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Unendliche Weiten ... Die letzten Großstadtschiffe der Menschheit irren durch den Weltraum und suchen nach einer neuen, bewohnbaren Heimat. An Bord lebt die Crew in einer Welt aus künstlichen Illusionen, und die Liebeleien sind so flüchtig wie die Kostümierungen. Doch dann taucht in der Schwärze des Alls ein Wasserplanet auf und plötzlich ist alles sehr real. Schon die erste Außenmission wird zur Katastrophe. Ein Crew-Mitglied verschwindet spurlos - und taucht körperlich und psychisch verwandelt wieder auf. Bis zu welcher Grenze ist ein Mensch noch menschlich? Wer hat Caravan das Gedächtnis genommen, ihn mit seltsamen Fähigkeiten ausgestattet? Kapitänin Randori ist entschlossen, das Geheimnis des Planeten zu lösen. Ihr läuft die Zeit davon, denn in der Meerestiefe beginnt sich eine fremde Intelligenz zu regen, und an Bord ihres Schiffes bricht ein Machtkampf um ökologische Glaubensfragen aus. ------------ Queere Weltraumoper zwischen Aliens, Weltenbau und politischen Verschwörungen: Mit FünfSeelen (Originaltitel: "Die fünf Seelen des Ahnen") hat die Autorin den Deutschen Science Fiction-Preis gewonnen - als einzige Frau in 30 Jahren! Weitere Veröffentlichungen sind "Märchenhaft - Das Buch voller tollkühner Maiden und lieblicher Prinzen" und "Die vertrixte Adventsmaschine".
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2022
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FünfSeelen
Ulrike Raimer-Nolte
NEUAUFLAGE
(ORIGINALTITEL „DIE FÜNF SEELEN DES AHNEN“)
Texte: © Copyright by Ulrike Raimer-Nolte
Umschlaggestaltung: © Copyright by Ulrike Raimer-Nolte
Verlag:Ulrike Raimer-Nolte
Stresemannallee [email protected]
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Träge schwamm der Ahne in der Dunkelheit, trieb einsam in der Mitte einer Wasserfläche, die sich schwarz und bodenlos von Horizont zu Horizont ausdehnte. Die Wellen spülten über seinen glatten, formlosen Körper, das Licht der Sterne glitzerte feucht auf seiner Haut. Er ließ die Kräfte der Dünung an seiner Gestalt zerren und sie verwandeln, genoss das Gefühl und vergaß es. Seine Augensinne wandten sich dem nächtlichen Himmel zu und nahmen das Bild der wandernden Monde in sich auf. Der kleinste strahlte in einer bläulichen Färbung, die nur in wenigen klaren Nächten vorkam. Der Ahne genoss den Anblick und vergaß ihn. Er hatte sein Kurzzeitgedächtnis entfernt. Er übte sich darin, im Hier und Jetzt zu leben.
Der Ahne war der Einzige auf dem Planeten, der das Raumschiff bemerkte, als es zum ersten Mal auftauchte: ein winziger Punkt, der im Sternengeflimmer fast unterging. Nur einen Moment lang erwachte sein Denken, seine Augensinne schärften sich, und eine Vielzahl von Theorien und mathematischen Formeln flackerten durch seinen Geist. Dann kehrte er in den Zustand des Seins zurück, den er gewählt hatte.
Es war zwei Uhr nachmittags, und Serail hatte sich gerade auf die andere Seite gedreht und beschlossen, noch ein Stündchen zu schlafen. Er lag in einer dämmrigen Wohnhöhle. Die Wände bestanden aus Baumwurzeln, als Bett diente ein rohes Birkenholzgestell, über das Tierhäute gespannt waren. Verschiedene Pelze lagen darauf verstreut: Zobel, Polarfuchs, Perserkatze. Vögel zwitscherten. Es war ein perfekter Nachmittag, bis sein Getrauter durch die Tür kam und ihm die Decke wegrupfte.
„Du verschläfst gerade ein geschichtliches Ereignis, du Schnarchnase.“
„Hmm?“
„Es gibt da draußen einen Wasserplaneten. Hast du die Ansage an die Crew nicht gehört? Auf der Brücke ist Vollversammlung in genau ... achtundzwanzig Minuten!“
Serail brummte und zog das Kissen über den Kopf. Caravan hatte die Grausamkeit besessen, sämtliche Lampen hochzuschalten. Die Sonnenstrahlen aus der Höhlenöffnung wurden gleißend, ein Lagerfeuer flammte in der Mitte des Raumes auf. „Wasserplaneten sind eine Legende“, knurrte Serail. „Lass mich in Ruhe.“
Sein Getrauter stand mitten im Lagerfeuer, was Serails Laune nicht verbesserte. Er hatte Tage gebraucht, um diese Illusion zu erschaffen. Jeder Mensch mit einem bisschen Sinn für Romantik hätte darauf Rücksicht genommen und wäre um die Flammen herum gegangen. Stattdessen stellte Caravan fest: „Die Kabine sieht aus wie ein Schweinestall. Ich nehme an, das gehört zu dieser neuen Modewelle, die du aufgeschnappt hast? Terranische Lebensweise. Zurück zum Urschlamm.“
Serail seufzte gequält und stellte mit einem Blinzeln sein Implantat an, so dass die Stromsicht verschwand und nur die langweilige Wirklichkeit übrig blieb. Er musste zugeben, dass Caravan Recht hatte. So gesehen, war der kahle Raum ein Chaos aus verstreuter Unterwäsche, Popcorn und leeren Champagnergläsern. Allmählich fiel ihm die Party wieder ein. Gleich danach kamen die Kopfschmerzen. Er jaulte und griff erneut nach seinem Kissen.
„Nix da“, sagte Caravan und warf das Pelzstück in die hinterste Ecke der Kabine. Wenigstens hatte er Mitleid genug, ein Glas mit Anti-Kater-Mischung aus dem Recycler zu holen. Das Gebräu, das dampfend in einem Plastikbecher erschien, sah nicht besonders einladend aus, aber für Serail war es das Wasser des Lebens. Er brachte sogar ein verzerrtes Lächeln zustande, während er mit geschlossenen Augen danach griff ... Das Lächeln verschwand gleich darauf, als Caravan ihn am Kragen packte und ihn kurzerhand aus der Tür schleifte, in Richtung Schiffsbrücke.
Vor der Tür herrschte das übliche Gedränge. Die beiden hatten darauf verzichtet, im Crew-Bereich zu wohnen, der komfortabel aber langweilig war. Hier, am Rand der Passagierstadt 1.3 Lilienthal, gab es immer etwas zu sehen. Ein bunter Strom von Menschen schob sich durch die engen, niedrigen Gänge: Jesuiten, Samurai, Pompadour ... Da man sich in diesem Bauabschnitt nicht die Mühe gemacht hatte, die glatten Wandflächen mit einer Verkleidung zu überziehen, warf das Metall die Bilder der Vorüberkommenden zwischen sich zurück wie ein Spiegellabyrinth. Tausende von Menschen schienen sich gleichzeitig in allen Richtungen durch die Stahlröhre zu pressen. Serail konnte sich selbst vervielfacht in der glitzernden Unendlichkeit verschwinden sehen. Man musste den Anblick gewohnt sein, um an den Kreuzungen nicht gegen die nächste Wand zu laufen.
Er stellte das Implantat ab, um die unangenehme Wirklichkeit verschwinden zu lassen, und die Umgebung verwandelte sich vor seinen Augen. Geisterhaft legte sich das Bild einer Landschaft über den kahlen Gang. Für einen kurzen Augenblick existierten beide Ebenen gleichzeitig, die Illusion schimmerte flüchtig wie eine Seifenblasenwand. Dann wurde der Stromraum stabil und verdrängte den Anblick von kaltem Metall, den Geruch von verbrauchter Luft, den harten Faserplastboden unter Serails Füßen.
Der Strom umschloss seine Sinne, ein frischer Wind erfasste Serails Haar, und Orchideenduft strömte ihm aus einem fernen Dschungel entgegen. Holzplanken bewegten sich unter ihm, sodass er für einen Moment fast das Gleichgewicht verlor. Als er die Balance wiedergefunden hatte, warf er einen ungläubigen Blick auf das Design, eine morsche Hängebrücke, die sich vor ihm bis zum Horizont erstreckte. Ständig programmierte irgendjemand die Landschaften vor seiner Wohnungstür um, und die Strecke schien von Mal zu Mal abenteuerlicher zu werden. Das schmale Gerüst aus Stricken und Brettern wirkte, als müsste das Gewicht der Passanten es jeden Moment zum Einsturz bringen. Serail schloss nicht aus, dass dieser Special Effect tatsächlich zum Programm gehörte. Jedenfalls reichte der Anblick, um ihn endgültig aus seinem Halbschlaf zu reißen.
