Fungipedia. Die erstaunliche Welt der Pilze - Lawrence Millman - E-Book

Fungipedia. Die erstaunliche Welt der Pilze E-Book

Lawrence Millman

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Beschreibung

Das Reich der Pilze ist noch immer voller Geheimnisse: Sind Pilze wirklich enger mit uns Menschen verwandt als mit Pflanzen? Gibt es tatsächlich Insekten, die Pilze züchten? Und warum ernähren sich bestimmte Pilze gerne von Strahlungsresten, Kakerlakenfühlern und Dung? Autor und Mykologe Lawrence Millman kombiniert ökologisches, ethnografisches, historisches und zeitgenössisches Wissen und lässt uns in mehr als 180 Kurztexten in die Welt der Pilze eintauchen. Von A bis Z hat er zu unterschiedlichsten Themen Interessantes und Wissenswertes zusammengestellt: Die Spanne reicht von »Alice im Wunderland« bis zu Heilpilzen und Feenringen, von Kombucha über den Fluch der Pharaonen bis hin zu Zombie-Ameisen, und Millman erzählt alles so, dass Hobbysammler wie Pilzspezialisten Neues entdecken können. Denn die spannende Welt der Pilze liegt direkt vor unserer Haustür.

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Titel

Fungipedia

Die erstaunliche Welt der Pilze

Von Lawrence Millman

Aus dem Englischen von Roberta Schneider

Widmung

Ich widme dieses Buch allen Pilzen, auch den giftigen. In Verehrung für ihre Fähigkeit, mich zu verblüffen, mich zu erheitern und mich immer wieder mit Demut zu erfüllen.

Die Welt ist von den Pilzen abhängig, weil sie eine bedeutende Rolle im weltweiten Stoff- und Energiekreislauf spielen.

E.O. Wilson

Widme dich den Pilzen, und alles andere ergibt sich.

A.R. Ammons

Es hat etwas absolut Faszinierendes für mich, in genau dem Moment anwesend zu sein, in dem ein Pilz aus dem Boden schießt.

John Cage

Mykologie ist immer besser als Urologie.

Bryce Kendrick

Vorwort

»Doch selbst der bescheidenste Pilz lässt ein Leben erkennen, das mit unserem verwandt ist«, schrieb Henry David Thoreau im Jahr 1858 in sein Tagebuch. Diese Beobachtung zeigt die für Thoreau typische Hellsichtigkeit; neuere phylogenetische Untersuchungen haben ergeben, dass der Ast, den die Pilze im Baum des Lebens besetzen, dem Ast, auf dem wir sitzen, erstaunlich nah ist. Dieselben Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Leser oder die Leserin dieser Fungipedia und die Pfifferlinge, die er oder sie zum Kochen putzt, denselben entfernten Vorfahren haben, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Lebewesen handelt, das den heutigen Kragengeißeltierchen (Choanoflagellata) nicht unähnlich war. Doch die Ähnlichkeiten zwischen den Angehörigen des Reichs der Pilze und uns beschränken sich nicht auf einen gemeinsamen Vorfahren. Weder die Pilze noch wir besitzen das grüne Pigment Chlorophyll, weshalb wir nicht in der Lage sind, aus Wasser und CO² mithilfe von Sonnenlicht Zucker herzustellen, und gezwungen sind, uns von ­toter oder lebender organischer Materie zu ernähren, sei sie pflanzlich oder tierisch. Wir haben beide spezielle Enzyme entwickelt, die es uns erlauben, diese Materie zu verdauen, auch wenn diese Enzyme bei uns innerhalb unseres Körpers zum Einsatz kommen, während Pilze ihre Nahrung extern verdauen.

Wenn es ums Essen geht, sind manche Pilze extrem wählerisch: so verspeist Herpomyces stylopygae ausschließlich die Haare von Kakerlakenfühlern, während Cephalosporium lamellaecola an den Spitzen von Stalaktiten in Höhlen knabbert. Trichomyceten leben im Darm von wasserbewohnenden Gliederfüßern wie Mückenlarven, und die unlängst entdeckte Art Alciphila vulgaris besiedelt Laubstreu, das mit Elchurin getränkt ist. Solche Substrate klingen tatsächlich eher angenehm im Vergleich zu denen im Umfeld der Überreste des Kernkraftwerks von Tschernobyl in der Ukraine, wo sich diverse Pilzarten an der noch immer erhöhten Strahlung laben.

