Für Rache ist es nie zu spät - Steffi von Wolff - E-Book

Für Rache ist es nie zu spät E-Book

Steffi von Wolff

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Beschreibung

Unterschätze nie die Macht einer Frauenfreundschaft! Die rüstige Gertie, die junge Anne und die stolze Charlotte könnten unterschiedlicher nicht sein – doch eines haben sie gemeinsam: Das Schicksal hat sie alle zu einem Leben auf der Straße verurteilt. Dabei kann keine der drei etwas für ihre missliche Lage. Gerti saß jahrelang unschuldig im Gefängnis für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Werbetexterin Anne wurde von ihren Kollegen gemobbt, weil sie angeblich Firmeninterna weitergegeben hat. Und Unternehmensberaterin Charlotte wurde wegen angeblicher Steuerhinterziehung ruiniert. Die Ungerechtigkeit des Lebens schweißt die Frauen bald fest zusammen – und sie beschließen sich das zurückzuholen, was ihnen zusteht! Zusammen mit dem gutherzigen Obdachlosen Lumpi und dem engagierten Anwalt Adalbert schmieden die Freundinnen einen Plan. Denn für Rache ist es nie zu spät!  Geballte Frauenpower von Bestsellerautorin Steffi von Wolff – für alle Fans von Dora Heldt.

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Seitenzahl: 399

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Die rüstige Gertie, die junge Anne und die stolze Charlotte könnten unterschiedlicher nicht sein – doch eines haben sie gemeinsam: Das Schicksal hat sie alle zu einem Leben auf der Straße verurteilt. Dabei kann keine der drei etwas für ihre missliche Lage. Gerti saß jahrelang unschuldig im Gefängnis für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Werbetexterin Anne wurde von ihren Kollegen gemobbt, weil sie angeblich Firmeninterna weitergegeben hat. Und Unternehmensberaterin Charlotte wurde wegen angeblicher Steuerhinterziehung ruiniert. Die Ungerechtigkeit des Lebens schweißt die Frauen bald fest zusammen – und sie beschließen sich das zurückzuholen, was ihnen zusteht! Zusammen mit dem gutherzigen Obdachlosen Lumpi und dem engagierten Anwalt Adalbert schmieden die Freundinnen einen Plan. Denn für Rache ist es nie zu spät!

Über die Autorin:

Steffi von Wolff, geboren 1966 in Hessen, war Reporterin, Redakteurin und Moderatorin bei verschiedenen Radiosendern. Heute arbeitet sie freiberuflich für die ARD, als Roman- und Sachbuchautorin für diverse Verlage, hat eine Kolumne im Segelmagazin YACHT und wird von vielen Fans als »Comedyqueen« gefeiert. Steffi von Wolff lebt mit ihrem Mann in Hamburg.

Die Autorin im Internet: steffivonwolff.de und facebook.com/steffivonwolff.autorin

Steffi von Wolff veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Bestseller »Glitzerbarbie«, »Gruppen-Ex«, »ReeperWahn« und »Rostfrei«, »Fräulein Cosima erlebt ein Wunder«, »Das kleine Segelboot des Glücks«, »Der kleine Buchclub der Träume«, »Das kleine Hotel an der Nordsee«, »Das kleine Haus am Ende der Welt«, »Kein Mann ist auch (k)eine Lösung«, »Für Rache ist es nie zu spät«, »Die Spätsommerfrauen«, »Taxifahrt mit einem Vampir« und »Das kleine Appartement des Glücks« sowie die Kurzgeschichten-Anthologien »Das kleine Liebeschaos für Glückssucher«, »Das kleine Glück im Weihnachtstrubel« und »Das kleine Handbuch des Liebesglücks«. Außerdem erschienen sind ihre Sammelbände »Liebe ist nichts für Anfänger« und »Küsse und andere Missgeschicke«.

Eine andere Seite ihres Könnens zeigt Steffi von Wolff unter ihrem Pseudonym Rebecca Stephan im ebenso einfühlsamen wie bewegenden Roman »Zwei halbe Leben«.

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eBook-Neuausgabe Juli 2025

Dieses Buch erschien bereits 2015 unter dem Titel »Zornröschen« und dem Pseudonym Liv Jansen bei MIRA Taschenbuch, Hamburg.

Copyright © der Originalausgabe 2015 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Good Studio, PawLoveArt

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98952-687-7

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Steffi von Wolff

Für Rache ist es nie zu spät

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Lesetipps

Für Claudia

Kapitel 1

Hamburg, Februar 2014Anne

Das absolute Ende war nicht plötzlich, sondern wie ein heraufziehendes Unwetter langsam und schleichend gekommen. Erst wurden Telefon und Internet abgestellt, dann der Strom, schließlich kam die Kündigung der Wohnung, der Versicherungen und der Zeitschriften-Abos. Unzählige Schreiben von der Bank. Es ging um die Giro- und Sparkonten, und es ging um die Raten für die kleine Eigentumswohnung, die sie im neu erschlossenen Hafengebiet von Wilhelmsburg gekauft hatte. Auf Kredit natürlich. Sie hatte zweieinhalb Zimmer, und irgendwann wollte sie selbst einziehen. Mit ihrem Mann vielleicht, wenn sie mal einen haben sollte. Ihre letzte Beziehung hatte sie beendet, nachdem Matthias ihr gesagt hatte, dass er verheiratet sei. Und seine Frau hatte vom Verhältnis zu Anne erfahren. Matthias war schneller weg gewesen als der Schall, hatte aber die Nerven, ein paar Wochen später noch mal anzurufen und zu bitten, ihm seine Sachen zu schicken. Unter anderem zwei Kaschmirpullover, die sie zusammen gekauft hatten. Und noch ein sündhaft teures Aftershave aus einer Parfümerie in der Innenstadt, die die Düfte selbst herstellte, für die man ein Vermögen bezahlte.

Anne hatte ein schönes Päckchen gepackt und an Matthias’ Frau adressiert. Die hatte dann die Pullover, die mit dem Aftershave getränkt waren, auspacken dürfen. Es waren noch andere Kleinigkeiten dabei gewesen. Dessous, die Matthias ihr gekauft und mit handgeschriebenen Kärtchen überreicht hatte. Vielleicht passten sie der Dame ja.

Matthias hatte daraufhin wütend angerufen und gefragt, ob sie seine Ehe zerstören wolle, und Anne hatte aufgelegt.

Anne ging langsam weiter. Sie musste aufpassen, dass sie nicht anfing zu schlurfen. Es hatte sie schon immer gestört, wenn Leute ihre Füße nicht richtig hoben. Nie hätte sie gedacht, dass sie selbst die Füße mal nicht mehr würde heben können. Sie war so müde. So lange hatte sie ihre blonden Locken nicht mehr gewaschen, so lange kein Peeling gemacht – wieso fiel ihr das jetzt gerade ein? –, und sie hatte das Gefühl, immer kleiner zu werden, was vielleicht daran lag, dass sie nicht mehr gerade ging. Bei einer Größe von etwas über eins sechzig war man ja sowieso kein Riese. Und dünn war sie geworden.

Irgendwann war alles weg gewesen. Sie hatte nichts mehr. Nur einen Koffer mit ein paar Klamotten, und der war ihr kurze Zeit später geklaut worden.

