Fußball der Zukunft -  - E-Book

Fußball der Zukunft E-Book

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Beschreibung

Zuschauerrekorde in Barcelona (über 90.000 in der Champions League), Hollywoodstar Natalie Portman gründet in Los Angeles einen neuen Klub: den Angel City FC, wo die Nationalspielerin Almuth Schult das Tor hütet, und auch in Deutschland füllen die Klubs inzwischen mit Spielen der Frauen die großen Stadien. Dazu eine Europameisterschaft in England, die den Sport auf ein ganz neues Level gebracht hat, und neue TV-Verträge auch für die deutsche Bundesliga. Bekommen die Frauen endlich die gewünschte Aufmerksamkeit? Dieser Sammelband bietet einen Überblick zum aktuellen Stand des Fußballs der Frauen in Deutschland, Europa und natürlich den USA. Dazu konnten die beiden Herausgeber:innen hochkarätige Autor:innen gewinnen. Neben Texten von Expert:innen wird es Interviews mit prominenten Spielerinnen und Funktionär:innen geben, beispielsweise Laura Freigang von Eintracht Frankfurt oder Ralf Kellermann vom VfL Wolfsburg. Mit einem Vorwort von Tabea Kemme (ehemalige Nationalspielerin und aktuelle Sky-Expertin).

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Seitenzahl: 254

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Justin Kraft, Alina Ruprecht (Hrsg.)

Fußball der Zukunft

Wie Frauen den Sport revolutionieren

Justin Kraft, Alina Ruprecht (Hrsg.)

FUSSBALL DER ZUKUNFT

Wie Frauen den Sport revolutionieren

VERLAG DIE WERKSTATT

Bildnachweis

7 (IMAGO / Eibner), 15 (Getty Images / Visionhaus), 19 (Getty Images/Harriet Lander), 25 (Getty Images / Sarah Stier - UEFA), 50 (Getty Images Europe/Lukas Schulze), 63 (Getty Images / T.Kieslich), 67 (Eintracht Frankfurt), 85 (Getty Images / Angel Martinez), 91 (Getty Images/NurPhoto), 92 (IMAGO / Christian Schroedter), 113 (Getty Images / Harriet Lander), 125 (Getty Images/Eric Alonso), 189 (Getty Images / Lynne Cameron - The FA), 157 (Getty Images / Pressinphoto), 174 (IMAGO / Bildbyran)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage

Copyright © 2023 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Coverabbildung: IMAGO / Beautiful Sports

Covergestaltung: Lukas Niehaus

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

ISBN 978-3-7307-0654-1

INHALT

Tabea Kemme

DEN FUSSBALL IN EINE STRAHLENDE ZUKUNFT KICKEN

Vorwort

Justin Kraft und Alina Ruprecht

WIE DIE FRAUEN DEN FUSSBALL REVOLUTIONIEREN

Einleitung

Anna Dreher

DAS SOLL ERST DER ANFANG SEIN

Die deutsche Nationalelf und ihr neues Selbstbewusstsein

Annika Becker

IN IHREM REVIER

Wie sich die SGS Essen in der 1. Bundesliga halten will

Andreas Pahlmann

„WENN WIR ES SCHON MACHEN, DANN RICHTIG“

Wie Wolfsburgs Fußballerinnen zum Top-Team in Deutschland und Europa wurden

Interview mit Ralf Kellermann

Alina Ruprecht

REVOLUTION IN BERLIN

Wie sechs Gründerinnen den Fußball der Frauen verändern wollen

Justin Kraft

„AUTHENTISCH BLEIBEN“

Wie der FC Bayern zum Spitzenklub in Deutschland und Europa werden will

Mara Pfeiffer

»SEIT DER EM IST FRAUENFUSSBALL AUF EINE POSITIVE ART SELBSTVERSTÄNDLICHER GEWORDEN«

Interview mit Laura Freigang

Mara Pfeiffer

FREUNDLICHE ÜBERNAHME

SCHOTT und Mainz 05 auf dem Weg in den Profifußball

Johannes Kopp

(K)EINE ZUKUNFT WIE REAL MADRID?

Turbine Potsdam: Untergang eines Traditionsvereins

Alina Ruprecht

„UNSERE ARBEIT IM FUSSBALL KANN GESAMTGESELLSCHAFTLICH EINEN POSITIVEN EFFEKT HABEN“

Interview mit Navina Omilade über den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung im Sport

Alina Schwermer

DIE HERRSCHAFT ÜBER DEN FUSSBALLPLATZ

Frauenfußball und Feminismus

Alina Ruprecht

KLEINE SEHNE, GROSSE VERLETZUNG

Kreuzbandrisse und ihre Folgen

Nadine Strathmann

AM KATZENTISCH?

Frauen- und Mädchenfußball – Perspektiven im Amateurbereich

Suzanne Wrack

DIE ZWEITE GROSSE EXPLOSION

Der englische Frauenfußball bis zum Gamechanger: dem EM-Gewinn von 2022

Alina Ruprecht

„WIR DÜMPELN SEIT JAHREN VOR UNS HIN“

Fehlende Sichtbarkeit und Verbesserungspotenziale in der Schweiz und in Österreich

Alina Schwermer

DAS EIGENE, DAS FREMDE UND DIE FRAU

Frauenfußball aus postkolonialer Sicht in Nigeria und Senegal

Helene Altgelt

MORE THAN SOCCER

Fußball in den USA

Annika Becker

VORKÄMPFERINNEN

Barcelona und das spanische Nationalteam

Justin Kraft

SIEGESSERIEN UND SKANDALE

Olympique Lyon und die französische Nationalelf

Alina Schwermer

AUFBRÜCHE UND ZUSAMMENBRÜCHE

Fußball in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawien

Alina Ruprecht

ZWISCHEN IDENTITÄTSKRISE UND INTERNATIONALEM ERFOLG

Fußball der Frauen in Schweden

Justin Kraft

REVOLUTION ODER KOPIE?