In Anbetracht der Ähnlichkeiten zwischen den Pilzen und uns ist es nicht überraschend, dass wir ein anderes Verhältnis zu Pilzen als zu Pflanzen haben. Sie rufen Angstreaktionen, Entzückung und Ekel hervor (der griechische Arzt Nikandros aus Kolophon bezeichnete Pilze als »das teuflische Enzym der Erde«), regen an zum Ersinnen von fiktiven Monstern, Briefmarkenmotiven und Anthropomorphismen und werden – wie zum Beispiel von der mazatekischen Schamanin María Sabina, die Zauberpilze als »Kinder Gottes« bezeichnet hatte – vergöttert. Sie dienen auch als Inspirationsquelle für Zeichentrickfilme: Walt Disney gab dem Fliegenpilz (Amanita muscaria) eine Rolle in der Szene mit den tanzenden Pilzen in Fantasia, während anmutig schwankendes Schilfrohr oder eine Segge im gleichen Film nicht einmal eine Nebenrolle abbekam.

Auch die Frage, wie die Pilze in unsere Welt gekommen sind, regte stets die Fantasie der Menschen an. In Litauen hielt man Pilze früher für die Finger von Velnias, dem einäugigen Totengott, der ebendiese Finger aus dem Boden streckt, um die Armen zu speisen. In Teilen Indiens, Bangladeschs und Ostasiens glaubt man bis heute, Pilze würden aus Hundeurin entstehen. Wesentlich verbreiteter ist der Glaube, dass sie vielmehr aus überirdischen Gefilden zu uns gekommen sind als aus irdischen oder unterirdischen. Die alten Griechen dachten, sie würden aus Samen wachsen, die Zeus mit dem Blitz schickte; eine alte persische Legende führt ihre Existenz auf eine Himmelsgöttin zurück, die Läuse aus ihren Kleidern schüttelt, und die Inuit im arktischen Zentralkanada glauben, dass Pilze anaq (Exkremente) von Sternschnuppen seien, da sie oft am Morgen in der Tundra auftauchen, nachdem eine Sternschnuppe über den Nachthimmel gezogen ist. Ich bezweifele, dass jemals jemand die Vermutung geäußert hat, dass eine Sternschnuppe einen Löwenzahn in seinem Garten hinterlassen habe.

In dieser nicht übertrieben wissenschaftlichen Fungipedia verwende ich, wann immer es möglich ist, die Trivialnamen anstelle der wissenschaftlichen Namen. Außerdem gehe ich mit Vokabeln wie möglicherweise, wahrscheinlich, normalerweise und üblicherweise recht verschwenderisch um, da die Mykologie (von Altgriechisch mykes, »Pilz«, und lógos, »Wort/Rede«) eine recht junge Disziplin ist und viele ihrer Aspekte noch nicht komplett oder nicht einmal ansatzweise erforscht sind. Außerdem hat so gut wie jede bekannte mykologische Regel Ausnahmen. So kann zum Beispiel ein holzbewohnender Pilz, der eigentlich auf Nadelholz wachsen müsste, gelegentlich auch auf Laubholz Quartier beziehen. Vielleicht hat das Myzel ­einen Fehler gemacht. ­Vielleicht haben herausfordernde Wetterbedingungen es dazu bewogen, eine Notunterkunft aufzusuchen. Vielleicht will der Pilz einfach nur anders sein. Oder vielleicht will er uns Menschen verwirren oder Demut lehren. Jede Person, die einmal mehrere Stunden mit dem verzweifelten Versuch zugebracht hat, einen Pilz zu bestimmen, wird das anthropomorphisierende letzte Beispiel nachvollziehen können.