An dem Tag der Zwangsräumung, es war ein Mittwochmittag, hatte sie dann also unten auf der Straße gestanden und war so verwirrt gewesen, dass sie beinahe von einem Auto angefahren worden wäre. Nachbarn hatten schweigend aus dem Fenster geschaut, die Fenster wieder geschlossen und Anne weiter durch die Scheiben beobachtet. Nachbarn, mit denen sie früher oft gesprochen und gelacht und mal ein Glas Wein getrunken hatte. In Urlauben wurde die Post reingeholt, die Blumen hatte man gegenseitig gegossen und auf die Wohnungen aufgepasst. Aber dann war Anne »irgendwie komisch« geworden, ging gar nicht mehr zur Arbeit, hatte jeglichen Kontakt vermieden, und natürlich hatten die Nachbarn mitbekommen, was der Postbote so an Briefen und amtlichen Zustellungen brachte. Der tratschte nämlich auch ganz gern.

Anne hatte an diesem Tag alles wie durch Watte gesehen. Leute schauten sie an, sie wirkte wahrscheinlich fahrig, wie paralysiert und sehr verwirrt. Wie eine Irre, die unter Drogen stand und eigentlich in eine Zwangsjacke gehörte. Zufällig war sie an ihrem früheren Stammitaliener vorbeigekommen und automatisch stehen geblieben. Hochbetrieb. Mittagszeit. Gerade gingen vier Leute hinein, die Tür fiel langsam wieder ins Schloss, der Geruch von Hackfleisch und Knoblauch drang nach draußen. Hatte sie eigentlich Hunger gehabt, damals? Sie wusste es heute nicht mehr. Später hatte sie oft Hunger gehabt; damals, an diesem Tag im Oktober 2012, noch nicht. Dann hatte sie gesehen, dass die vier Leute im Restaurant ihre ehemaligen Kollegen aus der Werbeagentur waren. Anne war näher zur Scheibe gegangen. Die vier hatten an einem großen Tisch Platz genommen, und sofort brachte der flinke Kellner Weißbrot, Oliven und eine Schale mit hausgemachtem Dip. Anne hatte wie festgenagelt dagestanden und sich keinen Zentimeter bewegt. Nur eine Scheibe trennte ihr altes Leben von ihrem neuen.

Da hatte Berit, eine ihrer ehemaligen Kolleginnen, sie gesehen und durch die Scheibe auf sie gedeutet.

Erst hatten die anderen sie nicht erkannt, aber dann schon.

Und alle hatten begonnen zu kichern, dann steckten sie die Köpfe zusammen und redeten.

Anne hatte sich umgedreht, war die Straße entlanggegangen und hatte nicht mehr zurückgeschaut.

Ihr neues Leben hatte begonnen.

Hamburg, Februar 2014Charlotte

Charlotte stand da und sah sich um. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Seit über zwölf Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Es hatte sich fast nichts verändert.

Vor ihr erstreckte sich das fünfzig Quadratmeter große Wohnzimmer mit dem Parkettboden, der so wunderschöne Intarsien hatte, dahinter die Terrasse, der etwas abschüssige Garten mit den Rosenbüschen, Hortensien und Klematis. Noch blühte nichts, aber das würde bald kommen. Sie trat näher an die riesige Panoramascheibe heran, um einen Moment lang den unverbaubaren Blick auf die Alster zu genießen, die träge vor sich hin floss. Auch das Sonnensegel, der Holztisch, die gemütlichen Stühle und die Liegen waren genau wie damals. Wie oft hatten sie und Alexander hier gelegen, mit einem Glas Caipirinha oder Gin Tonic in der Hand, während durch die Außenlautsprecher die Töne einer Café-del-Mar-CD klangen oder Alex von seinem neuen Bild erzählte, das er gerade in seinem Atelier im obersten Stockwerk malte. Charlotte hatte einen großen Raum extra für ihn umgestalten lassen. Das Licht war wichtig, und ein Architekt hatte Wochen herumgetüftelt, bis alles perfekt war. Alex war glücklich gewesen. Und wenn Alex glücklich war, war Charlotte das auch, selbst wenn ihm der große Durchbruch mit dem Bild nicht gelungen war. Mit den anderen, die davor und danach kamen, ebenfalls nicht.

Es musste ja auch nicht sein. Sie hatte genug Geld gehabt. Ihre Unternehmensberatung wuchs und wuchs, da konnte Charlotte sich nicht beklagen. Und auch in der Liebe schien sie den großen Glückstreffer gelandet zu haben.

Sie hatte Alex auf einer Vernissage eines Kunden kennengelernt. Er war angeschickert und, wie er selbst kokett sagte, eigentlich nichts, aber freischaffender Künstler. So ähnlich wie Jack Dawson in Titanic, hatte er erzählt. Der brauchte ja auch nur ein glückliches Händchen beim Pokern und frische Luft in seinen Lungen.

Der Abend hatte damit geendet, dass sie mit einer Flasche Champagner auf dem Klettergerüst eines Spielplatzes standen, sie vor ihm, mit ausgebreiteten Armen, er hielt sie von hinten umschlungen und rief: »Ich bin der König der Welt!« In diesem Moment hatte Charlotte beschlossen, mit ihm gemeinsam auf dem Schiff zu bleiben. Sie war damals 36 gewesen. An ihrem 37. Geburtstag hatten sie und Alex geheiratet.

Ihre Freunde und auch ihr Anwalt hatten damals darauf gedrängt, dass sie einen Ehevertrag machte, aber sie hatte gelacht und Nein gesagt. Man heiratete doch aus Liebe. In dieser Beziehung war sie absolut das Gegenteil einer Geschäftsfrau. Charlotte, die im Berufsleben kühl, hart und unnahbar war und privat recht lange brauchte, bis sie jemanden an sich heranließ, war von Alex’ Lebensfreude und seiner Einstellung, einfach in den Tag hineinzuleben, wahnsinnig beeindruckt gewesen. Bei ihr war jede Minute von vorn bis hinten durchstrukturiert, Alex war so locker und fröhlich und schaute selten auf die Uhr. Einmal hatte er am Montagmorgen einfach ihren Wecker ausgestellt und gesagt: »Heute machen wir blau und fahren an die Nordsee.«

»Das geht nicht, die Firma«, hatte Charlotte gesagt.

»Du hast Angestellte«, war Alex’ Meinung gewesen, und damit hatte er ja völlig recht. Sie waren im Cabrio nach St. Peter-Ording gefahren und hatten sich einen wundervollen Tag gemacht, der Charlotte einen Sonnenbrand auf der Nase, einen Strohhut, Modeschmuck, ein Strandtuch, eine leckere Meeresfrüchtepfanne, Eis und eine Menge gute Laune eingebracht hatte. Sie hatten Luftmatratzen gekauft und ließen sich von den Wellen rauf- und runterschaukeln; es war einfach herrlich gewesen. Später hatten sie unglaubliche Lust auf eisgekühlten Weißwein bekommen und sich spontan in einem Hotel mit Meeresblick eingemietet, noch mal gut gegessen und noch mehr getrunken. Und dann hatten sie wahnsinnig guten Sex gehabt.

