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Was sich liebt, das neckt sich … KÜSSE UND ANDERE MISSGESCHICKE: Nora liebt ihre Arbeit im exklusiven »Weißen Schloss«. Niemand versteht es besser, den noblen Hotelgästen jeden noch so extravaganten Wunsch von den Augen abzulesen – doch als sie sich vor dem gutaussehenden Schlossbesitzer Jan Hohenstedt beim ersten Treffen bis aufs Mark blamiert, sieht Nora schon ihre Kündigung ins Haus flattern. Dieser scheint jedoch ganz andere Pläne zu haben … KALTER TEE UND HEISSE KÜSSE: Werbetexterin Lena ist genervt. Nicht nur steht sie vor der unmöglichen Aufgabe, ein trauriges Diätfutter für adipöse Bernhardiner zu bewerben, sie soll dafür ausgerechnet mit Magnus zusammenarbeiten, dem arroganten Liebling ihrer Chefin. Als sie dabei auch noch versehentlich der Inhalt ihrer Teetasse auf dessen teurem Anzug landet, rechnet Lena mit einem Donnerwetter – doch stattdessen küsst Magnus sie plötzlich und ihre Welt steht Kopf … Ein heiter-romantischer Sammelband für alle Fans von Elena Armas und Petra Hülsmann.
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2025
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KÜSSE UND ANDERE MISSGESCHICKE: Nora liebt ihre Arbeit im exklusiven »Weißen Schloss«. Niemand versteht es besser, den noblen Hotelgästen jeden noch so extravaganten Wunsch von den Augen abzulesen – doch als sie sich vor dem gutaussehenden Schlossbesitzer Jan Hohenstedt beim ersten Treffen bis aufs Mark blamiert, sieht Nora schon ihre Kündigung vor sich liegen. Dieser scheint jedoch ganz andere Pläne zu haben …
KALTER TEE UND HEISSE KÜSSE: Werbetexterin Lena ist genervt. Nicht nur steht sie vor der unmöglichen Aufgabe, ein trauriges Diätfutter für adipöse Bernhardiner zu bewerben, sie soll dafür ausgerechnet mit Magnus zusammenarbeiten, dem arroganten Liebling ihrer Chefin. Als sie dabei auch noch versehentlich der Inhalt ihrer Teetasse auf dessen teurem Anzug landet, rechnet Lena mit einem Donnerwetter – doch stattdessen küsst Magnus sie plötzlich und ihre Welt steht Kopf …
eBook-Neuausgabe September 2025
Die deutsche Erstausgabe von »Küsse und andere Missgeschicke« erschien 2018 in »Julia Kiss 6: Küsse und andere Missgeschicke« im CORA Verlag, Hamburg; Copyright © 2018 by CORA Verlag; Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München.
Die deutsche Erstausgabe von »Kalter Tee und heißer Küsse« erschien 2018 in »Julia Kiss 4: Nur Küsse schmecken besser« im CORA Verlag, Hamburg; Copyright © 2018 by CORA Verlag; Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Vilor, FooTToo , Nopporn Yanyong, Olga Gi, b-studio, Tatiana Bralina, Daniela Baumann
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (cdr)
ISBN 978-3-69076-044-7
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Steffi von Wolff
Zwei Romane in einem eBook
Nora schaute sich in der Suite um. Alles war perfekt. Die dunkelgrüne Samtdecke lag faltenfrei über dem ausladenden, übergroßen Himmelbett, über den gedrechselten Mahagonipfosten befand sich der frisch gereinigte, brokatbesetzte Baldachin. Orientalische antike Läufer mit dezenten, aber farbenprächtigen Mustern bedeckten einen Teil der jahrhundertealten Dielen. Der wunderschöne Barockschrank mit Intarsien stand präsent, aber nicht protzig an der linken Wand, schräg gegenüber von der filigranen Frisiertoilette aus edlem Kirschholz. Die hellbeigefarbenen Vorhänge fielen weich und üppig und bis weit auf den Boden. Trat man ans Fenster, hatte man einen wundervollen Blick auf Wälder und Felder. Jetzt im Juli war es hier besonders schön.
Das Prunkstück der Suite aber war der wunderschöne Kronleuchter, ein Geschenk eines hessischen Prinzen an die ehemaligen Schlossbesitzer. Er befand sich in dem angrenzenden Wohnraum mit der Chaiselongue und weiteren Sitzgelegenheiten im Empirestil und den zierlichen Tischchen, auf denen silberne Kerzenleuchter und Blumen standen. Insgeheim hatte Nora diese schönste Suite des Hotels »die Märchensuite« getauft. Schon oft hatte sie sich vorgestellt, hier einmal selbst zu übernachten, zusammen mit einem Mann, den sie liebte. Aber diesen Gedanken verwarf sie immer schnell wieder, denn derzeit war der Begriff »Liebe« gar nichts für sie. Seit fast zwei Jahren war sie nun schon Single, und sie hatte ganz sicher nicht vor, das in naher Zukunft zu ändern.
Bernhard. Nora musste unwillkürlich den Kopf schütteln, als sie an Bernhard dachte. Mit ihm hätte sie sich vorstellen können eine Familie zu gründen. Damals. Nicht dass Bernhard sie wegen einer anderen verlassen hatte. Das wäre ja noch einigermaßen nachvollziehbar gewesen. Nein, er war die ganze Zeit über verheiratet gewesen. Als selbstständiger Unternehmensberater war er in ganz Deutschland unterwegs, und eines Tages war er im Hotel »Weißes Schloss« abgestiegen. Nora war sofort von ihm fasziniert, er hatte diese gewisse Art an sich, die eine Frau glauben ließ, sie sei einzigartig auf der Welt. Bernhard war groß, aber nicht zu groß, durchtrainiert, aber nicht zu durchtrainiert, hatte unglaublich schöne, gepflegte Hände, eine angenehme, liebevolle Stimme, und dass sich in seinen dunklen Haaren einzelne graue befanden, machte ihn für Nora noch attraktiver. Natürlich hatte Bernhard ihr nichts von seiner Frau und seinen zwei Kindern erzählt, sondern sie im Glauben gelassen, es würde nur sie für ihn geben. Es war eine wundervolle Zeit gewesen. Immer wenn es ging, hatten sie sich getroffen, Wochenenden zusammen verbracht und Zukunftspläne geschmiedet. Bis eines Tages Bernhards Handy klingelte, während er gerade unter der Dusche stand. In Bayreuth waren sie da gewesen, er hatte von einem Geschäftspartner Karten für die Festspiele bekommen, und Nora freute sich auf die drei Tage, die vor ihnen lagen. Auf dem Handydisplay stand Zuhause, und kurze Zeit später ertönte der Kurzmitteilungston für neue Nachrichten. Weil Bernhard immer noch unter der Dusche stand und Nora neugierig war, hatte sie die Nachricht abgehört.