Inzwischen hat der Leser oder die Leserin die Pfifferlinge wahrscheinlich fertig geputzt und fragt sich, ob er oder sie die Pilze zu einem Steak servieren oder sie in ein Omelett oder eine Bohnensuppe geben soll. Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, sollte man James Beard oder Julia Child konsultieren, anstatt dieses Buch danach zu durchforsten, denn es ist kein Kochbuch. Es präsentiert vielmehr die Grundlagen der Mykologie neben einem Sammelsurium von Kuriositäten aus dem Reich der Pilze. Es enthält auch biografische Informationen über Mykologen wie den Röhrlingsexperten Walter Wally Snell, der einmal Catcher bei den Boston Red Sox war.

An dieser Stelle sollte ich gestehen, dass ich an Pilzen die Essbarkeit für den am wenigsten interessanten Aspekt ansehe. Daher werde ich in den meisten Fällen nicht auf die Essbarkeit der entsprechenden Arten eingehen, es sei denn, dass es sich bei der Art zufällig um den Maisbrand (Ustilago maydis) handelt, der von den Azteken gegessen wurde. Oder dass es sich bei dem Essenden um eine Milbe, einen Käfer oder sogar um eine Amöbe handelt, bestimmte Arten, deren Überleben von Pilzen abhängt. Oder wenn der Speisende selbst ein Pilz ist, der dem Verzehr seiner Verwandtschaft fröhnt. Ein Beispiel für so einen Pilzkannibalen ist der Parasit Hypomyces lactiflorum, der Pilze der Gattungen Russula und Lactarius befällt und sie in sogenannte Hummerpilze verwandelt. So wie wir Pilze essen, essen bestimmte Pilze uns, oder zumindest Teile von uns; sie finden sich in unserer Mundhöhle, auf unserer Haut, in unserer Lunge, in unserem Vaginaltrakt und auf unseren Nägeln. Es sind zweihundertsiebenundsechzig verschiedene in unserem Verdauungstrakt lebende Arten dokumentiert, die dort wahrscheinlich die Zuckerverdauung unterstützen. Es kommt sogar vor, dass Pilze in unserem Gehirn gedeihen. Ich war einmal bei einer von einem befreundeten Pathologen durchgeführten Autopsie dabei und habe eine beträchtliche Myzelmasse gesehen, welche den Hirnbalken, also jene Nervenfasern, welche die Hirnhälften verbinden, umwuchert hatte – ein beeindruckender Anblick.

Man könnte den betreffenden Pilz (mutmaßlich Aspergillus fumigatus) als ein Pathogen bezeichnen, doch das Gehirn gehörte einer vom Leben auf der Straße gezeichneten Person, die – neben weiteren Beschwerden – wahrscheinlich AIDS zum Opfer gefallen war. Gesunde Personen verfügen über Zellen namens Makrophagen und Neutrophile, die Pilzinfektionen abzuwehren vermögen, aber bei diesem Individuum war das nicht der Fall. Sein geschädigtes Immunsystem hat dem Pilz bereitwillig Einlass gewährt. Tatsächlich können eine ganze Menge von in der Regel harmlosen Pilzen schwere Schäden bei immungeschädigten Individuen auslösen. Und das betrifft nicht nur Menschen: Zahlreiche Pilze, harmlos oder weniger harmlos, können sich auf andere Lebewesen mit geschädigtem Immunsystem ähnlich zerstörerisch auswirken, worauf ich in mehreren Einträgen in dieser Fungipedia eingehen werde.

Natürlich gibt es wesentliche Unterschiede zwischen den Pilzen und uns. Die Pilze haben es nicht nur geschafft, ohne Supermärkte, mechanisierte Fortbewegung, Gesundheitseinrichtungen, Hilfsmittel wie Computer und ­Tagesstätte für ihre Kinder auszukommen, sondern sind – im Gegensatz zu einem Großteil von uns – obendrein ausgezeichnete Ökologen. Man denke zum Beispiel an Bäume, die von einem Specht angepickt, einem Blitz getroffen, einem Auto gestreift worden oder einfach nur sehr alt sind. Man könnte sagen, dass solche Bäume immunkompromittiert sind. Ohne die Fähigkeit der Pilze, Stoffe wiederzuverwerten, würden sie ewig als Baumleichen herumstehen und der Boden würde nicht die Nährstoffe erhalten, von denen die meisten Pflanzen abhängig sind. Irgendwann würde es kaum noch Pflanzen geben, und die Lebewesen, die von pflanzlichen Nährstoffen abhängig sind, würden erst recht immer seltener werden. Der Zustand unseres Planeten wäre bald noch beklagenswerter, als er ohnehin schon ist.

