Die vertrixte Adventsmaschine - Ulrike Raimer-Nolte - E-Book

Die vertrixte Adventsmaschine E-Book

Ulrike Raimer-Nolte

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Beschreibung

Der Weihnachtsmann zu sein, ist nicht immer leicht, findet Ladislaus Wunderlich. Jedes Jahr wird sein magisches Büro unter einer riesigen Lawine von Wunschzetteln begraben. Fast ist er entschlossen, das Fest dieses Jahr einfach ausfallen zu lassen … Bis er der gewitzten Erfinderin Trixi begegnet, die auf einem alten Kahn im Hamburger Hafen lebt. Wird es ihr gelingen, Weihnachten zu retten? Ein fantastisches Abenteuer beginnt. ------ Autorin: Ulrike Raimer-Nolte ist preisgekrönte Übersetzerin für englische und skandinavische Literatur. Außerdem hat ein queeres Märchenbuch geschrieben und mit ihrem fantasievollen Zukunftsroman "FünfSeelen" den Deutschen Science-Fiction-Preis gewonnen - als einzige Frau in 30 Jahren!

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Seitenzahl: 86

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Die vertrixte Adventsmaschine

Texte: © Copyright by Ulrike Raimer-Nolte

Umschlaggestaltung: © Copyright by Ulrike Raimer-Nolte

Verlag:Ulrike Raimer-Nolte

Stresemannallee [email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

1

Es war der 1. Dezember und Ladislaus Wunderlich schlurfte mit schweren Schritten das schier endlose Treppenhaus empor. Die alten Lager der Hamburger Speicherstadt ragten gute zwanzig Meter hoch in den Himmel und sein Büro befand sich ganz oben unter dem Dach. Die hölzernen Stufen knirschten unter seinen Füßen. Der Geruch von gelagertem Kaffee und Brackwasser hing in der Luft.

   Ladislaus hatte keine Lust, im Dachgeschoss anzukommen. Seine schlaksige Gestalt sah aus, als sei sie unter einem schweren Sack gebeugt, während er sich langsam die Treppen empor schleppte. Eine altmodische, verstaubte Anzugjacke schlotterte traurig um seine schmalen Schultern. Bei dem Gedanken an die Arbeit, die auf ihn wartete, überkam ihn bleierne Müdigkeit. Der Weihnachtsstress wurde Jahr um Jahr schlimmer. Vielleicht sollte er den ganzen Kram einfach hinschmeißen. Ladislaus war ziemlich sicher, dass er auf ein Burn-Out zusteuerte.

   Was ein echtes Problem war. Schließlich war er der Weihnachtsmann.

   Einige Minuten später stand er vor der massigen Holztür, die zum Dachboden führte. Er holte einen großen goldenen Schlüssel aus der Tasche, der mit einem Ornament aus Tannenzweigen verziert war. Zögernd steckte er ihn ins Schloss und drehte ihn um. Dann drückte er die Klinke herunter und zog die Tür einen ersten Spalt weit auf. Dahinter ertönte ein seltsames Geräusch, eine Mischung aus Rascheln und Wispern, das immer lauter wurde. Es ähnelte dem Anschwellen einer näher kommenden Lawine. Hastig sprang Ladislaus zur Seite.   

   Kaum war er aus dem Weg, wurde die Tür von innen aufgedrückt und eine Flut von Papier ergoss sich donnernd über das Treppenhaus. Briefbögen wirbelten durch die Luft wie ein Schneesturm. Umschläge flatterten und segelten über das Geländer in die Tiefe.

   „Verdammt“, knurrte Ladislaus. „War ja klar, dass der Dezember wieder so anfängt.“

   Vorsichtig schaute er um die Tür herum. Drinnen türmten sich die Papierstapel bis zur Decke und ähnelten Schneeverwehungen. In der Mitte führte ein schmaler Pfad hindurch, der bis in die Unendlichkeit zu reichen schien. Ladislaus seufzte und trat durch die Tür.

   Kaum überquerte er die Schwelle, umgab ihn ein funkelnder Lichtschimmer wie von tausend Weihnachtskerzen, und sein Aussehen verwandelte sich. Der schlaksige junge Mann verschwand und wurde durch eine Gestalt ersetzt, die wohl jeder auf den ersten Blick erkannt hätte: weißer Bart, buschige Augenbrauen, roter Mantel über einem dick gewölbten Bauch.

   Wann immer er seiner Arbeit nachging, sah er so aus, wie die Leute es erwarteten. Allerdings hatte seine Erscheinung in über tausend Jahren einige Veränderungen durchgemacht. Er erinnerte sich nur noch schemenhaft an seine Anfangszeit. Damals war er in rotes Hirschleder gekleidet gewesen, sein Schlitten war mit dem Wintersturm geflogen und hatte die Wilde Jagd der Rauhnächte angeführt. Er seufzte wehmütig. Heutzutage sah er aus wie eine Cola-Reklame. „Ho, ho, ho“, sagte er versuchsweise mit tiefer Bassstimme. Besonders fröhlich klang es nicht.

