Fülle und Nichts - David Steindl-Rast - E-Book

Fülle und Nichts E-Book

David Steindl-Rast

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Beschreibung

Wir sind fähig zur Vereinigung mit der "letzten Wirklichkeit". Bruder David zeigt den Weg, wie wir aufhören können, unser Bewusstsein zu trüben und zu verwirren. Wir müsen nur ankommen – im Hier und Jetzt. Er zeigt, wie wir zur Erfahrung dieser Tiefe finden, in diesem Augenblick, in jedem Augenblick. Er lädt den Leser ein, das Herz für diese Tiefenerfahrung zu öffnen und das Geschenk des Daseins wahrzunehmen – in Dankbarkeit und Freude.

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David Steindl-Rast

Fülle und Nichts

Von innen her zum Leben erwachen

Mit einem Vorwort von Willigis Jäger

Impressum

Neuausgabe. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

„Gratefulness. The Heart of Prayer“ bei Paulist Press, Ramsey, New Jersey.

Die deutschsprachige Ausgabe erschien in Dianus Trikont Verlag,

München 1985 und als Goldmann Taschenbuch

ISBN: 978-3-451-05653-6, © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1999

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © shutterstock

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80744-2

ISBN (Buch): 978-3-451-61345-6

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Vorwort

Lebendigsein und WachseinDaß du noch nicht gestorben bist, reicht nicht aus als Beweis, daß du wirklich lebst. Lebendigkeit bemißt sich am Grad deines Wachseins.

Staunen und DankbarkeitVoll Staunen darüber aufwachen, daß wir in einer »gegebenen« Welt leben, bedeutet lebendig werden. Das Bewußtsein dieser Überraschung ist der Anfang der Dankbarkeit.

Herz und SinnMit unserem Intellekt können wir, was uns geschenkt ist, als Geschenk erkennen. Aber nur unser Herz kann sich zur Dankbarkeit aufschwingen und so Sinn finden.

Gebet und GebeteEs kommt nicht auf Gebete an, sondern aufs Beten – auf das Gebet, das in seiner letzten Fülle dankbares Leben bedeutet.

Kontemplation und MußeFür uns alle (nicht nur für sogenannte »Kontemplative«) ist Kontemplation die Erfüllung dankbaren Lebens. Kontemplation aber ist die Kunst, in Muße zu leben.

Glaube: Vertrauen auf den GeberDankbarkeit setzt voraus, daß wir uns auf das Leben, das sich uns schenkt, verlassen. Jenseits all unserer Überzeugungen ist das Gebet des Glaubens das »Vom Worte Gottes leben.«

Hoffnung: Offenheit für ÜberraschungDankbarkeit setzt voraus, daß wir uns offen halten für das Leben als Überraschung. Jenseits all unserer Hoffnungen ist das Gebet der Hoffnung, Sammlung in Stille.

Liebe: Ein »Ja« zur ZugehörigkeitDankbarkeit setzt voraus, daß wir zum Geben-und-Nehmen des Lebens ein bedingungsloses »Ja« sagen. Jenseits all unseres Angezogen- und Abgestoßenseins ist das Gebet der Liebe contemplatio in actione – kontemplative Schau mitten im Handeln.

Fülle und LeereEin ABC dankbaren Lebens: Schlüsselwörter als Gedächtnisstütze.

Vorwort zur Neuausgabe

„Die Welt in Dankbarkeit zu verbinden“ – dies ist das zentrale Anliegen der Website von Bruder David, die täglich von Tausenden von Menschen aus der ganzen Welt besucht wird (www.dankbarkeit.org).

Die Dankbarkeit stellt für den Benediktinermönch die verbindende Brücke zwischen allen Religionen und Menschen dar und seit nahezu einem halben Jahrhundert engagiert er sich weltweit für den Dialog der Religionen und für ein friedliches Miteinander der Menschheit. Bereits in den 60er Jahren suchte er den Austausch mit Vertretern anderer Religionen, traf auf seinen Vortragsreisen durch die USA buddhistische und hinduistische Mönche und lebte als einer der ersten christlichen Mönche in einem buddhistischen Zen-Kloster. Hier erfuhr er die zentrale Stellung der Dankbarkeit für den spirituellen Weg. Das dankbare Leben, so sagte Bruder David, ist die große Frucht seiner Begegnung mit dem Buddhismus.

In den 70er Jahren gründete er gemeinsam mit Rabbinern, Buddhisten, Hinduisten und Sufis das ‚Centre for Spiritual Studies‘, um den interreligiösen Dialog zu fördern, und er lernte den Dalai Lama bereits bei dessen erstem Besuch in den USA kennen. Er arbeitete mit Thomas Merton zusammen und gründete landesweit ‚Häuser des Gebetes‘ für Ordensleute, in denen neben dem christlichen Gebet Elemente aller spirituellen Traditionen gelehrt werden.