»Ich war noch nie so glücklich«, hatte Charlotte danach geflüstert, und Alex hatte sein Glas gehoben und gesagt: »Dann mache ich ja alles richtig. Wie schön. Das, mein Schatz, hast du auch verdient.«

Sie fühlte sich sicher und geborgen. Wie auf der Titanic, bevor der Eisberg kam und man merkte, dass das Schiff zu wenige Rettungsboote hatte. Und sie hatte bis zum Schluss nicht gemerkt, dass Alex irgendwie unecht war und dass er sich auf ihren Lorbeeren ausruhte und dabei viel zu viel trank. Er hatte sich an das bequeme Leben mit ihr und ihrem Geld einfach gewöhnt. Alex gehörte nicht zu den Männern, die unbedingt ein eigenes Einkommen haben mussten.

Es war so lange her. Über zwölf Jahre. Damals war sie 40, jetzt 52. Nach drei Jahren Ehe war das Aus gekommen, und sie hatte es erst zum Schluss gemerkt, als es zu spät war.

Charlotte ging zur Terrasse und öffnete die Tür. Die klemmte nach so langer Zeit immer noch, Vögel zwitscherten. Der Frühling schien fast da zu sein. Oder zwitscherten manche Vögel immer?

Langsam ging Charlotte raus und sah sich weiter um. Der Holzboden der Terrasse müsste mal wieder mit Teaköl behandelt werden. Aber vielleicht würden sie das nach dem Winter erledigen. Sie ging wieder ins Haus, an den beiden italienischen Sofas und dem Barockspiegel vorbei, und sah, dass hier immer noch ihre orientalischen Teppiche lagen. Sie hatte sie mit Alex gemeinsam auf einer Auktion ersteigert, ein Pärchen aus dem 19. Jahrhundert war das. Angeblich hatten sie mal im Schlafzimmer der Mätresse irgendeines Königs gelegen. Alex und sie hatten das wahnsinnig romantisch gefunden. In der offenen Küche die Pavoni-Espressomaschine, in der Schublade das silberne Christofle-Besteck im klassischen Augsburger Faden, das sie beim Stöbern in einem Münchner Antiquitätengeschäft gefunden hatte. Es hatte zufälligerweise ihre Initialen gehabt: CF. Charlotte Fürst. Sie hatte sich oft gefragt, wem das wohl mal gehört hatte. Da – das Porzellan von Meissen, die Elektrogeräte von Miele. All das hatte sie gekauft. Ihr hatte so viel an diesen Dingen gelegen. Sie verließ die beiden Räume und ging hinaus in den Flur, sah sich weiter um. Langsam, um bloß alles in sich aufzunehmen, ging sie über den Marmorboden im Eingangsbereich, hob den Kopf, um den uralten Kronleuchter aus Frankreich anzuschauen, den man mittels einer Seilwinde hoch- und runterlassen konnte. Alle paar Monate war ein dreiköpfiges Reinigungsteam gekommen und hatte Stunden damit zugebracht, die Prismen und Birnen zu reinigen oder auszuwechseln. Der Lüster hatte einen Durchmesser von fast zwei Metern. Charlotte hatte ihn von einem Kunden zum Dank geschenkt bekommen. Warum, wusste sie nicht mehr. Wahrscheinlich hatte sie seine Mitarbeiter so gedrillt, dass die Firma endlich wieder schwarze Zahlen schrieb. Oder er hatte mit ihrer Hilfe beziehungsweise der Mithilfe der Anwaltskanzlei, mit der Charlotte damals zusammenarbeitete, die Hälfte der Belegschaft entlassen können, ohne Abfindungen zahlen zu müssen. Einen Großteil dieses Geldes hatte dann Charlotte bekommen.

War das eigentlich alles richtig gewesen?

Da, das Bild von … wie hieß der Künstler gleich? Wie hieß er nur? Chagall hieß er. Es war eines der weniger bekannten gewesen, deswegen hatte Charlotte es sich gerade so leisten können. Alex wollte es unbedingt haben, er als Künstler legte großen Wert auf so etwas. Dann hatte er also einen Chagall gehabt. Und noch so einiges mehr. Den 911er zum Beispiel oder den Jaguar. Sie selbst war oft Rad gefahren, auch um fit zu bleiben. Aber Alex liebte seinen kleinen Fuhrpark.

Auch in ihrem Arbeitszimmer war kaum etwas verändert worden. Der alte Mahagonischreibtisch mit der grünen Lederauflage, dem Tintenfass und Stifthalter. Der Ohrensessel. Die vielen Regale mit allem möglichen Krimskrams drin. Die maßgeschneiderten Rollos, die man so einstellen konnte, dass das Licht im Raum wie flüssiges Silber und verzaubert wirkte. Die kleine Anlage, aus der oft die klassische Musik klang, die Charlotte so mochte, wenn sie zu Hause arbeitete. So wie es aussah, saß jetzt wohl Vivian immer hier. Und – Charlotte ging näher zum Schreibtisch – ganz offenbar trank sie aus ihrer Tasse. Es war eine Keramiktasse aus dem Elsass, auf der Charlottes Name stand. Vivi und sie hatten ein Wochenende in Straßburg verbracht, Weinbergschnecken und Foie gras mit Zwiebelmarmelade gegessen und süffigen Wein getrunken. An einem Marktstand hatte Charlotte diese Tasse entdeckt, und Vivi war traurig gewesen, weil es keine Tasse gab, auf der Vivian stand, da der Name wohl zu selten war.

Vivian hatte bei allem, was war, also auch noch die Nerven, aus ihrer Tasse zu trinken. Das fand Charlotte mit am schlimmsten. War sie so wenig wert, war sie so in Vergessenheit geraten, dass man einfach so aus ihrer persönlichen Tasse trank, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, ohne an sie zu denken? Charlotte musste schlucken.

Vivian und Alex waren wohl in der Firma. Klar, es war ein normaler Mittwoch, kurz vor zehn Uhr morgens. Was Alex da genau machte (er hatte keinen Schulabschluss, logischerweise kein Studium und auch keine Ausbildung, nur die »des Lebens«, wie er sagte, und von Unternehmensberatung verstand er so viel wie von höherer Mathematik), war Charlotte genauso wenig klar wie die Antwort auf die Frage, wie alles so aus dem Ruder hatte laufen können.

Sie ging zurück in die Küche, öffnete den Kühlschrank und aß, was sie finden konnte. Hinterher wusste sie noch nicht mal mehr, was es war. Dann ging sie in den Keller. Da stand all das, was in einem Keller eben so stand. Neben einem Fitnessraum auch ein Werkraum. Hier hatte Alex unter anderem Bilderrahmen aus Holz gefertigt und verschieden große Staffeleien gebaut. Wenigstens das konnte er. Und wenn Charlotte sich nicht irrte, lag hier auch ein sehr großer Vorschlaghammer, der noch vom Vorbesitzer stammte. Sie und Alex hatten oft überlegt, wozu der Vorbesitzer den brauchte. Vielleicht hatte er seine Frau damit erschlagen und irgendwo im Haus eingemauert. Eine gruselige Vorstellung, trotzdem hatten sie albern kichern müssen.

Da lag der Hammer. Charlotte hob ihn hoch und lachte nicht.

Mit dem schweren Teil in der Hand ging sie wieder nach oben.