„Ich könnte jetzt in meinem Bett liegen“, protestierte er achtzig Meter über dem Erdboden, während ein Dschungelfluss in mörderischer Tiefe brauste und seine Stimme fast übertönte. „Ich lasse mich scheiden.“
„Natürlich, mein Schatz.“
„Wieso hast du mich überhaupt aus dem Schlaf gezerrt? Was hast du mir vorhin ins Ohr geschrieen?“
Caravan wiederholte geduldig: „Wir haben einen Wasserplaneten entdeckt.“
„Was, einen Was-“ sagte Serail, kehrte mit einem Blinzeln in die Realität zurück und rannte abgelenkt in einen entgegenkommenden Passagier hinein. „ ... sserplaneten? Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er rieb sich den Ellenbogen und redete weiter, ohne das Opfer des Zusammenstoßes zu beachten. Serail war Crew und Entschuldigungen gehörten nicht zu seinem Lebensstil. „Daran glaubt doch niemand. Schon mein Urururgroßvater hat gewusst, dass die Erde der einzige bewohnbare Planet in diesem ganzen öden Universum ist.“
„Manchmal können sich auch Großväter irren.“
„ ... sagt ausgerechnet der Mann, der mir immer seine Altersweisheit unter die Nase reibt.“
„Stimmt. Wenn ich schon mit einem Grünschnabel wie dir zusammenlebe, erwarte ich wenigstens etwas Respekt.“
Serail ignorierte diese Bemerkung, schaute beim Gehen in die Spiegelwände und zupfte sorgfältig seine Frisur zurecht. Sein Haar sah aus wie ein Vogelnest, jammerte er innerlich, und gerade als es eine gewisse Form anzunehmen schien, endete schlagartig das polierte Metall. Er seufzte. Hätten sie nicht ein paar Minuten später in die Crewstadt kommen können? Hier gab es Wandverkleidungen, die wie eine Mischung aus hellblauer Seide und schillernden Fischschuppen aussahen. Die Straßen hatten doppelte Breite, und die Decken waren so hoch, dass man sie mit den Händen nicht mehr erreichen konnte. Die Platzverschwendung gab dem Raum etwas Grandioses. Der Boden war mit einer weichen, federnden Schicht überzogen, die an Daunengefieder erinnerte. Je weiter sie zum Zentrum vordrangen, desto leerer wurden die Wege.
„Also, was denkst du wirklich darüber?“, fragte Caravan, als sie ihr Ziel erreicht hatten und in den Kommandoraum traten.
„Worüber denn?“ Serail gab sich begriffsstutzig. Caravan zog nur ein Braue hoch, was er besonders ausdrucksvoll konnte, und Serail murrte: „Na gut, wir haben angeblich einen Wasserplaneten entdeckt. Was ist daran so toll? Wer will schon ernsthaft fremde Welten besiedeln?“
Caravan schaute ihn an, als habe er den Verstand verloren. „Ich lebe in meiner Kabine wie ein Höhlenmensch“, stellte er fest. „Ich muss neben einem schwachsinnigen Lagerfeuer schlafen. Du sprichst nur noch von ‘Naturverbundenheit’ und ‚Terranischem Lifestyle’. Und jetzt erzählst du mir, dass alles so bleiben soll, wie es ist? Du möchtest den Rest deines Lebens an Bord eines Raumschiffes verbringen und im Nichts herumirren?“
Serail zuckte lässig mit den Schultern. „Bloß weil ich ein bisschen modebewusst bin, nehme ich die ganze Erdnostalgie doch nicht ernst. Keine Ahnung, warum alle statt solidem Metall einen Humusboden unter den Füßen haben wollen. Ich bin sehr glücklich hier an Bord.“
„Sorry, aber das ist Blödsinn. Wenn ich jemanden kenne, der den Weltraum nicht erträgt, dann du. Nach jeder Außenwache muss ich dich davon abhalten, in den Recycler zu springen!“
Serail wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Also setzte er seine Primadonna-Miene auf, wandte sich ab und ließ seinen Blick durch den Saal schweifen.
In der großen, runden Halle herrschte ungewöhnliches Gedränge. Es fehlte kaum jemand von den höheren Dienstgraden. Die meisten waren in Gala-Uniformen erschienen, mit roten Kordeln über königsblauen Smokings. Serail entdeckte einige seiner Freunde aus der Matrosenklasse, aber er hatte wenig Aussicht, sich zu ihnen durchzukämpfen. Von der anderen Seite des Saals winkte ihm eine Blondine zu, an die er sich nur vage vom vorigen Abend erinnern konnte. Ihr Name war Mango ... oder Papaya? Es spielte keine Rolle. Sie hatte ihn noch mehr gelangweilt als die meisten seiner Partybekanntschaften. Er lächelte strahlend und winkte zurück.
Anscheinend waren sie beide gerade noch rechtzeitig eingetroffen. Soeben teilte sich die Menge und eine zierliche Gestalt mit dem weißgefärbten Haar der Dumas-Kavaliere trat vor den Hauptbildschirm. Der Dumas klopfte leicht auf den Tonverstärker an seinem Smoking. Die augenblickliche Stille im Saal sagte viel über den Respekt, den man Kapitän Lazarus entgegenbrachte. Man konnte die Mannschaft der Arche 32 sonst nicht gerade als diszipliniert bezeichnen.
Kein Wunder, dachte Serail bei sich, denn das Leben der Crew bestand größtenteils aus angenehmem Müßiggang. Seit Generationen beschränkten sich die Pflichten der Matrosen auf die Stromwache zweimal im Monat und einige Routine-Inspektionen. Wer brauchte da schon Disziplin?
Der Kommandant begann die Ansprache ungewöhnlich förmlich, indem er grüßend seinen Degen zog und an die Stirn hob. Er schaute in die gespannt wartende Runde und sagte einleitend: „Ich habe nicht vor, eine lange Rede zu halten.“
Beifälliges Klatschen erscholl irgendwo aus der Menge, und Lazarus Augen funkelten belustigt … oder verärgert, das war schwer zu erkennen.
Serail hoffte für den Betreffenden, dass der Kapitän es mit Humor nahm. Lazarus war schwer einzuschätzen und niemand, mit dem man sich anlegen wollte. Auch wenn er auf den ersten Blick täuschend harmlos wirkte: eine knabenhafte Gestalt mit großen blauen Augen. Das porzellanweiße, anmutige Gesicht erinnerte an ein Rokokogemälde.
Das Elixier hatte bei Lazarus zu früh gewirkt, und sein Körper war der eines zierlichen Vierzehnjährigen geblieben. Selbst wenn man es gewohnt war, das Alter eines Menschen nicht an seinem Äußeren ablesen zu können, wirkte der Kapitän beunruhigend. Normalerweise verrieten sich die Antiqui durch ihre Ausstrahlung, die Macht ihrer Persönlichkeit, ihre Aura, wenn man es so nennen wollte. Aber Lazarus konnte diesen Effekt ein- und ausschalten. Eben noch wirke er wie ein unbedarftes Kind, um gleich darauf einen politischen Gegner allein mit dem Gewicht seiner zweihundertneunzig Jahre niederzuwalzen.
Er hatte sein Porzellanpuppengesicht halb dem Bildschirm zugewandt, auf dem ein Bild des noch weit entfernten Planeten prangte. Aus den wenigen gesicherten Messdaten hatte der Strom ein Modell entworfen, das der alten Erde recht ähnlich sah. Serail hörte nicht wirklich auf die Ansprache des Kapitäns, auch wenn er sicher war, dass es sich um ein rhetorisches Meisterwerk handelte. Er starrte auf die Projektion und versuchte sich zu überzeugen, dass der blaue Planet echt war. Sein ganzes Leben hatte er in einer Welt der Illusionen verbracht. Den größten Teil der Zeit befand er sich im Strom, und manchmal fiel es ihm schwer zu glauben, dass überhaupt etwas real war. Besonders etwas so Unwahrscheinliches wie ein Wasserplanet.
Er hörte erst wieder zu, als Lazarus Vortrag eine unerwartete Wendung nahm. „Die Jugend unserer Körper währt nicht ewig“, sagte der Kapitän in einem sachlichen Tonfall, der sich bewusst von der vorigen Rhetorik abhob. „Der Zusammenbruch kommt schnell und überraschend. Ich habe mein Verfallsdatum schon eine Weile überschritten und in der augenblicklichen Situation können wir uns das Problem eines abrupten Befehlswechsels nicht leisten. Daher habe ich beschlossen und verkünde hiermit offiziell, dass ich das Kommando an einen Nachfolger abgebe. Von diesem Moment an gehört das Schiff, seine Crew und jeder Passagier allein Kapitänin Randori.“
Absolute Stille herrschte auf der Brücke.