Mittlerweile lebt Bruder David in einer Einsiedelei im Staat New York. Zutiefst verbunden mit Menschen aus aller Welt webt er weiterhin unermüdlich an einem interreligiösen Netz und tritt nach wie vor mit Vorträgen, Radio- und Fernsehsendungen an die Öffentlichkeit. In seinen Vorträgen und Veröffentlichungen zeigt er ein neues Gottesbild auf, das die Vorstellung eines vom Menschen getrennten und abgeschnittenen Gottes ablöst. Gott ist die Quelle, in die wir völlig eingetaucht sind, Gott lebt in uns und wir leben in Gott. In Dankbarkeit geben wir uns selbst und die ganze Welt zurück in diesen Ursprung.

Der Mensch braucht für sein Überleben Hoffnungsbilder, die ihm seine Fragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn seiner Existenz und dem Sinn des Universums deuten. Er braucht sie heute notwendiger denn je. Die alten Hoffnungsbilder „Ewiges Leben“, „Himmel“, „Vatergott“, „Erlösung durch Blut und Leid“, „Wiedergeburt“ sind für viele Menschen mittlerweile nicht mehr nachvollziehbar. Sie bedürfen der Interpretation und Ergänzung. Wir suchen nach neuen Worten und Bildern für das, was wir Abendländer seit einigen Jahrtausenden Gott nennen. Darauf weist Bruder David in seinen Veröffentlichungen immer wieder hin.

Als Menschheit sind wir in einen gewaltigen Evolutionsprozess eingebettet, der auch unser Bewusstsein ständig verändert. Die menschliche Spezies ist in einen beschleunigten Wandlungsprozess eingetreten. Die Physik hat uns an die Grenzen der Ratio geführt. Wir suchen Erfahrensräume, die über das Rationale hinausgehen. Die Evolution macht auch vor der Religion nicht halt.

Darüber hinaus braucht der Mensch nicht nur Hoffnungsbilder, er braucht auch Menschen, denen er sich auf der Wegsuche anvertrauen kann. Bruder David OSB und sein Buch verkörpern beides. Dieses Buch führt uns in ein zeitgemäßes, religiöses Selbstverständnis. Wer Bruder David kennt, weiß, dass er das lebt, was er sagt und schreibt. Ihm zu begegnen und ihn sprechen zu hören, ist ein noch stärkeres Erlebnis, als ihn zu lesen. Die Faszination, die von ihm ausgeht, macht seine Worte lebendig und glaubwürdig. Das ist auch in diesem Buch noch zu spüren. Als Benediktiner ist er geprägt von der Menschenfreundlichkeit und Weite seines Ordensstifters, der um 500 ein bedeutender Wegweiser für das Christentum in Europa war. Wegweiser kann uns auch dieses Buch und der Mensch David Steindl-Rast sein.

Benediktushof im Mai 2005 Willigis Jäger

Vorwort

Das Rauschen im Gehäuse einer großen Meeresschnecke faszinierte mich als Kind. Meine Urgroßmutter war fast taub; sie konnte es wohl kaum hören. Auf ihrem Spiegeltischchen aber lag rosabäuchig und stumpfgehörnt dieses zum Schnörkel gewundene Ding wie ein umgestülptes, sonderbares Porzellangefäß. Es war beinahe so groß wie mein Kopf, und wenn ich es vorsichtig aufhob und den bräunlich glänzenden, zart gezahnten, glatten Schlitz an mein Ohr preßte, dann konnte ich etwas hören wie Wind. Das war das ferne Rauschen des Meeres, aus dem diese Muschel stammte, hatte man mir erzählt. Ich hatte es zumindest so verstanden, und dieses auf- und abschwellende Dröhnen tönte auch wirklich wie die Meeresbrandung, an die ich mich vom Sommer in Dalmatien erinnern konnte.

Was ich mir wünsche für dieses Buch, sind Leser, die es in Stunden stillen Besinnens ans Ohr ihres Herzens halten, wie Kinder, die voll Staunen auf das Meer in der Muschel lauschen. Schon diese Art zu lesen kann, ganz unabhängig vom Verdienst des Buches, jenes krampfhafte sich Abmühen, an dem so viele von uns heute leiden, lindern, lockern, und den Krampf entspannen. Was in diesem Buch steht, will der inneren Lösung dienen, will Schritt für Schritt zum Glück des Loslassens hinführen, weg von der Besessenheit des Besitzenwollens, hin zur Freude, mit offenen Händen einfach da zu sein in einer ganz neuen Freiheit. Eine Bewußtseinsänderung in diesem Sinne ist zur Notwendigkeit geworden und scheint sich heute überall in der Welt auszubreiten. Vielleicht erklärt das auch, warum die Leserschaft dieses Buches seit seinem ersten Erscheinen Jahr für Jahr anwächst. Mehr und mehr Menschen sehen sich nach einer neuen Art, die Dinge

zu betrachten. Wenn sie den Weg des Staunens finden, dann wendet sich die Not; ungeahnte Welten öffnen sich.