Februar 2014Anne

Die Daunenjacke war viel zu groß, doch das war Anne egal. Es war ihr immer noch peinlich, die abgelegten Kleider von anderen zu tragen, aber was sollte sie tun? In ein Geschäft gehen und klauen? Nein. Mittlerweile hatte sie den Dreh raus, diese Schiebeklappen von Altkleidercontainern so zu bedienen, dass sie mit einer langen Stange Dinge rausziehen konnte. Einmal hatte sie auch gewartet, bis die Männer kamen, die den Container leerten, und die beiden waren so freundlich gewesen und hatten ihr erlaubt, sich die Sachen zu nehmen, die sie brauchte. »Da hast du deinen eigenen Secondhandshop«, hatte der eine Fahrer freundlich gesagt, und Anne hatte genickt, wobei sie sich zum hundertsten Mal fragte, wieso sie eigentlich immer und von jedem automatisch geduzt wurde. War man ein Kind, wenn man auf der Straße lebte? Oder dachten die Leute, alle Obdachlosen seien automatisch zu blöd, um zu wissen, dass man jemanden auch siezen konnte? Oder dachten sie, »so jemand« sei eh nichts wert? Anne machte sich oft über solche Fragen Gedanken. Sie hatte ja jetzt Zeit.

Es war kalt. Nachts Minusgrade. Schließlich nahm sie die Jacke und zwei große Herrenpullover. Dazu Stiefel, die ihr zu groß waren. Das war gut. Da konnte man mehrere Socken anziehen. Zu enge Schuhe waren das Schlimmste. Anne zog ihre Schuhe nachts natürlich nicht aus. Was, wenn man plötzlich aufstehen und wegrennen musste? Schon ein paarmal war es vorgekommen, dass irgendwelche Idioten auftauchten und sie vertrieben. Einem hatte sie mal »Hau ab, du Penner!« zugerufen und zu spät gemerkt, wie lächerlich dieser Ausruf doch gewesen war.

Anne nahm die Sachen und stopfte sie in den Einkaufswagen, den sie vom Edeka geklaut hatte. Der Edeka hier war einer der rar gewordenen Supermärkte, die noch kein Münzsystem für ihre Wagen hatten. Den alten Einkaufswagen hatten ihr besoffene Jugendliche am Samstag weggenommen und durch die Gegend gekickt. Danach hatten sie den Wagen in die Alster geschmissen.

Anne hatte versucht, nicht zu weinen, musste es dann aber doch tun. Sie war herumgelaufen und hatte ihre Sachen zusammengesucht, aber der Wagen war verloren, die Alster zu tief an dieser Stelle. Natürlich hätte sie jemanden fragen können, ob er ihr half, es liefen genügend Leute mit Hunden oder joggende Pärchen herum. Aber Anne hatte die Erfahrung gemacht, dass man sich das auch sparen konnte.

Sie war mal wieder hier, in Eppendorf. Alle paar Wochen kam sie her, in ihre »alte Ecke«. Manchmal ging sie zur Agentur im Eppendorfer Weg und schaute nach oben. Auf dem Fensterbrett ihres einstigen Büros stand eine Sonnenblume in einem goldenen Übertopf.

In ihrer Wohnung im Abendrothsweg wohnte jetzt ein hippes Paar. Es war eine schöne Wohnung im ersten Stock mit drei Zimmern und zwei Balkonen. Dielenboden, weiß lackierte Schiebetüren mit Scheiben, in die Jugendstilornamente in Milchglas eingearbeitet waren. Eine schicke Einbauküche, ein grau-weiß gefliestes Bad. Ein rosarotes Leben.

Anne schaute hinauf. Da hingen ihre alten Balkonkästen aus Terrakotta, die sie mal aus Italien mitgebracht hatte, darin befanden sich Buchsbäumchen, von der neuen Bewohnerin der Wohnung sorgfältig in einen Kälteschutz gewickelt. Vielleicht würde sie im April oder Mai ein paar Primeln oder Narzissen in die Kästen tun und gemütlich mit ihrem Mann auf dem Balkon sitzen und die Nase in die ersten warmen Sonnenstrahlen halten. In den schönen Korbsesseln, die Anne wie alles zurückgelassen hatte. Zurücklassen hatte müssen.

Die letzten Monate damals, im Oktober 2012, waren entsetzlich gewesen. Wie sie aus dem Job gemobbt wurde, wie eiskalt ihr Chef sie rausgeschmissen hatte. Wie sie ihre Miete nicht mehr zahlen konnte, und ihre Freunde sich von ihr abgewandt hatten. Keiner war mehr da, niemand hatte Zeit. Manche hatten ihre Handynummer gewechselt. Dani, eine gute Bekannte, war sogar mal schnell auf die andere Straßenseite geflüchtet, als sie Anne sah.

Dann der Vermieter, der von seinem Vermieterpfandrecht Gebrauch machte (»Tja, da kann man nichts machen, Frau Holzhäuser«), nachdem der Gerichtsvollzieher kam und ihr mitgeteilt hatte, dass ihr nichts mehr gehörte, und sie auf die Straße gesetzt hatte. Zwangsräumung. Anne hatte die Post zum Schluss nicht mehr geöffnet. Sie war zum Schluss auch nicht mehr rausgegangen. Sie hatte gar nichts mehr gemacht zum Schluss, zum Schluss, zum Schluss. Ganz am Anfang, vor dem Schluss, hatte sie noch Hoffnung gehabt. Arbeitsamt, Hartz IV, tausend Formulare, Vorstellungsgespräche, die nichts brachten außer Kopfschmerzen und Schwindel, weil ihr alles zu viel war, sie stand kurz vor dem Zusammenbruch, zitterte, übergab sich einfach so, konnte nicht schlafen, schwitzte, fror, hatte kein Zeitgefühl mehr, konnte sich plötzlich nicht mehr richtig artikulieren, alles Vorboten der schweren Depression, die dann auch zuverlässig an die Tür klopfte, um es sich in Anne gemütlich zu machen. Ihr Hausarzt hatte ihr damals noch eine Überweisung zu einer Psychotherapie ausgestellt, da konnte sie die Kassenbeiträge noch bezahlen. Sie hatte dann tatsächlich eine Therapie angefangen, aber war dann aus der Krankenkasse geflogen, und es dauerte der Therapeutin zu lange, bis Anne das mit der Arbeitsagentur wegen der Kostenübernahme geklärt hatte. Zugegebenermaßen war diese Klärung sehr langsam vor sich gegangen, weil Anne alles so mühevoll fand und vieles vergaß. Und dann beendete die Therapeutin die Zusammenarbeit von heute auf morgen, was Anne in ein tiefes Loch stürzen ließ. Sie hatte diese Hanna Winterstein sogar angebettelt und geweint, was sie würdelos fand, aber es ging nicht anders, sie konnte nichts dafür, sie hatte solche Angst, wieder allein dazustehen. Die Gespräche hatten sie ein Stück vorangebracht, doch es lag noch ein langer Weg vor ihr. Aber Frau Winterstein ging gar nicht mehr ans Telefon, Anne sprach gefühlte hundert Mal heulend auf den Anrufbeantworter, und nie erfolgte ein Rückruf; die Tür wurde auch nicht geöffnet. An der Sprechanlage wurde sie von Frau Winterstein angeschnauzt. Das sei ja schon Stalking. Daraufhin war Anne zu gar nichts mehr in der Lage und konnte sich überhaupt nicht mehr aufraffen. Einmal hatte sie Frau Winterstein noch gesehen, da war sie aber schnell vor ihr weggelaufen. Sie biss sich die Fingernägel blutig, was sie früher nie getan hatte. Der Verfall begann. Es war alles so scheißegal.

