Für die Kämpfer, für die Verrückten - Daniele Mencarelli - E-Book

Für die Kämpfer, für die Verrückten E-Book

Daniele Mencarelli

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Beschreibung

Ein sensibler und intimer Roman, der über den Sinn des Lebens, die Sehnsucht nach Normalität und über gesellschaftliche Normen unserer verrückt gewordenen Welt reflektiert. Manchmal ist Daniele alles zu viel. Manchmal fühlt es sich so an, als ob die Welt auf ihn hereinprasseln würde, so lange bis er es nicht mehr aushält. Gestern war so ein Tag und heute wacht er in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie auf. Nach einem Wutausbruch wird Daniele sieben Tage lang zwangsweise eingewiesen. Er hat fünf Bettgenossen mit denen er von Tag zu Tag, wenn auch zaghaft, mehr ins Gespräch kommt. Oft schämt er sich für das, was er tut und das, was er fühlt, und würde am liebsten »normal« sein. Aber was heißt das schon normal zu sein? Zärtlich und kraftvoll zugleich schreibt Daniele Mencarelli von der erstickenden Hitze der Junisonne, der Euphorie der Europameisterschaft, der Gleichgültigkeit von Ärzten und Krankenpersonal und von einem ganz besonderem Band, das sich zwischen sechs Patienten entwickelt.  »Es ist, als würde er in Versen schreiben, selbst wenn er in Prosa schreibt. Es erinnert mich an die Worte dieses englischen Kritikers John Berger, der von der Poesie als der einzigen Stimme sprach, die man auf einem Schlachtfeld verwenden kann.« Enrico Morteo, Radio Tre

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Seitenzahl: 219

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Daniele Mencarelli

Für die Kämpfer, für die Verrückten

Roman

 

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Daniele ist 20 Jahre alt, Poet und hat es gestern Abend nicht mehr aushalten können. Nach einem heftigen Wutausbruch wurde er für eine Woche in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik zwangseingewiesen. Hier begegnet er fünf Männern, mit denen er sieben Tage seines Lebens verbringen wird. Madonnina, Giorgio, Gianluca, Mario und Alessandro. Alle haben sie psychische Störungen und könnten unterschiedlicher nicht sein. Zum ersten Mal in seinem Leben begegnet Daniele Menschen, die ihn verstehen können und jeden Tag genauso kämpfen wie er. 

 

Ein sensibler und intimer Roman über den Sinn des Lebens, die Sehnsucht nach Normalität und über gesellschaftliche Normen unserer verrückt gewordenen Welt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Daniele Mencarelli ist 1974 in Rom geboren und lebt heute unweit der italienischen Metropole. Zunächst wurde Mencarelli Anfang der 2000er Jahre als Dichter bekannt und hat bis heute sieben Gedichtbände veröffentlicht. Seit 2014 hat er sich allerdings der Belletristik verschrieben. »Für die Kämpfer, für die Verrückten« ist Mencarellis zweiter Roman, für den er zahlreiche italienische Preise gewonnen hat und der erste in deutscher Übersetzung.

 

Annette Kopetzki, 1954 in Hamburg geboren, wo sie ebenfalls ihr Studium der Germanistik, Philosophie und Pädagogik absolvierte. Sie lebte 12 Jahre in Italien und übersetzt seit dem vom Italienischen ins Deutsche. Als literarische Übersetzerin und Gutachterin ist sie seit 1998 tätig. 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für die Kämpfer.

Für die Verrückten.

»Maria, meine Seele ist weg! Hilf mir, Madonnina!«

 

Schwarz und wieder schwarz. Das muss der Tod sein.

 

»Maria, meine Seele ist weg! Hilf mir, Madonnina!«

 

Geruch nach Verbranntem, immer stärker, Hitze, die zu Feuer wird, das versengt.

Ich reiße die Augen auf, schaue auf die Welt wie zum ersten Mal, kann sie nur mit Mühe offen halten, nicht lange.

 

»Maria, meine Seele ist weg! Hilf mir, Madonnina!«

 

Direkt neben mir entdecke ich einen Fremden, er sieht aus wie der heilige Franziskus, eine Halluzination, schmutzig, entsetzlich mager, ein Feuerzeug in der Hand. Der Brandgeruch kommt von meinen Haaren, der Mann zündet meinen Kopf an. Ich will um Hilfe schreien, schaffe es nicht, es scheint, als könne mein Gehirn nicht mit dem Körper kommunizieren.

