Fünf Viertelstunden bis zum Meer - Ernest van der Kwast - E-Book

Fünf Viertelstunden bis zum Meer E-Book

Ernest van der Kwast

4,5

Beschreibung

Juli 1945, ein heißer Sommertag am Strand von San Cataldo, am östlichen Ufer von Italiens Absatz: Fasziniert beobachten die Brüder Ezio und Alberto die Mädchen am Strand, die in hochgeschlossenen Badeanzügen vorbeistolzieren. Bis die 20-jährige Giovanna Berlucchi aus der Brandung auftaucht - in einem Zweiteiler. So etwas haben die Jungen noch nie gesehen. Ezio verliebt sich leidenschaftlich in die stolze donna Pugliese, und im Laufe dieses Sommers, in dem der Zweiteiler nicht die einzige Offenbarung bleibt, wird er ihr zwei Heiratsanträge machen. Doch Giovanna liebt das Meer und ihre Freiheit, sie hat die »Lunge eines Delfins« und kann länger tauchen als ihre vier Schwestern zusammen: Auf beide Anträge antwortet sie, indem sie zum Meer läuft und in den Wellen verschwindet. Aus Schmach und Kummer flieht Ezio, so weit er kann, vom Süden in den Norden Italiens. Dort wird er Apfelpflücker, und in den kalten Südtiroler Wintern melkt er Kühe - doch nie vergisst er Giovanna und den gemeinsam verbrachten Sommer. Über sechs Jahrzehnte sehnt er sich nach seiner ersten und einzigen großen Liebe. Da trifft ein Brief von ihr ein. In Szenen, die elegant zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechseln und mediterrane Sinnlichkeit verströmen, erzählt Ernest van der Kwast die Geschichte einer großen, unerfüllten Liebe, von kleinen Zufällen und großen Entscheidungen - und von der Erfindung des Bikinis.

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Seitenzahl: 91

Veröffentlichungsjahr: 2015

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mare

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die niederländische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Giovanna’s navel bei De Bezige Bij, Amsterdam.

Copyright: © 2012 Ernest van der Kwast

Der Verlag dankt der Niederländischen Literaturstiftung für die Förderung der Übersetzung.

© 2015 by mareverlag, Hamburg

CovergestaltungNadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

CoverabbildungPierre Bourrier / Getty Images

Typographie (Hardcover)Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

DatenkonvertierungeBook bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-315-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-205-0

Es war der schönste Tag im Leben des Postboten. Sein Telefon begann in dem Moment zu klingeln und zu vibrieren, als er einen Brief mit weißem Umschlag durch den Schlitz von Nummer 5 b schob. Noch bevor der Brief auf dem Holzfußboden hinter der Tür aufklatschte, hatte der Postbote das Telefon ans Ohr gedrückt und hörte seine Frau rufen: »Sie kommen! Die Lieblinge kommen!«

Eine Träne schoss ihm ins linke Auge, und ihm fehlten erst einmal die Worte. Seit acht Monaten und zwölf Tagen wusste er, dass dieser Tag kommen würde, und seit knapp sieben Monaten, dass nicht ein, sondern zwei Kinder unterwegs waren. An einem glasklaren Oktobermorgen hatte der Gynäkologe zur Frau des Postboten gesagt: »Sie erwarten Zwillinge.« Der Postbote hatte auf den Bildschirm gestarrt, auf dem zwei gekrümmte Wesen zu sehen waren, in Schwarz-Weiß, friedlich schlafend. Er konnte es nicht fassen. »Zwei«, flüsterte er, »zwei, zwei.« Zwei war minutenlang eine unvorstellbare Anzahl.

Am Abend hatte der Postbote den Kopf auf den Bauch seiner Frau gelegt. »Lieblinge«, hatte er durch ihren Nabel geflüstert. »Ihr seid unsere Lieblinge.« Und seit jenem Tag nannten sie die gekrümmten, friedlichen Wesen im mütterlichen Bauch »Lieblinge«. Ein Zimmer wurde für sie eingerichtet, Söckchen wurden für sie gestrickt, den Schwiegermüttern wurde mitgeteilt, dass sie Lieblinge als Enkelkinder bekommen würden. Die eine der beiden freute sich so sehr, dass sie eine Schokoladen-Birnen-Walnuss-Torte backte und sie zur Gänze selbst verzehrte. Und erstmals seit langer Zeit musste sie nicht daran denken, dass sie allein aß.

»Ich hole dich«, sagte der Postbote zu seiner Frau, und er warf, ohne nachzudenken, die Tasche voller Privatbriefe, amtlicher Schreiben und Rechnungen über das Mäuerchen des Gartens, der zu Nummer 5 gehörte. Dann sprang er in den kleinen weißen Fiat der Poste Italiane und fuhr mit hoher Geschwindigkeit nach Hause.