Wohin führt der Weg im Fußball der Frauen?

MEILENSTEINE IM FUSSBALL DER FRAUEN

Eine unvollständige Chronologie

Die Autorinnen und Autoren

Tabea Kemme

DEN FUSSBALL IN EINE STRAHLENDE ZUKUNFT KICKEN

VORWORT

Liebe Alle,

was für ein bewegendes Fußballjahr 2022 für unsere Frauen. Die Wolfsburger VW-Arena verzeichnete beim Champions-League-Spiel gegen den FC Barcelona mit mehr als 20.000 Zuschauerinnen und Zuschauern eine Rekordkulisse. Die grandiose Europameisterschaft, die als freudiges Fest in jedem Stadion in und um England gefeiert wurde, ließ sogar die britischen Pub-Dauergänger auf den fantastischen Fußball der Frauen anstoßen. Das Finale im Ersten wurde von fast 22 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern eingeschaltet, bemerkenswerter Fact: Der Marktanteil der Zielgruppe der 19- bis 49-Jährigen lag bei 70,7 Prozent. Die Quoten waren erstmals höher als die im Männerfußball. Der Anfang von etwas Großem!

Wenn etwas groß wird, wachsen auch die Begehrlichkeiten. Und der Grad der Verantwortung. Viel können wir von der Entwicklung des Männerfußballs lernen – und es gleichzeitig mit dem Learning anders machen. Es gilt, neue Pfade in dem Dreieck zwischen Sport, Medien und Wirtschaft einzuschlagen. Nachhaltig in der Entwicklung, fair für alle Beteiligten, gleichberechtigt zwischen den Geschlechtern, divers und freudbetont. Eine frische, kommerziell unverbrauchte und persönlichkeitsstarke Generation von Spielerinnen füllt die Stadien und sorgt für beste TV-Quoten. Der Fußball ist wieder attraktiv und spricht nicht nur eingefleischte Fußballfans an. Familien, Frauen und Männer jeden Alters erfreuen sich an dem attraktiven Niveau unserer Fußballerinnen.

Eine Riesenchance, die traditionelle Fußballbranche inklusive ihrer ungleich gewichteten Besetzungen einflussstarker Positionen zu revolutionieren und neu zu denken. Andere Nationen – wie die USA – sind Vorreiterinnen und weisen uns den Weg. Die Spiele dort sind nicht nur reine Fußballveranstaltungen, sondern eventgleiche Get-Together der Spielerinnen mit ihren Fans. Kreiert wird ein Raum des friedvollen Umgangs – trotz Konkurrenz der Mannschaften und Fans. Heutzutage eine Besonderheit.

Unlängst werden dort das Engagement und die Leistungen des Frauen-Nationalteams auch finanziell gleich gewürdigt wie die ihrer männlichen Kollegen. Die Strukturen sind dabei äußerst professionell. Die Spielerinnen werden mit modernster Methodik trainiert, ihre Werte getrackt und das Training danach ausgerichtet. Auch orientiert am weiblichen Zyklus sowie dessen unterschätzter und in Deutschland bisher nicht beachteter Auswirkung auf die weibliche Leistungsfähigkeit. Die Bedingungen reichen von der Beschaffung des Platzes über die Ausstattung des Fitnesscenters bis hin zu einer speziell ausgerichteten Ernährung. All diese wichtigen Punkte sollten jetzt Schritt für Schritt den – bei den Männern längst standardisierten – Bedingungen angepasst werden.

In einigen Bereichen gilt es, in einem ersten Schritt gleiche Bedingungen zu schaffen. Das fängt schon bei so basalen Dingen wie dem Zugang von Mädchen zum Fußball an. Jeder Verein sollte Fußball auch für Mädchen anbieten. Gremien sollten strukturell immer gleichwertig auch mit Expertinnen besetzt werden. Die Liste der noch zu schaffenden Bedingungen ist lang. Was für eine schöne Herausforderung, die vor uns liegt. Augenmerk möchte ich darauf richten, mit den wertvollen Erfahrungen im Rücken neue Wege zu gehen.

Vorne ist da, wo sich niemand auskennt. Lasst uns gemeinsam und mit geballter Expertise den Frauenfußball in Deutschland in eine strahlende Zukunft kicken.

Justin Kraft und Alina Ruprecht

WIE DIE FRAUEN DEN FUSSBALL REVOLUTIONIEREN

EINLEITUNG

31. Juli 2022: Im Wembley-Stadion läuft gerade die 79. Minute des Endspiels der Europameisterschaft zwischen England und Deutschland. Vieles lief bisher für die Gastgeberinnen, die mit 1:0 führen. Dann aber kommt Sydney Lohmann mit all ihrer Power und dribbelt von außen nach innen, während sich Tabea Waßmuth klug nach außen bewegt. Waßmuth bekommt den Ball, schaltet schnell und bedient die mitgelaufene Lina Magull: Tor! Pure Ekstase bei den deutschen Fans im Stadion und in der Heimat. Schweigen im Großteil des ikonischen britischen Nationalstadions. Ein Gänsehautmoment in der Geschichte des deutschen Fußballs der Frauen – auch wenn es zum Titelgewinn nicht reichen sollte.