Ein gellender Mädchenschrei zerreißt die Luft, ich drehe mich um, er kommt aus dem Mund eines Vierzigjährigen mit rot gefärbten Haaren, wenige Strähnen, alle zu einer Seite gekämmt, er schreit weiter:

»Pino!! Pino!! Madonnina fackelt den Neuen ab!!«

Der Krankenpfleger ist ein wandelnder Bauch, ganz in Weiß taucht er in der Tür auf, als er sieht, was passiert, eilt er ins Zimmer.

»’fluchter Sausack, wo has das Scheißfeuerzeug her?«[1]

 

»Maria, meine Seele ist weg! Hilf mir, Madonnina!«

 

Der Krankenpfleger läuft an mir vorbei, mit einem Sprung reißt er dem Verrückten das Feuerzeug aus der Hand, der reagiert nicht, lässt sich widerstandslos auf sein Bett legen, schlagartig nur noch ein wehrloses, verwundbares Tier.

»Was mach ich bloß mit dir, Madonnì? Mach mir heute noch ma Ärger, ich schwör, ich sperr dich ins Klo.«

Mein Körper möchte wieder einschlafen, aber ich wehre mich, will auf jeden Fall wach bleiben, versuche zu sprechen, es geht nicht.

Der Krankenpfleger dreht sich zu mir um, streicht mit der Hand über die angesengte Seite meines Kopfes, der Gestank nach verbranntem Hühnerfleisch liegt noch in der Luft, der Pfleger grinst.

»Halb so schlimm, ’ne Woche, zwei, schon sindse wieder gewachsen.«

Dann geht er.

Mit dem bisschen an klarem Verstand, das ich aufbringen kann, versuche ich zu verstehen, wo ich bin. Ein Krankenhauszimmer mit sechs Betten. Die Hitze mischt sich mit dem Gestank, es riecht nach Desinfektionsmittel und Schweiß.

Der Mann, der wie ein Mädchen geschrien hat, blickt sich um, kommt auf mich zu, Fliehen ist unmöglich, ich kann nicht den geringsten Widerstand leisten, keinen Laut von mir geben, all das vervielfacht meine Angst. Er lächelt, bringt sein Gesicht an mein Ohr:

»Ich bin Jungfrau.«

Es klingt wie eine unwiderstehliche Einladung.

Ich habe Angst, sehne mich nach meiner Familie, meinem Zuhause, meinem Zimmer. Ich weiß, warum ich hier bin, ich weiß, was passiert ist. Die Scham, die Schuldgefühle, die Erinnerung an gestern Abend überwältigen mich, wollen sich in Weinen verwandeln. Aber ich kann nicht weinen.

So schlafe ich wieder ein, sehne Tränen herbei, die nicht kommen.

Fußnoten

[1]

Fast alle Patienten und das Pflegepersonal sprechen römischen Dialekt.

TAG 1Dienstag

Eine Hand auf der Schulter, sie rüttelt mich immer heftiger.

»Mencarelli, aufwachen, mach schon, los!«

Es ist der Krankenpfleger, er versucht, mich zu wecken.

»Is elf schon durch, Viertelstunde muss beim Doktor sein.« Er packt mich an den Schultern und zieht mich hoch.

»Morgen, Prinzchen, hast ordentlich was geschlafen. Glaub ich gern, bei dem, was sie dir in die Vene geschossen ham, weiße noch, wie du heißt? Sag ma, los, versuch.«

Mein Mund ist trocken. Der Kopf dröhnt.

»Daniele. Daniele Mencarelli.«

Der Krankenpfleger versucht eine Art Lächeln. Er wird um die fünfzig sein, vielleicht etwas älter, das Gesicht ist stark von der Akne früherer Jahre gezeichnet.

»Siehswohl, geht doch, Daniele. Ich bin Pino, und Pino sagt immer gleich, was Sache ist. Gibt eins, das muss klar sein: Wenn du brav bist, bin ich auch brav, wenn du hier auf bösen Irren machs, werd ich noch böser, kapiert? Und kanns mir glauben, die Normalen, die können böser sein als wie die Verrückten, kapiert?«

Pinos Züge haben sich verhärtet, ich bemühe mich zu antworten, trotz der Benommenheit.