»Hallo, mein Schatz, hier ist Silvia«, hörte sie eine weibliche Stimme. »Ich wollte nur fragen, ob du gut angekommen bist. Larissa hat immer noch Fieber, aber es ist schon besser geworden. Mark hat am Sonntag ein Fußballspiel. Er würde sich so freuen, wenn du es schaffst, rechtzeitig da zu sein. Er vermisst seinen Papa ganz doll.«
Pause.
»Und ich dich natürlich auch.«
Pause.
»Der Ring ist so schön. Ich wollte mich noch mal dafür bedanken. Ist es nicht unglaublich, dass wir jetzt schon zwölf Jahre verheiratet sind? Ich liebe dich, Berni. Rufst du später mal an? Und arbeite nicht so viel. Und vergiss deine Blutdrucktabletten nicht.«
Berni …
Nora hatte sich damals gesetzt und versuchte, ganz normal weiterzuatmen. Als Bernhard aus dem Badezimmer kam, gut gelaunt und voller Vorfreude auf das Wochenende, sagte sie nur: »Du hast mir gar nicht erzählt, dass du Probleme mit dem Blutdruck hast.«
Sie hielt Bernhard das Handy hin, und der hörte die Nachricht ab. Nora saß die ganze Zeit still da und wartete. Auf eine Erklärung, auf eine Entschuldigung, auf was auch immer. Doch Bernhard schwieg. Als sie aufblickte, sah sie, dass er knallrot war. Die ganze Sache schien ihm äußerst unangenehm zu sein.
»Bitte sag etwas. Irgendetwas.« Noras Stimme war leise, und sie konnte auch nicht weitersprechen, weil sie immer noch nicht verarbeitet hatte, was sie da gerade gehört hatte.
Schließlich meinte Bernhard knapp: »Verschwinde.«
Nora war damals aufgestanden und hatte sich an der Kante des Schreibtischs festgehalten.
»Du wagst es, mir hinterherzuspionieren!«, hatte Bernhard gebrüllt und mit dem Handy vor ihrer Nase herumgefuchtelt. »So etwas kann ich überhaupt nicht gebrauchen. Glaubst du, dass du die Einzige bist? Glaubst du, ich verschwende mein Leben, um nur eine einzige Frau zu haben? Nein, ich habe in jeder Stadt eine, meine Liebe. Aber das braucht Silvia nicht zu wissen. Warum auch? Schließlich ist sie versorgt. Sie kann sich nicht beklagen!«
Wütend war er im Hotelzimmer umhergestapft, um sich währenddessen immer mehr in Rage zu reden.
Nora war blass geworden. Ihre Finger krallten sich in die Tischkante, bis die Knöchel weiß wurden. »Das heißt, du hast noch mehr … Freundinnen?«, brachte sie schließlich heraus.
»Was heißt Freundinnen!«, schrie Bernhard sie an. »Nenn es Freundinnen, nenn es Geliebte, nenn es einfach Abwechslung. Aber keine hat es je gewagt, hinter mir herzuschnüffeln. Danke, das brauche ich ganz sicher nicht.« Und dann sagte er: »Mach, dass du wegkommst. Scher dich zum Teufel.«
Wie in Trance hatte Nora damals ihren Koffer gepackt, das schöne rote Abendkleid, das schon ausgebreitet auf dem Bett lag, wieder zusammengelegt und hatte das Zimmer verlassen. Das war das letzte Mal, dass sie Bernhard gesehen oder etwas von ihm gehört hatte. Von ihm kam gar nichts mehr, nichts. Mit der Zeit hatte sie ihn vergessen, was allerdings nicht immer einfach gewesen war. Eines hatte sie sich damals geschworen: Niemals wieder würde sie sich mit einem Mann einlassen, den sie nicht durch und durch kannte. Und wenn sie einen Detektiv auf ihn ansetzen müsste.
Aber das musste sie momentan gar nicht. Sie hatte überhaupt keine Lust auf irgendeine Beziehung und auch nicht auf ein Abenteuer. Das Thema Mann war so weit weg wie sonst nichts. Das war auch ganz gut so. Noras Leben verlief in relativ ruhigen, beschaulichen Bahnen – warum sollte sie etwas daran ändern?
Die Tür ging auf und Luzie kam rein.
»Ach, da bist du. Na, hab ich das nicht schön gemacht?« Sie deutete auf einen der Tische. »Sogar an frische Lilien hab ich gedacht. Damit die olle Zicke nicht wieder was zu meckern hat.«
Nora lächelte. »Du meinst wohl Frau Oberstaatsanwältin Dennenburger«, sagte sie in näselndem Ton und strich sich eine Strähne ihres hellblonden Haares zurück. »Aber das Obst hast du vergessen.« Sie zeigte auf eine weiße Porzellanschale.
Luzie sah Nora grinsend an. »Die Dennenburger hat eine Kernobstallergie. Das solltest du eigentlich wissen. Aber ich lege nachher noch ein paar Äpfel unters Bett. Vielleicht kriegt sie ja davon wenigstens einen kleinen Ausschlag.« Prustend ließ sich Luzie in einen der Sessel fallen. »Bin ich fertig. Putz du mal zwölf Zimmer bei dieser schrecklichen Hitze.«
Luzie studierte Betriebswirtschaft und Marketing und war eine der Besten ihres Jahrgangs. Immer in den Semesterferien jobbte sie im »Weißen Schloss«, wo sie alle Abteilungen durchlief. »Ich möchte irgendwann ein Tagungshotel eröffnen«, hatte sie Nora erklärt. »Und ich möchte alles von der Pike auf lernen.« Also schnippelte Luzie in der Küche bergeweise Gemüse, polierte Messingklinken, organisierte Veranstaltungen, mangelte Bettwäsche und putzte nun seit ein paar Wochen Zimmer. Sie war mit ihren vierundzwanzig Jahren vier Jahre jünger als Nora, hatte schon eine Ausbildung auf einer Hotelfachschule in der Schweiz hinter sich und war unglaublich ehrgeizig.