18 Millionen Menschen verfolgten dieses Spiel in Deutschland live vor dem TV. Es war das meistgesehene Fußballspiel des Jahres. Rund 87.000 Fans waren im Stadion. Ein Jahr der Rekorde, ein Jahr des Anstoßes für den Fußball der Frauen in Deutschland und auf der Welt.

Um zu verstehen, welche Kraft der Fußball hat, genügt oftmals schon ein Blick in Kinderaugen, wenn junge Menschen auf ihre Idole treffen und plötzlich strahlen. Kinder sind die Zukunft, die Basis – in der Gesellschaft insgesamt wie auch im Fußball. Doch in vielen Bereichen sind es überwiegend Männer, die die großen Bühnen besetzen. Repräsentanz in der Gesellschaft erfahren deshalb oft nur Jungen. Im Fußball war und ist das nicht anders. Wie wichtig Diversität im Spitzensport aber ist, zeigte das Jahr 2022 eindrucksvoll. Die Europameisterschaft der Frauen in England präsentierte der Welt unter anderem strahlende Kinderaugen – nicht nur jene von Jungen, sondern auch von Mädchen. Mädchen, die den Fußball lieben und die sich mit Spielerinnen auf der größten aller Bühnen identifizieren. Die wahrnehmen, dass sie die Chance haben, es selbst eines Tages weit zu bringen. Männer spielen seit vielen Jahrzehnten erfolgreich Fußball. Frauen auch. Jetzt aber bekommen sie eine Sichtbarkeit, die es in dieser Form noch nie gab.

Der Fußball der Frauen hat sich in den vergangenen Jahren auf der ganzen Welt rasant entwickelt. Vorreiternationen wie die USA, oder in jüngerer Zeit England und auch Spanien, haben in verschiedenen Bereichen gezeigt, dass die historischen Missstände durch gesellschaftliche und strukturelle Unterdrückung ebenso riesig sind wie das Potenzial, das sich nun für die kommenden Jahrzehnte aufgetan hat. In diesem Buch werden viele Autorinnen und Autoren sowie Expertinnen und Experten ein differenziertes Bild zum Status quo des Fußballs der Frauen zeichnen und teilweise auch die Zukunft des Fußballs skizzieren. Immer mit dem Blick über den Tellerrand und weit über die deutschen Grenzen hinaus. Ein wesentlicher Schwerpunkt wird dennoch auf Deutschland und der Bundesliga liegen. Auch Deutschland zählte einst zu den Vorreiternationen. Zahlreiche Titel auf Verbandsund Klubebene, etliche Top-Spielerinnen und prägende Persönlichkeiten – Deutschland war das Maß aller Dinge im europäischen Fußball der Frauen. War.

Vorreiter mit Nachholbedarf: Fußball der Frauen in Deutschland

Denn das gilt heute längst nicht mehr. Nach der Weltmeisterschaft 2011 im eigenen Land stagnierte die Entwicklung, bis andere Nationen den DFB überholt hatten. Volle Stadien, große Titel, die ersten großen Fernsehverträge, eine faire Bezahlung der Spielerinnen, Professionalisierung der Top-Ligen – all das erreichten andere Nationen früher als Deutschland. Manches davon ist bis heute ein großes Thema. Wenn es um Professionalisierung geht, hat die Bundesliga noch viel Arbeit vor sich.

Die Spielerinnen des VfL Wolfsburg und des FC Bayern München bekommen ausreichend Gehalt, um sich auf den Sport konzentrieren zu können. Eintracht Frankfurt holt dahingehend auf. Bei allen anderen Klubs gibt es zahlreiche Spielerinnen, die einerseits den Anforderungen einer Profisportlerin gerecht werden und andererseits in einem Nebenjob arbeiten müssen. Mehrere Erhebungen haben gezeigt, dass eine Spielerin in der Bundesliga durchschnittlich rund 40.000 Euro pro Jahr verdient. Beachtet werden muss dabei, dass vor allem die Wolfsburgerinnen und die Münchnerinnen diesen Durchschnitt weit nach oben heben. Die meisten Spielerinnen liegen also deutlich unterhalb des Mittelwerts. Das führt zu ungleichen Bedingungen und Wettbewerbsverzerrung. Spielerinnen, die nicht bei den drei großen Klubs spielen, haben nicht die Rahmenbedingungen, um sich optimal entwickeln zu können. Nicht selten wird mit Wirtschaftlichkeit argumentiert. Ignoriert wird in dieser Argumentation allerdings, dass der Fußball der Männer und seine Protagonisten bei Klubs und Verbänden eine große Verantwortung dafür tragen, dass sich der Fußball der Frauen nie professionalisieren oder entwickeln konnte. Im Gegenteil: Er hat dazu beigetragen, dass positive Entwicklungen rückgängig gemacht wurden. Volle Stadien gab es auch in der Vergangenheit. Bei der WM 1971 besuchten mehr als 110.000 Zuschauer*innen das Finale zwischen Dänemark und Gastgeber Mexiko im Aztekenstadion von Mexiko-City.