»Ich hab verstanden.«

»Noch was Wichtiges, Rumlaufen verboten, du bleibs hier oder im Fernsehraum nebenan. Aber nie, nie, nie in die Zimmer hinterm Fernsehraum! Die dadrin, die sind nich wie ihr, das sind die Bösen, kapiert?«

»Klar.«

»Gut, Daniele, und nu wach richtig auf, gleich ruft der Doktor, hier, Tee, trink paar Schluck.« Er reicht mir eine lauwarme Tasse, dann geht er.

Den Körper wieder in Besitz zu nehmen, bedeutet, eine Reihe überall verstreuter Schmerzen einen nach dem anderen zu spüren, im Rücken, am Hals, aber die linke Hand hat am meisten abbekommen. Ein großes Pflaster bedeckt sie, am Handknöchel klebt getrocknetes Blut. Von der Hand bis zum Hirn ist es nur ein kleiner Schritt: gegen die Wände, die Möbel, gegen den Fernsehbildschirm, bis er explodierte. Das sind die Wunden. Zuletzt, riesig wie der Himmel, sehe ich meinen Vater wie einen toten Gegenstand auf dem Boden liegen, alles wegen meines Theaters.

 

Ein Wald von Augen, die Augen meiner Zimmergenossen. Die sechs Betten stehen in zwei Reihen, die drei auf der anderen Seite sind alle besetzt. Der Junge im Bett mir direkt gegenüber mag so alt sein wie ich, als Pino mit mir sprach, habe ich manchmal zu ihm hingeblickt, jetzt bin ich fast sicher: Seit ich ihn heimlich beobachtet habe, hat er nicht aufgehört, einen unbestimmten Punkt über meinem Kopf anzustarren. Als würde er darüber hinaussehen, in ein Jenseits, das ihn völlig gefangennimmt, nichts, was in seiner Nähe geschieht, scheint ihn ablenken zu können.

Links von ihm, neben dem großen Fenster, ein Mann um die sechzig, schon im ersten Moment habe ich die unglaubliche Ähnlichkeit bemerkt – er sieht haargenau so aus wie der Gitarrist von Queen, aber an dessen Namen kann ich mich nicht erinnern. Das Bett rechts gehört dem Mann mit dem Mädchenschrei, jetzt hält er sich einen Taschenspiegel vors Gesicht, trägt Lipgloss auf und macht dabei Grimassen, lächelt sich an, er scheint einen Dialog zu improvisieren, einen Flirt.

Mein Bett ist das mittlere auf unserer Seite, links von mir der Verrückte, der versucht hat, mich anzuzünden, er scheint sich beruhigt zu haben, offenbar schläft er sogar.

Das Bett zu meiner Rechten ist ordentlich gemacht, es dürfte leer sein.

Manchmal kommen Schreie aus anderen Zimmern, anderen Welten, ein steinerweichendes Heulen.

 

Pino steht in der Tür.

»Los, los, Mencarè, Mancino wartet.«

Mühsam richte ich mich auf, die Balance zu halten, scheint mir komplizierter als sonst, Pino hakt mich unter, so gehen wir aus dem Zimmer und betreten ein anderes direkt gegenüber.

Das Sprechzimmer ist klein, Pino zeigt auf einen Stuhl, geht dann hinaus.

Vor mir sitzt der Arzt, sofort fällt mir auf, dass er ungewöhnlich groß und massig ist. Das sehe ich an den Armen, an der Hand, mit der er eine Linie nach der anderen auf einem weißen Blatt zieht, den Kugelschreiber dabei fest aufs Papier drückt. Auch der Kopf ist gewaltig und die Schultern breit, wie groß er ist, kann ich nicht einschätzen, aber er muss ein Riese sein.

»Nun, Mencarelli.«

Er hat mich angesprochen, ohne den Blick vom Blatt zu heben, endlich schaut er auf, blaue Augen, winzig, eine große Nase, die Haare halb braun, halb weiß. Auch das Gesicht hat etwas Eindringliches, fast Brutales, wäre ich vertraut mit ihm, würde ich ihn fragen, ob er Rugby spielt oder gespielt hat, denn er wirkt durch und durch wie ein Rugbyspieler.

»Kannst du mir das Datum von heute sagen? Tag, Monat und Jahr.«

Ich nicke und fange an zu rechnen.

»Heute ist Dienstag, der 15. Juni 1994.«

»Der 14., Dienstag, der 14. Kannst du mir dein Geburtsdatum sagen?«

»26. April 1974.«

»Du bist also zwanzig Jahre alt. Weißt du, warum du hier bist?«

Vor meinen Augen wirbeln die Bilder des gestrigen Abends, scharfkantig, vergiftet.