Serail sah zu Justizsenatorin Randori hinüber, die unter den Offizieren stand und genauso entgeistert wirkte wie alle anderen. Serail konnte seinen Getrauten dicht hinter sich unterdrückt lachen hören. Er drehte sich um und zischte ihm ins Ohr: „Was ist daran so komisch?“
„Der alte Fuchs! Hast du Randoris Gesicht gesehen? Am liebsten würde sie ihn kielholen.“
„Was??“
Jetzt brach ein Tumult aus, der es nicht mehr nötig machte, die Stimme zu senken. Die Offiziere versuchten vergeblich, die Disziplin wieder herzustellen.
„Du glaubst doch nicht, dass Lazarus ernsthaft vorhat, abzudanken?“, fragte Caravan über den Lärm hinweg.
„Aber das hat er doch gerade gesagt! Oh, komm schon, du musst mich nicht anschauen, als sei ich ein hirnloser Teenager. Ich interessiere mich nun mal nicht für Politik.“
„Die beiden betreiben ihr Machtspielchen schon seit Jahren. Mal ist er oben, mal sie.“
„Ja, das weiß doch jeder. Aber für mich sieht es aus, als hätte er Randori gewinnen lassen. Warum ist sie darüber wütend?“
Caravan verdrehte die Augen. „Weil er sie auf einen Schleudersitz schubst. Natürlich wollte Randori immer Kapitänin werden. Aber wenn sie den Posten ausgerechnet jetzt bekommt, kann sie ihre Politikkarriere vermutlich bald begraben. Lazarus schiebt sie nur als Sündenbock vor.“ Caravan übernahm gerne die Rolle des Mentors. In solchen Augenblicken wurde die Lebenserfahrung hinter seiner jugendlichen Fassade erkennbar, und er klang wie der abgeklärte Gelehrte, der er war. „Den Planeten zu besiedeln, wird Opfer kosten. Die Passagiere sind ein Leben im Luxus gewöhnt, die meisten haben nie einen Handschlag getan – und jetzt sollen sie plötzlich eine neue Zivilisation aufbauen? Das wird kaum funktionieren. Man kann eine planetare Kultur nicht einfach aus dem Hut zaubern.“
Demonstrativ ließ er eine blaue Murmel aus dem Nichts auftauchen und auf der Fingerspitze rotieren wie einen Miniplaneten. Caravan gehörte seit fast zehn Jahren zur Gilde der Artisten und Magier und solche kleinen Tricks fielen ihm leicht. Serail mochte es besonders, wenn sein Getrauter ihm Rosen aus intimen Körperstellen zauberte.
„Außerdem werden wir anfangs fast ohne Schiffstechnik auskommen müssen. Ohne den Stromraum und Recycler wird es dort unten ziemlich ungemütlich werden. Wer jetzt Kapitän ist, kann froh sein, wenn man ihn nicht in kleine Stücke reißt.“
„Na großartig“, sagte Serail schnippisch. „Danke für diese Aufmunterung. Jetzt weiß ich, warum ich den Planeten von Anfang an nicht mochte.“
„Tja, aber ich bin noch nicht fertig. Wenn die Katastrophe am größten ist, wird Lazarus nämlich als strahlender Retter aus der Versenkung auftauchen. Er wird Randori unter allgemeinem Beifall absetzen und erneut das Kommando übernehmen. Damit ist seine schärfste Konkurrentin aus dem Rennen. Gleichzeitig dürfte sie genug Vorarbeit geleistet haben, um die Situation tatsächlich unter Kontrolle zu bringen, sodass Lazarus am Ende die Lorbeeren ernten kann.“
Serail zuckte mit den Schultern. „Vielleicht“, sagte er. „Aber so viel weiß ich doch über Politik, dass Randori nicht umsonst ihren Namen bekommen hat. Wenn man sie unterschätzt, findet man sich als zusammengefaltetes Paket auf der Judomatte wieder.“ Er grinste.
„Tja, und wir wissen alle, was Lazarus bedeutet“, antwortete sein Getrauter. „Man sagt ihn tot, und er steht wieder auf. Diese Duellrunde dürfte interessant werden.“
Inzwischen hatte sich die Aufregung etwas gelegt. Der Ex-Kapitän trat mit einer galanten Geste zurück und übergab das Wort an seine junge Nachfolgerin. Sie strahlte eine erfrischende Natürlichkeit aus: ein sommersprossiges Gesicht mit einem Wust von widerspenstigen, kastanienfarbenen Locken, die sie immer wieder energisch aus der Stirn strich.
Eigentlich machte sie nicht den Eindruck, als könne sie ein Schiff mit über achtzig Großstadtblöcken beherrschen. Sie besaß nichts von Lazarus geheimnisumwittertem Charisma,. Aber den Leuten fiel es schwer, sich ihrem lebhaften Charme zu entziehen. Und Randori nutzte diesen Sympathie-Bonus hemmungslos aus.
„Ich bin wirklich überwältigt, Lazarus“, sagte sie in einem Tonfall, der auf irritierende Art gleichzeitig ehrlich und sarkastisch wirkte. „Die jüngste Kommandantin in der Geschichte der Arche zu werden, hätte ich nie zu träumen gewagt.“ Sie legte die Handflächen zusammen und berührte ihre Stirn in einer Geste der Dankbarkeit.
Randori hatte sich seit ihrer letzten Taufe einen asiatischen Lebensstil zugelegt, der zu ihrem Namen passte … vor allem, damit ihr Status als Gildelose nicht ganz so skandalös wirkte. Vermutlich war sie die einzig Gildelose im Umkreis von zehn Städten und begründete diese Eigenheit damit, dass sie als Justizsenatorin neutral bleiben müsse. Aber der hauptsächliche Grund war wohl, dass sie es genoss, gegen den Strom zu schwimmen. Randori gab sich gerne einzigartig.
Es wäre allerdings ein zu großer Bruch der Etikette gewesen, hätte sie darauf bestanden, nur sie selbst zu sein. Jeder an Bord spielte eine Rolle, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte. Da es in den überfüllten Passagierstädten kaum Privatsphäre gab, verbarg man sein Ich hinter Masken und Scheinpersönlichkeiten.
Auch Randori hatte sich diesem Brauch gefügt. Wenn sie schon keine Gilde besaß, hatte sie wenigstens eine asiatische Persona, die ihrem Taufnamen entsprach. Als sie nun eine diplomatische Antwort formulierte, griff sie auf die Ausdrucksweise der Asia-Gilden zurück. „Ich bin demütig dankbar, Lazarus-Sama, aber dem Alter gebührt der Vorzug vor der Jugend, wie Konfuzius lehrt. Daher bitte ich dich, weiterhin von deiner erfahrenen Weisheit profitieren zu können. Auch wenn ich den Kapitänstitel in Ergebenheit annehme, besteht kein Zweifel, dass dir die Ehre gebührt, die Geschicke der Arche mitzulenken. Jeder an Bord sollte wissen, dass unser geliebter Kommandant noch immer am Ruder ist.“
Lazarus nickte gnädig, mit einem amüsierten Gesichtsausdruck.
Randori fuhr fort: „Mit solcher Unterstützung kann ich auch mein Amt als Erste Richterin noch einige Monate wahrnehmen. Wie meine Crew sicher versteht, wäre es unverantwortlich, laufende Verfahren abzubrechen. So nenne ich mich von heute an die Kapitänin dieses Schiffes, doch verneige mich zugleich vor dem einzig wahren Kapitän. Möge unsere gemeinsame Arbeit dem Schiff Glück bringen.“ Sie verbeugte sich schwungvoll vor Lazarus, der die Geste erwiderte. Bei aller Rivalität konnten die beiden sich gut leiden und genossen ihre kleinen Spielchen.
„Nun gut“, sagte Randori abschließend und wechselte abrupt zu einem nüchternen Befehlston. „Nachdem das geklärt ist, schlage ich vor, dass jeder an seinen Posten geht. Wer sich für die Planetenerkundung melden will, kann seine Signatur im Strom ablegen.“
Sofort erhob sich eine lebhafte Diskussion und jeder redete durcheinander. Die Stimmung war ungefähr wie bei der Präsentation eines neuen, hippen Stromspiels, das alle zuerst ausprobieren wollten. Ähnlich wie Serail fiel es auch den anderen schwer, reale Ereignisse ernst zu nehmen. Randoris Stimme ging fast unter, als sie sagte: „Ich bitte die heutige Außenwache vorzutreten.“
„Damit sind wir gemeint“, sagte Caravan und knuffte seinem gähnenden Getrauten in die Rippen.