Ein kleiner historischer Exkurs, der beweist, dass der Fußball der Frauen in der Moderne nicht einfach aus dem Boden gestampft wird. Die gesellschaftlichen Bedingungen sind in vielen Ländern nur andere als damals und Frauen haben sich in großen Teilen der Gesellschaft emanzipiert. Und tatsächlich gibt es mittlerweile einen wachsenden Druck auf die großen Verbände, der aus dem eigenen Handeln in der Vergangenheit entstandenen Verantwortung gerecht zu werden. Auch in Deutschland hat sich so in den letzten Jahren etwas bewegt. Zwar langsamer als in anderen Ländern, aber immerhin in die richtige Richtung.

Klubs, die in der Bundesliga der Männer spielen, haben nach unterschiedlichen Wegen gesucht, sich bei den Frauen ebenfalls zu etablieren. Borussia Dortmund und der FC Schalke 04 treten beispielsweise den langen Weg aus der Kreisliga bis in die Bundesliga an. Der BVB will dabei auf ein natürliches Wachstum ohne Vorschüsse setzen, bei Schalke wird sich das ähnlich verhalten. Einerseits gab es Lob für dieses Vorgehen, das auf die eigene Strahlkraft setzt, andererseits wird kritisiert, dass Dortmund damit nicht aktiv genug zur jetzt dringend benötigten Weiterentwicklung beiträgt. Auch RB Leipzig startete 2016 in der Landesliga und spielt mittlerweile in der 2. Bundesliga. Aufsehen erregte zudem der Einstieg einer Gruppe von Investorinnen und Investoren bei Viktoria Berlin, die den Klub zeitnah in die Bundesliga bringen möchte und mit progressiven sowie zukunftsorientierten Ideen lockt.

Anders hat es Eintracht Frankfurt gemacht. Die SGE hat 2020 den sehr erfolgreichen Traditionsklub 1. FFC Frankfurt übernommen – offiziell war von einer Fusion der beiden Frauenabteilungen die Rede. Auch der 1. FSV Mainz 05 ging diesen Weg. Die Mainzer kooperieren zunächst mit dem TSV SCHOTT Mainz, den sie anschließend übernehmen werden.

Revolution oder ein zweiter Fußball der Männer?

Beim Blick auf das Schicksal von Turbine Potsdam scheinen Übernahmen wohl alternativlos zu sein. Die Potsdamerinnen waren jahrelang das Pendant zu Frankfurt im deutschen Spitzenfußball. Beide lieferten sich packende Duelle, gewannen jeweils die Champions League und bildeten zahlreiche Weltklassespielerinnen aus. Sie waren das Herz des deutschen Fußballs der Frauen. Für Potsdam scheint diese Ära gerade zu enden. Einer von zahlreichen Gründen ist, dass sich Klubs ohne eine finanzstarke Männerabteilung nicht mehr halten können. Ein nahezu irreparabler Zustand, der zugleich ziemlich paradox ist.

Denn einerseits ist das große Thema dieses Buchs, wie Frauen den Fußball revolutionieren. Auf der anderen Seite wird häufig sichtbar, wie abhängig Männer diesen Sport von sich gemacht haben. An Turbine Potsdam oder auch der SGS Essen wird das besonders deutlich, weil diese Klubs im Oberhaus auf Dauer nicht überlebensfähig sind. Die strukturell und finanziell besten Bedingungen haben Klubs, die im Fußball der Männer erfolgreich sind. Es ist zweifelsohne eine Kehrseite der Medaille, dass Traditionsklubs auseinanderfallen – weil sie jahrelang nicht von jenen unterstützt wurden, die im Fußball das Sagen hatten.

Damit verbunden ist ein weiteres Thema, das durchaus kritisch gesehen werden kann, vielleicht sogar muss: Wer revolutioniert diesen Sport tatsächlich? Sind es wirklich Frauen, die ihren Sport in die aus ihrer Perspektive richtigen Bahnen lenken, oder sind es doch wieder Männer, die das Wachstum kontrollieren und nach eigenen Interessen steuern? Die FIFA, die UEFA und auch der DFB als Beispiel für viele Verbände sind in den letzten Jahrzehnten nicht gerade als besonders progressiv aufgefallen, wenn es um Diversität ging. Unter diesen Dächern befinden sich aber zahlreiche Klubs, Organisationen und Persönlichkeiten, die im Fußball der Frauen etwas bewegen wollen.

Zweifelsohne wurden auch positive Dinge bewirkt. Die Frauen profitieren von vorhandenen Strukturen, dem Know-how und den Erfahrungswerten. Gleichzeitig entsteht in den letzten Jahren zunehmend der Eindruck, dass der Fußball der Männer nachgebaut werden soll. Aufblähung der Wettbewerbe, Bevorzugung der ohnehin schon finanzstarken Klubs und eben das Aussterben von traditionsreichen Klubs oder gar wichtigen Regionen. Wenn wir also von einer Revolution schreiben, dann meinen wir auf der einen Seite die positive Veränderung im Jetzt. Auf der anderen Seite geht es mit Blick in die Zukunft aber auch darum, aus den Entwicklungen im Fußball der Männer zu lernen, sich davon an den richtigen Stellen abzugrenzen und eigene Nischen aufzubauen.