»Ja, wegen gestern Abend.«

Der Arzt mustert mich, ohne eine Miene zu verziehen, sein Blick, zusammen mit der Statur, ergibt das Bild eines Mannes, der unfähig ist, Gefühle zu zeigen, zumindest kommt mir dieser Gedanke.

»Mehr hast du nicht zu sagen? Willst du mir erzählen, warum es passiert ist?«

»Vorerst nicht.« Meine Weigerung nimmt er ungerührt zur Kenntnis.

»Wie du willst. Heute Nachmittag kommt Doktor Cimaroli, er hat dich gestern Abend in der Notaufnahme übernommen. Und er hat mir von deiner Glanzleistung erzählt. Kompliment. Fast hättest du deinen Vater umgebracht. Dazu braucht man Talent.«

Ich schweige, während er mich weiter mustert und von Zeit zu Zeit etwas auf seinen hochwichtigen Blättern notiert, die sehr wahrscheinlich mich betreffen.

»Jedenfalls bist du seit heute in Unterbringung, weißt du, was das bedeutet? Doktor Cimaroli hat sich zusammen mit dem Kollegen in der Notaufnahme für diese Behandlung entschieden, das Prozedere läuft folgendermaßen ab, wir haben die Gemeindeverwaltung deines Wohnsitzes und das Amtsgericht von Velletri informiert, heute Morgen kam das Fax mit der behördlichen Genehmigung, also bist du sieben Tage lang hier zwangsuntergebracht und unserer ärztlichen Behandlung unterworfen.«

Keine Spur mehr von der chemischen Betäubung. Da ist sie, die Angst, die Beklemmung.

»Was bedeutet das? Ich kann nicht nach Hause?«

Der riesige Arzt schüttelt den Kopf.

»Von heute, Dienstag, 14. Juni, bis zum nächsten Montag, dem 20., bleibst du auf unserer Station. Gefällt dir das nicht?« Sein Lächeln lässt keinen Zweifel zu: Meine Niedergeschlagenheit freut ihn.

»Nicht mal, wenn ich mich anständig benehme? Wenn ich meine Eltern kommen lasse, und ihr redet mit ihnen? Ich bin nicht gefährlich, ich bin schon seit ein paar Jahren in Behandlung, ich war bei vielen Ihrer Kollegen. Ich habe niemandem je etwas Böses angetan.«

»Na ja, der Herzanfall deines Vaters, das, was du dir selbst angetan hast, wie auch immer, von jetzt an entscheiden wir, ob du gefährlich bist oder nicht, und auch darüber, was du hast oder nicht hast. Wie heißen die Kollegen, die dich behandelt haben?«

»An alle erinnere ich mich nicht, Sanfilippo, Lorefice, Castro, vielleicht noch ein paar andere.«

»Dein Vater und deine Mutter mussten sicher tief in die Tasche greifen, um dich zu all diesen Professoren zu schicken, wir werden das überprüfen, dieses Gespräch sollte dich nur von der OTU in Kenntnis setzen, also dass du in obligatorischer therapeutischer Unterbringung bist. Ich bin Doktor Mancino, heute Nachmittag sprechen wir uns noch einmal zusammen mit Doktor Cimaroli, du kannst jetzt in dein Zimmer zurück. Mann, was für ’ne Scheißhitze in diesem Krankenhaus!«

Der abschließende Fluch ist ihm halb im Dialekt rausgerutscht, auf jeden Fall ein Dialekt aus dem Süden, ich könnte allerdings nicht sagen, von wo genau.

 

Vom Sprechzimmer bis zum Patientenzimmer sind es höchstens ein Dutzend Schritte. Ich gehe langsam, die Gesichter meines Vaters und meiner Mutter, meines Bruders und meiner Schwester begleiten mich stumm. Seit ich auf der Welt bin, habe ich nichts anderes getan, als Unordnung zu stiften, eine überzogene Reaktion nach der anderen, getrieben von einem Impuls, dem ich wohl oder übel folgen musste. Anders kann ich nicht leben, ich schaffe es nicht, diesem wilden Drang zu entkommen: Jeden Gipfel muss ich besteigen, jeden Abgrund ausloten.