»Warum gehst du nicht in ein größeres Hotel?«, fragte sie Nora in regelmäßigen Abständen. »Ins Ausland oder so? Du mit deinen Fähigkeiten könntest doch überall Karriere machen. Im ‚Carlton‘ in Cannes oder im ‚Ritz‘ in Paris. Hier oben wirst du noch irgendwann versauern.«
Aber Nora hatte gar keine Lust, woanders hinzugehen. Sie hatte auch schon genug gesehen von der Welt. Sechs anstrengende Monate hatte sie in einem italienischen Grandhotel verbracht, ein Jahr in Stockholm gearbeitet, sogar in China war sie gewesen, um dort beim Aufbau einer neuen Hotelkette mitzuwirken. Wenn man alles zusammenzählte, war sie quasi schon in der ganzen Welt gewesen, sprach fließend Englisch, Französisch, Schwedisch, Chinesisch, Finnisch und auch Suaheli. Doch hier im »Weißen Schloss« fühlte sie sich wohl. Das jahrelange rastlose Leben war nichts für sie gewesen. Nora brauchte eine gewisse Sicherheit. Sie wollte sich zu Hause fühlen. Hier war sie zuständig für die gesamte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und für die Gästebetreuung. Da das »Weiße Schloss« ausschließlich von gut betuchten, um nicht zu sagen steinreichen Leuten besucht wurde und auch ab und zu Prominente hier abstiegen, gab es eine Menge zu tun. Da waren Ludger von Roth, ein Schlagersänger, der ständig Angst hatte, entführt zu werden, oder die Schauspielerin Mariette Osterhoff, die grundsätzlich sechs ungezogene Hunde mitbrachte, von denen einer verwöhnter war als der andere. Für die Hunde musste eine extra Speisekarte gedruckt werden, auf der Menüs standen wie: »Kalbskopf und Kutteln mit zarter Schweineleber an gedünstetem Putenherz in einer Komposition von Basmatireis und jungem Wirsing« oder »Ganze Zunge vom jungen Rind mit Herzoginkartoffeln an zerlassener Thymianbutter«. Schmeckte es einem der Hunde nicht, weigerte sich Mariette Osterhoff, die volle Rechnung zu bezahlen, was wiederholt zu Diskussionen führte. Trotzdem kam sie immer aufs Neue ins »Weiße Schloss«. Und Nora kümmerte sich darum, dass die Kosmetikerin auch um elf Uhr abends Gewehr bei Fuß stand, um Mariette eine Gesichtsmassage zu verpassen, weil das Leben an sich so stressig war – auch wenn sie dafür extra aus dem Ort ins Hotel fahren musste. Bei Wind und Wetter, versteht sich.
Nora wollte hierbleiben. Das Hotel hatte nichts von einem anonymen Bunker ohne Herz und Seele, hier war jedes Zimmer anders eingerichtet und strahlte Gemütlichkeit und Wohlbehagen aus. Das »Weiße Schloss« war früher tatsächlich ein Schloss gewesen und von echten Adligen bewohnt worden. Das Gebäude war über vierhundert Jahre alt und neunzehnhundertzwanzig umgebaut worden. Viele der alten Möbel, die überall herumstanden, wurden liebevoll restauriert, die Decken- und Wandmalerei aufgefrischt und die antiken Gobelins mit den Jagdmotiven zu einem Spezialisten gegeben, um die schadhaften Stellen ausbessern zu lassen und die Motten zu verjagen.
Seit zwei Jahren arbeitete Nora nun hier. Sie war in Husum aufgewachsen, und ihre Eltern wohnten heute noch dort. Wann immer es ging, fuhr sie nach Hause. Wegziehen kam für sie überhaupt nicht mehr in Frage. Sie liebte die nordische Landschaft, das raue Klima, die Herbststürme und die Nähe zum Meer. Das »Weiße Schloss« lag in der Nähe von Lübeck, sie selbst wohnte auch hier im Hotel in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss neben diversen Gästesuiten. Nora war froh, dass ihre Eltern damals die Stellenanzeige gelesen und an sie weitergegeben hatten. Aus über hundert Bewerbern war sie ausgewählt worden, und das erfüllte sie ein Stück weit mit Stolz. Das Beste aber war, dass hier die große weite Welt zu ihr kam: Sie liebte es, mit ausländischen Gästen in deren Sprachen zu sprechen und über Städte zu schwärmen, in denen sie und die Gäste schon gewesen waren.
»Was soll ich in Frankreich?« Nora setzte sich auf. »Nein danke, davon hab ich genug. Ich habe nicht die geringste Lust, wieder in einem Hotel zu arbeiten, wo mich nicht alle Mitarbeiter mit Namen kennen. Du weißt doch, wie ich bin.«
Ja, Luzie wusste, wie Nora war. Im vergangenen Jahr hatten die beiden sich richtig angefreundet, und obwohl Nora so ganz anders als Luzie war, hatten sie doch eine Wellenlänge und verstanden sich ausgesprochen gut. Wenn Gegensätze sich anzogen, dann traf dieser Spruch in diesem Fall den Nagel auf den Kopf. Die ein klein wenig pummelige, quirlige Luzie mit ihren roten Wuschelhaaren und den Sommersprossen, mit ihrer unbändigen Lebenslust und der Lebensgier und die eher zurückhaltende Nora mit dem hellblonden, glatten Haar und den großen blauen Augen, dem zarten Teint, der schlanken Figur und der ruhigen, besonnenen Art.
Nora betrachtete das Hotel für sich selbst als eine Art Zufluchtsort. Hier war das Leben in Ordnung. Wer hierher kam, sollte sich wohlfühlen, und Nora setzte alles daran, dass man sich wohlfühlte. Wenn es draußen nasskalt war und regnete, und sie betrat das »Weiße Schloss«, fühlte sie sich geborgen und aufgefangen. Der einzige dunkle Punkt war Wolf Bredkamp, der Geschäftsführer des Hotels.
Wenn er nicht wäre … nicht auszudenken! Glücklicherweise war er nicht allzu oft da, sondern fuhr in der Weltgeschichte herum, besuchte Kongresse und Seminare, um neue Kontakte zu knüpfen oder Managementtrainings zu absolvieren – jedenfalls behauptete er das immer –, was er aber auch gleich sein lassen könnte, denn sein Umgang mit den Angestellten war keineswegs professionell und freundlich.
»Der böse Wolf ist übrigens gerade eingetroffen.« Luzie erhob sich aus ihrem Sessel und strich ihren Rock glatt. »Wie der Mann von Welt, mit großem Tamtam. Also eigentlich so wie immer.«
Jeder im Hotel nannte Wolf Bredkamp nur den bösen Wolf.
Wolf Bredkamp war selbstgefällig, eitel und hielt sich für den tollsten, klügsten und cleversten Mann im Universum. Das gepaart mit Unfähigkeit – schlimmer ging es kaum. Er ging allen schrecklich auf die Nerven. Als er noch nicht da war und Nora kommissarisch die Geschäftsführung innehatte, war alles ganz anders – und viel, viel besser gewesen. Nora hatte sich auf ihre Weise Respekt verschafft. Ihr lag es fern, ihre Mitarbeiter zu drangsalieren, sie arbeitete mit Diplomatie und Charme, und der Laden lief so wunderbar wie nie zuvor, wie ihr die alteingesessenen Kollegen immer wieder gern bestätigten. Doch dann hatte der damalige Verwalter des »Weißen Schlosses«, der auch Nora eingestellt hatte, ihr mitgeteilt, dass nun Nägel mit Köpfen gemacht werden sollten, und man hatte ihnen allen Bredkamp vor die Nase gesetzt. Insgeheim war sich Nora sicher, dass Bredkamp für seine Einstellung Geld bezahlt haben musste. Jeder Blinde mit Krückstock konnte ja wohl sehen, dass er völlig unfähig war. Aber leider waren ihr die Hände gebunden. Und so konnte sie sich nur fügen – wie alle anderen auch.
