?«, erhob sie ihre Stimme.

»Ja. Ja, ich war baden im Freibad, als es ohne Wolken geregnet hatte. Und jetzt? Fühlen Sie sich besser?« Sie antwortete nicht sofort. »Die Sendestörungen auch?«, fragte sie nun milder und wirkte enttäuscht. »Und was halten Sie davon?«, fragte sie weiter. Resigniert.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum Sie all das wissen wollen. Sie haben sich mir nicht vorgestellt und verhören mich. Genau so kommt es mir vor. Sagen Sie mir, was Sie wollen, oder ich beende das Gespräch«, empörte er sich.

»Wir beide haben eine Mail erhalten. Von Lars Hinrichsen von der MS Neptun. Dem untergegangenen Forschungsschiff der Umweltorganisation Green Warrior.« Untergegangen? »Woher wissen Sie, dass das Schiff untergegangen ist?«, wollte Florian wissen. Er hatte nichts über das Schicksal des Schiffes im Netz finden können.

»Ich kenne jemanden in dieser Organisation. Jemanden, dem ich noch trauen kann.«

»Was … Wissen Sie, was mit Lars ist?«

»Die Besatzung wird seither vermisst. Aber nicht gesucht. Ich denke, dass sie alle ertrunken sind.« Flo brauchte etwas Zeit, um ihre Antwort zu verarbeiten. »Wieso sollte niemand nach der MS Neptun suchen?« Diese beiläufig fallengelassene Information hatte für ihn einen zu verschwörerischen Charakter.

»Weil sie etwas entdeckt hatte, was sie nicht entdecken durfte. Weil die Besatzung noch … Menschen waren und nicht welche von ihnen.« Ihnen? Was sollte das denn heißen?