Es war noch recht früh am Tag, und Anne hatte Hunger. Sie hatte immer Hunger. 24 Stunden am Tag. Sie beschloss, in eines der ganz reichen Viertel zu gehen, da warfen die Leute manchmal richtig gute Sachen weg. Sie hatte einmal ein noch nicht angebissenes belegtes Brötchen aus einem Mülleimer gefischt und sogar zwei Mettwürste. Später würde sie sich irgendwo dort einen Schlafplatz suchen, sie könnte natürlich auch in eins der Wohnheime gehen, aber das vermied sie, wann immer es ging. Sie hatte noch ein klein wenig Selbstachtung, wollte sich nicht in eine Reihe stellen mit den verwahrlosten, gescheiterten Existenzen, die stanken und randalierten. Also versuchte Anne, auch bei Kälte draußen zu schlafen. Sie besaß zwei Isomatten, die hatte sie mal vor einem Sportstudio gefunden, das alte Sachen vor den Eingang gelegt hatten, damit die Sperrmüllmitarbeiter sie abholten. Außerdem hatte sie einen dicken Schlafsack und jetzt die Daunenjacke, es müsste also gehen. Heute würde sie in Pöseldorf bleiben und abends irgendwo an der Alster ihr Lager aufschlagen. Sie musste morgens nur früh genug fort sein. Am besten, bevor die ersten Jogger kamen. Wobei die ihr nichts taten – sie machten immer nur einen Bogen um sie. Als ob sie die Krätze hätte oder sonst was. Dabei hatte sie gar nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber sie war immer froh, wenn eine Nacht rum war. Einmal hatte sie in irgendeinem Park verschlafen, zwei Schulkinder waren vorbeigekommen, stehen geblieben und hatten dann ihre Schulbrote aus den Rucksäcken gekramt und sie ihr in die Hand gedrückt. Auf dem einen war Leberwurst gewesen, auf dem anderen Salami und Käse. Einen Schokoriegel hatten sie ihr auch noch geschenkt. Anne war so überrascht gewesen, dass sie noch nicht mal »Danke« hatte sagen können.

Am meisten Angst hatte sie vor der Angst. Wenn es dunkel wurde, kam die nämlich angeschlichen. Es war nicht so schlimm, wenn andere Obdachlose in der Nähe waren, wobei sie sich auch bei denen nicht wohl und sicher fühlte. Die meisten waren betrunken und bekamen sowieso nichts mehr mit, egal ob wach oder schlafend. Manchmal übernachtete Anne tatsächlich in einem Wohnheim, gerade im Winter. Aber dort war es furchtbar. So dämlich es klang – sie fühlte sich den anderen gegenüber auf eine arrogante Art überlegen, nach so vielen Monaten immer noch. Und sie hatte schreckliche Angst davor, dass sie so enden könnte wie diese Frau, die in ihrem Alter war und nur noch drei schwarze Zähne im Mund hatte. Anne legte Wert darauf, nicht obdachlos zu wirken. Es gelang ihr nicht immer. Manchmal hatte sie einfach keine Kraft mehr, für nichts. Sie mied sinnfreie Gespräche mit anderen, am liebsten war sie allein. Oft saß sie da und träumte vor sich hin. Von ihrer Wohnung bei Kerzenschein und im Herbstwind wehenden Vorhängen, von Abenden mit Freunden, viel Wein, Fondue und selbst gemachten Dips. Ihre Aiolisoße war der Hit, keine schmeckte besser. Ihre Freunde … weg waren sie. Alle. Waren es Freunde gewesen? Was war mit Elli, mit Stella, mit Dirk und Basti und den anderen aus der alten Clique? Sie hatten sich, nachdem Anne ihren Job verloren hatte, sowieso nicht mehr oft gemeldet, auch weil sie so komisch geworden war. Anne hatte Dirk und Elli damals gebeten, ihr Geld zu leihen, nur zur Überbrückung, aber ihre Freunde hatten behauptet, gerade nicht flüssig zu sein. Die Beiträge für die Lebensversicherungen und die monatliche Belastung für die Eigentumswohnungen waren ja auch höher geworden. Klar. Anne war irgendwann eingefallen, dass sie von Dirk sowieso noch Geld bekam. Sie hatte ihm in einer Notsituation mal 500 Euro geliehen. Als sie Dirk auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, rief er nicht zurück. Als sie vor seiner Wohnung auf ihn gewartet hatte, behauptete er, dass er ihr das Geld schon längst zurückgegeben hätte. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits so verwirrt, dass sie sogar in Betracht zog, es könnte stimmen. Also hatte sie die Sache dann auf sich beruhen lassen. Irgendwann nach ein paar Wochen, als sie nachts auf einer Bank lag und die Sterne beobachtete, fiel ihr ein, dass Dirk ihr das Geld nie zurückgegeben hatte. Es war ihr egal. Sie hatte dagelegen und weiter in den Himmel geschaut, während es später und später wurde. Einmal meinte sie, eine Sternschnuppe gesehen zu haben.

Aber sie hatte sich dann doch geirrt. Da war keine Sternschnuppe am Himmel. Anstatt sich etwas zu wünschen, hatte sie stattdessen auf Rascheln und andere Geräusche geachtet, und oft klopfte ihr Herz. Denn sobald es dunkel wurde, kam dieses Gefühl der Hilflosigkeit, die Furcht davor, dass jemand ihr etwas antun könnte. Anne fehlte die Sicherheit von Wänden und Türen, das, was früher selbstverständlich gewesen war, vermisste sie so sehr, dass es wehtat. Ihr schönes Bett mit der guten Matratze, die Möglichkeit, sich immer einfach so Kaffee zu machen oder Essen aus dem Kühlschrank zu nehmen.

Ihr fehlte das normale Leben. Gemeinsames Kochen, Lachen und ins Kino gehen, das Knarren des Dielenbodens an einer bestimmten Stelle, Baden in Lavendelschaum, die blonden Locken bei ihrem Stammfriseur um die Ecke in Form bringen lassen, Maniküre bei Frau Hollinger, die immer über ihren Hund redete, zweimal die Woche Sport. Alles weg. Wenn sie an all das dachte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Nicht dran denken, nur nicht.

Ihr Magen knurrte. Es war Februar. Wie sollte das weitergehen? Sie rappelte sich auf und lief Richtung U-Bahn, fuhr in Richtung Pöseldorf, durchforstete die Mülleimer und schaute, ob sie was finden konnte. Ihre Ausbeute nach einer halben Stunde waren ein Schokoriegel, eine halbe Flasche Cola und ein Stück von einem Plunderteilchen mit Zuckerguss. Sie verschlang alles gierig, dann ging sie weiter, an ein paar schönen Häusern vorbei. Aus einem besonders hübschen Patrizierhaus drang ein ohrenbetäubender Lärm. So, als würde jemand das komplette Mobiliar zertrümmern. Aber vielleicht wurde auch nur renoviert. Was ging sie das an? Trotzdem blieb sie einen Moment stehen und lauschte.