An diesem Tag wartete ein großer Teil des Bozener Viertels Rencio vergeblich auf das Schlagen der Briefschlitzklappe. Einige Leute fluchten auf die Post, andere auf das Land insgesamt. Und im Krankenhaus fluchte die Frau des Postboten auf jeden, der ihr in den Sinn kam. Mit Schweißperlen auf Nase und Stirn, mit zugekniffenen Augen, vor allem aber mit unerhört lautstarken Flüchen durchlitt sie die schlimmsten Schmerzen ihres Lebens.

Als Erste kam Giselle. Sie war klein, rot und glitschig, und sie brüllte und zappelte mit den Armen, als wolle sie allen klarmachen, dass sie nun da war. Dann kam Fabrizio: auch er klein, rot und glitschig, aber mucksmäuschenstill und reglos. Erst als der Geburtshelfer seine Fußsohlen und Handteller gedrückt und geknetet hatte, gab Fabrizio ein Lebenszeichen von sich.

Er seufzte.

Beide Babys wurden der Mutter auf den Bauch gelegt. Zum ersten Mal spürten sie die Außenseite des Leibes, in dessen Innerem sie so lange geschwebt und geschaukelt hatten. Der Postbote schaute seine Kinder an, seinen Sohn und seine Tochter, seine Lieblinge. Und er schaute seine Frau an, ihr beträntes Gesicht, ihre Mundwinkel, die sich zu heben schienen. Er fühlte sich, wie er sich noch niemals gefühlt hatte und wie er es sich niemals hätte vorstellen können: vollständig und glücklich.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Brief kam ohne Düfte. Der Bewohner von Nummer 5 b faltete die Zeitung zusammen, erhob sich von seinem Stuhl und ging zur Haustür. Er bückte sich und hob den Brief vom Dielenboden auf. In einer weiblichen, runden Handschrift stand sein Name auf dem Umschlag: Ezio Ortolani.

Mit dem kleinen Finger riss er den Umschlag auf. Kein Duft entstieg der gezackten Öffnung, kein Parfüm erreichte seine Nase, keine vergessenen Moleküle, die ihn gezwungen hätten, das Papier ans Gesicht zu drücken. Der Umschlag enthielt nur einen Brief, und der begann so:

Caro Ezio, verzeih mir, dass ich Dir schreibe und dass ich Dir erst jetzt antworte. Ich habe diesen Brief zig Mal geschrieben, vielleicht sogar hundert Mal. Ich konnte ihn nicht abschicken. Die Worte, die Du liest, sind alt und zerbrechlich. Die Tinte ist deutlich zu sehen, meine Handschrift unverändert, aber die Buchstaben kommen von tief unten. Sie haben in meiner Brust festgesteckt, ich brachte sie nicht über die Lippen, und später, als sie endlich auf dem Papier standen, habe ich sie durchgestrichen und Kleckse aus ihnen gemacht. Ich habe so oft versucht, Dir nicht zu schreiben. Die Sehnsucht hat gewonnen, die hartnäckigen Gedanken an uns.

Dieser Brief hat ein Frauenleben gebraucht, um Dich zu erreichen. Zerreiß ihn bitte nicht. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Tage sind knapp geworden. Ezio, wir sind alt. Ich bin eine grauhaarige Frau mit einer Haut voller Runzeln und Furchen. Du bist wahrscheinlich langsam wie eine Schnecke, oder Du musst diesen Brief mit der Lupe lesen. Aber wenn ich an Dich denke, sehe ich keinen alten Mann. Ich sehe einen Mann von zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, einen Jungen noch, in der Blüte seiner Jahre. Ich sehe Dich, Ezio, wie Du Deine starken Arme um mich legst.

Plötzlich kamen die Düfte, als habe jemand einen dampfenden Teller mit Pasta vor ihm auf den Tisch gestellt. Linguine al cartoccio.Nur dass er keinen Tintenfisch roch, keine Krabben und keine Muscheln. Auch nicht die Tomatensoße, die fein gehackte Petersilie und den Knoblauch, der dem Olivenöl Würze verleiht. Ezio roch Blüten, er roch frisch gewaschene Kleider, im Freien zum Trocknen aufgehängt, und dann roch er den Duft ihrer Haare, der Haut an ihrem Hals und rund um ihren Nabel. Ein überwältigendes Parfüm, das er einatmete, festhielt, durch seinen Körper ziehen ließ; und nach seinem Bauch und seinem Herzen erreichten die Duftmoleküle von Blüten und Sommerkleidern die Gräben seines Gedächtnisses. Dort wurde eifrig nach den Bildern zu den Düften gesucht, nach dem Haar, dem Hals, der Haut, dem Nabel. Und langsam nahm das Bild eines barfüßigen Mädchens Gestalt an, einer zwanzigjährigen donna Pugliese,der unwiderstehlichen Giovanna Berlucchi.

Sie schrieb weiter:

Du warst jung und wolltest mich jeden Moment des Tages küssen. Aber ich erinnere mich auch an Deine zitternden Hände. Du warst ängstlich und liebtest mich. Lieber Ezio, ich möchte wissen, ob Deine Finger sich noch nach meiner Haut sehnen, ob Deine Augen mich noch gerne anschauen würden, ob Du mich jetzt gerne küssen würdest.