»Jedes Mal, wenn er weg ist, wünsche ich mir, dass er anruft und uns mitteilt, dass er eine reiche Witwe kennengelernt hat, die er heiraten wird.« Luzie ging mit arrogantem Gehabe vor Nora hin und her. »So ist er vorhin reinstolziert. Und glaub mal nicht, dass er seinen doofen Koffer selbst getragen hat. Hinnerk musste ihn schleppen. Und du weißt doch, welche Probleme er mit seinem Rücken hat. Aber das ist diesem Fatzke doch egal.«
»Wir werden ihn nicht ändern. Weder wir noch sonst jemand«, stellte Nora abschließend fest, stand ebenfalls auf und schaute sich noch einmal in der Suite um. »Ich muss weitermachen, morgen kommen neue Gäste. Professor Klübenstedt samt Gattin und Tochter und Schwiegersohn. Und irgend so ein Hollywoodpaar mit adoptierten Kindern.«
»Na, das ist ja nichts Besonderes mehr.« Luzie zuckte die Achseln. »Interessant wäre es, wenn es ein Hollywoodpaar gäbe, das keine Kinder adoptiert hätte. Bestimmt sind die total frech und tanzen uns auf der Nase rum.«
»Wahrscheinlich. Aber das kennen wir ja. Trotzdem werden wir freundlich und zuvorkommend wie immer sein. Auch wenn die Kinder antiautoritär erzogen sind, sich nicht benehmen können und ihre Eltern Makrelenfilets mit Erdbeermarmelade verdrücken und dazu ihre Gabeln, weil sie denken, es sind essbare Beilagen. Kümmerst du dich um die Zimmer für die Klübenstedts? Ach so, ja, und bitte räum die Minibar um. Keine alkoholischen Getränke. Du weißt, seine Frau will nicht, dass er was trinkt.«
»Das tut er doch aber sowieso. Immer abends im Kaminzimmer, nachdem sie ins Bett gegangen ist. Einen Whisky nach dem anderen.«
»Genau«, nickte Nora zufrieden und grinste Luzie an. »Der gute teure Whisky. Sag Viktor Bescheid. Klübenstedt trinkt gern schottischen Malt. Er soll mindestens zwei Flaschen aus dem Keller holen. Aber von den wirklich guten.«
»Ach, Fräulein Petersen, ich habe Sie schon gesucht. Kommen Sie doch mal kurz rein zu mir.« Nora folgte Wolf Bredkamp in sein Büro. Er stellte sich ans Fenster und schaute in die Sommersonne. In seinem anthrazitfarbenen Maßanzug, dem hellblauen Hemd und der dezenten Krawatte sah er wirklich gut aus, das musste Nora zugeben. Er war jetzt Mitte fünfzig, aber er konnte locker für Mitte vierzig durchgehen, obwohl man leicht erkennen konnte, dass er seine Gesichtshaut hatte straffen lassen. Wolf Bredkamp hasste Falten. Und er hasste das Älterwerden.
Und dann diese Augen. Eisgrau. Lauernd. So, als ob sie nur darauf warteten, jemanden zu durchbohren. Listig und gemein. Wolf hatte grundsätzlich das Gefühl, ohne ihn würde nichts laufen, was völliger Unsinn war. Das Betriebsklima hier war wunderbar, alle verstanden sich blendend, und es klappte wie am Schnürchen. Der Einzige, der es liebte, Intrigen zu spinnen, war der Chef höchstpersönlich. Da das bloß mittlerweile alle durchschauten, hatte Bredkamp schlechte Karten.
»Es gibt Neuigkeiten.« Wolf setzte sich, machte allerdings keine Anstalten, auch Nora einen Platz anzubieten.
»Ach ja?«
»Ja. Und es sind Neuigkeiten, die ich nicht gerade erfreulich finde.« Er machte eine Kunstpause und schaute auf seine gepflegten, schmalen Hände, die er mehrmals am Tag mit einer sündhaft teuren Creme behandelte.
Nora wartete.
»Wir werden nächste Woche Besuch bekommen«, endlich redete Wolf Bredkamp weiter. »Sagt Ihnen der Name Jan Hohenstedt etwas?«
Nora dachte nach. Wer war das? Ein Gast? Irgendwie kam ihr der Name bekannt vor. Dann dämmerte es ihr. Jan Hohenstedt war der Eigentümer des »Weißen Schlosses«, sie hatte ihn zwar noch nie gesehen, weil er nicht in Deutschland wohnte, sein Name befand sich aber unter anderem auf dem Briefpapier. Ganz unten und kleingedruckt.
»Der Besitzer?«, vergewisserte sie sich, und Bredkamp nickte langsam.
»Er möchte sich hier mal umschauen, mögliche Verbesserungsvorschläge machen, sich die Zahlen mal ansehen. Ich habe gehört, dass er noch zwei oder drei andere Hotels besitzt. Moderne Hotels. Wir werden ihm also zeigen müssen, dass man auch ohne Chrom und schwarzes Leder oder Aufzüge ein Haus gut führen kann.« Er beugte sich nach vorn, und seine kühlen grauen Augen wurden noch kühler.
»Alles muss perfekt sein, haben Sie mich verstanden? Kein Getratsche der Zimmermädchen auf den Fluren. Kein Hinnerk, der sich über seinen Rücken beklagt. Niemand geht eine halbe Stunde früher, weil er seinen Bus noch kriegen muss. Und wenn wir abends Wild auf der Speisekarte haben, will ich nicht hören, dass es nun doch Rotbarsch gibt, weil das Auto des Zulieferers nicht durch den TÜV gekommen ist. Ich habe noch einige zusätzliche Hilfskräfte eingestellt, die nächste Woche anfangen. Natürlich nur für begrenzte Zeit. Profis, die das Hotelfach von der Pike auf gelernt haben. Die den Mitarbeitern zeigen werden, wie man es richtig macht. Sie sind entsprechend gebrieft. Herr Hohenstedt soll glauben, dass Veränderungen hier völlig unnötig sind. Weil ich keine Veränderungen wünsche.« Er lehnte sich zurück. Natürlich wollte er keine Veränderungen. Das hätte ja Arbeit für ihn bedeutet. »Nobel. Nobel wollen wir sein. Nobel und perfekt. In einem … nun sagen wir mal … antiken Ambiente. Ist das angekommen?«
Nora hätte Wolf Bredkamp am liebsten die Augen ausgekratzt. Das, was er da gerade bemängelt hatte, machte doch schließlich den Charme des »Weißen Schlosses« aus. Da war sich Nora sicher. Sie hatte schon genug Hotels in der ganzen Welt gesehen, um zu wissen, dass viele Gäste kalte Perfektion gar nicht schätzten. Ernsthaft beklagt hatte sich hier auch noch nie jemand. Außerdem war Bredkamp an den wirklich heftigen Missgeschicken selbst schuld. Damals, als jeder wusste, wie hart und kalt der Winter werden würde, hatte er viel zu lange mit der Ölbestellung gewartet, weil er sich tausend Kostenvoranschläge kommen ließ, um möglicherweise noch einen Cent zu sparen. Die Tatsache, dass dadurch sogar Rohre geplatzt waren, machte die Sache letztendlich viel teurer als eine simple Ölbestellung, aber Bredkamp hatte sich natürlich wieder rausgeredet.