Serail nahm Haltung an. „Tatsächlich? Wir haben heute Wache? Das hatte ich ganz vergessen.“
Caravan grinste. „Übertriebener Alkoholgenuss vernichtet die Gehirnzellen.“
Sie schritten nach vorne und salutierten vor der neuen Kapitänin. Randori musterte Serail interessiert von oben bis unten. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er noch immer das durchsichtige Schlafgewand trug, mit dem ihn sein Getrauter aus dem Bett gezerrt hatte. „Ein bisschen underdressed, Schiffsmaat?“
Serail wurde rot und schaute starr an ihr vorbei auf die Wand. Als Randori sich umdrehte und ging – nicht ohne noch einen längeren Blick über die Schulter zu werfen – murmelte er seinem Getrauten zu: „Ich bringe dich um. Wenn die Wache vorbei ist, werde ich dich zu Sushi verarbeiten. Und hör auf zu lachen!“
Sie nahmen auf den zwei gepolsterten Liegen Platz, die für die Außenwache vorgesehen waren, und streckten sich darauf aus. Dann blinzelten sie gleichzeitig und ließe sich in den Strom fallen.
Die Schiffsbrücke verschwand, und sie schwebten schwerelos im Nichts, zwei Staubkörnchen in einem lebensfeindlichen Vakuum. Um sie herum entfaltete sich das lichtlose Weltall.
Caravan konnte fühlen, wie die absolute Leere an seinen Nerven zerrte. Der menschliche Geist war nicht dazu geschaffen, die Größendimensionen des Universums zu ertragen. Man starrte mit dem Maschinenblick der Außenwache in die Ferne, und in der schwarzen Unendlichkeit brach das Ich langsam zusammen.
Er konzentrierte sich auf den Anblick der Arche, die ein paar Kilometer hinter seinem Rücken zu schweben schien. Gleichzeitig registrierte er mechanisch und ohne Gefühl den Rest der visuellen Daten, die durch sein Bewusstsein rasten und nach Kollisionsobjekten abgesucht werden mussten. Der Strom presste eine Rundumsicht des Alls in sein Gehirn, in 360 Grad und 1,37 Lichtjahren Entfernung entging kein winziges Detail seiner Aufmerksamkeit. Es war ein qualvoller Zustand. Vergeblich bemühte er sich, nicht gegen das Unnatürliche dieser Sinnesempfindungen anzukämpfen, die von den Außensensoren des Schiffes direkt in seine Nervenbahnen geleitet wurden. Durch seinen Hinterkopf starrte er auf die Arche 32, ein seltsames Metallgebilde, das sich wie ein verzweigter, funkelnder Kristall um die eigene Achse drehte.
Das Schiff besaß schon lange nicht mehr seine ursprüngliche Gestalt. Die Bevölkerung war schnell gewachsen, und so hatte man den Lebensraum immer weiter vergrößert, mit jedem Sonnensystem, das die nötigen Materialien liefern konnte. In der Schwerelosigkeit wurde keine Rücksicht auf aerodynamische Formen genommen, sondern angestückt, wo es gerade passte. Das Resultat war von überraschender Schönheit, es ähnelte einer Schneeflocke in hundertfacher Vergrößerung. Metall verzweigte sich in alle Richtungen, bildete komplizierte Gitter und würfelförmige Knotenpunkte, jeder eine ganze Stadt für sich. Eine bizarre geometrische Landschaft breitete sich vor Caravan aus, silberne Stahlpfeiler zwischen silbernen Stahlwänden: die Außenseite eines Straßennetzes, das sich kilometerweit in die Leere erstreckte. Kurzstreckengleiter umschwärmten dieses Gebilde wie ein funkelnder Mückenschwarm.
Er hielt sich an der stabilen Gegenwart des Bildes fest und verdrängte den Gedanken, dass er eigentlich auf eine Fata Morgana starrte, eine Designerkreation ohne Substanz. Von seinem Blickpunkt aus hätte er die Arche gar nicht sehen dürfen. Die Wirklichkeit in seinem Gehirn war von den Außensensoren des Schiffes abhängig, und sie waren in die Ferne gerichtet, nicht zurück auf den Schiffskörper. Die Arche anzuschauen war so unlogisch wie ein Fernglas, mit dem man sich selbst betrachten konnte.
Caravan wusste genau, welchen Weg die Informationen nahmen, wie konstruiert seine Wahrnehmung im Augenblick war. Die Außensensoren leiteten ihre Daten zuerst an den Brückencomputer, dort wurden sie umgewandelt und dann von den Saalwänden abgestrahlt. Jeder, der die Brücke betrat, ohne sich durch sein Implantat zu schützen, geriet unter den Einfluss dieser Datensendungen – so wie jeder, der Caravans Kabine betrat, das Bild einer moosbewachsenen Wohnhöhle sah. Die Wände der Arche waren von Computerneuronen durchzogen wie von einem riesigen Nervengeflecht. Ihre Botschaften beeinflussten das Gehirnstrommuster, fütterten die Sinne mit einer zweiten Realität, den Illusionen des Stromraums. Das gesamte Schiff, tausende von Korridoren, zehntausende von Streckenkilometern, wurden von dieser geisterhaften Wirklichkeit eingehüllt. Ohne Implantat erlebte man die Arche als einen Ort ständig wechselnder, ineinander fließender Halluzinationen.
Die Wände konnten den Gehirnstrom nicht nur einseitig manipulieren, sie waren auch umgekehrt empfänglich für Gedankenreize und -befehle. Sie dienten als ein allgegenwärtiger Servicecomputer. Man konnte jede beliebige Information abrufen, eigene Pfade ins Dickicht der Dateien schlagen und mit privaten Gedanken füllen. Die Designer konnten mit ihren Wachträumen ganze Welten erschaffen. Sie hatten auch dafür gesorgt, dass nun das Modellbild der Arche beruhigend hinter Caravan schwebte. Vor der Installation dieser psychologischen Schutzmaßnahme hatte es in der Matrosenklasse eine Selbstmordrate von über fünfzig Prozent gegeben. Inzwischen war die Zahl gesunken. Nicht sehr, aber es machte sich trotzdem gut in den Statistiken.
Caravan bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, als er daran dachte. Zu viele seiner Freunde waren schon gestorben. Es war ein notwendiges Opfer, denn das menschliche Gehirn war in bestimmten Bereichen - Bewusstsein, Ethik, Entscheidungsfähigkeit - immer noch dem Bordcomputer überlegen. Also tat er seine Pflicht, aber er hatte sich geschworen, dass er selbst nie zu den Todesopfern gehören würde. Das Universum konnte sich an ihm die Zähne ausbeißen! Er würde sich selbst und seinen Getrauten auch diesmal aus der Psychose ziehen. „Hast du gesehen, dass wir den Planeten schon im Blickfeld haben? Er ist eben aufgetaucht, im Planquadrat 2183.“
Das fremde Sonnensystem war bisher nur von den Langstrecken-Scannern angezeigt worden. Jetzt kam es in Reichweite der Fein-Sensorik und schob sich damit langsam in den Außenrand von Caravans Bewusstsein.
„Bald werden wir sehen, ob das Computermodell tatsächlich stimmt und der Planet keine Kontinente hat, nur ein einziges Meer mit Tausenden von Inseln.“
Sein Getrauter antwortete nicht und Caravan kämpfte ein Gefühl der Beklemmung nieder. Es war normal, dass Serail schon nach Minuten kaum noch ansprechbar war. Hastig redete er weiter: „Stell dir vor, wenn kein anderes Schiff jemals eine neue Erde findet! Wir werden im ganzen Universum die einzigen echten Terraner sein. Möglich, dass dich der Gedanke nicht begeistert, aber ich werde ganz ehrfürchtig, wenn ich daran denke – fester Boden unter den Füßen, offener Himmel, ziehende Wolken ... Immerhin gibt es niemanden mehr, der alt genug ist, sich daran zu erinnern. Die Strombilder von der Erde könnten alle gefälscht sein und keiner würde es merken. Vielleicht war Gras in Wirklichkeit gar nicht grün.“
„In jedem zweiten Roman reden sie über grünes Gras“, erklang Serails abwesende Stimme.
„Ach, du weißt doch, wie Dichter sind“, sagte Caravan erleichtert, „grünes Gras, blaue Blumen, rosarote Rosenranken ... wenn ein Stabreim darin vorkommt, finden sie es perfekt. Es muss ja nicht wahr sein, nur weil es sich hübsch anhört.“
Caravan versuchte nicht ausschließlich, seinen Getrauten abzulenken. Der Gedanken, solche Wunder bald real zu Gesicht zu bekommen, ließ ihn tatsächlich ins Schwärmen geraten. Es war jetzt über fünfhundert Jahre her, dass sich die Reste der Menschheit ins All geflüchtet hatten. 112 Raumschiffe trieben verstreut im Nichts und versuchten, im Kriechtempo eine bewohnbare Heimat zu finden. Doch sie waren bei jedem Sonnensystem aufs Neue enttäuscht worden.