Wenden wir uns nun den gesunden Bäumen und anderen Pflanzen zu. Zwischen 90 und 95 Prozent von ihnen haben Pilze als Lebensgefährten, mit denen sie über ihre Wurzeln Nährstoffe-gegen-Kohlenhydrate-Beziehungen führen.

Tatsächlich ist es möglich, dass Pflanzen die Wurzeln im Laufe der Evolution kurz nach ihrem Landgang ausgebildet haben, um mit den Pilzen Verbindung aufzunehmen. Wenn Pflanzen sprechen könnten, würden sie vielleicht zu ihren Pilzpartnern sagen: »Ich gebe dir Kohlenhydrate, wenn du mir Stickstoff und Phosphate gibst und mir bei der Wasseraufnahme hilfst.« Worauf der Pilz antworten könnte: »Sehr gerne, Kollege.«

Tatsächlich können Pflanzen und Pilze mithilfe von membrangängigen Stoffen, durch die sie ihr Bedürfnis nach einem bestimmten Nährstoff ausdrücken, miteinander sprechen oder zumindest kommunizieren. Solche Beziehungen werden als Mykorrhiza bezeichnet, von Altgriechisch mykes »Pilz« und rhiza »Wurzel«. Eine ­Ektomykorrhiza ist eine Beziehung, bei der der Pilz Scheiden um die Wurzeln einer Pflanze ausbildet, während der Pilz in einer Endomykorrhiza in die Zellen der Wurzel eindringt. Ohne eine dieser beiden Beziehungsformen wären Bäume und andere Pflanzen nur ein Schatten dessen, was sie in Verbindung mit dem Pilzpartner sind. An dieser Stelle könnte ich noch hinzufügen, dass Mykorrhizapilze große Mengen CO² im Waldboden binden und es so daran hindern, in die ohnehin schon zu viel Kohlendioxid enthaltende Atmosphäre zu entweichen.

In jeder Beziehung kann der eine Partner den anderen leiden lassen. So ist es auch bei parasitischen Pilzen und ihren Wirten. Man denke nur an die zahlreichen Ophiocordyceps-Arten, die Insekten oder ihre Larven befallen. Man denke auch an das von Pilzen der Gattung Ophiostoma verursachte Ulmensterben, den Kastanienrindenkrebs (Cryphonectria parasitica), das Falsche Weiße Stängelbecherchen (Hymenoscyphus fraxineus), dessen Nebenfruchtform das Eschentriebsterben auslöst, und den Obstbaumkrebs (Neonectria sp.). Man denke an die Hallimasche (Armillaria sp.), die den Nährstofftransport von den Wurzeln eines Baums in seinen Stamm behindern. Oder an die Cladosporium-Arten, welche Buntglasfenster beschädigen.

Es ist ein Jammer für die Wirte, dass sie keine Kontaktverbote gegen solche unangenehmen Partner erwirken können. Aber wenn der entsprechende Pilz mit Worten anstelle von membrangängigen Stoffen gesegnet wäre, könnte er sich gegen die Vorwürfe des Wirts wehren, indem er antwortete: »Wir Parasiten wollen doch auch nur leben!« Die Philosophischeren unter ihnen könnten hinzufügen: »Aus dem Tod entsteht das Leben.«

Holzbewohnende parasitische Pilze schaffen Wohnraum für Höhlenbrüter und Nischen für Wirbellose mit besonderen Ansprüchen, etwa für Käfer, Spinnen und Ringelwürmer. Da sie in der Regel ältere Bäume infizieren, öffnen sie das Blätterdach für jüngere Bäume; außerdem können Pflanzen am Boden Raum einnehmen, der ihnen vorher versagt gewesen ist. »Schönen Dank fürs Renovieren, Freunde«, würden diese jüngeren Bäume und anderen Pflanzen vielleicht zu den parasitischen Pilzen sagen, wenn sie sprechen könnten.