Und Lars Rüders, dem örtlichen Wildlieferanten, einen Strick daraus zu drehen, dass er immer noch in seinem alten VW-Bus herumfuhr, weil er sich ein neues Auto aufgrund horrender Unterhaltszahlungen an seine Exfrau einfach nicht leisten konnte, war doch wirklich anmaßend.
Nora schluckte ihren Ärger hinunter. »Natürlich«, sagte sie nur leise und wandte sich zum Gehen um.
»Sie selbst, meine Beste, sollten sich eventuell auch mal Gedanken um Ihr Auftreten machen«, kam es plötzlich. »Wenn ich mal ganz ehrlich sein soll, fände ich es angebrachter, wenn Sie sich nicht immer so, sagen wir … streng kleiden würden. Eine hübsche Bluse mit einem entsprechenden Ausschnitt gefiele mir viel besser, falls Sie verstehen, was ich meine. Das Auge isst schließlich auch mit, nicht wahr?«, sagte Bredkamp und ließ sein schmieriges Lachen ertönen. »Ich mag das. Ich mag auch schöne Strumpfhosen und hochhackige Schuhe, das nur mal so am Rande. Nun ja, als Frau muss man doch immer noch ein Stück weit mehr auf sein Äußeres achten, nicht wahr? Jan Hohenstedt jedenfalls eilt der Ruf voraus, dass er sehr auf sexy Frauen steht. Er selbst sieht auch sehr gut aus. Ich habe ihn vor einiger Zeit kennengelernt. Gediegen. Charmant. Angeborenes Charisma. Ein Mann von Welt. Wie ich.« Wieder ein selbstzufriedener Lacher. »Und Männer wie wir wollen schließlich ein wenig Freude am Leben haben. Man wird ja auch nicht jünger. Aber wem sage ich das.«
Abrupt drehte Nora sich zu Bredkamp um. »Das stimmt, Herr Bredkamp«, sie lächelte freundlich. »Ja, mit dem Älterwerden ist das so eine Sache. Glücklicherweise gibt es ja die plastische Chirurgie. Und die auch nicht nur für Frauen.« Dann ging sie mit raschen Schritten zur Tür, ohne noch eine Antwort abzuwarten, und bemühte sich, sie leise zu schließen.
»Komm rein.« Nora zog Luzie in ihre kleine Wohnung und schloss schnell die Tür. »Was ist denn los?« Mit großen Augen wartete Luzie auf Antwort. »Du hast ja am Telefon so geredet, als würde Abraham Lincoln gleich vor der Tür stehen. Kommt er etwa?«
»Lincoln war Präsident und wurde 1860 gewählt«, klärte Nora ihre Kollegin genervt auf, während sie Othello, ihren fünfjährigen Kartäuserkater, streichelte, der sich an ihre Beine schmiegte. »Wie also sollte er ungefähr einhundertfünfzig Jahre später zu uns kommen?«
»Hat er kein Auto?« Mit ihrer Gabe, nicht richtig zuzuhören, gepaart mit ihrer Naivität, brachte Luzie Nora immer mal wieder zur Verzweiflung. Manchmal war es wirklich nicht nachzuvollziehen, wie sie ihre guten Noten einheimste. Aber vielleicht waren ihre Professoren ja taub.
»Ist ja auch egal jetzt. Hör zu. Nächste Woche kommt der Eigentümer vom Hotel. Nachdem Bredkamp von ihm geschwärmt hat, muss es sich zwangsläufig um einen Kotzbrocken handeln. Der böse Wolf hat irgendwas davon geschwafelt, dass der hier alles verändern will.«
Nora lief in die Küche und holte ihren Käsetoast aus dem Ofen. Kauend kam sie zurück. In ihrem gemütlichen Jogginganzug setzte sie sich auf den Boden und kreuzte die Beine. Luzie, die Spätdienst hatte und eigentlich schon auf dem Nachhauseweg war, ließ ihre dünne Sommerjacke achtlos fallen und hockte sich zu Nora.
»Aber warum? Was sollte er denn hier verändern?«
»Im Detail hat Bredkamp mir das nicht gesagt. Jedenfalls will dieser Hohenstedt sich hier umschauen, und mit Sicherheit wird er dann davon anfangen, dass vieles modernisiert werden muss und umgebaut und was weiß ich. Au!« Nora rieb sich die Lippe und wischte ein Stück heißen Käse ab. »Bredkamp will das selbstverständlich nicht. Das hieße ja mal richtig Arbeit für ihn.«
»Ich will das auch nicht.« Luzie schüttelte den Kopf. Ihre roten Locken wippten hin und her. »Am besten läuft es hier doch, wenn der böse Wolf nicht da ist. Und wenn hier große Veränderungen anstehen, muss ja einer alles beaufsichtigen. Das lässt er bestimmt nicht dich machen.«
»Eben.« Nora nickte und schluckte den Rest des Toasts hinunter. »Er hat zwei Fachkräfte engagiert, die uns unterstützen. Irgendwelche Profis aus dem Hotelgewerbe. Damit dieser Hohenstedt denkt, hier läuft alles am Schnürchen, wenn er kommt.«
»Aber das tut es doch auch.« Luzie überlegte kurz. »Na ja, hin und wieder klappt auch mal was nicht, und manche der Angestellten sind auch nicht mehr die Jüngsten. Wenn Gisela mit ihren sechzig Jahren von morgens bis abends in der Küche steht und kocht, macht irgendwann ihre Gicht nicht mehr mit. Und dann Karin, die muss doch immer früher gehen, weil sie ihre Tochter aus dem Kindergarten abholen muss. Da werden manche Zimmer eben erst später fertig, weil wir das mit übernehmen. Aber von den Gästen merkt das schließlich niemand. Denen ist ja auch viel wichtiger, dass du für ihre Schoßhündchen seidene Deckchen besorgst und sie von Gisela mal wieder ihre Lieblingsgerichte vorgesetzt bekommen …«
»Genau. Und dieser Hohenstedt wird von der einen oder anderen Panne auch nichts mitbekommen. Er soll kommen, sich alles anschauen, lachen, nicken und wieder verschwinden. Wir brauchen hier keinen Hightech-Laden.«
Luzie nickte. »Und noch so einen Schnösel wie den Bredkamp schon gar nicht.« Sie stand auf. »Ich werde jetzt mal nach Hause fahren. Und du regst dich nicht auf, verstanden?« Nora nickte, obwohl sie nicht wusste, wie sie es fertigbringen sollte, sich nicht aufzuregen.
Nachdem Luzie ihre Wohnung verlassen hatte, setzte sich Nora aufs Sofa und grübelte nach. Othello sprang auf ihren Schoß, kuschelte sich mit seinem warmen Fell an ihren Bauch und sah sie mit seinen unglaublichen Augen durchdringend an. »Was würdest du tun, hm?« Nora kraulte ihn, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er wohlig schnurrte. Katze müsste man sein, dachte Nora wehmütig. Dann könnte man einfach die Krallen ausfahren, und niemand würde schimpfen, weil Katzen das eben so machen.