Mit Staunen hält das Kind die Muschel ans Ohr; mit Staunen lauscht es. Das Erstaunlichste an diesem Rauschen aber habe ich erst viele Jahre später erfahren: Nicht nur, daß es vom Meer kommt, ist Irrtum, sondern auch, daß es aus der Muschel stammt. Das fern rollende Wogen, das wir da hören, ist der Widerhall pulsierenden Blutes im eigenen Ohr; das hohle Muschelinnere wirkt nur als Schallverstärker. Mystische Erfahrung von Ost und West klingt an, wenn da die Leere laut wird und sich als unsere innere Fülle erweist. – Wie eine Muschel für Kinderohren halte ich also diese Neuausgabe von »Fülle und Nichts« meinen Lesern hin, damit sie darin nicht meine, sondern ihre eigenen Abenteuer finden mögen auf dem Weg des Staunens.

Bruder David Steindl-Rast, O.S.B. Mount Saviour Monastery, 13. Januar 1999

Lebendigsein und Wachsein

(An Stelle einer Einleitung)

Dieses Buch handelt vom Leben in Fülle. Es geht um das Lebendigwerden. Ich könnte es in zwei Worten zusammenfassen: Wache auf!

Ein Dichter wie Kabir vermag diese zwei Worte mit einer Frische auszudrücken, die aufmerken läßt. Kabirs Gedichte sind machtvoll. Sie erwecken uns zu einer Lebendigkeit, die wir nie für möglich hielten.

Hast du einen Körper? Dann sitz nicht auf der Veranda!

Geh hinaus in den Regen!

Wenn du verliebt bist,

warum schläfst du dann?

Wach auf, wach auf!

Du hast Abermillionen Jahre lang geschlafen.

Warum nicht aufwachen heut’ morgen?

Auf meine Art versuche ich das Gleiche zu übermitteln. Und die Leute hungern danach. Überall auf der Welt wurde ich eingeladen, darüber zu sprechen. Und immer fragen die Leute: »Warum schreibst du nicht darüber?« Genau das habe ich hier getan.

Wozu also eine Einführung? Einige wenige Leser werden sie überfliegen. Der Rest wird sie ganz überspringen. Letztere werden dies also ohnehin nicht lesen. Und für die Überflieger habe ich einen Vorschlag. Am Ende dieses Buches findet sich eine alphabetische Liste von Schlüsselwörtern. Vielleicht möchtet ihr einen Blick darauf werfen. Wenn ich nicht völlig versagt habe, zeigt sie zwei Dinge:

Aufwachen ist ein fortlaufender Prozeß. Niemand wacht ein für alle Mal auf. Wachsein kennt ebenso wenig eine Grenze, wie es für Lebendigkeit eine Grenze gibt.

Es ist riskant, ein waches Leben zu führen. Dafür braucht man Mut.

Wir haben die Wahl zwischen Risiko und Risiko. Dem Risiko, daß wir ein Leben lang schlafen, niemals aufwachen. Oder aber wir wenden uns wachsam dem Risiko des Lebens zu, stellen uns der Herausforderung des Lebens, der Liebe.

Wenn du verliebt bist,

warum schläfst du dann?

Männer und Frauen, die den Mut haben, sich dieser Frage zu stellen, finden dieses Buch vielleicht hilfreich. Für andere wäre das Lesen Zeitverschwendung. Kabir sagte das so:

Wenn du ohnehin gleich in einen tiefen Schlaf fällst,

warum dann Zeit damit verschwenden, das Bett zu richten

und die Kissen aufzuschütteln?

Staunen und Dankbarkeit

Ein Regenbogen ist immer eine Überraschung. Das soll nicht heißen, daß man ihn nicht voraussagen könnte. Manchmal bedeutet überraschend unvorhersagbar, häufig aber bedeutet es mehr. Überraschend im umfassenden Sinn bedeutet irgendwie grundlos, geschenkt, gratis. Selbst das Vorhersagbare wird zur Überraschung, wenn wir aufhören, es für selbstverständlich zu halten. Wüßten wir genug, dann wäre alles vorhersagbar, und doch bliebe alles grundlos. Wüßten wir, wie das gesamte Universum funktioniert, dann wäre es immer noch überraschend, daß es das Universum überhaupt gibt. Mag es auch vorhersagbar sein, so ist es doch umso überraschender.

Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen läßt. Es kommt vor, daß ein uns völlig Unbekannter uns am Ärmel zieht und zum Himmel zeigt: »Haben Sie den Regenbogen bemerkt?« Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern. Vielleicht verstehen wir nicht einmal, was uns da aufscheuchte, als wir jenen Regenbogen sahen. Was war es? Es war das Geschenkhafte, das da in uns hereinplatzte, die Unentgeltlichkeit aller Dinge. Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit.