Nicht nur die Antiqui, die Uralten der Schiffsbevölkerung, hatten über die Jahrzehnte hinweg begonnen, die Suche mit zynischer Gleichgültigkeit zu betrachten. Caravan hatte an sich selbst beobachten können, wie er zunehmend abgestumpft war und die Hoffnung auf ein Ende der Reise längst begraben hatte. Er konnte es Serail nicht verdenken, dass er den Gedanken an eine Planetenbesiedlung gar nicht erst an sich heranließ. Es war leichter, am gewohnten Schiffsleben festzuhalten, als noch einmal alle Wünsche auf die Zukunft zu richten – und enttäuscht zu werden. Serail balancierte schon so lange am Rand des Abgrunds, dass er kaum noch wagte, mehr als gelangweiltes Interesse für irgend etwas aufzubringen.
Caravan füllte die Leere weiter mit belanglosem Geplauder, sprach ohne Pause über Vogelklangmusik und den neusten Rekord auf der Null-G-Rennbahn. Dabei kreisten seine Gedanken wie so oft um Serails wachsenden Hang zur Selbstzerstörung, eine krampfhafte, fiebrige Sinnlichkeit, die Caravan ausschloss. Es gab Vergnügungen genug an Bord, um Jahrhunderte zu füllen, und sein Getrauter hatte sich anscheinend in den Kopf gesetzt, sie alle auszuprobieren.
Schon immer hatte Serail einen dekadenten, selbstverliebten Charme besessen, aber inzwischen betrieb er seine Vergnügungssucht mit absoluter Rücksichtslosigkeit. Er sprach von Liebe und gab sich dann nächtelang den KamaSutra hin, die ihn wegen seiner klassischen, androgynen Schönheit begehrten. Er sprach von einer lebenslangen Beziehung und verbrachte mehr Zeit im Strom als in der Wirklichkeit. Seit er in die Illusionisten-Gilde eingetreten war, experimentierte er mit den drogenähnlichen Erfahrungen der Synästhesie. Stundenlang versank er in jenen exotischen Illusionsräumen, wo die Sinne zusammenflossen, wo man Lilienduft schmecken konnte und schwermütige Tangomusik die Haut wie ein blutrotes Meer überströmte. Caravan konnte es kaum noch ertragen, dabei zuzusehen.
Manchmal glaubte er, dass schon ihre Hochzeit ein düsteres Omen gewesen war. Traditionsgemäß hatte man ihnen neue Namen gegeben, Worte mit einem gemeinsamen Ursprung, die ihre Zusammengehörigkeit symbolisieren sollten. ‘Serail’ passte gut zu seinem Getrauten, zu seinen orientalischen Gesichtszügen und schwarzen Samtaugen, seiner Koketterie, seiner Leichtlebigkeit. Schon immer hatte Serail Verehrer beiderlei Geschlechts angezogen wie Motten das Licht und davon ohne größere Skrupel Gebrauch gemacht. Er musste im Laufe seiner 38 Lebensjahre tatsächlich einen ganzen Harem angesammelt haben. Unglücklicherweise gab es noch mehr Ähnlichkeiten zwischen den alten orientalischen Serails und ihrem Crewleben: Ein Dasein in dekadentem Luxus, voller Sinnlosigkeit und unendlicher Langeweile, eine Brutstätte für Intrigen, Perversität und selbstgewählten Tod. Ein doppeldeutiger Name voller dunkler Vorahnungen. Dagegen seine eigene Taufe ...
„Ich weiß immer noch nicht, was mein Name soll“, murmelte er. „Wie kommt man bei einer Hochzeit denn bitte auf ‚Caravan‘?“
Serail lachte und Caravan zuckte unter dem unerwarteten Geräusch zusammen.
„Das weißt du nicht?“, fragte sein Getrauter. „Ich bin den Trauzeugen so lange auf die Nerven gefallen, bis Roncalli es mir gesagt hat.“
„Tatsächlich?“
„Nun ja“, trällerte Serail genüsslich, „er hat es mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, also weiß ich wirklich nicht, ob ich es dir erzählen darf.“
Innerlich lächelte Caravan erleichtert. Serail hätte für ein bisschen Klatsch sein letztes Seidenhemd gegeben. Solange er mit diesem Thema beschäftigt war, würde er sich kaum noch erinnern, dass er sich in der Außenwache befand. „Jetzt rück schon damit raus.“
„Also gut“, erklärte Serail unschuldig, „sie haben ein Brainstorming zum Thema ‘Orient’ veranstaltet, aber der Gedanke, ausgerechnet dich mit Karawanenromantik in Verbindung zu bringen, ging über ihre Vorstellungskraft. Also haben sie stattdessen nach etwas Ausschau gehalten, dass ein bisschen praktischer, verlässlicher, vernünftiger ...“
„Schon verstanden“, sagte Caravan, „so ist aus der Karawane also ein Van geworden. Tja, lieber ein Leben im schlichten Wohnwagen als in deinem goldenen Käfig, du Großkalif.“ Aber er musste zugeben, dass Serail nicht ganz Unrecht hatte. Gegenüber seinem Getrauten wirkte er wie die Verkörperung des Alltäglichen: undefinierbare Haarfarbe, eher blond als braun, schlaksige Figur und eine etwas zu große Nase, die ihm – wie Serail beteuerte – ein besonders liebenswertes Aussehen gab. Er hatte in ihrer Partnerschaft gezwungenermaßen die Rolle des Vernünftigen übernommen. Aber manchmal sehnte er sich doch danach, den Wohnwagen aus der symbolischen Garage zu holen und zu fernen Horizonten aufzubrechen, wo das Unbekannte und das Abenteuer lockten. Hätte er diese Vagabundenseele nicht in seinem Inneren besessen, wäre es ihm kaum gelungen, Serail zu erobern und zu halten.
„Und wo wir gerade über Schlichtheit sprechen, ich finde das Design unserer Wohnkabine …“ setzte er an, als sich plötzlich der Sternenhimmel um ihn herum zusammenfaltete und das Bild der Schiffsbrücke erschien. Man hatte sein Implantat von Außen aktiviert, um ihn in die Realität zurückzuholen. Die Wachablösung war gekommen.
Sein Getrauter stand von der Liege auf und schaute sich unsicher im Saal um. Er schien darauf zu warten, dass sich auch dieser Anblick wie eine Fata Morgana auflöste. Dann seufzte er erleichtert, lächelte Caravan an und sackte ohnmächtig zu Boden.
Bis die Arche endlich die Wasserwelt erreichte, dauerte es noch mehrere Wochen. Unter den Passagieren nahm die Aufregung bereits hysterische Formen an. Robinson Crusoe-Programme waren so begehrt, dass die Designer kaum mit der Produktion nachkamen. Die Matrosen ließen sich Tauchanzüge fertigen und liefen stolz in hautengem Neopren durch die Gänge.
Schließlich ließ sich sogar Serail von der Begeisterung anstecken und meldete sich zusammen mit seinem Getrauten zum Freiwilligencorps, der auf dem Planeten landen und ihn erforschen sollte. Man hatte Sonden auf „Archensee“ abgesetzt (für die Namensgebung hatte es ein Preisausschreiben unter den Passagieren gegeben), und die Kamerabilder versprachen ein bizarres Ökosystem.
Und jetzt hockten sie also zu zehnt in einem winzigen Flieger und stürzten auf den blau leuchtenden Planeten zu. Serail schaute sehnsuchtsvoll zurück und konnten hinter sich das Heimatschiff kleiner werden sehen. Es trieb wie eine Ansammlung Mikadostäbchen in der Unendlichkeit. Schon umfassten die ersten Wolkenwirbel das Shuttle, um es mit sich hinab zu ziehen. Ein Augenschlag von gleißendem Weiß, der kurze rüttelnde Widerstand der Atmosphäre, und unter ihnen lag Wasser, von Horizont zu Horizont. Eine unglaubliche Masse von Wasser, tiefblau im strahlenden Sonnenlicht, das nur hier und dort von kleinen Inselgruppen unterbrochen wurde.
Caravan war schon dabei, seinen Taucheranzug überzuziehen, und Serail machte es ihm nach. Als er wieder Zeit hatte, aus dem Fenster zu schauen, schwebte der Flieger dicht über der glasklaren Fläche des Meeres, die den Blick auf seltsame Formen und Farben in der Tiefe freigab. Überrascht starrte Serail auf das entrückte Märchenland zu seinen Füßen, das sich mit jeder Wellenbewegung zu verwandeln schien.