Viele Klubs warben in der Vergangenheit vor allem mit familienfreundlichem Publikum. Doch das umfasst nur einen Teil dessen, was den Fußball der Frauen speziell macht: Er ist nämlich inklusiver. Die Protagonistinnen und Protagonisten, aber auch die Zuschauer*innen sind diverser und sorgen dafür, dass die Atmosphäre in den Stadien für viele Gesellschaftsgruppen angenehmer ist als bei Spielen der Männer. Auch die Nahbarkeit der Spielerinnen ist ein Thema, mit dem sich der Fußball der Frauen aktuell positiv abgrenzt. Mit steigendem Bekanntheitsgrad wird das zunehmend zur Herausforderung. Und doch ist der einfache Zugang etwas, was vielen beim durchkapitalisierten Fußball der Männer fehlt. Der Kontakt zur Basis ging dort schon vor vielen Jahren verloren. Das gilt es bei den Frauen zu verhindern. Wenn aber jene die Richtung bestimmen, die schon bei den Männern dafür verantwortlich waren, dass diese Distanz Schritt für Schritt aufgebaut wurde, dann drohen langfristig ähnliche Szenarien.

EM 2022 wirkt nach: Kurzer Aufschwung oder Nachhaltigkeit?

Allzu düster sollte man die Zukunft aber nicht malen. Ja, der Fußball der Frauen befindet sich gerade in einer wichtigen Übergangsphase, in der viele Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt werden. Das bringt automatisch Sorgen und Kritikpunkte hervor. Doch gerade die Europameisterschaft in England hat im Sommer 2022 zeigen können, wie sich beides miteinander verbinden lässt: Event, Wachstum auf allen Ebenen und gleichzeitig Nahbarkeit. Selbst in Deutschland entstand mit zunehmendem Turnierverlauf eine Welle der Begeisterung. Obwohl der DFB im Fußball der Frauen historisch so erfolgreich war wie keine andere Nation in Europa, war das überraschend. Der Verband selbst, aber auch die Medien und die Gesellschaft insgesamt hatten dieses Thema in den vergangenen Jahren allenfalls stiefmütterlich behandelt. Ein starkes, erfolgreiches, vor allem aber sympathisches Nationalteam konnte bei einer vom Gastgeber gut organisierten EM 2022 viele Herzen erobern und wichtige Aufmerksamkeit gewinnen.

Es entstand ein regelrechter Hype, der sich anschließend auch auf die Bundesliga übertrug. Noch vor der Winterpause wurde der bisherige Zuschauer*innen-Rekord geknackt. In der Saison 2013/14 kamen 156.355 Fans in die Stadien, nach nicht mal der Hälfte aller Spiele sind es 2022/23 bereits knapp 200.000 Menschen gewesen.

Es ist eine neue Sichtbarkeit entstanden, die sich auch im Medieninteresse widerspiegelt – zumindest teilweise. Gerade in Deutschland wird es wohl noch viel Zeit brauchen, bis Frauen auf den Startseiten und Covern der Sportmedien zur Normalität geworden sind. Alexandra Popp auf der Titelseite des „kicker“ oder Juliane Wirtz gemeinsam mit Bruder Florian auf dem „11 Freunde“-Cover – bisher eher die Ausnahme als die Regel. Die Berichterstattung erfolgt zudem in zu vielen Teilen oberflächlich. Fragen auf Pressekonferenzen drehen sich gern mal um Lifestyle-Themen, anstatt taktische Systeme zu diskutieren oder andere sportliche Aspekte zu behandeln.

Rekord: Die Kulisse beim EM-Finale 2022 im Londoner Wembley-Stadion.

Wer mal in England, Skandinavien oder Spanien Profispiele besucht oder Interviews gelesen hat, wird schnell ein größeres und ernsthafteres Medieninteresse feststellen. Auch wenn der Weg noch weit ist, ist im deutschen Sportjournalismus aber ein kleiner Aufbruch zu spüren.

Und so zieht sich diese Aufbruchstimmung durch fast alle Bereiche des Fußballs. Die Europameisterschaft in England war dabei nicht der Ausgangspunkt. Schon zuvor ist beispielsweise durch die reformierte Champions League oder die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern vieles in Gang gekommen. Allerdings hat die EM den Fortschritt befeuert.

Der neue TV-Vertrag: Fluch, Segen oder doch beides?

Die großen Streaminganbieter und TV-Sender haben endgültig ein Potenzial erkannt und sind bereit, mehr Geld für Rechte zu investieren. So wurde 2022 ein neuer TV-Vertrag abgeschlossen, der dem Fußball der Frauen mehr Sichtbarkeit im Free-TV einerseits, aber auch höhere Einnahmen andererseits ermöglicht. Mit rund fünf Millionen Euro pro Jahr wird die Bundesliga so viel Geld einnehmen wie noch nie. Ein Meilenstein. Mit DAZN und Sport1 sind zudem zwei große Anbieter hinzugekommen, die die Bundesliga nun auch dorthin bringen, wo ohnehin schon viele Fußballfans sind.

Ein häufig genannter Kritikpunkt war, dass die deutsche Spitzenliga bei Magenta Sport „versteckt“ wurde. Bis zur Saison 2026/27 werden alle Spiele bei DAZN und Magenta Sport laufen. Sport1 erhält die neu geschaffenen Montagsspiele und die Öffentlich-Rechtlichen dürfen insgesamt zehn Partien pro Saison zeigen. Hinzu kommen noch Highlightpakete, an denen neben den genannten Anbietern auch Sky beteiligt ist. In Sachen Sichtbarkeit und Zugang ist das ein großer Fortschritt für den deutschen Fußball der Frauen.