Charlotte

In der Küche fing sie an. Vor dem ersten Schlag verspürte sie so was wie den Anflug eines schlechten Gewissens. Noch nie zuvor hatte sie mutwillig etwas kaputt gemacht. Aber als sie sah, wie die Scheiben der Oberschränke zersprangen und sie dann dieses wundervolle Geräusch hörte, als die mundgeblasenen Wassergläser zersplitterten, geriet sie in einen Rausch. Sie zertrümmerte alles, was sich zertrümmern ließ. Alles, was sie mal angeschafft und geliebt hatte.

Nachdem das Erdgeschoss geschafft war, ging sie die Treppen hoch, um oben weiterzumachen. Das schöne Bad im römischen Stil sah nach ihrem Einsatz nicht mehr wie ein Bad aus, dafür roch es nun überall nach Rosen, weil sie auch die Kristallflaschen mit den Badeölen zerstört hatte.

Als sie fertig mit allem war, packte sie den Chagall ein. Das Bild war nicht sehr groß und passte in eine Plastiktüte von Lidl, die sie dabeihatte. Die Tüte war zwar dreckig, weil Bier aus Pfandflaschen darin ausgelaufen war, aber das war egal. Dann fiel ihr ein, dass sie ihre High Heels früher so geliebt hatte. High Heels und Handtaschen. Alles würde sie nicht mitnehmen können, aber jede Wette, dass Vivi viele ihrer Sachen behalten hatte, jedenfalls die, die ihr halbwegs passten. Auch die Schuhe? Gut möglich. Immerhin hatten sie dieselbe Schuhgröße gehabt, und Vivi hatte sich oft Schuhe von ihr ausgeliehen. Charlotte hatte einen Schuhtick gehabt, damals in diesem anderen Leben. Damit war sie ja nicht alleine. Viele Frauen hatten einen. Aber nicht jede Frau mit Schuhtick kaufte sich vier Paar, weil sie gerade Lust dazu hatte. Nicht irgendwelche Schuhe, ihr kamen auch keine Louboutins ins Haus, nein, Charlotte ließ ihre Schuhe anfertigen, sogar die Sneakers, die sie zum Laufen anzog. In einem kleinen Geschäft in der Innenstadt, ganz versteckt in einer Seitenstraße, die vom Neuen Wall abging, werkelte Madame Manon, die es aus Paris hierher verschlagen hatte – der Liebe wegen – und die sich der hohen Kunst des Schuhemachens verschrieben hatte. Manon hatte einen derart guten Ruf, dass sogar Scheichs aus Dubai und angeblich auch Mitglieder der britischen und niederländischen Königsfamilie bei ihr Kunden waren. Ein Paar Schuhe von Manon kosteten ordentlich Geld, aber Charlotte hatte es sich leisten können. Was waren schon dreitausend Euro, wenn man im Jahr vier Millionen netto hatte?

Sie stellte die Tüten ab und lief schnell noch einmal die Treppe hinauf, ging in ihr ehemaliges Ankleidezimmer, in dem sie vorhin nicht gewesen war, und bekam einen Schreck, als sie sich selbst im einzig noch heilen Spiegel des Hauses sah. Die Haare wirr, grau und fettig, das Gesicht eingefallen und fahl, die Klamotten verdreckt und die Fingernägel abgebrochen. Und sie war so dünn.

Charlotte öffnete einen Schrank, nahm zwei Paar ihrer Schuhe heraus, die es tatsächlich noch gab, dann holte sie aus dem anderen Schrank eine große beige Schultertasche von Hermès. Als sie alles zusammenhatte, trat sie erneut vor den Spiegel. Und trat zu. Immer und immer wieder, so lange, bis er von der Mitte aus Risse bekam und schließlich in sich zusammenfiel. Es hörte sich an, als würden Diamanten auf den Boden rieseln. Apropos Diamanten. Wo war eigentlich ihr Schmuck? Sie durchsuchte das Zimmer, aber Vivi hatte wohl alles in den Tresor getan. An den Code konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Charlotte beschloss, noch mehr Wertsachen mitzunehmen. So viel sie tragen konnte. Sie ging nach unten und wollte gerade eine Skulptur von Rodin in die Tüte stecken, als sie ein Geräusch hörte. Jemand schloss die Haustür auf. Schnell versteckte sie sich in der Garderobennische. Es war Frau Schmitz, die Putzfrau, die damals schon zu ihr gekommen war. Zweimal pro Woche, dienstags und freitags. Charlotte hielt die Luft an und wartete. Dann sah sie, wie Frau Schmitz entsetzt und mit der Hand vorm Mund loslief und dann einen Schrei ausstieß. »Oh, oh, oh, ich muss die Polizei anrufen«, jammerte die ältere Frau und lief zum Telefon, dessen Ladestation sich im Wohnzimmer befand.

Diesen Moment nutzte Charlotte und verließ ihre ehemalige Patriziervilla in Pöseldorf. Den Schlüssel, den sie noch gehabt hatte – er war ins Innere einer Jacke gefallen, deren Tasche an der Innenseite gerissen war – hatte sie dummerweise im Haus liegen gelassen. Daher konnte sie leider nicht noch mal zurückkehren, wenn alles renoviert war, erneut zuschlagen und ihre Sachen da rausholen. Andererseits würden Alex und Vivi nun mit Sicherheit die Schlösser austauschen lassen. Also war es egal. Es würde bei diesem einen Mal bleiben.

Trotzdem fühlte Charlotte sich gut. Verdammt gut. Das Wüten in ihrem ehemaligen Haus hatte Endorphine in ihr freigesetzt. Das hatte sie lange nicht mehr verspürt.

Sollten sie sie doch verdächtigen. Im Haus waren mit Sicherheit sowieso noch Fingerabdrücke von ihr gewesen. Und überhaupt: Sie wussten doch gar nicht, wo sie war. Von den Nachbarn hatte sie wahrscheinlich auch niemand gesehen, sonst hätte man ja die Polizei geholt. Bestimmt hatte niemand sie erkannt. Von der ehemaligen Charlotte Fürst im Chanelkostüm war nicht mehr viel übrig. Und sie hatte Handschuhe angehabt.

Selbst wenn man sie verdächtigen, finden und verhaften würde. Na und? Im Gefängnis würde es wahrscheinlich sogar angenehmer sein als auf der Straße. Und eine Geldstrafe? Über die würde sie nur lachen. Wie hieß es doch: Einer nackten Frau kann man nicht in die Tasche greifen.

Geld hatte sie keins. Nur zwei Paar Schuhe und den Chagall. Und sie war für den Moment nicht hungrig. Charlotte würde darüber nachdenken.

Heute war ein guter Tag.

Dann bemerkte sie, dass sie etwas in der rechten Hand hielt. Ihre Namenstasse aus dem Elsass. Aus irgendeinem Grund musste sie die eben mitgenommen haben. Diese Tasse mit ihrem Namen darauf. Charlotte fing leise an zu weinen.