Schließlich musste er den Kopf abwenden. Das blendende Glitzern der Sonne auf dem Wasser schmerzte in seinen Augen. Die Schiffsgeborenen hatten ihr Leben in genau abgestimmter Beleuchtung verbracht, und das intensive Licht dieser Welt wirkte auf Serail mehr als fremdartig. Er war beinahe froh, dass er durch die Schicht von Kunststoff um seinen Körper den Wind nicht spürte, der mit seltsamen Klängen um das Shuttle strich, so wenig wie die Wärme der Sonne auf seiner Haut. Dieser letzte Rest von Abgeschottetheit, der ihm von der künstlichen Welt seines gewohnten Lebens geblieben war, gab ihm ein bisschen Sicherheit.
Eine trügerische Sicherheit, das wusste Serail gut genug. Von den Matrosen an seiner Seite, die mit ihren Kameras und Messgeräten auf den Absprung warteten, würden bestimmt einige nicht zurückkehren. Serail kümmerte das im Grunde wenig. Das Schicksal von anderen berührte ihn selten, er hatte genug mit seinen eigenen Problemen zu tun. Aber was ihn selbst dort unten wohl erwartete?
Der Gedanke an wilde Tiere wirkte zu exotisch, um Furcht auszulösen. Mehr Sorgen machte ihm, dass die Ausrüstung stark veraltet war. Technische Neuentwicklungen gab es auf der Arche seit langem nur noch im Unterhaltungsbereich, und zuweilen hatte sich die Ingenieursgilde an einer Verbesserung der Antriebssysteme versucht. Ganz bestimmt wäre niemand auf die Idee gekommen, seine Zeit für etwas so Unsinniges wie Tauchkleidung oder Unterwasserwaffen zu verschwenden.
Caravans Stimme platzte über das Sprechgerät in seine Gedanken hinein: „Funktest, Funktest. Hallo, kannst du mich hören? Falls mich dort unten die Säbelzahnqualle frisst, vermache ich dir meine Musikdateien.“
„Oh man, stirb bloß nicht“, knurrte Serail, „sonst fühle ich mich wirklich gezwungen, dreihundert Stunden gesammelte Barockmusik anzuhören.“
Mit gemischten Gefühlen stellte er sich neben die offene Tür und beobachtete, wie sich die ersten Taucher in die Tiefe stürzten. Er hörte ein unterdrücktes Schnauben an seinem rechten Ohr und setzte wehleidig hinzu: „Gleich soll ich da raus. Irgendwie habe ich gar keine Lust mehr.“ Mit ploppsenden Schwimmfüßen watschelte er auf die offene Schiebetür zu und sah zögernd auf das Wasser vier Meter unter sich. Bis mit einem Mal die nächste große Welle kam, der Flugleiter ihm ein ‘Los!’ ins Ohr schrie, und er sich plötzlich im freien Fall wiederfand.
Die Gischt schlug über ihm zusammen, Blasenstrudel verwirrten seine Sicht, und er kämpfte einen Augenblick gegen die Orientierungslosigkeit. Dann war er zurück an der Oberfläche – die Luft in seinem Anzug hatte den ersten Aufprall abgefangen – und schaute sich um, in einer absolut fremdartigen Welt. Glasklare Wände erhoben sich zu allen Seiten, sie rollten schwankend unter ihm hindurch und zogen ihn mit sich. Ihm wurde schwindelig von dem Anblick, in seinem Kopf drehte sich alles, während seine Augen vergeblich einen Halt suchten, während die Landschaft um ihn herum keinen Augenblick stillstand, sich in stetigem Wandel befand, sich unaufhörlich hob und senkte, sich hob und wieder senkte...
„Oh Gott, ich glaube, mir wird schlecht“, ächzte er in sein Mikrophon. Jetzt türmte sich eine neue Woge vor ihm auf, die bis in den Himmel zu reichen schien. Der Taucheranzug mit Atemgerät änderte nichts daran, dass ihn beim Anblick dieser Wassermasse absolute Panik überkam. Bevor er Zeit hatte, richtig zu denken, war sie schon über ihm und schleuderte ihn in die Höhe. Es war ein Gefühl wie in einem Fahrstuhl und sein Magen schlug Purzelbäume. Dann trieb er oben auf dem Wellenkamm und für einen Augenblick sah er die ganze blaue Unendlichkeit des Meeres vor sich liegen.
Eine unfassbare Menge von Wasser, die sich zu allen Seiten bis zum Horizont erstreckte und nahtlos in das Blau der Atmosphäre überging, so als sei alles Sichtbare eine in sich geschlossene Kugel, eine Kugel nur aus Wasser. Serail fühlte einen neuen Anfall von Schwindel. Die gleichfarbene Weite verkleinerte den Flieger, der still inmitten dieses Bildes schwebte, zu vollkommener Bedeutungslosigkeit. Hastig öffnete er das Ventil seines Anzugs, solange er noch den Mut dazu besaß. Die Luft entwich aus den Auftriebelementen, und er sank abwärts.
Sauerstoffperlen wirbelten an seinem Gesicht vorbei und stiegen in dünnen Fäden an die Oberfläche. Langsam löste sich seine Verkrampfung. Das Meer war lichtdurchflutet, Sonnenstrahlen brachen in gleißenden Bündeln durch die Wellenschicht, die von unten aussah wie fließendes Quecksilber. Serail schaute mit zurückgelegtem Kopf den Luftblasen seines Anzugs nach, erst dann ließ er seinen Blick über die fremdartige Landschaft gleiten. Er war umgeben von zerbrechlichen Türmen in strahlenden Korallenfarben, gelb, rot und grün, die schlank und senkrecht in die Höhe ragten. Die glatten Hüllen waren von Lochmustern bedeckt. Neugierig schwamm Serail näher heran und beobachtete, wie winzige Gasblasen in regelmäßigen Abständen aus den Öffnungen perlten. Es sah aus, als würde dieses filigrane, fast zwanzig Meter hohe Gebilde gleichmäßig atmen. Die Blasen verfingen sich in Wimpernhärchen und umschlossen den Korallenkörper wie ein glitzerndes Geschmeide.
Ein Stück weiter rechts sah Serail seinen Getrauten im Säulenwald schweben. Die schwarze Gestalt wirkte zu massiv für ihre Umgebung. Man wartete unwillkürlich darauf, dass gleich die Schwerkraft wieder einsetzen und dem Unterwasserflug ein Ende bereiten würde.
„Ich sehe das alles wirklich, oder?“, bemerkte Serail in sein Sprechgerät. „Ich bin in einem außerirdischen Meer. Kaum zu glauben.“
Er bekam nur ein zerstreutes ‘Hmm’ als Antwort. Um herauszufinden, was Caravan beschäftigte, schwamm er zu ihm hinüber. Dabei experimentierte er mit der unvertrauten Fortbewegungsweise, die dem Flug durch eine Null G-Röhre ähnelte. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und spielte mit dem Widerstand des Wassers. Die Luft seiner Atemzüge reichte aus, um ihn mit gefüllten Lungen sanft einige Meter nach oben zu tragen und beim Ausatmen wieder hinab sinken zu lassen, ganz ohne zusätzliche Flossenschläge.
Als er schließlich bei Caravan ankam, stellte er fest, dass sein Getrauter mit einem Planetenbewohner Bekanntschaft schloss. Ein kleines, ballonähnliches Tier mit langer Schnauze nuckelte an Caravans vorgestrecktem Zeigefinger, und sein Getrauter stupste es spielerisch hin und her. Das Wesen piepste in Caravans Außenmikrofon. Es schien das Gestupse zu mögen.