Eine kurze Begegnung mit dem Tod kann jene Überraschung auslösen. In meinem Leben kam das sehr früh zustande. Da ich im von den Nazis besetzten Österreich aufwuchs, gehörten Luftangriffe zu meiner täglichen Erfahrung. Und ein Luftangriff kann einem die Augen öffnen. Ich erinnere mich an einen Tag, als die Bomben zu fallen begannen, unmittelbar nachdem die Warnsirenen abgeschaltet waren. Ich befand mich auf der Straße. Da es mir nicht gelang, schnell genug einen Luftschutzbunker zu erreichen, rannte ich an eine nur ein paar Schritte entfernte Kirche. Um mich vor Glassplittern und Trümmern zu schützen, kroch ich unter eine Kirchenbank und verbarg mein Gesicht in den Händen. Als aber die Bomben draußen explodierten und der Boden unter mir erzitterte, da war ich sicher, daß das gewölbte Dach jeden Moment einstürzen und mich lebendig begraben würde. Nun, meine Zeit war noch nicht gekommen. Ein gleichbleibender Ton der Sirene verkündete, daß die Gefahr vorüber sei. Und da stand ich nun, reckte mich, klopfte den Staub aus meiner Kleidung und trat heraus in einen herrlichen Maimorgen. Ich lebte. Welch eine Überraschung! Die Gebäude, die ich vor weniger als einer Stunde noch gesehen hatte, waren jetzt rauchende Schuttberge. Was mich aber auf überwältigende Art und Weise überraschte, war, daß es dort überhaupt noch irgendetwas gab. Meine Augen fielen auf wenige Quadratmeter Rasen inmitten all dieser Zerstörung. Es war als hätte mir ein Freund auf seiner Handfläche einen Smaragd angeboten. Niemals, weder vorher noch hinterher, habe ich Gras so überraschend grün gesehen.

Überraschung ist nicht mehr als der Anfang jener Fülle, die wir Dankbarkeit nennen. Aber es ist ein Anfang. Bereitet uns die Vorstellung Schwierigkeiten, daß Dankbarkeit jemals unsere Grundhaltung zum Leben sein könnte? In Momenten der Überraschung können wir wenigstens einen kurzen Blick auf die Freude werfen, zu der uns Dankbarkeit die Tür öffnet. Mehr noch – in Augenblicken der Überraschung haben wir bereits einen Fuß in der Tür. Es gibt Menschen, die behaupten, Dankbarkeit nicht zu kennen. Aber gibt es irgendjemand, der niemals Überraschung gekannt hat? Überrascht uns der Frühling nicht jedes Jahr aufs neue? Oder jene weite Öffnung der Bucht, wenn wir auf der Straße um die Kurve biegen, wird sie uns nicht jedesmal wieder zur Überraschung, wenn wir jenen Weg nehmen?

Dinge und Ereignisse, die Überraschung auslösen, sind bloße Katalysatoren. Ich habe deswegen mit Regenbogen begonnen, weil sie bei den meisten von uns etwas bewirken, aber es gibt persönlichere Auslöser. Wir müssen alle unseren eigenen finden, jeder von uns. Ganz gleich wie häufig jenes Rotkehlchen im Winter auf der Suche nach Körnerfutter auf dem Stein auftaucht, es ist eine Überraschung. Ich erwarte es. Ich habe selbst seine bevorzugten Fütterungszeiten herausgefunden. Lange bevor ich es sehen kann, höre ich es schon zirpen. Aber wenn jener rote Strahl auf den Stein herabschießt wie der Blitz auf Elias Altar, dann weiß ich, was e. e. cummings meint: »Die Augen meiner Augen sind geöffnet.«

Wenn wir erst einmal in dieser Weise aufwachten, dann können wir uns bemühen, wach zu bleiben. Und dann können wir es uns gestatten, langsam wacher und wacher zu werden. Aufwachen ist ein Prozeß. Es ist morgens ein recht unterschiedlicher Prozeß für verschiedene Menschen. Einige von uns wachen ruckartig auf und sind den Rest des Tages hellwach. Sie sind gut dran. Andere müssen es Stück für Stück tun, eine Tasse Kaffee nach der anderen. Was zählt, ist, daß wir nicht wieder zurück ins Bett steigen. Was auf unserem Weg zur Erfüllung zählt, ist die Erinnerung an die große Wahrheit, die uns Momente der Überraschung lehren wollen: alles ist unentgeltlich, alles ein Geschenk. Der Grad, in dem wir zu dieser Wahrheit aufgewacht sind, ist das Maß unserer Dankbarkeit. Und Dankbarkeit ist das Maß unserer Lebendigkeit. Sind wir nicht taub und tot für alles, was wir als selbstverständlich erachten? Ganz sicher bedeutet in dieser Weise taub zu sein, tot zu sein. Für jene, die aus Überraschung zum Leben erwachen, liegt der Tod in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Ein Leben zu führen, offen für Überraschung, trotz all des Sterbens, das zum Leben gehört, macht uns immer lebendiger.

Es gibt unterschiedliche Grade dankbaren Wachseins. Unser Intellekt, unser Wille und unsere Emotionen müssen aufwachen. Wir wollen uns diesen Prozeß des Erwachens einmal genauer anschauen. Es ist der Wachstumsprozeß von Dankbarkeit.

Eine einzige Krokusblüte sollte genügen, um unser Herz davon zu überzeugen, daß der Frühling – gleich wie vorhersagbar er sein mag – irgendwie ein Geschenk ist, unentgeltlich, gratis, eine Gnade. Wir wissen dies mit einem Wissen, das über den Intellekt hinausreicht. Und doch ist unser Intellekt daran beteiligt. Ohne daß unser Intellekt seine Rolle einnimmt, können wir nicht dankbar sein. Wir müssen das Geschenk als Geschenk erkennen, und nur unser Intellekt kann das tun.