Als ich mich auf dem Bett ausstrecke, sehe ich Doktor Mancino mit schnellem Schritt im Flur vorübergehen, er ist wirklich ein Riese. Ich versuche, seinen Blick auf mich zu ziehen, aber er hat Augen für nichts und niemanden, er strahlt Feindseligkeit aus, wenn nicht sogar Verachtung. Noch immer sehe ich seine Miene vor mir. Wie kann man einen Menschen, dem man helfen sollte, so offen verachten? In den letzten beiden Jahren meines Leidenswegs zwischen Psychiatern und Pathologien, habe ich mich an Gleichgültigkeit, an Lieblosigkeit seitens der Ärzte gewöhnt, aber ein so offen bekundeter Hass ist mir noch nicht begegnet.

»Ciao.«

Ohne dass ich ihn bemerkt habe, steht der Mann mit dem Mädchenschrei neben mir.

»Harter Brocken, Mancino, was? Aber is nich der Schlimmste hier drin, glaub mir. Ich bin Gianluca.« Er streckt mir seine Hand mit lackierten Fingernägeln entgegen.

»Daniele.« Wir geben uns die Hand.

»Du auch OTU?«

Ich nicke.

»Ich auch, seit gestern, was has gemacht?« Gianluca wird um die vierzig sein, seine wenigen Haare in vielen Farben, von Aschgrau über Goldbraun bis Leuchtendrot, hat er zu einem langen Scheitel arrangiert, so dass sie den kahlen Teil seines Schädels bedecken, die schmalen Lippen glänzen, er lächelt. Seine Frage beantworte ich nicht, er lässt sich nicht einschüchtern.

»Verstehe. Ich hab Mist gebaut, ’n Freund zu mir nach Haus gebracht, meine Mutter, diese Bitch, is ausgeflippt, ich sag dir, voll ausgerastet, musst ich ihr eine verpassen, bin aber ’ne Seele von Mensch, glaub mir, ’n ganz Lieber, in jedem Sinn.« Und wieder setzt er ein provokantes Lächeln auf, doch ich denke an die Worte zurück, die ich gerade eben bei Mancino verschwendet habe – wer weiß, wie oft seine Patienten versucht haben, ihm zu versichern, wie sanftmütig sie sind.

»Dein lieber Gianluca gibt dir jetz ma Überblick übers Zimmer. Also, der im Bett am Fenster, das is Mario, war Grundschullehrer, bevor er ’n Psycho wurde, is aber auch so ’n Herzensguter, kannst mir glauben.«

Als Mario seinen Namen hört, dreht er sich zu uns um, lächelt uns zu, dann betrachtet er wieder den Baum direkt vor dem Fenster. Gianluca rückt noch näher an mich heran.

»Der sagt, auf’m Baum gibs ’n kleinen Vogel, hat noch keiner nich gesehn, aber weiter, im Bett daneben, das is Alessandro, totale Starre, heut Nachmittag kommt dem sein Vater, der erzählt dir genau, was los is mit dem, macht der immer mit allen Neuen, und im letzten Bett bin ich. Hier auf unsrer Seite, das is Madonnina, der dich abfackeln wollte, wir nennen ihn Madonnina, weil von dem weiß keiner was, redet nich, nur manchmal mit der Madonna. Die sind alle hier eingewiesen, nur du und ich sind OTU, ham wir viel gemeinsam.« Damit drückt er mir einen Kuss auf die Wange und bricht dann in schallendes, übertriebenes Gelächter aus.

»Hach, das Leben ist so schön!!!«, ruft er, sein Gesicht ganz nah an meinem.

Ich bleibe stumm, meine Augen wandern von einem Bett zum anderen, von einem Wahnsinn zum nächsten. Langsam kommen die erhofften, erwarteten Tränen.

»Zack, zack, Signori, Mittagessen!«

Pino steht in der Tür, ich rufe ihn zu mir, kann die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten.

»Bitte, ich will nach Hause.« Ich umklammere seinen Arm, er befreit sich sanft aus meinem Griff.

»Nu lass ma, ’ne Woche is schnell rum, tut dir gut, wirs schon sehn.« Er richtet sich auf:

»Heute Brühe oder Gemüsesuppe, Salzkartoffeln und Erbsen, Hühnerbrust oder Kotelett, los geht’s!«

Pino serviert das Mittagessen, beim Anblick der Speisen verfliegt mein bisschen Hunger ganz, Gianluca und Madonnina aber essen gierig. Alessandro, der Katatoniker, fixiert noch immer dieselbe Stelle einen halben Meter über meinem Kopf, nichts in seiner Umgebung interessiert ihn, auch das Essen nicht.