Als Lebensgemeinschaften von mindestens einem Pilz und einer Alge oder einem Cyanobakterium (veraltet: Blaualge; ein Bakterium, das Energie aus Fotosynthese bezieht) stellen Flechten eine andere Art der parasitischen Beziehung dar, in der der Pilz seinen Partner gewissermaßen versklavt. Auch wenn die Mykobionten – also die pilzlichen Anteile der Flechten – vollwertige Mitglieder im Reich der Pilze sind, nicht weniger als Austernpilze oder Knollenblätterpilze, interessieren sich Mykologen und Lichenologen oft nicht weiter für das Fachgebiet des jeweils anderen. Tatsächlich ist mein eigenes Wissen über Flechten eher begrenzt, weshalb ich nur sehr wenig an Information über sie in diese Fungipedia habe einfließen lassen.

Vielleicht hat der Leser oder die Leserin gar keine Pfifferlinge geputzt. Vielleicht hat er oder sie stattdessen einen Tee aus Chaga oder Reishi aufgebrüht, um Gicht oder Hämorrhoiden zu kurieren oder zumindest sein oder ihr Immunsystem zu stärken. Vielleicht nimmt er oder sie aus demselben Grund auch Nahrungsergänzungsmittel aus Schmetterlings-Tramete oder Raupenpilz in Kapselform ein. Denn Heilmittel aus Pilzen sind weltweit hoch im Kurs. Inzwischen werden Mykologen fast schon häufiger gefragt: »Hat der Heilwirkung?« als »Ist der essbar?«

Ich komme in diesem Band mehrfach auf das Thema zu sprechen, doch an dieser Stelle möchte ich kurz ­erwähnen, welche meine bevorzugte Pilzmedizin ist: ein Waldspaziergang zur Pilzsuche. Allein die Vielzahl von Formen (Zungen! Ohren! Phalli! Korallen! Zähne! Vogelnester! Orangenschalen!) macht einen wenn nicht gesünder, dann zumindest beschwingter. Und da weniger als fünf Prozent aller Pilzarten beschrieben wurden, hat man gute Chancen, eine der Wissenschaft noch unbekannte Art zu finden. Und selbst wenn man nur eine altbekannte Art findet, kann es immer noch passieren, dass man reagiert wie der Komponist und Mykologe John Cage, der seine Freude über die Begegnung mit einem stinknormalen Pilz in seinem Tagebucheintrag »M« folgendermaßen kundtut: »Welch ein Glück: Wir leben beide.«

Aksakow, Sergei

Sergei Aksakow (1791–1859) war ein russischer Gutsherr und Schriftsteller, über dessen Memoiren Eine Familienchronik sein Kollege Nikolai Gogol gesagt haben soll, dass keiner der russischen Schriftsteller die Natur in so kräftigen und leuchtenden Farben schildern könne wie er. Am Ende seines Lebens begann Aksakow ein Buch mit dem Titel Bemerkungen und Beobachtungen eines Pilzjägers. Das unvollendete Werk enthält folgende Überlegung: »Das Geheimnis der Pilzentstehung liegt in den Baumwurzeln […] Langsam sterben sie [die Stümpfe gefällter Bäume] ab, bis schließlich die Wurzeln verrotten und vertrocknen und keine Pilze mehr entstehen […] Die völlige Abhängigkeit der Pilzentstehung vom Saft der Bäume […] wird umso überzeugender dadurch bewiesen, dass viele Bäume ausschließlich eigene Arten von Pilzen hervorbringen.«

Dies klingt, als hätte Aksakow sowohl die Existenz als auch die Bedeutung der symbiotischen Beziehung zwischen Mykorrhizapilzen und Bäumen erkannt, bevor diese Beziehung von den eigentlichen Mykologen entdeckt wurde. Tatsächlich wurde der Begriff Mykorrhiza erst im Jahr 1885 durch den deutschen Wissenschaftler Albert Bernhard Frank geprägt.

Aksakow prägte die Wendung »bescheidene Jagd«; heutzutage wird in Russland die Fügung »stille Jagd« allgemein fürs Pilzesuchen verwendet. Die Formulierung bezieht sich nicht nur auf die Abwesenheit einer Schusswaffe bei der Jagd nach Pilzen, sondern auch auf die Neigung der Pilzjäger, nicht preiszugeben, wo sie sammeln, um zu verhindern, dass andere ihre Fundstellen plündern.