   Der Gang inmitten der berghohen Papierwände führte ihn durch eine lange Reihe von Zimmern, die alle bis obenhin voll gestopft waren. Anscheinend würde er schon wieder anbauen müssen. Ladislaus fluchte leise vor sich hin, schloss die Augen und konzentrierte sich.

   „Wo ist noch Platz?“, murmelte er und tastete in Gedanken die Form des Dachbodens ab. Ein Großteil der Räume lag bereits außerhalb der Realität. Der Speicher war von Innen ungefähr zehnmal so groß wie von Außen, um den ganzen unerledigten Papierkram unterzubringen. Die Weihnachtsmagie hatte sich ihren Weg an Orte gebahnt, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen. Sogar Ladislaus verstand nicht genau, wo die Wege seines Büros hinführten.

   Jetzt marschierte er bis ans Ende einer Sackgasse und gab dem Gemäuer dahinter einen kleinen magischen Stoß. Gehorsam wichen die Außenwände des Gebäudes zurück, und vor ihm öffnete sich ein leerer, unbenutzter Saal. In der Mitte befand sich ein einsamer Schreibtisch mit einem thronähnlichen Stuhl.

   Ladislaus ließ sich auf das Sitzpolster aus rotem Samt sinken. „Also dann, an die Arbeit“, sagte er säuerlich, und sofort begannen Briefe wie Schneeflocken auf seinen Tisch zu rieseln. Sie sammelten sich in einer Ablage mit der goldenen Aufschrift Unerledigt

2

Trixi wachte davon auf, dass ihr Staubsauger die Computermaus durch die Werkstatt jagte. Das dröhnende Sauggeräusch ließ sie mitten aus ihren Träumen hochfahren. Vor Schreck setzte sie sich aufrecht hin, verlor das Gleichgewicht und fiel aus ihrer Hängematte auf den Werkstattboden.

   Sie blieb einen Moment liegen und starrte zu den Metallstreben der Decke hoch. Ihre Ponyhaare hingen ihr in die Augen und der Rest stand verstrubbelt zu allen Seiten ab, als habe sie vor dem Zubettgehen in eine Steckdose gefasst. Was gar nicht so abwegig war. Ihre Werkstatt war ein Chaos aus Maschinen, Elektronik und Kabelsalat. Auf Werkbänken aus alten Schiffsplanken standen halbfertige Projekte, die sie irgendwann aufgegeben hatte. Der alte Kronleuchter über ihrem Kopf - ein Mitbringsel vom Flohmarkt - unterhielt sich im Morsealphabet mit der Kaffeemaschine, indem er seine Glühbirnen rhythmisch an- und ausschaltete.

   Trixi tastete an ihrem Hinterkopf nach einer Prellung. Sie war ziemlich hart aufgeschlagen und von dem flackernden Licht wurde ihr schwummerig. Trübe Wintersonne fiel durch eine Reihe von Bullaugen, aber davon wurde das wilde Lichtkonzert über ihrem Kopf auch nicht besser. Der Boden schwankte und schaukelte kaum merklich, und Trixi stöhnte. „Der Tag fängt ja toll an.“

   Normalerweise fand sie, dass es für ihre Werkstatt keinen besseren Platz auf der Welt gab als diesen: ein abgewracktes Dampfschiff, das früher einmal Gewürze, Tropenhölzer, Kakao und andere exotische Güter rund um den Erdball gefahren hatte. NEPTUN KOLONIALWAREN stand immer noch in abgeblätterten Buchstaben außen am Rumpf. Der Dampfer war in einem kleinen, vergessenen Seitenarm des Hamburger Hafens verankert, wo sich niemand um ihn (und um Trixi) scherte. Aber wenn man einen Brummschädel hatte, war Wellengang kein Vergnügen.

   Der Staubsauger war zu ihr gerollt und rüsselte besorgt an ihr herum. „Schon gut, Fussel“, sagte sie und tätschelte sein Gehäuse. „Mach dir keine Sorgen. Das wird höchstens eine Beule.“

   Fussel gab ein beruhigtes „Wruuuumm“ von sich. Mit Beulen kannte er sich aus, zumindest an seinem eigenen Gehäuse. Sein Orientierungssinn ließ zu wünschen übrig und er fuhr ständig gegen Möbelstücke. An fast allen Schränken befanden sich Kratzer und Schmarren in Fussel-Höhe. Deshalb gelang es ihm auch fast nie, die Maus zu fangen. Obwohl er nichts lieber tat, als ihr im Zickzack hinterher zu sausen.

   Trixi richtete sich etwas mühsam auf und warf einen Blick durch die Werkstatt. Unter einem Schrank lugte die Spitze eines Schwanzkabels hervor. Dorthin hatte Minnie sich also diesmal geflüchtet. Eine smarte Computermaus hatte leider ihre Nachteile. Sie war nie da, wenn man sie brauchte, sondern hockte immer in irgendwelchen schwer erreichbaren Ecken.