»Isst du das Apfelmus?« Neben mir taucht plötzlich Mario auf, sein weißes Kraushaar wuchert wie eine hohe, struppige Hecke auf seinem Kopf.

Die einzige der angerichteten Speisen, die meine Aufmerksamkeit erregt, wenngleich nur schwach, ist das Apfelmus, und sei es nur, weil meine Mutter mich damit großgezogen hat, Apfelmus war die unvermeidliche Beilage meiner Grippeanfälle oder jeder anderen Krankheit.

»Nein, nimm’s dir ruhig.« Ein freundliches, strahlendes Lächeln habe ich oft gesehen, aber dies hier stellt alles in den Schatten. Liebevoll, wie hilflos es auch sein mag, wie viel schlichte Dankbarkeit man darin auch lesen mag.

»Mario isst bloß Apfelmus, auch wir lassen ihm unsers.« Gianluca fühlt sich zu Erklärungen verpflichtet, hat er sich doch selbst zum Führer durch die Station ernannt.

»Danke«, sagt Mario und blickt mich mit feuchten Augen an.

Die Neugier ist zu stark, stärker sogar als der Wunsch abzuhauen, mit einer Kopfbewegung hole ich mir Pino heran.

»Sag nicht, dass ich verrückt bin, mal abgesehen davon, dass wir hier in der Klapse sind, aber kennst du Queen? Die von Freddy Mercury?« Pino nickt.

»Ja klar, Brian May, der Gitarrist, sieht genauso aus wie Mario, der is bloß älter und bekloppter.«

»Mir fiel der Name nicht ein, danke.«

 

Um zwei Uhr nachmittags sehe ich Pino in Alltagskleidung zum Ausgang eilen, mein Abschiedswinken erwidert er nicht. An seiner Stelle erscheint ein anderer Pfleger, jünger, vor allem schlanker.

Es ist erstickend heiß im Zimmer, doch nur Gianluca und mir sieht man an, wie sehr uns das zu schaffen macht, Madonnina und Alessandro scheinen die Hitze gar nicht zu bemerken. Mario trägt sogar einen gefütterten, zerknautschten Morgenmantel über dem ebenfalls warmen, winterlichen Pyjama.

Ich hole eine Zweihundert-Lire-Münze aus der Hose, die ich in mein Schränkchen geworfen habe, das Telefon hängt am Eingang der Station, neben der abgeschlossenen Tür.

»Daniè?«

Schon immer habe ich gedacht, dass meine Mutter übernatürliche Kräfte besitzen muss, vor allem bei uns Kindern, wir können sagen, was wir wollen, dank einer besonderen Gabe erkennt sie sofort alle kunstvoll zurechtgelegten Lügen. Sie wusste, dass ich am Telefon war. Die absolute Gewissheit ihrer Liebe, die stärker ist als alles, nimmt mir das bisschen zurückgewonnene Kraft.

»Ja, ich bin’s.«

»Wie geht’s dir?«

Ein wenig von ihrer Gabe hat sie an uns weitergegeben, aber vielleicht braucht man kein Talent, um ihre Sorge zu spüren.

»Jetzt ganz gut, sie behalten mich ’ne Woche hier, weißt du das?«

»Der Doktor hat’s uns gestern Abend gesagt, wir sind einverstanden, du weißt ja nicht, wie das war, hast getobt wie ein Verrückter. Wie fühlst du dich jetzt?«

Meine Hand wandert zu der Stelle am Kopf, die Madonnina versengt hat, die Finger streicheln die kahle Kopfhaut, zum Glück sind nur die Haare verbrannt.

»Es geht, mal abgesehen davon, dass hier alle verrückt sind, aber richtig verrückt.«

Meine Mutter sagt eine Weile nichts, dann fängt sie wieder an zu sprechen, und ich verstehe den Grund ihres Schweigens, ihre Stimme zittert, aber sie beherrscht sich.

»Sind schon zwei Jahre, dass wir überall rumlaufen, keiner weiß, was los ist mit dir, vielleicht kriegen die dadrinnen raus, warum du so leiden musst, denn mit zwanzig sollte ’n Junge glücklich sein, aber du immer mit dieser Traurigkeit, wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen, dass du die loswirst.« Die Selbstbeherrschung, zu der sie sich gezwungen hat, zerbröselt wie trockene Erde. »Ich möcht dich glücklich sehn.« Nur das kann sie noch sagen, dann kommen Schluchzer.