Siehe auch Ektomykorrhizapilze

Alice im Wunderland

Der wundervoll surreale Roman von Charles Dodgson, besser bekannt als Lewis Carroll, aus dem Jahr 1865, in dem der vielleicht berühmteste Pilz der Literatur vorkommt. Auf diesem Pilz sitzt die fast ebenso berühmte wasserpfeiferauchende Raupe. »Von der einen Seite [vom Pilz] wirst du größer und von der anderen kleiner«, erklärt sie der Titelheldin Alice, die, abenteuerlustig wie sie ist, beschließt, herauszufinden, ob diese merkwürdige Behauptung der Wahrheit entspricht. Es stellt sich heraus, dass dies der Fall ist.

Wahrscheinlich hat Carroll Kenntnis über den entsprechenden Pilz – mutmaßlich handelt es sich um den Fliegenpilz (Amanita muscaria) – durch die Lektüre des Buchs The Seven Sisters of Sleep des englischen Mykologen Mordecai Cubitt Cooke erlangt. Dieses Buch beschreibt die Auswirkungen des Verzehrs des Fliegenpilzes folgendermaßen: »Fehleinschätzungen von Größen und Entfernungen kommen häufig vor […] ein auf der Straße liegender Strohhalm wird zu einem unüberwindbar erscheinenden Hindernis.« Hierzu ist anzumerken, dass der erste Illustrator von Carrolls Buch, John Tenniel, keinen Fliegenpilz, sondern einen unspezifischen Pilz abgebildet hat. Carrolls eigene Illustration der Urschrift Alice’s Adventures Under Ground zeigt ebenfalls einen allgemein gehaltenen Pilz.

Alice wurde zu einer beliebten Gestalt der Gegenkultur der 1960er. So enthält zum Beispiel das Lied White Rabbit von Grace Slick (Jefferson Airplane) folgende berühmte Zeilen: »And you’ve just had some kind of mushroom, and your mind is moving slow / Go ask Alice, I think she’ll know.« (»Du hast gerade einen gewissen Pilz gegessen und dein Verstand arbeitet langsamer / Geh und frag Alice, sie kennt sich damit aus.«) Grace selbst kannte sich definitiv damit aus.

Siehe auch Cooke, Mordecai Cubitt, Fliegenpilz

Allegro, John (1923–1988)

John Allegro war ein englischer Experte für die Schriftrollen von Qumran und alte semitische Sprachen, dessen ausgesprochen unkonventionelles, 1970 erschienenes Buch The Sacred Mushroom and the Cross (dt. Der Geheimkult des heiligen Pilzes, 1971) nahelegt, dass das Christentum ­ursprünglich eine schamanische Sekte gewesen sei, die sich psychedelischen Pilzen widmete. In dem Buch wird außerdem behauptet, dass das Wort Jesus eine Tarnbezeichnung für den Fliegenpilz (Amanita muscaria) sei und dass der historische Jesus nie existiert habe.

Allegro schrieb über die Geschichten im Neuen Testament: »Sie sind ein literarisches Mittel, um die Riten und Regeln der Pilzanbetung unter den Gläubigen zu verbreiten.« Er behauptete tatsächlich, dass das Neue Testament ein Codex für einen Pilzkult gewesen sei. Da dieser verfolgt wurde, musste seine Lehre getarnt werden.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Allegros Ruf durch die Veröffentlichung von The Sacred Mushroom erheblichen Schaden nahm, wovon er sich nie erholte. Oder, genauer gesagt, sein Ruf als Wissenschaftler. Denn es gibt nach wie vor ein paar Nonkonformisten, die sehr viel von ihm halten.

Siehe auch Fliegenpilz

Amateurmykologe

Ein Individuum, das Freude an einem Thema hat, sich aber nicht im Rahmen von angewandter oder universitärer Wissenschaft damit befasst, wird als Amateur bezeichnet. Früher wurde der Begriff Amateur eher abwertend verwendet und suggerierte Unwissenheit, doch heute ist er weniger negativ konnotiert. Inzwischen wird das Wort Amateur zunehmend durch die Bezeichnung Citizen Scientist ersetzt.