Für einige Menschen ist das nicht leicht. Es gibt solche, die einfach zu abgestumpft, zu langsam, vielleicht auch zu träge sind, um irgendetwas als Geschenk zu erkennen. Ihr Intellekt ist nicht wachsam genug. Sie halten alles für selbstverständlich. Sie gehen wie betäubt durchs Leben. Es bedarf einer gewissen intellektuellen Schärfe, um dankbar zu sein. Aber es gibt auch jene mit der gegenteiligen Geistesverfassung. Menschen, die sich ausschließlich auf ihren Intellekt verlassen. Auch jene klugen Leute könnten Schwierigkeiten mit der Dankbarkeit haben. Wenn der Intellekt darauf besteht, den unumstößlichen Beweis dafür zu finden, daß ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist, dann steckt man fest. Es gibt immer die Möglichkeit, daß etwas, das wie ein Geschenk aussieht, eigentlich eine Fallgrube, ein Köder, eine Bestechung ist. Man braucht sich nur einige der Kommentare anzuhören, die beim Auspacken von Weihnachtsgeschenken laut werden. »Nun schau dir das an! Warum sollten uns die Meyers solch ein teures Geschenk schicken? Ich möchte zu gern wissen, um welchen Gefallen sie uns im Neuen Jahr bitten werden!« Wer kann den Beweis antreten, daß absolut kein Haken daran ist? Unser Herz sehnt sich nach der Überraschung, daß ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist. Unser stolzer Intellekt aber stutzt bei einer Überraschung und will sie erklären, hinwegerklären.

Der Intellekt allein bringt uns nur ein Stück weit. Er hat einen Anteil an Dankbarkeit, aber eben nur einen Anteil. Unser Intellekt sollte wach genug sein, die vorhersagbare Hülle der Dinge bis zu ihrem Kern zu durchschauen, um dort ein Körnchen Überraschung vorzufinden. Das allein ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber Aufrichtigkeit verlangt ebenso, daß der Intellekt genügend demütig sei, das heißt genügend bodenständig, um seine Grenzen zu kennen. Der Geschenkcharakter aller Dinge kann erkannt, nicht aber bewiesen werden – zumindest nicht durch den Intellekt. Beweise finden sich im Leben. Und am Leben ist mehr, als der Intellekt zu fassen vermag.

Auch unser Wille muß seine Rolle übernehmen. Auch er gehört zur ganzen Fülle von Dankbarkeit. Es ist die Aufgabe des Intellekts, etwas als Geschenk zu erkennen, der Wille aber muß den Geschenkcharakter anerkennen. Erkennen und Anerkennen sind zwei verschiedene Aufgaben. Auch gegen unseren Willen können wir etwas erkennen. Der Wille kann dem die Anerkennung verweigern, was der Intellekt sieht. Aufgeweckt durch Überraschung können wir entdecken, daß das, was wir eine »gegebene« Welt nennen, wirklich gegeben ist. Denn wir haben sie weder gemacht noch verdient; höchstwahrscheinlich haben wir sie noch nicht einmal voll akzeptiert. Was wir vorfinden, ist eine gegebene Wirklichkeit, und wir erkennen sie als gegeben. Aber nur wenn wir dieses Geschenk anerkennen, wird unser Erkennen zur Dankbarkeit führen. Und ein Geschenk anzuerkennen, könnte sich als viel schwieriger erweisen, als es zu erkennen.

Nehmen wir beispielsweise das Wetter. Jeder ist sich dessen bewußt, daß das Wetter an einem gegebenen Tag eine gegebene Tatsache ist, und ganz gleich wie sehr wir uns darüber beschweren, ändern werden wir es nicht. Es ist jedoch ein Unterschied, ob wir das Wetter bloß als gegebene Tatsache erkennen oder aber bereit sind, es in der Tat als gegeben – und das heißt als Geschenk – anzuerkennen. W. H. Auden stellt fest:

… weather

Is what nasty people are

Nasty about, and the nice

Show a common joy in observing.

(… Wetter/ Ist das, worüber garstige Menschen/ Garstig sind und was die Netten/ In freudiger Betrachtung eint.)

Soweit es ums Erkennen der Wetterlage geht, sind sich die Netten und die Garstigen einig. Aber von da an trennen sich ihre Wege. Was veranlaßt die Netten zur Freude? Sie wirken wie Kinder, die ein Geschenk auspacken. Die Boshaften aber weigern sich, es als Geschenk anzuerkennen.