»Aber ich bin doch nicht unglücklich, darum geht’s nicht, ums Glücklichsein, ich hab bloß das Gefühl, ich bin der Einzige, der merkt, dass wir alle wie Seiltänzer sind, von einem Moment zum andern hört einer auf zu atmen, schon stecken sie ihn in ’nen Sarg, als wenn nichts gewesen wär, diese Welt ist doch wie ’ne einzige Beleidigung für dich, für Papa, und das macht mich stinksauer. Aber manchmal könnte ich abheben vor lauter Glück, ehrlich, keiner weiß so gut wie ich, was Glücklichsein bedeutet.«

Meine Mutter kann wieder sprechen, auch ihr Atem scheint regelmäßiger zu gehen.

»Heut Nachmittag kommt dein Bruder mit frischer Wäsche vorbei, hab dir auch ein paar Kekse und Fruchtsaft eingepackt, brauchst sonst noch was?«

Ich würde meiner Mutter gerne sagen, was ich wirklich brauche, immer dasselbe, seit meiner Geburt. Lange Zeit fiel es mir schwer zu sagen, was ich will, meine ersten zwanzig Jahre habe ich damit verbracht, die besten Wörter zu suchen, um es zu beschreiben. Ich habe viele Wörter benutzt, zu viele, und dann begriffen, dass ich umgekehrt vorgehen, also Tag für Tag ein Wort mehr weglassen musste, das am wenigsten notwendige, das überflüssige Wort. Von Mal zu Mal habe ich gekürzt, beschnitten, bis ein einziges Wort übrig blieb. Das Wort, das beschreibt, was ich wirklich will, das Wort, das ich seit meiner Geburt, schon vor meiner Geburt, mit mir herumtrage, das mir wie ein Schatten folgt und immer an meiner Seite ist. Erlösung. Dieses Wort sage ich niemandem, nur mir. Aber das ist es, das Wort, und seine Bedeutung, die größer ist als der Tod.

Erlösung. Für mich. Für meine Mutter am anderen Ende der Telefonleitung. Für alle Kinder und alle Mütter. Und Väter. Und alle Geschwister aller vergangenen und zukünftigen Zeiten. Meine Krankheit heißt Erlösung, aber wie? Wem sage ich das?

Vielleicht gibt es das, was ich Erlösung nenne, ja auch gar nicht, und mein Wunsch ist nur ein Symptom, das behandelt werden muss. Nicht die Vorstellung, krank zu sein, erschreckt mich, daran gewöhne ich mich langsam, sondern der Gedanke, dass alles womöglich nur ein Zufall im Universum ist, der Mensch ein Rülpser des Lebens, ein Versehen.

»Nein, Mama, mehr brauch ich nicht, mach dir keine Sorgen, beruhig dich bitte, ja?«

»Beruhigen tu ich mich erst, wenn du wieder nach Hause kommst.«

 

»Maria, meine Seele ist weg! Hilf mir, Madonnina!«

Madonnina ist aufgewacht, sitzt auf seinem Bett, die geöffneten Hände vor Augen, als würde er sie studieren, erst den Handrücken, dann die Handflächen, seine Fähigkeit, sie zu kontrollieren, scheint ihn zu verwundern. Ich gehe zu meinem Bett und lege mich hin, einen Meter von ihm entfernt. Schwer zu sagen, wie alt er ist, vielleicht um die dreißig, das Gesicht ist eingefallen, der Bart lang, die Augen liegen tief in den Höhlen. Die zerschlissene Pyjamajacke ist offen, man sieht wenige Haare auf der Brust und einen Körper so mager, dass man die Rippen zählen kann. Aber nicht das verwahrloste Aussehen greift mir ans Herz, lässt mich einen Moment lang, überwältigt von Mitleid, die Augen schließen. Sein Aussehen ist nur eine traurige Folge, der Rest einer niedergebrannten Kerze. Nein, was mich zum Weinen bringt, ist die schwarze Asche seiner Augen. Eine Angst so tief, dass es einem den Atem verschlägt. Was ist das für eine Krankheit, die einem Mann ein so schweres Gewicht auf die Schultern lädt? Es ist eine bestialische, unmenschliche Last, die dem armen Körper von Madonnina aufgebürdet ist. Ich zwinge mich, ihn nicht zu beobachten, und schäme mich, mir geht, wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil, der Gedanke durch den Kopf, diese Bestie der Angst, die ihn eisern im Griff hat, könnte sich auf mich stürzen und auch mich bezwingen.