Wie auch immer man diese Individuen nennt, ihr Interesse an Pilzen hat nichts mit Macht, Prestige, Publikationsdruck oder einem etwaigen Forschungsstipendium zu tun – sie wollen einfach nur so viel wie möglich über Pilze wissen. Ja, es kann sein, dass sie sich auf Facebook in Einlassungen ergehen oder nicht aufhören, bei ­Mitgliederversammlungen ihrer Pilzclubs darüber zu streiten, ob eine Art den Helmlingen oder den Schwindlingen zuzurechnen sei, aber ihre Fähigkeit, Pilze zu identifizieren, übersteigt häufig die von Fachleuten. Letztere sind zunehmend so sehr damit beschäftigt, DNA zu sequenzieren, dass sie tatsächliche Pilze nur »als Beilage in einem Burgerladen« kennen, wie der Mykologe Andrus Voitk es fasste.

Zurzeit bündeln Amateure und Fachleute ihre Fertigkeiten im North American Mycoflora Project, dessen Ziel es ist, die Verbreitung und Saisonalität der Großpilze Nordamerikas zu ermitteln und zu kartieren und die Resultate online zu stellen. Das Projekt ist bewundernswert, aber es sollte wohl einen anderen Namen haben, da es sich bei Pilzen nicht im Entferntesten um »Flora« handelt.

Amatoxine

Bei den Amatoxinen (auch: Amanitine) handelt es sich um eine Gruppe hochgiftiger bizyklischer Peptide. Sie kommen nicht nur in Amanita-Arten wie dem Grünen Knollenblätterpilz (A. phalloides) und dem Frühlingsknollenblätterpilz (A. verna) vor, sondern darüber hinaus im Gift-Häubling (Galerina marginata), im Fleischrosa Schirmling (Lepiota josserandii) sowie im Runzeligen Glockenschüppling (Conocybe filaris). Die Amatoxine blockieren die für die RNA-Produktion notwendigen Enzyme, wodurch die Zellen nicht mehr in der Lage sind, neue Proteine zu synthetisieren und ihre Aktivität einstellen. Beim Menschen schädigen Amatoxine vor allem die Leber, was dadurch verstärkt wird, dass sie einen enterohepatischen Kreislauf aufweisen – sie zirkulieren zwischen Darm, ­Leber und Gallenblase und verbleiben dadurch länger im Körper. Zu den möglichen Behandlungen gehören die Entfernung des Gifts aus dem Verdauungstrakt mittels Kohle, eine Lebertransplantation sowie im Falle von Nierenversagen die Hämodialyse – aber ganz sicher nicht der Verzehr rohen Kaninchenhirns, das man früher für ein geeignetes Mittel gegen Pilzvergiftungen hielt, wohl wegen der Fähigkeit der Kaninchen, Giftpilze ohne Konsequenzen fressen zu können. Amatoxine sind eigentlich nicht dazu gedacht, Angehörige unserer Art zu töten. Wahrscheinlich sind sie vielmehr Stoffwechselendprodukte des Myzels, die in den Fruchtkörper transportiert werden. Koffein gelangt auf ähnlichem Weg in die Kaffeebohne.

Viele Amanita-Arten enthalten keine Amatoxine, aber jene, die sie enthalten, haben dem Ruf der anderen geschadet. Arten wie der Kaiserling (A. caesarea) sowie der Perlpilz (A. rubescens) sind essbar – wenn auch (der Verwechslungsgefahr wegen) mit Vorsicht zu genießen.

Siehe auch Grüner Knollenblätterpilz, Pilzvergiftung

Ambrosia

Ambrosia ist Altgriechisch für Speise der Götter und wird in mykologischem Zusammenhang als Kurzform für die sogenannten Ambrosiapilze verwendet. In diesem Fall sind die Götter bestimmte Borkenkäfer, deren Speise aus den entsprechenden Pilzen besteht, bei denen es sich in der Regel um Hefen oder asexuelle Stadien von Schlauchpilzen handelt. Früher war man nicht in der Lage, zu identifizieren, wovon sich die Käfer ernährten, weshalb man annahm, dass es eher aus dem Götterreich stammen musste als von der Erde.