Am nächsten Morgen regnete es. Es war ein Samstag, und Nora hätte viel dafür gegeben, sich einfach noch mal umzudrehen, den prasselnden Tropfen zuzuhören, um langsam wieder wegzudämmern. Bloß ging das nicht. Sie hatte keine Vertretung, und der Samstag war im »Weißen Schloss« der Hauptanreisetag. Also hieß es auch heute um sieben Uhr aufstehen. Verschlafen tapste Nora ins Bad, duschte und wickelte sich in ihr großes, flauschiges Badetuch. Während sie vor dem Spiegel stand und ihre Gesichtshaut mit einer erfrischenden Lotion abtupfte, dachte sie noch mal über die Worte von Wolf Bredkamp nach, die eine einzige Beleidigung gewesen waren. Ihr Chef hatte sich noch mehr ins Aus katapultiert, obwohl Nora bis dahin sicher war, dass das gar nicht mehr möglich sein könnte. Dieser Jan Hohenstedt schien auch nicht besser zu sein. Nora würde sich ganz sicher nicht kleiden wie eine Bardame, nur damit die beiden Herren was zum Schauen hätten. Unverschämtheit. Sie war immer gut gekleidet. Dezent, aber gut. Nur zum Friseur könnte sie wirklich mal wieder gehen. Wenn dieser angebliche Frauenfreund Hohenstedt nächste Woche hier auftauchte, war es bestimmt nicht unklug, gewappnet zu sein, und sei es auch nur mit einer neuen Frisur. An ihrem Kleidungsstil würde Nora ganz sicher nichts ändern. Sie mochte ihre klassischen Kostüme und Hosenanzüge und ihre wenigen, aber mit Geschmack ausgewählten Schmuckstücke. Nun gut. Gleich am Montag würde sie nach Lübeck fahren und zum Friseur gehen. Und Mr. Mir-gehört-dieses-Hotel würde sie die Krallen zeigen. Aber so, dass er es nicht merkte.
Nora zog ein leichtes hellblaues Leinenkostüm und ein schlichtes T-Shirt an und sprang die große Treppe hinab. Othello folgte ihr. Möglicherweise wollte er mal wieder auf dem Hotelgelände auf Streifzug gehen. Manchmal war er tagelang nicht aus der Wohnung rauszukriegen, doch ab und an dachte er wohl, dass er in seinem Revier mal nach dem Rechten sehen müsste, und unternahm stundenlange Ausflüge. Othello war damals, als sie im »Weißen Schloss« angefangen hatte, plötzlich wie aus dem Boden gestampft da gewesen und war ihr auf Schritt und Tritt gefolgt. Sie hatten damals natürlich eine Anzeige aufgegeben, aber kein Katzenbesitzer, der eine Kartäuserkatze vermisste, hatte sich jemals gemeldet, und so hatte Nora den Kater eben adoptiert und ihn Othello genannt. Er war mittlerweile aus dem Hotel nicht mehr wegzudenken, und alle machten sich Sorgen, wenn er mal wieder unterwegs war und es so aussah, als würde er nicht wiederkommen.
Aus der Küche duftete es verführerisch nach Rührei mit Schinken. Wie sie Gisela kannte, hatte sie bestimmt auch frisches Rosinenbrot gebacken. Dazu Giselas selbst gemachtes Pflaumenmus – und der Tag war gerettet.
»Guten Morgen.« Gut gelaunt betrat Nora die riesengroße Küche, deren Mittelpunkt der überdimensionale Herd mit der noch größeren Dunstabzugshaube war. Direkt von der Küche führte eine Holztür in einen Kräutergarten, den Gisela pflegte wie ihr eigenes Kind. Sie pflanzte Rosmarin, Thymian, Basilikum, Liebstöckel, Dill, Oregano und tausend andere, auch völlig unbekannte Gewürze, zog Zitronen- und Orangenbäumchen groß und redete mit jeder einzelnen Pflanze. Angeblich förderte ein Gespräch mit einem Brombeerstrauch dessen Wachstum; das erzählte Gisela zumindest allen, und sie ließen ihr den Tick, obwohl niemand wirklich daran glaubte.
»Passen Sie doch auf«, hörte Nora Gisela rufen, während sie durch die Tür kam. Neben der Köchin stand eine ungefähr zwanzigjährige Frau, die gerade im Begriff war, die Pfanne mit dem Rührei vom Herd zu nehmen. Allerdings war die Pfanne sehr schwer, und ein Teil des Rühreis war bereits schon neben den Herd gefallen. Nora kam näher. »Wer sind Sie denn?«, fragte sie neugierig.
»Das würd ich auch gern wissen«, beschwerte sich Gisela in ihrem holsteinischen Dialekt. »Kommt hier rein, sacht, der Chef hätte gemeint, dass sie hier für Ordnung sorgen soll, und was macht se? Bringt mir alles durcheinander.« Gisela stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf, während die junge Frau versuchte, mit einer Gabel die Eireste vom Herd zu kratzen. »Jetzt will sie sich auch noch verbrennen«, kam es von Gisela. »Min Deern, du musst auch erst den Herd ausschalten, bevor du mit der Hand in die Flamme greifst.«
Nora verstand gar nichts mehr. »Ich bin Nora Petersen. Und wer sind Sie?«, fragte sie, obwohl ihr schon etwas schwante.
»Ich bin die Nichte eines Geschäftspartners von Herrn Bredkamp«, sagte die junge Frau. »Ich hab schon mal in Hotels gewohnt, und deswegen hat der Herr Bredkamp gesagt, dass ich hier sicher helfen kann.«
»Bei was denn helfen?« Nora kam noch näher. Die junge Frau wich angstvoll vor ihr zurück, so, als ob Nora sie mit einem Fleischermesser bedrohen würde.
»Na hier, im Hotel. Es soll ja alles perfekt sein, wenn der hohe Besuch kommt.« Sie senkte die Gabel, und angebranntes Rührei fiel zu Boden.
»Haben Sie denn schon in Hotels gearbeitet und nicht nur in ihnen gewohnt?«, fragte Nora und bemühte sich, die Frau nicht anzuspringen.
»Nein, also ja, also jein, also doch, also gewohnt, ja.«
»Wenn Sie in Hotels gewohnt und dort nicht gearbeitet haben, wie wollen Sie dann hier helfen?«
»Möchte ich auch mal wissen«, kam es von Gisela.
»Ich habe keine Ahnung.« Die junge Frau wollte ihr zerzaustes Haar hinters Ohr schieben und stach sich dabei mit der Gabel fast ein Auge aus.
»Achtung!«, brüllten Nora und Gisela.
»Wenn Papa es doch so will.« Nun kehrte der Eindringling zum Herd zurück. »Ich bin Miriam. Miriam Schümann. Meine Freunde nennen mich Miri.« Das sagte sie so, als ob sie sich bei der Oscarverleihung bei den Menschen bedanken müsste, ohne die sie das alles nicht gepackt hätte. Dann stemmte sich Miriam, die von ihren Freunden Miri genannt werden wollte, an der Arbeitsplatte vor dem Herd ab und hob ihren Hintern, um auf der Arbeitsplatte Platz zu nehmen.