Außer Madonnina ist nur mein Gegenüber da, Alessandro, sein Blick immer noch auf einen Punkt oberhalb meines Kopfes fixiert. Ich beschließe, mir Bewegung zu verschaffen, ein menschliches Wesen zu suchen, das sprechen kann, im Nebenzimmer erklingt die Stimme der Fernsehmoderatorin Marta Flavi. Da kommt Mario von der Toilette zurück, er lächelt mir zu, während er in langsamen Schritten an mir vorbei zum Fenster geht.

Im Flur kann ich den Aufbau der Station überblicken. Unser Zimmer, das Sprechzimmer direkt gegenüber, dazu noch zwei geschlossene Türen, der Dienstraum für das Personal und die Besuchertoilette, eine Art erster Höllenkreis, der mit dem Fernsehzimmer und gleich dahinter mit einer weiteren Glastür endet, auch sie ist abgeschlossen wie die Eingangstür zur Station. Sie dürfte in den anderen Höllenkreis führen, den der Bösen.

Gebannt sitzen Gianluca und der Pfleger, der Pino abgelöst hat, vor dem Fernseher. Als der Pfleger mich sieht, steht er auf und kommt zu mir.

»Ciao.« Ich erwidere den Gruß mit einem Kopfnicken. Der Pfleger ist höchstens dreißig, wirkt unbeholfen, schüchtern.

»Ich heiß Lorenzo, und eins sag ich dir jetzt gleich, geh du mir nicht auf’n Sack, dann geh ich dir auch nicht auf’n Sack, haben wir uns verstanden?«

Definitiv ungeschickter und weniger respekteinflößend hat Lorenzo, der Pfleger, Pinos Warnung wiederholt. Aber er macht mir unmissverständlich klar, was diese Worte wirklich bedeuten: Man greift als Erster an, um die eigene Angst vor Angriffen zu verbergen. Denn Lorenzo hat Angst, sein ganzer Körper strahlt das aus. Jeden Tag unter Verrückten zu verbringen, ist sicher nicht leicht.

»Keine Sorge, echt, ich bin ’n total ruhiger Typ, heiß Daniele.« Aber mein Versuch, ihn zu beruhigen, scheint keine große Wirkung zu haben.

»Gleich kommt Cimaroli für dich, ich ruf, wenn er so weit ist.«

Mit diesen Worten geht Lorenzo aus dem Zimmer.

Im Fernsehen interviewt Marta Flavi einen Mann um die vierzig, das zigste gebrochene Herz auf der Suche nach einer neuen Liebe.

»Keine Frage, sieht absolut scheiße aus, is aber vielleicht ’n netter Typ, können ja nicht alle schön sein, wie Daniele zum Beispiel.«

Gianluca hat meine Anwesenheit bemerkt und geht sofort wieder zum Angriff über, flattert mit den Lidern, lächelt, ein lüsternes Begehren tritt in seine Augen.

»Gianlù, ich sag’s dir jetzt, und das gilt für immer. Ich steh auf Mädchen, klar? Wenn du willst, können wir Freunde sein, das gerne, aber bagger mich nicht dauernd an, das nervt, kapiert?«

Statt einer Antwort kommt er näher, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit von meinem entfernt ist.

»Du ahnst nicht, was dir entgeht, besonders mit’m Mund.«

Ich rühre mich nicht, verberge nicht den Widerwillen, den er in mir weckt.

Gerne würde Gianluca mit seinem Verführungsspielchen weitermachen, aber es fällt ihm jetzt nicht mehr so leicht wie zuvor.

»Na gut, was soll’s? Freunde. Gebongt, geht in Ordnung. Is bloß so, wenn ich auf der weißen Seite bin, denk ich nur an Sex, ich will mich ja besser kontrollieren, hab die Kraft nicht, bin immerzu geil, ’ne Gier auf alles.«

Ich denke über seine Worte nach, versuche, den Impuls zu unterdrücken, ihm nicht zu erliegen, aber ich schaffe es nicht:

»Kann ich dich was fragen? ’tschuldigung, aber was bedeutet die weiße Seite?«

Gianluca kommt wieder näher.