   Halbwach steuerte Trixi auf die Kaffeemaschine zu, die automatisch zu brodeln anfing, sobald sie sich näherte, und ihre Spezialmischung aus heißer Schokolade und Espresso zauberte. An einem Wintermorgen, wenn die Kälte im Unterdeck durch jede Ritze kroch, gab es nichts Besseres als ein anständiges Heißgetränk. Mit einem Fingerschnippen ließ Trixi das Radio anspringen. Süßliche Weihnachtsmusik schallte ihr entgegen. „Jingle bells, jingle bells …“ dudelte es aus dem Lautsprecher, begleitet von nervigem Glöckchenklang.

   Mist, es war also schon wieder soweit. In ihrer abgelegenen Werkstatt hätte Trixi fast vergessen, dass jetzt die Adventszeit losbrach. Kitsch und Kaufrausch. Tannenduft, Nächstenliebe und flackernde Kerzen.

   Trixi schnaubte. Sie war ein überzeugter Weihnachtsmuffel. An fliegende Rentiere hatte sie nicht einmal geglaubt, als sie 5 gewesen war. Die Menschen da draußen sollten sie mit ihrem gefühlsduseligen Kram in Ruhe lassen.

   Durch ihren Schiffsschornstein kam bestimmt kein dicker Mann, der „Ho, ho, ho“ sagte.

3

An den lieben, guten Weinachtsman,stand auf dem rosaroten Umschlag, der ungeduldig in der Ablage herumzuckte und -flatterte.

   „Ja, ja, immer der Reihe nach“, brummelte Ladislaus und holte den Wunschzettel heraus. Darauf prangte wie üblich eine recht lange Liste. 1 Handy mit vielen Games (Conni und ihr Poni), 1 Ranzen Nixenprinzessin, 1 Supermodel Puppe Glitter Girl ... So ging es noch eine Weile weiter. Unterschrieben war mit Deine ganz brave Helena Anabell.

   Ohne wirklich hinzuschauen, tippte Ladislaus mit dem Finger auf einen beliebigen Punkt der Liste. Kurz hörte man Glöckchenbimmeln, sah einen goldenen Lichtglanz und roch den Duft von Vanilleplätzchen. Dann erschien auf dem Tisch ein Karton mit englischer Aufschrift, die Ladislaus nicht verstand. Das Werbebild zeigte ein Einhorn mit geblümtem Fell und eine Computertastatur.

   Ladislaus zuckte mit den Schultern und griff nach dem Geschenkpapier, das in einer nie endenden Rolle auf seinem Tisch bereit lag. In ein paar Sekunden war das Paket fachgerecht verpackt, inklusive roter Schleife und dem schnörkeligen Namenszug ‚Helena Anabell’. Ladislaus stand mit dem fertigen Weihnachtsgeschenk auf und trat ans Fenster.

   Seine Büroräume hier hatten immer ein Fenster, auch wenn sie sich in der Mitte des Speicherhauses oder sogar – wie in diesem Fall – in einer anderen Dimension befanden. Statt der Dächer von Hamburg sah man draußen eine Landschaft aus weißen Schäfchenwolken, die sich bis in die Ewigkeit erstreckten. Ladislaus entriegelte die altmodischen Fensterläden und hielt das Paket nach draußen. Mit sanftem Harfenklang schwebte es von seinen Handflächen in die Höhe und segelte davon.

   Ladislaus schaute ihm eine Weile hinterher, auch wenn er sich eine solche Bummelei eigentlich nicht leisten konnte. Während er herumstand, wuchs der Stapel in seiner Ablage bestimmt schon wieder um mehrere Zentimeter. Aber bis Weihnachten alles abzuarbeiten, war sowieso unmöglich, also spielten ein paar versäumte Minuten wohl keine Rolle.

   Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie vor rund zwei Jahrhunderten die ersten Wunschzettel aufgetaucht waren. Zuerst hatte er sich sogar über die Briefe gefreut, aber da war ihm nicht klar gewesen, welches Ausmaß dieser Brauch annehmen würde. Die moderne Zeit hatte ihn zu einem Paketboten degradiert und man schickte ihm Bestellungen wie einem Warenhaus.

   Ladislaus seufzte, während er in die Weite des Himmels starrte. Früher war alles so viel einfacher gewesen. Da war er noch selbst dort draußen durch die Wolken gestreift. Er hatte die Herzenswünsche der Menschen aus ihren Gedanken gelesen und sie erfüllt, wenn das Schicksal es zuließ:

   Ein krankes Baby wurde beim Schein der Kerzen plötzlich gesund und hustete nicht mehr die Nächte hindurch. In der Vorratskammer fand sich wundersamerweise genug Essen für die ganze Familie. Der Vater kehrte über die Feiertage unversehrt aus dem Krieg zurück. Viele Jahrhunderte lang war Weihnachten eine Zeit voller Magie gewesen, umhüllt von einem göttlichen Schimmer.