Anne

Sie sah die Frau rauskommen. Sie wirkte merkwürdig. Nicht wie eine Einbrecherin, eher wie die Hausbewohnerin, die ein paar Nächte durchgemacht hatte. Obwohl sie lumpige Klamotten trug, hatte sie etwas Edles an sich. Sie ging aufrecht und mit festen Schritten, hatte eine Plastiktüte in der Hand und in der anderen eine Tasse. Es war ein komisches Bild. Das große herrschaftliche Haus im Hintergrund, der Kiesweg, das schmiedeeiserne Tor. Anne ging rasch auf die andere Straßenseite und stand nun hinter einem Auto. Die Frau knallte die Pforte hinter sich zu und ging mit erhobenem Haupt die Straße entlang. Manchmal zuckten ihre Schultern. Sie schien zu weinen.

Sie tat Anne leid, aber was sollte sie tun? Sie musste sehen, dass sie den Tag irgendwie rumkriegte. Vielleicht war das die Putzfrau der reichen Hausbesitzer gewesen. Aber machte eine Putzfrau solchen Lärm?

»’Tschuldigung«, sagte da eine Frau, und Anne ging einen Schritt zur Seite, um die alte Dame durchzulassen. Sie war klein, hutzelig, hatte graues kurzes Haar und schlurfte. Ihr leerer Blick verriet, dass sie keine Perspektive hatte, dafür umso mehr Korn trank, das roch Anne zehn Meter gegen den Wind. Eine wie sie. Oder auch nicht. Anne ging ihr nach, sie musste sowieso in die Richtung, weil sie im Mittelweg noch ein bisschen in den Papierkörben wühlen wollte.

Gerti

Ihren 73. Geburtstag hatte die grauhaarige, verhutzelte, schlurfende Gerti mit zwei Freunden gefeiert: Lumpi und der Hoffnungslosigkeit, ihrer allertreuesten Begleitung. Die Feier war nicht schlecht verlaufen. Durch Betteln und Einsammeln von Pfandflaschen war es ihnen gelungen, genug Kohle zusammenzubekommen, um bei Aldi ein paar Liter billigsten Korn und ein paar Gläser mit Fruchtkonfitüre kaufen zu können. Wenn man Korn und Zucker gleichzeitig zu sich nahm, kam man schneller dahin, wohin man wollte – in diese schöne Welt der Benebelung, die irgendwann weiterging und im Halbdelirium endete. Gerti aß gern Marmelade zum Alk, da hatte man wenigstens noch was im Magen. Und Konfitüre war am billigsten, weil sie den wenigsten Fruchtgehalt hatte und eben mehr Zucker. Solche Sachen hatte Gerti schnell gelernt. Lumpi war in Lurup, Gertis alter Heimat, unterwegs gewesen und hatte in einer Schrebergartenanlage ein Häuschen gefunden, das offenbar schon länger leer stand und sich ganz hervorragend für sie eignete. Nur aufs Feuermachen mussten sie verzichten. Das Gelände war um diese Zeit wie ausgestorben, erst später würden die ersten Gärtner kommen und nach den winterharten Pflanzen schauen und nach ihren Lauben. Klar, manchmal war jemand da, aber da musste man eben mal die Klappe halten. Klos gab es nicht, aber da konnte man sich behelfen, fast überall gab es Komposthaufen, die man wenden konnte. Da durfte man nicht zimperlich sein.

In den 18 Jahren auf Hamburgs Straßen hatte Gerti gelernt, wie man sich verhalten musste, um nicht aufzufallen. Sie wusste, ob sich nähernde Schritte gefährlich oder harmlos waren, sie hörte am Klappern der Absätze, welche Art Schuhe es waren. Schuhe mochte sie. Hatte sie schon immer gemocht. Aber sie hatte nie mehr als zwei Paar besessen. Flache Schuhe, in denen man gut laufen konnte. Nie hohe. Oft saß sie vor einem edlen Supermarkt, bettelte und sah die schicken Frauen mit ihren teuren Schuhen rauskommen. Manchmal fragte sie sich, wie es wohl war, in solchen Schuhen zu laufen. Einige Absätze waren so hoch und dünn, dass es qualvoll aussah. Und es kam immer mal wieder vor, dass die Damen darin umknickten. Die Damen trugen auch teure Kleidung. Das sah man einfach.

Ganz am Anfang, also 1996, nachdem sie raus war aus dem Knast und feststellen musste, dass sie keine Perspektive hatte, war Gerti in Pöseldorf herumgestreunt, was sie auch heute noch hin und wieder tat. Dieser Hamburger Stadtteil wurde auch Schnöseldorf genannt, hier wohnten wie in Blankenese die superreichen Leute, aber sie waren eher neureich. Das alte Geld war in der Elbchaussee zu Hause, und zwar auf der Wasserseite, auch Butterseite genannt. Hatte man sein Haus auf der Landseite, war es die Margarinenseite. Aber egal ob gutes oder schlechtes Fett, reich waren sie alle.

Nicht dass die neureichen Pöseldorfer besonders freizügig waren, im Gegenteil. Aber die warfen wenigstens mehr weg. In den ärmeren, normaleren Stadtteilen klappte es dagegen mit dem Betteln besser. Da waren die Leute bodenständiger und ekelten sich nicht gleich. Hier in Pöseldorf wurde sie oft weggejagt, aber es gab einen Bäcker und einen Mitarbeiter in einem Supermarkt, die gaben ihr nach Geschäftsschluss immer mal was ab. Und manchmal ließ Johann vom Supermarkt abends eine der Mülltonnen offen, dann, wenn alle weg waren, konnten sich Gerti und die anderen was rausholen. Da waren ja manchmal Sachen dabei! Apfelsinen, Äpfel, Aufschnitt, ganze Brote! Abgelaufene Joghurts und Puddings, Kekse und alles mögliche andere Zeug! Leider sprach sich eine solche Freizügigkeit schnell herum, und man musste sich beeilen, um noch was abzukriegen.

Damals hatte Gerti also oft in Pöseldorf vor einem schicken Supermarkt gesessen und die reichen Leute beobachtet, denen es nichts ausmachte, hundert Euro und mehr für einen Einkauf auszugeben. Aus ihrer Hundeperspektive hatte sie einen guten Blick. Sie schloss von der Art der Kleidung auf ihre Trägerin. Es gab Frauen, die wollten um jeden Preis auffallen, und es gab welche, die waren eher nordisch nobel. Schlicht, aber teuer gekleidet. Gerti sah, ob die Fingernägel regelmäßig behandelt wurden, ob die Damen gerade beim Friseur gewesen waren. Das roch sie auch oft. Hatten sie die Haare färben lassen, war das ein unverwechselbarer Geruch in der Kombination mit Haarspray, das oft fruchtig duftete. Diesen Geruch kannte sie von früher, ach, es war so lange her. Und dann der Schmuck. So selbstverständlich trugen die Frauen dicke Ringe mit bunten Steinen, Armbänder, an denen glitzernde Anhänger baumelten, große goldene Uhren und Ketten. Auf den Handtaschen standen die Herstellernamen, und eine bestimmte Frau hatte es Gerti besonders angetan. Weil sie fast täglich hier einkaufte, viele Leute kannte und immer, wenn Gerti sie sah, eine andere Handtasche und immer andere Schuhe trug. Oft hatte die Frau einen etwas jüngeren Mann dabei, und die beiden lachten. Er war auch teuer angezogen, sah aber ein bisschen aus wie ein Luftikus. Manchmal klaute der junge Mann im Vorbeigehen an einem der Obststände, die vor dem Markt aufgebaut waren, eine Erdbeere oder ein paar Trauben aus einer Schale. Und niemand sagte was. Der eine Mitarbeiter, der draußen die Obstkörbe auffüllte, hatte sogar gelacht. Gerti hatte das dann auch mal probiert und war sofort angeschnauzt worden. Na ja, auch verständlich, sie kaufte hier ja nicht ein. Manchmal klaubte Gerti bunte Illustrierte aus dem Müll und las von Elizabeth II. und von Prinzessin Diana, die so tragisch ums Leben gekommen war, von der Königin Máxima aus Holland, die ein so schönes blaues Kleid bei der Krönung getragen hatte. Sie sah gern die Fotos der Königinnen und Könige an und las gern die Geschichten. Ach, die hatten es gut. Dauernd konnten sie Kronen tragen und schliefen in weichem Bettzeug. Und hatten lauter Leute, die sich um alles kümmerten. Ein wundervolles Leben. Dann musste sie an früher denken und was sie da alles erlebt hatte. Es waren schöne, schöne Zeiten gewesen, bevor sie … ach, nicht drüber nachdenken.