Serail schaute den beiden eine Weile zu und grinste. Seine anfängliche Ehrfurcht vor dieser fremden Welt verflog. Die Szene ähnelte zu sehr einem Stromfilm im Stil von Retro-Disney. Fehlte nur noch die Gesangseinlage. „Du siehst aus, als würdest du es am liebsten in die Tasche stecken. Das musst du dir leider abschminken. Tiere sind an Bord nicht erwünscht.“
„Stimmt, so ein Pech. Wusstest du, dass auf der Erde fast alle einen Hund oder eine Katze hatten?“
„Wenn wir uns tatsächlich auf Archensee niederlassen, dann bin ich sicher, dass die Regierung einen Teil der irdischen DNA aus der Schublade holt und die toten Arten wiederbelebt.“
Caravan hatte begonnen, sich langsam rückwärts zu bewegen, während der Rüsselballon entschlossen hinter ihm herschwamm. Offensichtlich hatte das Tierchen ihn adoptiert. Die beiden sahen wirklich putzig aus. Nun drehte sich Caravan wie ein Kreisel, aber das kleine Alien ließ sich weiterhin nicht abschütteln. Es ruderte hastig mit den Seitenflossen und schwebte hartnäckig genau vor seiner Nasenspitze. Caravan sagte: „Ich habe gehört, der Import von fremden Spezies kann eine ökologische Katastrophe auslösen. Ich glaube, von solchen Hauruck-Experimenten sind wir geheilt.“
„Schade“, meinte Serail. „Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wäre, auf einem Pferd über den neuen Heimatplaneten zu galoppieren. Die Stromillusion ist einfach nicht dasselbe.“
„Nicht wahr? Absolut nicht dasselbe. Bei einem richtigen Pferd kannst du runterfallen und dir die Nase brechen.“
„Du bist sowas von unromantisch“, beschwerte sich Serail und paddelte davon. Als Revanche für Caravans Bemerkung versuchte er, das kleine Alien zum Mitkommen zu bewegen. Es schnupperte ihn freudig an, während Serails Fingerspitze seinen gepunkteten Bauch kraulte. Aber dann wandte es sich entschlossen wieder Caravan zu. So einfach ließ es sich nicht fortlocken.
Caravan sagte: „Ha!“
„Schon gut, es ist also nicht bestechlich“, schmunzelte Serail.
„Du hast keine Ahnung von der Kraft meines überwältigenden Charmes.“
„Wenn du mich fragst, sieht es dich eher als Vaterfigur.“
Caravan schnaubte. „Vielen Dank auch.“
Serail machte sich auf die Suche nach einem eigenen Spielgefährten. Man hatte die Taucher in Zweiergruppen heruntergeschickt, damit sie sich notfalls gegenseitig Hilfe leisten konnten, aber deshalb mussten sie ja nicht wie siamesische Zwillinge aneinander kleben. Wer sich in den Spiegelgängen der Arche zurechtfand, würde hier bestimmt nicht die Orientierung verlieren. Serail ließ seine Kamera langsam über die Landschaft wandern und sammelte ab und zu eine Probe für die Labore ein. Der Meeresboden wurde tiefer und die Säulen massiver. An einigen Stellen verwuchsen sie miteinander zu einem undurchdringlichen Labyrinth. Serail hütete sich, in das Dämmerlicht dieses Höhlengewirrs einzudringen. Stattdessen schlug er einen weiten Bogen und kehrte zu Caravan zurück. Glaubte er jedenfalls. Er starrte auf sein Positionsgerät und stellte fest, dass ihm das auch nicht weiterhalf. Er hatte vergessen, sich zu merken, an welchem Punkt sie beide sich getrennt hatten. Das war jetzt etwas peinlich.
Serail holte tief Luft und sagte ins Mikro: „Äh, Caravan? Bist du zufällig irgendwo anders hin geschwommen?“
„Nein, wieso? ... Oh, ich weiß schon. Du hast dich verfranst." Man konnte sein Grinsen förmlich hören.
„Hier unten verliert man wirklich das Gefühl für Richtungen. Ich bin schon froh, wenn ich noch weiß, wo oben und unten ist.“
„Tja, dann sollten wir wohl besser auftauchen. Der Flieger kann uns wieder einsammeln.“
Auftauchen? Seinetwegen? Das war das Letzte, was Serail wollte. Die ganze Sache war schon peinlich genug. „Findest du das nicht etwas übertrieben? Unsere Luft reicht noch für zwanzig Minuten. Davon sollten wir jede ausnutzen, oder nicht? In der kurzen Zeit wird schon nichts passieren.“
„... und bei mir schwimmt gerade etwas ganz Unglaubliches herum. Also gut, ich habe auch keine Lust, hier zu verschwinden. Bis in zwanzig Minuten.“
Caravan starrte ganz verzaubert auf seine neueste Entdeckung und dachte: Ich wünschte, Serail könnte das sehen!
Vor ihm schwebte ein schillerndes Geschöpf, das nur aus einem Wirbel hauchdünner Flügel zu bestehen schien. Sie wuchsen kreisförmig aus einer Mittelachse heraus und ähnelten durchsichtigen Rochenschwingen. Die Schwimmbewegungen waren von fremdartiger Schönheit, sie erinnerten an einen Schleiertanz und gleichzeitig an ein Turbinenrad in schneller Umdrehung. Das Wesen war fast genauso groß wie Caravan und furchtlos immer näher gekommen. Nun hatte es einen halben Meter vor seinem Gesicht angehalten und betrachtete ihn. Es besaß als Verlängerung der Mittelachse einen schlanken Hals, den ein Ring aus Facettenaugen wie ein Reif umschloss. Trotz der ständigen Kreiselbewegung seines Körpers konnte es Caravan auf diese Weise stetig fixieren. Er wagte kaum zu atmen.
Eine lange Zeit musterten sie sich gegenseitig. Dann konnte Caravan der Versuchung nicht widerstehen und streckte vorsichtig die Hand aus. Das Tier wich im selben Tempo zurück, sodass der Abstand zwischen ihnen gewahrt blieb. Leuchtende Farbmuster begannen, über seine Flügel zu pulsieren. Caravan nahm entschuldigend die Finger zurück, doch die Farbpulse verstärkten sich weiter und verwandelten jede Bewegung des Wesens in ein Feuerwerk. Sein Körper schien sich dabei zu vergrößern und wieder zusammenzuziehen. Es entfaltete sich ihm entgegen wie eine seltsame Blume, eine lautlose Explosion aus Gold und Rubin.
Caravan versuchte zu erkennen, ob es sich bei dem Effekt um eine optische Täuschung handelte. Veränderte das Tier tatsächlich seine Größe? Als er genauer hinsah, entdeckte er als Gegenstück des Halses plötzlich einen Schwanz am anderen Ende der Mittelachse. Caravan war verwirrt. Er hätte schwören können, dass es dieses Körperteil eben noch nicht gegeben hatte.
Vorsichtig setzte er sich in Bewegung und versuchte, um das Wesen herum zu schwimmen. Es kostete Caravan einige Selbstbeherrschung, nicht schneller mit den Taucherflossen zu schlagen. Dennoch hatte er das Tier erneut verärgert und die Reaktion war verblüffend. Die Formen lösten sich vor seinen Augen auf. Es war, als würde das Geschöpf sich von den Rändern her verflüchtigen, als würde das Nichts in Etappen seinen Körper auslöschen. Zuerst war noch ein Eindruck von Bewegung zu erkennen, doch gleich darauf waren seine Farben so perfekt mit der Korallenlandschaft des Hintergrundes verschmolzen, dass Caravan nicht einmal mehr erraten konnte, wo sich das Wesen aufhielt.
Er starrte eine Weile verblüfft auf den Fleck, an dem sich eben noch ein pulsierender Feuerball befunden hatte. Nun wusste er vermutlich auch, wie die zusätzlichen Körperteile so plötzlich entstanden waren: Ihre anfängliche Tarnung war aufgehoben worden, und schon wurden sie sichtbar. Caravan hoffte, dass sich das Tier freiwillig wieder zeigen würde, wenn er sich harmlos genug benahm. Er faltete die Hände hinter dem Rücken und wartete. Eine ganze Weile trieb er reglos im Wasser, dann spürte er plötzlich einen Druck wie von Fingerkuppen über seinen Körper gleiten.
Suchend wanderten unsichtbare Tentakel seinen Anzug entlang. Anscheinend hatte sich das Tier noch ein paar Schwanzspitzen mehr wachsen lassen. Das Gefühl machte Caravan zuerst nervös, aber bald entspannte er sich wieder. Es fühlte sich an wie eine Ganzkörpermassage. Langsam und gründlich kneteten die neugierigen Tentakel über seinen Rücken, seine Fußsohlen, seine Schenkel ... Jetzt pochte etwas an das Kunststoffvisier vor seinem Gesicht, und er überlegte, ob er dem Ganzen lieber ein Ende bereiten sollte. Er konnte nicht einschätzen, wie haltbar seine Ausrüstung war.
Caravan ließ etwas Luft in seinen Anzug strömen und driftete langsam nach oben. Er sah die Korallensäulen an sich vorüber gleiten. Die kleineren hatte er schon hinter sich gelassen. Sein Tiefenmesser zeigte zwölf Meter an und Caravan atmete erleichtert aus. Die Oberfläche kam näher.
Da plötzlich schlang sich etwas um seine Füße und er schrie vor Schreck. Das Wesen zog ihn energisch zurück in die Tiefe. Von etwas Unsichtbarem gepackt zu werden, erinnerte an einen Albtraum. Es erfüllte Caravan mit urtümlichem Schrecken und brachte sein Herz zum Rasen. Mit wilden Schwimmzügen versuchte er, zurück an die Oberfläche zu gelangen.