Ich will bei Dir sein, neben Dir liegen, Dich atmen hören. Die Jahreszeiten wechseln, aber die Tage sind alle gleich. Heute riecht nach gestern, und gestern schmeckt wie vorgestern, und vorgestern klingt wie alle Tage davor. Das Einzige, was die Tage noch unterscheidet, ist das Gefühl. Die Sehnsucht, die immer größer wird, die mit jedem verstreichenden Tag zu wachsen scheint. Dies sind die alten, zerbrechlichen Wörter, die ich so lange in meinem Herzen bewahrt habe: Ich liebe Dich.

Mehr als sechzig Jahre haben wir uns nicht gesehen. Ich weiß nicht, ob ich jeden Tag an Dich gedacht habe, aber ich weiß, dass ich Dich jeden Tag vermisst habe. Denkst Du an mich, und denkst Du dann an den Sommer? Oder bist Du immer noch wütend? Du hast mir geschrieben, Du hättest Angst, dass Du immer wütend bleiben könntest. Es tut mir leid, Ezio, dass ich Dich erst jetzt lieben kann. Es tut mir furchtbar leid.

Ich möchte Dich bitten, all die Jahre, die wir nicht miteinander geteilt haben, zu vergessen. Lass uns die Zeit umkehren, das Rad abbremsen, anhalten und zurückdrehen, zurück zu Deinen strahlenden Augen und meinem dunklen Haar, und wenn wir stark genug sind, stärker als der alles zermalmende Zahn der Zeit: zurück nach Lecce, zu einem Dienstagmorgen im Oktober 1945. Lass den Zug, der Dich zum Horizont gebracht hat, in umgekehrter Richtung fahren, sodass Du nicht verschwindest, sondern erscheinst, nicht einsteigst, sondern aussteigst und zu mir kommst, statt für immer wegzugehen.

Es ist Frühling in Lecce. Mein Herz schlägt wie das eines Mädchens, das durch Felder und Wiesen rennt. Ezio, sei nicht mehr wütend, sei stark. Komm zu mir.

Er drückte das weiße Papier an sein Gesicht, an seine schlaffen Wangen. Und wieder sah er sie, die barfüßige Zwanzigjährige.

Es war Juli, das Jahr 1945. Ein warmer Tag. In der Ferne flimmerte die Luft. Ezio war mit seinem jüngeren Bruder ans Meer gegangen. Acht Kilometer zu Fuß. Jetzt lagen sie im Sand und beobachteten die Frauen, die im Badeanzug über den Strand gingen. Der Krieg war vorbei; es gab keine Arbeit, die Tage waren lang. Was sollte ein italienischer Mann anderes tun als Frauen beobachten?

Täglich wanderten Ezio und sein Bruder von Lecce nach San Cataldo. Es war ein Weg von anderthalb Stunden, für den sie manchmal auch doppelt so viel Zeit brauchten, wegen der Hitze und wegen der Leute, denen sie unterwegs begegneten. Heute waren sie von Freunden, Tanten und redseligen alten Männern aufgehalten worden. Erst zur späten Mittagszeit waren die Brüder Ortolani in San Cataldo angekommen, und nun lagen sie mit knurrenden Mägen im warmen Sand und bespähten möglichst unauffällig Frauen in Badeanzügen.

Es gab nicht viel zu sehen, die Badeanzüge waren aus einem Stück, manche bedeckten sogar die Oberschenkel und die Schultern. Aufregend waren die Momente, in denen eine Frau sich vorbeugte, um ihr Handtuch auszubreiten, oder aus dem Meer kam und vor den Wellen her auf den Strand lief. In solchen Momenten brauchte man nicht die Fantasie von einem Dutzend Schriftstellern, um ein Prickeln im Unterleib zu spüren. Dann brauchte man nur die Augen offen zu halten. In der übrigen Zeit hieß es tagträumen und sich vorstellen, was nicht sichtbar war, während man Badeanzüge aller Größen, aber eines einzigen Typs betrachtete: des Einteilers.

Es war Juli 1945. Knapp drei Monate nach der Befreiung Italiens und zwölf Monate vor der Erfindung des Bikinis. Der französische Automechaniker und Ingenieur Louis Réard hatte noch nicht das Wäschegeschäft seiner Mutter geerbt. Und er musste erst noch in einer Zeitschrift von den Sparmaßnahmen der amerikanischen Armee lesen, sich noch wundern über die Entscheidung, den Badeanzügen weiblicher Militärangehöriger einen tieferen Rückenausschnitt zu verpassen. Vor allem musste Louis Réard erst noch die höchst simple Eingebung haben, dass ein zweiteiliger Badeanzug viel mehr Stoff spart.

Und es musste erst eine Bombe über einer Gruppe von Inseln zwischen Neuguinea und Hawaii gezündet werden, einem Pazifikatoll, bewohnt von einer Handvoll Familien, die gezwungen wurden,