Zu dumm, dass die Flamme immer noch an war.
»Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen.« Wolf Bredkamp saß in seinem Büro und ließ genervt die Zeitung sinken. »Ich habe Lutz Schümann, einem wirklich guten Geschäftspartner von mir, versprochen, dass ich ihm einen Gefallen tun werde, wenn es nötig ist. Und deshalb soll seine Tochter sich das Hotelfach mal anschauen. Möglicherweise ist das ja was für sie. Dass sie nun heute schon da ist – was für eine Rolle spielt das? Da habe ich wohl was verwechselt mit meinen ganzen Terminen.«
»Aha.« Nora blitzte Bredkamp wütend an. »Hatten Sie nicht etwas von Fachkräften gesagt? Von Leuten, die tatsächlich etwas von einer Arbeit im Hotel verstehen? Was sollen wir mit dieser Miriam hier? Sie ist völlig unfähig und stiftet nur Verwirrung. Gisela Klöver regt sich schon den ganzen Vormittag auf. Aber sie sprachen von zwei Leuten. Welche … Fachkraft kommt denn noch?«
Bredkamp trank betont genießerisch einen Schluck Kaffee und schaute durch die geöffnete Terrassentür in den Garten. »Julius Kaltenbach«, sagte er nach einer geschlagenen Minute. »Der Neffe eines Klassenkameraden von mir. Kommt aus Schleswig. Ein guter Junge, dieser Julius. Er wird tüchtig mit anpacken. Wann wollte der denn noch kommen?« Bredkamp dachte nach. »Ist ja auch egal. Sie werden es ja mitkriegen. Und jetzt möchte ich bitte weiter frühstücken. Das Frühstück ist ja die wichtigste Mahlzeit des Tages.« Er nahm ein Croissant und bestrich es langsam mit Butter. »Sie können gehen«, sagte er dann zu Nora, die dieser Aufforderung nur zu gern Folge leistete. Böse verließ sie Bredkamps Büro.
Von der Rezeption kamen laute Stimmen, und Nora beschloss nachzusehen. Fritz Müller, ein erfahrener Mann Anfang sechzig, der immer die Wochenenddienste übernahm, schien sich mit jemandem zu streiten.
»Der Herr behauptet, hier angestellt zu sein.« Fritz Müller war sichtlich erregt. »Ich habe ihm gesagt, dass ich mir das schwerlich vorstellen kann.«
Ein junger Mann von achtzehn oder neunzehn Jahren schaute Nora an. Sein Gesicht glich einem sehr gut sortierten Werkzeugkoffer. An den Augenbrauen, an den Ohren, an der Nase, an den Wangen, an den Lippen – überall befanden sich blitzende Piercings. Er trug schwarze Lederhosen und eine Lederweste mit Fransen. Seine Oberarme wiesen so viele Tätowierungen auf, dass man sehr genau hinschauen musste, um eine nicht tätowierte Stelle zu finden. Seine Haare waren lang, schwarz und strähnig.
»Das muss sich um einen Irrtum handeln«, sagte Nora langsam.
»Glaub ich nicht«, antwortete der junge Mann, bevor sich zwischen seinen gepiercten Lippen eine Kaugummiblase bildete. »Ich bin Julius Kaltenbach. Mein Onkel hat gesagt, dass ich hier erwartet werde.«
Mit einem Glas Rotwein saß Nora gegen zweiundzwanzig Uhr auf ihrem kleinen Balkon und starrte gedankenverloren in den blauschwarzen Himmel. Aus dem Wald riefen Käuzchen, Grillen zirpten ihr monotones Lied, und das silbrige Licht des Vollmonds legte sich wie Seide über die Landschaft. Eigentlich war es ein wunderschöner, warmer Sommerabend. Aber Nora konnte ihn nicht genießen. Sie war völlig am Ende mit ihren Nerven. Was hatte sich Wolf Bredkamp eigentlich dabei gedacht, diese Miriam und diesen Julius hierher zu holen? Jeder für sich war eine Katastrophe, aber zusammen ließen sie einen einzelnen Menschen über Selbstmord nachdenken. Und dann auch noch … oh nein, nicht darüber nachdenken. Ziemlich widerwillig ließ Nora den Tag dennoch Revue passieren.
Miriam hatte bei ihrem Versuch, die große Spülmaschine einzuräumen, nicht nur die Hälfte des Geschirrs fallen gelassen, sondern die Essensreste vorher nicht abgeschabt, sodass der Abfluss verstopfte und man einen Klempner holen musste. Der Staubsauger, in dessen Kabel sie sich verwickelt hatte, war nun kaputt, weil sie das Kabel mit einer Schere durchtrennt hatte. Ein Glück, dass der Stecker noch nicht in der Dose gewesen war. Bei dem Versuch, Wäsche zu waschen, meinte sie es besonders gut. Weil sie die zehnfache Menge an Waschpulver nahm, hatte das zur Folge, dass der Schaum aus der Waschmaschine austrat und man das Gefühl hatte, sich nicht in der Waschküche, sondern in einem Schneegestöber zu befinden. Um es auf den Punkt zu bringen: Wo Miriam sich befand, herrschte das pure Chaos.
Und dann Julius! Er war achtzehn, hatte mit Ach und Krach sein Abitur geschafft und lungerte seitdem nur herum. Wenn es nach Nora ginge, wäre er neben einer brennenden Mülltonne in der Bronx besser aufgehoben als im »Weißen Schloss«. Julius’ Wortschatz bestand zum größten Teil aus dem Halbsatz »Oh Mann ej«, er bohrte ständig in der Nase und sang unverständliche Raptexte vor sich hin. Kurz: Er trieb einen in den Wahnsinn.