Aber auch hier gibt es Bedenken. Denn zusätzlich zu den Montagsspielen wird der komplette Spieltag zerstückelt. Die sechs Spiele laufen ab der Saison 2023/24 allesamt einzeln von Freitag bis Montag. Was im Fußball der Männer vor allem aus finanzieller Perspektive Sinn ergibt, ist im Fußball der Frauen durchaus ein Risiko. Das Interesse an Klubs wie SGS Essen, MSV Duisburg, SV Meppen oder auch anderen kleineren Teams ist vergleichsweise gering. Auch das fußballerische Niveau ist in den unteren Bereichen der Bundesliga zwar gestiegen, jedoch immer noch entwicklungsfähig. Das ist in anderen Ligen – egal, ob bei Männern oder Frauen – durchaus ähnlich. In der Bundesliga der Männer gibt es ebenfalls Klubs, die im relativen Vergleich kaum Publikum anziehen. Wenn nun Meppen gegen Duisburg oder Essen gegen Bremen spielt, dann könnten die Einschaltquoten aber zum Problem werden. Die übertragenden Sender sind keine Wohlfahrtsunternehmen. Sie verfolgen wirtschaftliche Interessen.

Eine Spieltagsstruktur mit Parallelspielen und Konferenzen lehnte der DFB allerdings entschieden ab. Eine Entscheidung, die kritisch gesehen werden kann. Womöglich hätten gerade die kleineren Klubs sehr davon profitiert, wenn sie im Windschatten der Größeren hätten mitfahren können. Nun müssen sie sich in Einzelspielen irgendwie selbst tragen. Und auch hier wird die Qualität der Übertragung eine Rolle spielen. Wie viel Aufwand sind die jeweiligen Rechteinhaber bereit zu betreiben? Wie viele Kameras werden aufgestellt? Wie viele Expertinnen und Experten sind vor Ort? Und wie viele Interviews sowie Berichte wird es im Rahmenprogramm geben? Magenta Sport hatte sich hier in den letzten Jahren auf ein Minimum beschränkt. Auch die Öffentlich-Rechtlichen hielten sich zurück. Aus wirtschaftlicher Perspektive ist das oftmals nachvollziehbar. Gleichwohl hat der Fußball der Frauen nur dann die Chance auf Wachstum, wenn die Präsentation stimmt.

Auch das ist eine Erkenntnis der Europameisterschaft in England, die Quoten waren sensationell. Das Endspiel ließ sowohl das WM-Finale als auch das Champions-League-Finale der Männer in Deutschland hinter sich. Auf Klubebene ist ebenfalls ein weiterer Anstieg der Quoten möglich, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Neben der Berichterstattung wird das auch Themen wie die Anstoßzeiten betreffen. Wo gibt es die richtigen Nischen in der Konkurrenz zum Fußball der Männer? Wie können beide durch klug zusammengestellte Spielpläne sogar harmonieren? Gemeinsame Auswärtsfahrten bieten beispielsweise den Fans die Möglichkeit, beide Teams zu besuchen. Es ist ein großer Berg an Aufgaben, der jetzt auf den DFB wartet.

Raus aus dem DFB? Deutschland am Scheideweg

Der Verband hat sich durch die TV-Verträge etwas Zeit erkaufen können, nachdem es von einigen Klubs viel Gegenwind und Druck gab. Mit einem Austritt und einer eigenen Dachorganisation nach dem Vorbild der DFL wurde einerseits gedroht, andererseits gab es immer wieder das Gedankenspiel, unter das Dach der DFL zu wechseln. 2022 hat man sich nun doch für eine weitere Zusammenarbeit mit dem DFB entschieden. Auch deshalb, weil gerade die kleineren Klubs fürchten, dass ein Austritt ihre Zukunft noch ungewisser macht.

Die Zukunft bleibt also spannend. Auch wenn Revolution ein zugegebenermaßen hochtrabender Begriff für die Veränderungen ist, die bisher angestoßen wurden, so ist dieser Aufbruch in ein neues Zeitalter des Fußballs tiefgreifend. All die genannten Fortschritte einerseits und all die beschriebenen Herausforderungen sowie Probleme andererseits führen zu einem Status quo, von dem aus allein in Deutschland viel Bewegung entstehen wird. Alte Machtstrukturen werden zunehmend in Frage gestellt, neue Strukturen werden sich bilden. Der Fußball der Frauen wird sein Wachstum in Deutschland, in Europa und auf der Welt unaufhaltsam fortsetzen. Anders als in der Vergangenheit, wo auf einzelne Highlights ein klarer Abschwung folgte, ist er nun dabei, sich die Bühne zu nehmen, die er verdient – und die für die Gesellschaft so bedeutsam ist.

Schauen Sie dafür einfach mal in die Augen junger Mädchen, die auf Spielerinnen wie Sarah Zadrazil vom FC Bayern München, Laura Freigang von Eintracht Frankfurt oder Alexandra Popp vom VfL Wolfsburg treffen. Achten Sie auf das Strahlen und auf die fast bis zu den Augen hochgezogenen Mundwinkel. Für die genannten Spielerinnen war das in der Jugend anders. Erfolgreiche Fußballerinnen gab es auch damals schon. Allerdings mit viel geringerer Reichweite. Und so waren es oft Männer, die zu Vorbildern von Mädchen und jungen Frauen wurden. Mädchen sehen nun aber, dass auch sie im Spitzensport repräsentiert werden. Dass sie es weit bringen können. Und dass sie Teil der Revolution sein können, die den Fußball der Zukunft erwartet.