Ambrosiakäfer bewohnen kürzlich gestorbene und frisch gefällte Bäume. Sie verfügen über sporengefüllte Taschen, sogenannte Mycangien, in die sie hineingreifen, um ihre Fraßgänge mit diesen Sporen zu beimpfen. Die Käfer essen die oberflächlichen Zellen des sich entwickelnden Myzels und versorgen auch ihre Larven mit Häppchen davon. Die Larven wachsen im Kreis ihrer Familie in einem mit Myzel ausgekleideten Fraßgang auf. Fremdpilzarten, die in den Fraßgängen wachsen, werden als Feinde angesehen und von den Käfern rasch entsorgt.

Manche Ambrosiakäferarten könnte man als Kleptomycophagen bezeichnen, da sie das von anderen Ambrosiakäfern angebaute Myzel schlichtweg klauen, anstatt selbst einen Pilzrasen zu ziehen.

Zu den von Ambrosiakäfern gezogenen Pilzen gehören Arten der Gattungen Abrosiella, Rafaella und Dryadomyces sowie bestimmte Hefen.

Anamorphe

Die Anamorphe, nicht zu verwechseln mit dem Psychothriller Anamorph mit Willem Dafoe, bezeichnet das ­asexuelle Entwicklungsstadium eines Pilzes. Die Anamorphen mancher Arten reifen zu Teleomorphen (also der geschlechtlichen Form) heran – in diesem Fall wird die Anamorphe auch als Nebenfruchtform bezeichnet. Arten, die ihr gesamtes Leben lang asexuell bleiben, bezeichnet man als imperfekte Pilze. Dass diese sich nicht geschlechtlich fortpflanzen, bedeutet jedoch nicht, dass sie sich nicht vermehren. Sie pflanzen sich durch Konidien (asexuelle Sporen) fort, die vornehmlich von spezialisierten Hyphen durch Fragmentation gebildet werden. Dieser Vorgang gleicht dem Klonen: Die pilzliche Nachkommenschaft unterscheidet sich nicht von ihrem Elternteil. So gelingt es den Anamorphen recht gut, das genetische Material zu bewahren.

Die anamorphe und die teleomorphe Phase derselben Art hatten früher unterschiedliche Binome, also zweiteilige lateinische Bezeichnungen. Doch im Jahr 2011 wurde auf einem Kongress in Australien beschlossen: »eine Art, ein Name« – sodass die beiden Phasen dieselbe wissenschaftliche Bezeichnung führen müssen, auch wenn sie sehr unterschiedlich aussehen.

Aphyllophorales (Nichtblätterpilze)

Als Aphyllophorales (lat. für »keine Blätter Tragende«) wurden früher diverse Ständerpilze zusammengefasst, die nicht über Lamellen verfügen – wie zum Beispiel Rindenpilze, Korallen, Porlinge, bestimmte cyphelloide Pilze und Ohrlappenpilze. Die »Lamellen« bzw. »Blätter« des Zaun-Blättlings (Gloeophyllum sepiarium) und des Birken-Blättlings (Trametes betulina) sind eigentlich verlängerte Poren. Die meisten Nichtblätterpilze sind Holzbewohner – aber nicht alle. Eine der Ausnahmen sind die Korallen.

In Zeiten von auf der Analyse von DNA-Sequenzen basierender Klassifikation ist die Gruppe weitestgehend obsolet, doch da es immer noch vorkommen kann, dass ein Mykologe sagt: »Zum Teufel, ich muss schon wieder einen Nichtblätterpilz identifizieren!«, verdient sie einen Eintrag in Fungipedia.

Tatsächlich scheint es bei mehreren Arten unter den Aphyllophorales mit dem Teufel zuzugehen; sie sondern »Blutstropfen« ab, bei denen es sich aber um Wasser handelt, in dem unter anderem Pigmente enthalten sind. Zwei Beispiele »blutender« Aphyllophorales sind der Rötende Saftwirrling (Abortiporus biennis) und – besonders teuflisch – Hydnellum diabolus.

Siehe auch Korallen, Porlinge

Apiosporina morbosa

Apiosporina morbosa