Warum ist es so schwierig, ein Geschenk als Geschenk anzuerkennen? Der Grund dafür ist dieser. Wenn ich zugebe, daß etwas ein Geschenk ist, dann gebe ich auch meine Abhängigkeit vom Geber zu. Das mag sich nicht sonderlich schwierig anhören, aber es gibt etwas in uns, das sich bei der Vorstellung von Abhängigkeit sträubt. Wir wollen es allein schaffen. Ein Geschenk aber ist etwas, das wir nicht einfach uns selbst vermachen können – zumindest nicht als Geschenk. Ich kann das gleiche oder sogar etwas besseres kaufen. Aber es wird kein Geschenk daraus, wenn ich es für mich selbst beschaffe. Ich kann ausgehen und mir etwas ganz Großartiges leisten. Ich kann später sogar dankbar sein für die herrliche Zeit, die ich verbrachte. Aber kann ich mir selbst dankbar sein dafür, mir so etwas Feines geleistet zu haben? Das wäre halsbrecherische geistige Akrobatik. Dankbarkeit geht immer über mich selbst hinaus. Denn was etwas zu einem Geschenk macht, ist eben die Tatsache, daß es gegeben ist. Und der Empfänger ist abhängig vom Geber.

Diese Abhängigkeit ist immer dabei, wenn ein Geschenk gegeben und empfangen wird. Selbst eine Mutter ist bei dem geringsten Geschenk von ihrem Kind abhängig. Angenommen ein kleiner Junge kauft seiner Mutter einen Strauß Narzissen. Er gibt nichts her, was er nicht bereits empfangen hätte. Seine Mutter gab ihm nicht nur das Geld, das er ausgab, sondern selbst sein Leben und die Erziehung, die ihn großzügig machte. Und doch ist sein Geschenk etwas, was sie von seinem Geben abhängig macht. Auf keine andere Weise könnte sie es als Geschenk erhalten. Und sie findet mehr Freude in jener Abhängigkeit als in dem Geschenk an sich. Schenken ist ein Feiern des Bandes, das Gebenden und Empfangenden verbindet. Jenes Band ist Dankbarkeit.

Wenn ich ein empfangenes Geschenk anerkenne, dann erkenne ich das Band an, das mich an den oder die Gebende bindet. Aber wir neigen dazu, die Verpflichtungen zu fürchten, die sich aus dieser Bindung ergeben. Als ich vor dreißig Jahren Englisch lernte, drückte man in Amerika in der Regel seinen Dank dadurch aus, daß man »sehr verbunden« (»very much obliged«) sagte. Kaum jemand benutzt diesen Ausdruck heute. Warum nicht? Einfach deshalb, weil wir nicht verbunden sein wollen. Wir wollen mit uns selbst auskommen. Unsere Sprache verrät uns.

Natürlich gibt es auch eine gesunde Seite unseres Wunsches nach Unabhängigkeit. Wir wollen selbst für uns sorgen. Ohne diesen Wunsch würden wir niemals dem Stadium des Gefüttertwerdens entwachsen. Und um aus diesem Stadium herauszukommen, mußten wir durch eine Phase hindurch, bei der am Ende unserer Mahlzeit Nase, Kinn, Ohren und Lätzchen mit Haferflocken verschmiert waren. Aber selbst nachdem wir uns selbst zu ernähren gelernt haben, sollte man davon ausgehen können, daß wir verständig genug sind, uns von einer Krankenschwester füttern zu lassen, wenn sich das als notwendig erweisen sollte. Erwachsen zu werden heißt beides lernen, uns selbst helfen zu können, aber auch Hilfe anzunehmen, wenn wir sie brauchen. Einige Leute scheinen niemals dem Stadium des »das will ich alleine machen« zu entwachsen. Doch mitfühlende Augen durchschauen die äußere störrische Unabhängigkeit und erkennen dahinter ein Kind auf einem Kinderstuhl, mit Haferflocken von der Nase bis zu den Zehen.

In gewissem Sinne ist es richtig, Abhängigkeit zu fürchten. Bloße Abhängigkeit ist Sklaverei. Unabhängigkeit aber ist eine Illusion. Hätten wir wirklich zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu wählen, dann wären wir in Schwierigkeiten. Tatsächlich geht es um die Wahl zwischen Entfremdung und gegenseitiger Abhängigkeit. Unabhängigkeit ist Entfremdung. Sie schneidet uns ab von anderen. Bloße Abhängigkeit aber ist – auf subtile Weise – auch Entfremdung. Denn bloße Abhängigkeit ist Sklaverei; und ein Sklave ist ein Fremder. Gegenseitige Abhängigkeit hingegen verbindet uns mit anderen über das Band eines freudigen Gebens-und-Nehmens, über ein Band des Zusammengehörens. Abhängigkeit bindet uns mit den Banden der Sklaverei. Unabhängigkeit bindet uns mit den Banden der Illusion. Die Bande der gegenseitigen Abhängigkeit jedoch sind Bande, die uns frei machen. Ein einziges Geschenk in Dankbarkeit anerkannt besitzt die Macht, uns aus den Banden unserer Entfremdung zu befreien, und schon sind wir frei – zuhause, wo alle von allen abhängen.