Anna Dreher

DAS SOLL ERST DER ANFANG SEIN

DIE DEUTSCHE NATIONALELF UND IHR NEUES SELBSTBEWUSSTSEIN

Im Winter waren sie wieder im Schwarzwald. Die Gruppe war recht groß, zum Trainerstab eines Fußball-Nationalteams zählen inzwischen einige Menschen mit verschiedenen Fachgebieten. Und wie ihre Spielerinnen müssen sie sich kennenlernen und herausfinden, wie die eine oder der andere in bestimmten Situationen so tickt. Eine gemeinsame Sprache finden, damit es in emotionalen Momenten bei all der Anspannung nicht zu Missverständnissen kommt. Emotionale Momente gibt es im Fußball zuhauf. Also fuhr Martina Voss-Tecklenburg, als Bundestrainerin quasi die Reiseleiterin, mit ihren engen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ein paar Tage nach Saig, nicht weit entfernt vom Titisee und dem Feldberg. Sie wohnten in einem Seminarhaus, das damit wirbt, „ganz besondere Team-Erlebnisse“ möglich zu machen: „Gewinnen Sie bei uns neue Ein- und Ausblicke!“ Genau das wollten sie.

Voss-Tecklenburg hat gute Erfahrungen an diesem Ort gemacht, auch im Winter 2021/2022 war sie mit ihrem Team hier gewesen. Sie kochten, redeten, stellten sich viele Fragen. Welchen Fußball sollen die deutschen Nationalspielerinnen zeigen? Was fehlt diesem Kollektiv im Vergleich zur Weltspitze? Wie gelingt die Rückkehr dorthin? Sie durchdachten die nächsten Schritte und tüftelten an ihrer Vision, abgeschottet von der Außenwelt. Was danach kam, im Sommer 2022, ist bekannt: Das Finale bei der Europameisterschaft in England. Was als nächstes, im Sommer 2023, kommen soll, ist klar: Ein ähnlicher Erfolg bei der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland. Dass vom Titel geredet wird, hat auch mit den Tagen im Schwarzwald zu tun.

Als sie sich das erste Mal hierher zurückzogen, ging es darum, Klarheit unter den Coaches zu finden, um Klarheit von den Spielerinnen einfordern zu können. Belastbare Beziehungen. Das ist es, was Voss-Tecklenburg bei ihrer Arbeit für unabdingbar hält, wenn unterschiedliche Charaktere und Philosophien aufeinandertreffen. Aber es braucht viel Ehrlichkeit, Vertrauen und Energie, solche Bindungen aufzubauen und zu stärken, so einfach lässt sich eine gemeinsame Kultur nicht definieren. Und der Druck war groß nach holprigen Jahren, die auf die erfolgreiche Ära von Bundestrainerin Silvia Neid folgten. Bei der EM 2017 sowie bei der WM 2019 schieden die Deutschen im Viertelfinale aus und verpassten die Olympischen Spiele 2021. Beim nächsten Höhepunkt würden sie liefern müssen, um ihrem eigenen Anspruch und der öffentlichen Erwartung gerecht zu werden.

Vom Teilnehmer zum Titelfavoriten

Voss-Tecklenburg selbst gestand, dass nicht alles reibungslos lief damals, als sie dieses Amt übernahm. Nur etwa fünf Monate hatte sie mit ihrer Co-Trainerin Britta Carlson, den Assistenztrainern Patrik Grolimund und Thomas Nörenberg sowie Torwartexperte Michael Fuchs vor der WM 2019 zusammengearbeitet. Fast schon amüsiert kann die 55-Jährige heute von den Anfängen erzählen. Alle hatten ein gemeinsames Ziel, verfolgten es ambitioniert, waren aber bisweilen auf unterschiedlichen Fahrbahnen unterwegs. Bei einer Maßnahme im spanischen Marbella, erzählte Voss-Tecklenburg später, sei es durchaus vorgekommen, dass Spielerinnen im Training von allen Seiten etwas zugerufen worden sei. Das führte teils zu Überforderung und oft nicht zum gewünschten Ergebnis, mochte die Intention noch so gut gewesen sein. „Ich glaube“, sagte die Bundestrainerin, „die Spielerinnen haben nach drei Tagen wirklich gedacht: Was ist das für ein beklopptes Trainerteam?“ Es musste sich dringend etwas verändern. Wann immer es nötig und wo immer es möglich war, setzten sich die Coaches zusammen und schärften nicht zuletzt Zuständigkeiten. Voss-Tecklenburg lernte, Verantwortung abzugeben.

Als sie nun in Saig die Türen hinter sich verschlossen, mussten sie sich zwar auch wiederfinden. Grolimund und Nörenberg hatten das Team auf eigenen Wunsch verlassen, der frühere U19-Juniorinnentrainer Michael Urbansky kam hinzu, wie auch Julius Balsmeier als Athletiktrainer. Dennoch waren die Voraussetzungen andere, als sich Voss-Tecklenburg, Carlson, Fuchs, Urbansky, Balsmeier, Spielanalyst Daniel Nister, Psychologin Birgit Prinz, Neuroathletik-Spezialist Jan-Ingwer Callsen-Bracker und zeitweise auch Teammanagerin Maika Fischer trafen. Bis auf die neuen Mitglieder hatten die Coaches zusammen schon einen Entwicklungsprozess durchlaufen und gesehen, wozu sie in der Lage sind, gemeinsam mit ihren Spielerinnen.

Vor der EM waren die Deutschen international nicht eindeutig einzuordnen gewesen. Achtmaliger Europa- und zweimaliger Weltmeister, schon klar, aber der letzte bedeutende Titel mit Olympiagold 2016 lag eben auch schon einige Jahre zurück, die Turniere seither liefen ernüchternd. Umso eindrucksvoller war der Auftritt in England: 4:0 gegen Dänemark, 2:0 gegen Spanien, 3:0 gegen Finnland. Dann 2:0 gegen Österreich in einem nervenaufreibenden, rasanten Viertelfinale. Auch im Halbfinale gegen Frankreich hätte bis zum Schluss alles passieren können. Am Ende sackte nicht nur Torhüterin Merle Frohms lächelnd auf den Rasen. Wie viel Druck nach dem 2:1 abfiel, war bis auf die Tribüne zu spüren. Sie hatten es geschafft: Finale. Wembley. 87 000 Zuschauer*innen, ausverkauft. Die Gastgeberinnen als Gegner. Besser ging es nicht. Das Spiel war von Anfang an ein großer Kampf. Diesmal flossen nach 122 Minuten Tränen der Enttäuschung, während die Engländerinnen in einem Meer aus silbernem Glitzerkonfetti auf dem Rasen badeten und berauscht durchs Stadion tanzten. Football came home.

Aber was für ein Weg! Was für eine Geschichte! Dieses Nationalteam, mit dem vor dem Turnier kaum jemand wirklich gerechnet hatte, war von einem Teilnehmer zu einem Titelkandidaten, zu einem Titelfavoriten gewachsen. Die Deutschen hatten an diesem 31. Juli 2022 ein Finale 1:2 verloren, aber so viel mehr gewonnen. Und dabei jene Geschlossenheit gezeigt, die zuletzt nicht immer selbstverständlich gewesen war.

Ein neues Selbstverständnis

Auch die Spielerinnen hatten in den Monaten vor der EM gespürt, dass sich etwas verändern muss: Bei sich selbst, aber auch bei der Herangehensweise des Trainer*innenteams. Sie hatten eindeutige Rückmeldungen zu ihren Vorstellungen und Wünschen gegeben. „Belastungssteuerung“ war von ihnen zum Unwort gekürt worden. Sie forderten eine höhere Intensität, mehr Einheiten auf dem Platz, wenn sie sich ganz nach oben zurückarbeiten wollten. Keinen gut gemeinten, aber hier und da unnötigen Schonwaschgang. Diese Spielerinnen hinterfragten sich und ihre Arbeit konsequent, sie setzten sich auch ohne Coaches zusammen und reflektierten, wie es eigentlich gerade so läuft und wo es Veränderungen braucht. Dabei entwickelte sich ein Zusammenhalt, der von allen als besonders bezeichnet wurde, und eine spielerische Stärke, aus der sich Stammbesetzung und Flexibilität gleichermaßen ergaben. Voss-Tecklenburg konnte im besten Sinne einwechseln, wen sie wollte – es geriet kaum etwas durcheinander. „Ich bin jetzt über zehn Jahre bei der Nationalmannschaft dabei“, sagte Alexandra Popp in England. „So einen Teamspirit, so ein Teamgefüge wie wir hier haben, habe ich, ganz ehrlich, noch nie erlebt.“

Überhaupt: Die Kapitänin. Ihre Geschichte prägte diese EM und mutete fast schon wie ein Märchen an. Popp verletzte sich schwer am Knie, dachte über ihr Karriereende nach, kämpfte sich zurück, musste erneut operiert werden, gewann mit dem VfL Wolfsburg Meisterschaft und Pokal, schaffte es rechtzeitig zum Nationalteam, wurde im Trainingslager positiv auf Covid-19 getestet, konnte dennoch zu ihrer ersten EM reisen, nachdem sie die Turniere 2013 und 2017 verletzt verpasst hatte, war aufgrund ihrer gesundheitlichen Vorgeschichte als Joker vorgesehen, nahm stattdessen die Rolle der unangefochtenen Stürmerin ein, weil Lea Schüller nach dem Auftakt Corona-infiziert ausfiel. Popp war unermüdliche, willensstarke Antreiberin und ausgebuffte, mutige Torjägerin. Vor dem Finale hatte die 31-Jährige sechsmal in allen fünf EM-Partien nacheinander teils spektakulär getroffen, als erste Fußballerin überhaupt. Ihre Aura auf dem Platz war einschüchternd. Die Deutschen hatten sich zurückgemeldet auf der großen Bühne – mit ihr wirkten sie unschlagbar. Wer bitte sollte Popp bremsen? Es war dann ihr Oberschenkel, im Abschlusstraining, beim letzten Schuss. Viel wurde probiert, nichts half. Kurz vor dem Anpfiff machte die Hiobsbotschaft die Runde. Popp musste zuschauen. Und wer weiß? Vielleicht hätten im Wembley-Stadion sonst sie und ihre Mitspielerinnen im silbernen Glitzerkonfetti auf dem Rasen gebadet und wären berauscht durchs Stadion getanzt. Aber der Fußball-Gott hatte ein anderes Skript vorgesehen.