Das Meerwesen ließ nicht los. Caravan versuchte seine Panik niederzukämpfen. Er musste versuchen, wieder klar zu denken. Vielleicht war das Tier nur neugierig und wollte die Untersuchung fortsetzen. Wie ein Raubtier hatte es nicht ausgesehen. Es hatte ja nicht einmal Zähne gehabt. Sein ganzes Verhalten hatte eigentlich nicht feindselig gewirkt, sondern eher wie … scheue Faszination.
Wie lange konnte er noch unter Wasser bleiben? Sollte er Serail zur Hilfe rufen? Nein, die Zeit war inzwischen knapp geworden. Bald würde ihm die Atemluft ausgehen, und wenn er nicht aus dieser Situation herauskam, war es besser, dass sein Getrauter nichts über die Details erfuhr.
Er krümmte sich zusammen und versuchte, die Tentakel von seinen Knöcheln zu zerren. Das Tier war entschieden zäher als es aussah. Caravan zögerte eine Sekunde, dann zog er das Tauchermesser aus dem Halfter, biss die Zähne zusammen und schnitt mit einem Hieb das Gewicht von seinen Füßen. Für einen Augenblick war er frei und versuchte erneut, nach oben zu entkommen. Dann hatte das Wesen ihn eingeholt und legte sich wie ein riesiges Tuch um seinen Körper.
Er fühlte, wie seine Arme an den Rücken gepresst wurden und das Messer entglitt seiner Hand. Er versuchte zu kämpfen, und das Wesen ließ ihm genug Bewegungsfreiheit, um ihn nicht zu verletzen. Wild krümmte er sich in der Umklammerung und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Flügel, die ihn umfingen.
Merkwürdigerweise war er noch immer überzeugt, dass das Tier keine feindlichen Absichten hatte, als es seinen Atemschlauch durchstach und Caravan sein Leben in silbernen Perlen davontreiben sah.
Serail saß an Bord des Fliegers und wartete. Kein Grund zur Sorge, sagte er sich. Caravan hätte zwar seit fünf Minuten wieder an Bord sein sollen, aber seine Reserveluft war noch lange nicht aufgebraucht. Auch Matrosin Catwalk war bisher nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich hatte sein Getrauter einfach etwas besonders Spannendes entdeckt, von dem er sich nicht losreißen konnte.
Serail bemerkte Aktivität am Hintereingang des Shuttles. Die fehlende Taucherin wurde gerade hereingezogen. Inzwischen hätte sich Caravan zumindest über Funk melden müssen. Doch bestimmt war nur ein harmloser Defekt im Transmitter schuld.
Er wiederholte die Worte in seinem Kopf (nur ein technischer Defekt, es ist nur ein technischer Defekt), bis er die Stimme des Flugleiters hörte. „Tut mir leid, Serail, wir kriegen ihn nicht angepeilt. Aber das ist kein Grund zur Sorge. Es ist bestimmt nur ein technischer Defekt.“
„Was du nicht sagst.“ Serails Stimme klang bitter.
Die Leute im Flieger versuchten nicht, ihn mit weiteren tröstenden Phrasen zu beruhigen. Der Refrain in seinem Kopf hatte sich verändert, er hieß nun: ‚Ihm ist was passiert, ihm ist bestimmt was passiert!’ Irgendwann murmelte er: „Das ist alles meine Schuld“, und begann, in dem engen Raum hin und herzutigern.
„Blödsinn!“, sagte der Flugleiter so barsch, dass Serail tatsächlich zuhörte. „Wir wussten alle, dass die Erkundung gefährlich ist, dein Getrauter auch.“
Serail starrte ihn widerspenstig an. „Ich habe ihn allein gelassen. Ich habe mich nicht an die Sicherheitsregeln gehalten und unser Zweierteam getrennt. Als wir uns nicht wiederfanden, habe ich ihn überredet, trotzdem unter Wasser zu bleiben.“
„Himmel noch mal, es ist trotzdem nicht deine Schuld!“
„Bitte, Lincoln, lass mich einfach in Ruhe.“ Er ging zu seinem Sitzplatz zurück und starrte reglos an die Wand.
In den letzten Monaten hatte er sich Caravan gegenüber völlig rücksichtslos benommen, ihn vernachlässigt und kaum eine Nacht im eigenen Bett verbracht. Hatte er nicht vorhin noch gedacht, dass es ihm egal war, ob einer der Matrosen verunglückte? An seinen Getrauten hatte er dabei keinen Gedanken verschwendet. Dass es nun Caravan getroffen hatte, kam ihm wie eine Strafe für seine Gleichgültigkeit vor.
Er bemerkte kaum, dass die Maschine abhob. Der Flugleiter hatte entschieden, nicht länger zu warten, sondern eine Suchaktion zu starten. Es dauerte nicht lange, bis sich andere Shuttles der Fahndung anschlossen. Das Meer wurde Meter für Meter mit allen denkbaren Sensoren durchleuchtet, bis weit in die Nacht hinein. Aber es gab nicht das geringste Lebenszeichen. Am Ende schwand selbst die Hoffnung, Caravans Leichnam in der Wasserweite finden zu können.
Serail bewegte sich die ganze Zeit über nicht vom Fleck, starrte ins Nichts und bemerkte kaum die Besorgnis des Flugleiters, der immer wieder angespannt zu ihm herüber sah. Er war in seinem persönlichen Alptraum gefangen, es wurde Nacht, es wurde Morgen, und während all dieser Zeit hatte er keinen Muskel gerührt.
In seinem Inneren breitete sich eine betäubende Leere aus. Seine Gefühle wurden von einer eisigen Kälte überdeckt, die er von der Außenwache her kannte. Er verfolgte teilnahmslos, wie er immer weiter von jeder menschlichen Regung abgeschnitten wurde, wie sich die rettende Depression schmerzlos um seine Gedanken legte. Er kannte diesen Zustand und begrüßte ihn. Bald war nur noch ein einziges Gefühl übrig: die Sucht nach dem Strom. Der bohrende Wunsch, die Realität aus seinem Gehirn zu waschen, sein Bewusstsein mit Reizen zu überfluten, bis die Sinne verloschen. Aber hier gab es keinen Zugang zum Strom. Der Flieger war nicht verkabelt, und außerdem hatte Caravan ihn immer beschworen, sich nicht in den Rausch zu flüchten. Liebevoller, besorgter, vernünftiger ...
Randori saß in ihrer Kabine auf einer Schilfmatte und versuchte vergeblich, sich auf die Verwaltungsakten zu konzentrieren. Normalerweise empfand sie den Arbeitsplatz in ihrer Kabine als beruhigend. Er war im japanisch schlichten Stil eingerichtet und schuf eine meditative Atmosphäre. Reispapierwände schirmten sie vor allen Ablenkungen ab, ein kunstvolles Blumengesteck war der einzige Schmuck. Die fünf Lilienblüten in einem offenen Gefäß zogen den Blick auf sich und halfen Randori, ihre Gedanken zu sammeln. Aber heute fiel es ihr schwer, mit dem Strom zu schwimmen, sie war unzufrieden und gelangweilt.
Sie hatte bei ihrer Bürotätigkeit eine Haltung eingenommen, die eher an Yoga erinnerte. Mit gekreuzten Beinen saß sie auf der Schilfmatte, die Hände gefaltet und blickte ins Leere. Gleichzeitig aber waren ihre Gedanken fieberhaft beschäftigt. Sie hatte das Implantat ausgeschaltet und blätterte durch Akten, die vor ihrem inneren Auge vorüberglitten, strich Absätze, fügte Anmerkungen hinzu. Nebenbei benutzte sie einen altmodischen Füller, um sich im Realraum Notizen zu machen. – Auf Stromdateien konnte man nicht gereizt herumkauen. Irgendwann warf sie den Füller gegen die Wand.
Das spitze Geschoss hinterließ ein Loch im Reispapier und Randori ärgerte sich über ihre Unbeherrschtheit. Sie war nicht glücklich mit ihrer neuen Aufgabe.
Sie hatte nicht gewusst, wie viel stupider Papierkram nötig war, um das Schiff am Laufen zu halten. Wahrscheinlich war Lazarus heilfroh, dass sie ihm diesen Job abgejagt hatte. Zumal Randori das Gefühl nicht los wurde, dass der Ex-Kapitän immer noch sämtliche Fäden zog. Er war grundsätzlich schneller informiert als sie.
Widerwillig las sie den nächsten Absatz: ‚Die Wohnverwaltung beantragt die Räumung von zehn Passagierquartieren in Sektor P74-75, um eine unabhängige Klimaanlage für den Stadtteil 345.1 Mandela zu installieren. Nach Paragraph 264 …’