Die gegenseitige Abhängigkeit von Dankbarkeit ist wirklich wechselseitig. Der Empfänger eines Geschenks hängt vom Geber ab. Das ist ganz offensichtlich. Aber der Kreis von Dankbarkeit ist unvollkommen, solange der Geber des Geschenks nicht zum Empfänger wird: zum Empfänger des Dankes. Das größte aller Geschenke ist das Danksagen. Geben wir Geschenke, dann geben wir, was wir uns leisten können, danken wir aber, dann geben wir uns selbst. Ein Mensch, der zu einem anderen »ich danke dir« sagt, sagt eigentlich: »Wir gehören zusammen.« Gebender und Dankender gehören zusammen. Das Band, das sie vereint, befreit sie von Entfremdung. Leidet unsere Gesellschaft deshalb so sehr unter Entfremdung, weil es uns nicht gelingt, Dankbarkeit zu kultivieren?

Im selben Moment, da ich das Geschenk als Geschenk anerkenne, und damit meine Abhängigkeit, bin ich frei – frei, um meine ganze Dankbarkeit auszudrücken. Diese Fülle kommt mit der Freude aus der Würdigung des Geschenks. Würdigung, Wertschätzung ist eine Reaktion unserer Gefühle. Unser Intellekt erkennt das Geschenk als Geschenk, unser Wille erkennt es an, aber nur unsere Gefühle reagieren mit Freude und uneingeschränkter Wertschätzung auf das Geschenk.

Vor vielen Jahren sah ich einmal ein Foto, das ich nie vergessen sollte: zwei afrikanische Kinder mit strahlendem Lächeln. Und darunter stand zu lesen: »Freude ist die Dankbarkeit der Kinder Gottes.« Als ich später in Afrika herumreiste, entdeckte ich wieder jenes Lächeln und erinnerte mich an die Worte. Überall auf der Welt ist Freude der wahre Ausdruck von Dankbarkeit. Aber nicht überall lassen die Kinder Gottes jene Freude so sehr durchscheinen wie in Schwarzafrika. Nirgends habe ich strahlendere Freude in Kinderaugen gesehen als im früheren Biafra. In Enugu begegnete ich Gruppen von Kindern, die sich nach einbrechender Dunkelheit an einer geschäftigen Straßenecke versammeln, einen kleinen Altar aufbauen, und ohne sich von dem Drunter und Drüber der Erwachsenen um sie herum stören zu lassen, den Rosenkranz beten. Ich erfuhr, daß die Kinder während der blutigsten Kriegstage damit begonnen hatten. Mehr als ein Jahrzehnt lang ist diese Angewohnheit von einer Kindergeneration auf die nächste übergegangen. Und dann wurde mir langsam klar, daß die Freude, die ich beobachtet hatte, auf einem tiefen Wissen um das Leid spielt, wie die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche der dunklen Wasserlöcher. Nur ein Herz, dem der Tod nichts Unbekanntes ist, kann das Geschenk des Lebens mit einem so tiefen Gefühl der Freude würdigen.

An späterer Stelle werden wir die Bedeutung von »Herz« im Kontext von Dankbarkeit beleuchten. Und dann, so glaube ich, wird klarer werden, warum Intellekt, Wille und Emotionen, warum alle drei am Danken beteiligt sein müssen. Alle drei gehören zu dem, was wir unter Herz verstehen. Alle drei gehören deshalb auch zu unserer Vorstellung von Dankbarkeit. Entweder ist das Danken eine Geste des ganzen Herzens, oder es ist gar nichts.

Wir sahen bereits, daß unser Intellekt einen geraden Kurs zwischen Taubheit und Spitzfindigkeit steuern muß, um die gegebene Welt als ein wirkliches Geschenk zu erkennen. Und schon bald wird klar, wie schwierig diese unmittelbare Einfachheit für unseren komplexen, verdrehten Geist ist. Unser Wille muß dafür sorgen, daß er sowohl zwanghafte Selbständigkeit als auch sklavische Abhängigkeit vermeidet, um freiwillig das Band anzuerkennen, das das Geschenk herstellt. Auch dies läßt sich bald als eine schwierige Aufgabe erkennen. Aber wenn wir die Rolle betrachten, die unsere Gefühle bei der Würdigung eines Geschenks spielen, dann scheint das kinderleicht. Und doch müssen wir auch hier zwei Fallstricke vermeiden, um jene kindliche, freie Antwort zu finden, in der unsere Gefühle voller Dankbarkeit schwingen.

Eine der beiden Fallen, in denen sich unsere Gefühle verfangen können, macht aus uns ein Mauerblümchen, die andere einen Vampir. Der Vampir in uns kann den Tanz nicht wirklich genießen, weil er zu ungeduldig und versessen ist. Das Mauerblümchen kann es nicht, weil es sich nicht traut. Der eine quetscht den letzten Tropfen Gefühl aus jeder Erfahrung. Die Gefühle des anderen sind zu häufig verletzt worden. Aber das Kind in uns tanzt, selbstvergessen und spontan, mit einer anmutigen Geste der Dankbarkeit.