Die Frau aus dem Supermarkt hieß Charlotte, das bekam Gerti mit, weil diese Charlotte hier wirklich viele Leute kannte. Und sie trug die dicksten Ringe und Ketten und eine Armbanduhr, die ganz schön teuer aussah. Trotzdem wirkte sie nicht protzig.

Und sie knickte beim Gehen nie um. Gerti vermutete, dass sie schon ihr Leben lang auf hohen Schuhen ging, weshalb ihr das in Fleisch und Blut übergegangen war.

Sie war eine sympathische Frau. Groß, über eins siebzig, schlank, durchtrainiert, mit dunklen, glatten Haaren und einem Pony. Charlottes Haut war immer leicht gebräunt, und sie hatte ein liebes Lächeln, weiße Zähne und benutzte ein hübsches Lipgloss. Sie sah so aus, als ob sie keinen reichen Mann hatte, sondern selbst arbeiten würde. Ja, sie sah so aus, als ob sie zu schätzen wüsste, dass es ihr so gut ging. Hin und wieder legte sie Gerti eine Ein- oder Zweieuromünze in die alte Pappschachtel, manchmal auch einen Fünfeuroschein. Der Mann, der sie manchmal begleitete, gab nie was.

Die Knochen taten Gerti weh, und sie beschloss, in dieser Nacht woanders zu schlafen. Die Laube war sowieso schon eng genug, und dann noch mit den anderen. Lumpi war derzeit nicht gut drauf. Mal war er aggressiv, dann wieder verschlossen und sagte stundenlang keinen Ton. Nein, dachte Gerti. Heute würde sie in eines der Heime gehen. Sie war sehr müde und sehr schlapp. Auf dem Kiez war eins, das gab es schon lange. Sie mochte die Leiterin, Schwester Magdalena, eine Nonne, die sich den Armen verpflichtet hatte. Im Heim gab es wenigstens was Warmes zu essen, und die Heizung war an. Zur Not konnte Gerti auf dem Boden schlafen, das hatte sie schon vor Jahren gelernt. Ihre Knochen waren zwar alt und hatten viel mitgemacht, aber der Mensch gewöhnte sich ja an alles.

Sie drehte sich um. Hinter ihr lief die blonde Frau mit gesenktem Kopf in einem viel zu großen Parka. Auf der anderen Straßenseite ging eine große Frau, die zu weinen schien. Jedenfalls wischte sie sich dauernd im Gesicht herum.

Sie verbrachte den Tag mit Nichtstun. Als es dunkel wurde, fuhr sie schwarz mit der U-Bahn von der Hallerstraße bis St. Pauli. Hier waren keine Kontrolleure, und wenn doch, ließen sie sie fahren. Sie stieg aus und ging langsam Richtung Ausgang. Auf dem Weg zum Agathenhaus blieb sie an jeder Mülltonne stehen und beobachtete die Straße. Nach so vielen Jahren konnte sie immer noch kaum glauben, was die Leute alles wegschmissen. Halb aufgegessene Burger, Hotdogs, Sandwiches. Natürlich musste sie den Hunden zuvorkommen, die andere Obdachlose bei sich hatten. Die Hunde schienen zu wittern, wann jemand etwas fallen ließ, und sprangen blitzschnell nach vorn. Aber Gerti war trotz ihrer 73 Jahre flink. Und auch wenn es im Heim vielleicht Suppe gab, Hunger hatte sie immer. Ihr Rücken tat weh, das Rheuma machte ihr zu schaffen. Sie fühlte sich wie 90. Sie war zu schnell zu alt geworden, hatte einfach die Jahre übersprungen. Noch immer konnte sie sich genau an den Tag des Urteilsspruchs erinnern. Als sie zur Toilette gebracht wurde und sich dann wie in Trance die Hände wusch und in den Spiegel geschaut hatte. Sie war von einem Tag auf den anderen mindestens fünfzehn Jahre gealtert. Sie hatte es kaum fassen können.

Gerti bog in die nächste Straße ein und lief langsam auf das Heim zu. Davor standen zwei Frauen. Gerti blinzelte. Ihre Augen waren auch nicht mehr die besten. Vielleicht waren’s Nutten. Vielleicht aber auch nicht.

Kapitel 2

Hamburg, im Februar 2014Vor dem Agathenhaus, abends

Gerti wollte gerade an den beiden Frauen vorbeigehen und hielt den Kopf gesenkt, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden, da fiel ihr auf, dass sie die beiden heute schon gesehen hatte. In Pöseldorf. Sie hatte vorhin nicht richtig hingeschaut, jetzt dagegen sah sie, dass die zwei auch auf Platte sein könnten. So hatten die beiden in Pöseldorf nicht ausgesehen, oder sie hatte einfach nicht darauf geachtet.

Egal. Sie hatte keine, aber auch gar keine Lust, jetzt mit anderen Weibern über die Miesheit der Welt zu labern, ob sie die Damen schon mal getroffen hatte oder nicht. Die Frauen auf der Straße waren nämlich teilweise viel schlimmer als die Männer. Manchmal hatte Gerti das Gefühl, dass die Weiber froh waren, endlich mal die Fäkalausdrücke benutzen zu können, die sie schon immer hatten benutzen wollen. Jetzt, wo alles egal war, ging das endlich. Früher wäre es unanständig gewesen. Die Frauen wurden auch schneller aggressiv und keiften bei der kleinsten Kleinigkeit herum. Bei vielen herrschte ein unfassbarer Zickenkrieg. Dabei hatten einige früher einen guten Job gehabt, Gerti hatte mal eine Ärztin kennengelernt und eine Frau, die Flugzeuge geflogen war. Wie hieß der Beruf noch mal? Manchmal fielen ihr die einfachsten Wörter nicht ein. Manche verstand sie auch nicht. Sie war eine einfache Frau, immer schon gewesen. Und im Grunde brauchte sie auch keine fremden Wörter und anderes hochgestochenes Zeug. Vieles hatte sie auch im Lauf der Jahre einfach vergessen. Weil es unwichtig war.