Dann kamen ja auch noch die neuen Gäste! Professor Klübenstedt traf mit seiner missgelaunten Gattin sowie Tochter und Schwiegersohn ein, und zusätzlich reiste dieses amerikanische Ehepaar mit den adoptierten Kindern an, die mit Begriffen wie Erziehung oder Gehorsam noch nie in ihrem Leben konfrontiert worden waren, was Luzie ja vorausgesagt hatte. Es waren fünfjährige Zwillinge, die auf die Namen Jason und Monica hörten – beziehungsweise nicht. Mrs. Green, die Mutter, hatte eine Stimme, die so schrill war wie eine Sirene, und brüllte die ganze Zeit: »O my God, isn’t it so cute?«, oder »Darling, come on over here, have you seen this wonderful forest?« Mrs. Green war platinblond, hatte aufgeplusterte Lippen und Fingernägel, die lang wie Gartenschläuche waren. Zu viel zu engen Jeans mit Strassbesatz trug sie eine tief dekolletierte, knallrosa Bluse und um den Hals ungefähr vierzig Goldketten, von denen eine geschmackloser war als die andere. Ihr Mann sah ganz offensichtlich gerne Western, er trug Cowboystiefel, eine speckige Wildlederhose und ein Hemd mit Hufeisenmotiven sowie einen Schlapphut. Nora fragte sich, ob er auch einen Revolver und ein Lasso dabeihatte, mit dem er seine Kinder in Schach halten konnte. Beim Abendessen benahmen sich Jason und Monica wie wild gewordene Hüpfbälle, sie sausten ohne Unterbrechung durch das Restaurant, zogen die Damasttischdecken von den Tischen und kippten Bratensoße auf einen der chinesischen Seidenteppiche. Miriam, die notgedrungen servieren musste, weil sich eine Aushilfskraft kurzfristig krankgemeldet hatte, stolperte über Jason und flog mitsamt zwei Tellern, auf denen sich liebevoll angerichtet Kalbsrouladen mit Rösti und gedünstetem Kohlrabi befanden, der Länge nach hin, und Gisela bekam in der Küche ihretwegen beinahe einen Schlaganfall. Nora wünschte sich, dass sie nicht ausgerechnet heute so viel Bürokram zu erledigen gehabt hätte, sonst hätte sie mitgeholfen. Aber sie konnte sich gar nicht richtig konzentrieren, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, weil sie dauernd daran denken musste, dass dieser Hohenstedt nächste Woche anreisen und wahrscheinlich ein dem Erdboden gleichgemachtes Hotel vorfinden würde. Und ihr fiel nichts ein, wie sie das verhindern konnte. Wenigstens hatte Oberstaatsanwältin Dennenburger angerufen und mitgeteilt, dass sie nun doch erst am Sonntag anzureisen gedenke. Somit war das Problem mit diesem äußerst schwierigen Gast erst mal gelöst, wenn auch nur verlagert. Oberstaatsanwältin Dennenburger war sehr kompliziert; sie vermutete hinter allem eine Straftat und lief während ihrer gesamten Anwesenheit wie Sherlock Holmes durch das Hotel, um eventuelle Taschendiebe zu überführen oder um irgendetwas zu entdecken, was sie zur Anzeige bringen konnte.
Nachdem Gisela sie zum fünften Mal über das Haustelefon anrief, ließ Nora ihre Arbeit schließlich Arbeit sein und ging in die Küche, um notfalls zu retten, was zu retten war – wenn das überhaupt noch möglich sein sollte. Sie verzichtete darauf, sich extra umzuziehen – in die Küche kam schließlich niemand –, und behielt ihren heißgeliebten Jogginganzug aus dünner Baumwolle an, in dem sie sich bei Stress einfach am wohlsten fühlte.
Bredkamp war natürlich außer Haus. Samstagabend traf er sich immer mit seinem Rotaryclub im Lübecker »Haus der Schiffergesellschaft« zum Essen und Brandytrinken. Dort versicherten sich grundsätzlich alle gegenseitig, die Schöpfer des Universums zu sein.
»Nun pass doch endlich mal auf, Mädchen.« Gisela schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihrer Crème brulée. Miriam war dabei, Dessertlöffel aus einer Schublade zu holen, und hatte alle fallen lassen. Klirrend flogen ungefähr hundert Löffel auf die Fliesen.
»Reg dich nicht auf.« Nora streichelte Giselas Arm. »Wir sind doch schon mit viel schlimmeren Gästen fertig geworden.«
»Also ich kann mich nicht an schlimmere Gäste erinnern«, Gisela machte ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Die Frau von diesem Professor wird auch von Mal zu Mal giftiger. Vorhin gehe ich raus und frage, ob es denn geschmeckt hat, da hat sie mich gefragt, ob ich Soßenbinder benutzt hätte. Ich und Soßenbinder. Was ist denn das für eine Beleidigung! Da hätte sie mich auch gleich fragen können, ob ich Fertigsoße benutze. Dabei würde mir so was nie in meine Küche kommen. Oder hast du hier schon mal Soßenbinder oder Fertigsoßen in meinen Schränken gesehen?«
»Natürlich nicht«, beeilte sich Nora zu versichern, während sie Miriam, die äußerst überfordert und unglücklich aussah, mit den Dessertlöffeln half. »Wir alle wissen, dass du jedes Gericht frisch zubereitest.«
Gisela nickte zustimmend und war für den Moment zufrieden.
»Wo ist Julius?«, wollte Nora wissen.
»Oh Mann ej«, kam es von der Tür, und da stand Julius in Boxershorts und einem T-Shirt, auf dem »Zickenbändiger« stand, warum auch immer. Er stellte einen riesigen Ghettoblaster ab und drückte die Play-Taste des CD-Spielers, woraufhin eine Horde wahnsinniger Menschen, die offensichtlich dafür sorgen wollten, dass jeder Käufer dieser CD einen Hörsturz bekam, sich kreischend und aggressiv darüber beklagten, dass »wo immer ich geh und steh ich den Krieg vor meinen Augen seh’ oh weh was soll ich nur machen entweder weinen oder lachen«.
Mit Sicherheit schallte die Musik bis ins Restaurant. Vom Herd kam der Geruch von Verbranntem, Gisela schrie: »Oh mein Gott!«, Miriam drehte sich zu Gisela um und fegte dabei mit dem Arm eine Suppenterrine von der Anrichte, und Nora dachte, das kann doch alles nicht wahr sein, als plötzlich dieser Mann im Anzug in der Küche stand, der »Guten Abend« sagte und etwas konsterniert aussah.
Nora schenkte sich Wein nach.
Ja, es war Jan Hohenstedt gewesen. Und sie wäre am liebsten schreiend davongerannt, nachdem er sich vorgestellt hatte, aber das ging natürlich nicht. Zunächst einmal dachten alle, es sei ein Gast, der sich in der Tür geirrt hatte, und Gisela war schon wieder außer sich, weil jemand einfach so in ihrer Küche stand. Doch dann, als er sagte: »Mein Name ist Jan Hohenstedt«, sah die Sachlage natürlich ganz anders aus. Der Mann sah im Übrigen auch ganz anders aus, als Nora ihn sich vorgestellt hatte. Statt eines unsympathischen Schmierlappens stand ein wirklich attraktiver Mann Mitte dreißig vor ihr, der gar nicht den Eindruck erweckte, als würde er Frauen unbedingt als Erstes in die Bluse schauen wollen – was er auch überhaupt nicht tat. Nein, Jan Hohenstedt sah … eigentlich ganz normal aus. Und gut. Sehr gut. Unauffällig im positiven Sinn. Auch seine Stimme war sehr angenehm. Weder aufdringlich noch sonst was. Nett. Freundlich. Dunkel. Zu seinem hellgrauen Anzug trug er ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Jan Hohenstedt sah aus, als würde er gerade an einem Fotoshooting teilnehmen, um für lässige, aber todschicke Berufskleidung für Großunternehmer zu werben, die tagtäglich mit Millionenbeträgen jonglierten. Er hatte fast schwarze, kurz geschnittene, sehr dichte Haare und braune Augen.