Wir wissen, wie sehr wir dazu neigen, die Geschenke des Lebens einfach zu packen und damit fortzulaufen. Wir sind uns der ersten Falle durchaus bewußt. Erinnern wir uns daran, wie verwundbar unsere Gefühle sind, dann werden wir uns auch der zweiten Falle bewußt. Nie sind wir verwundbarer, als in jenen Momenten, da wir mit dem Herzen reagieren. Denn die Momente der Dankbarkeit sind jene, in denen wir unsere Herzen öffnen, wodurch wir leichter zu verwunden sind.

Erinnere dich beispielsweise an folgende Situation. Du bemerkst, wie dir jemand zulächelt; in dankbarer Anerkennung erwiderst du das Lächeln. Dann aber scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Du schaust dich um und entdeckst jemanden hinter dir, für den das Lächeln eigentlich bestimmt war. Das tut weh, nicht wahr? Natürlich ist es kein großes Trauma. Aber wir können uns vorstellen, daß jemand, dessen Gefühle immer wieder verletzt wurden – ganz besonders im Verlauf der Kindheit –, dauerhaft verletzt sein könnte. Dieser Mensch könnte regelmäßig Geschenke anerkannt haben, die sich entweder als gar keine Geschenke herausstellten oder aber für andere bestimmt waren. Und langsam entwickelte sich ein emotionales Narbengewebe, das Gefühlsreaktionen unbeholfen und schmerzhaft werden läßt. Dieser Mensch dürfte im Umgang mit seinen Gefühlen Hilfe benötigen, um wieder gewandt zu werden. Hier handelt es sich um das emotionale Gegenstück von Physiotherapie.

Intellekt, Wille und Emotionen – sie alle haben jeweils eine ganz bestimmte Rolle zu spielen, und alle drei müssen bei aufrichtiger Dankbarkeit harmonisch zusammenspielen. Jetzt können wir einen Schritt weitergehen und fragen: Wie können wir selbst dankbarer werden? Auf der Suche nach Möglichkeiten, unsere Dankbarkeit wachsen zu lassen, werden wir uns wiederum nacheinander mit dem Intellekt, dem Willen und den Emotionen beschäftigen. Zunächst ist es wichtig, dort zu beginnen, wo wir uns befinden. Wie könnten wir anderswo beginnen? Und doch, wie häufig fangen wir etwas weit entfernt von uns an! Das führt zu nichts. Aber ganz gleich, wo wir uns befinden, Hilfe gibt es immer. Das Leben bietet uns all die Hilfe, die wir benötigen. Wenn wir darauf vertrauen und uns umschauen, werden wir sie finden. Das Leben ist voller Überraschungen. Und Überraschung ist der Schlüssel zur Dankbarkeit.

Es spielt keine Rolle, wie taub oder intellektuell verfangen wir sind, Überraschung ist immer nahe. Selbst wenn in unserem Leben außerordentliche Überraschungen selten sind, das ganz Normale möchte uns immer wieder aufs Neue überraschen. Wie ein Freund mir eines Wintermorgens aus Minnesota schrieb: »Ich war vor Sonnenaufgang auf den Beinen und beobachtete Gott dabei, wie er alle Bäume weiß anmalte. Den Großteil Seiner besten Arbeit tut Er, während wir schlafen, um uns beim Aufstehen zu überraschen.«

Es ist ebenso wie bei der Überraschung, die wir in unserem Regenbogen fanden. Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche. »Natur ist niemals verbraucht«, sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe. »Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.« Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals. Bei Regenbogen ist das offensichtlich. Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, »ein Schleier aus dem Atem eines Windes«, wie Robert Frost das nennt, »ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht«.

Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden. Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein. Vielleicht sah ich »an diesem Morgen des Morgens Liebling«, Gerard Manley Hopkins »vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben«, oder einfach das Stückchen Zahnpasta auf meiner Zahnbürste. Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, daß es überhaupt etwas gibt – daß wir hier sind. Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen läßt, öffnet »die Augen unserer Augen«. Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Millimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.

Überraschung führt uns auf den Weg der Dankbarkeit. Dies gilt nicht nur für unseren Intellekt, sondern auch für den Willen. Es spielt keine Rolle, wie beharrlich sich unser Wille an unsere Selbständigkeit klammert, das Leben bietet uns die Hilfe, die zum Entkommen aus dieser Falle nötig ist. Selbständigkeit ist eine Illusion. Und früher oder später zerbricht jede Illusion am Leben. Wir alle wären nicht das, was wir sind, ohne unsere Eltern, Lehrer und Freunde. Selbst unsere Feinde helfen dabei. Niemals hat es jemanden gegeben, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist. Jeder von uns braucht andere. Früher oder später begreifen wir diese Wahrheit. Ein plötzlicher Trauerfall, eine lange Krankheit oder irgendetwas anderes – ganz überraschend hat uns das Leben eingefangen. Eingefangen? Überraschend befreit, sollte ich besser sagen. Vielleicht schmerzt es, aber Schmerz ist ein geringer Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung.

Selbständigkeit ist auch auf einer tieferen Ebene noch Selbsttäuschung. Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen. Dies entdeckten wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben. Vielleicht erinnern wir sie als »Hochwassermarken« der Bewußtheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren. Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen. Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten. Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus The Protean Body von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:

Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich