Futter für die Schmetterlinge - Paula Klein - E-Book

Futter für die Schmetterlinge E-Book

Paula Klein

5,0

Beschreibung

Alice und Marie verbindet seit ihrer Kindheit eine tiefe Freundschaft. Mit ihrem Umzug vom Dorf in die Stadt, flüchten sie nicht nur vor neugierigen Nachbarn und deren Getratsche, sondern vor allem vor den Schatten der Vergangenheit, die Alices Leben aus der Bahn geworfen haben. Als eine verdrängt geglaubte, böse Erinnerung in der Stadt auftaucht, wird Alice klar, dass sie nicht ewig weglaufen kann. In dieser belastenden Zeit wird plötzlich jemand ihr Beschützer, mit dem sie nicht gerechnet hat: Maries Freund Ben. Mit den zarten Gefühlen, die Ben ganz plötzlich in ihr weckt, verschwimmen die Grenzen zwischen Richtig und Falsch. Kann Alice ihre Gefühle für Ben unter ihren Schuldgefühlen begraben, oder will sie nur einmal in ihrem Leben wahrhaftig glücklich sein? Würde Maries und Alices Freundschaft einen solchen Vertrauensbruch überstehen, oder riskiert Alice, Marie für immer zu verlieren? Eine tiefe Freundschaft, ein Geheimnis und eine verbotene Liebe, die alles zerstören, oder auch alles retten kann.

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Die Autorin

Paula Klein wurde 1986 in Kärnten, Österreich, geboren. Nach dem Studienabschluss der Sozial- und Integrationspädagogik arbeitete sie vor allem mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen. Über ihre Leidenschaft für romantische Romane (mit und ohne Happy End) kam sie schließlich dazu, selbst in die Tasten zu hauen und Geschichten zu Papier zu bringen, die sie einfach nicht mehr losließen. Zwischen Mann, zwei Kindern, Hund und Katz‘ schreibt sie, wann immer es ihre Zeit erlaubt. Futter für die Schmetterlinge ist ihr Debüt, mit dem Ziel, ihre Leser den Alltag vergessen zu lassen, und mit den Protagonisten des Romans zu lachen, zu weinen und sich zu verlieben.

Für P., E. und O. –

Nicht ein geschriebenes Wort könnte meine Liebe für euch

angemessen beschreiben –

Ihr seid mein Ein und Alles!

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

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EPILOG

DANKSAGUNG

SOUNDTRACK ZUM BUCH

COMING SOON

Prolog

Nervös knibbelte ich an meinen Fingernägeln. Der dunkelblaue Nagellack, den Marie mir gestern Abend aufgetragen hatte, war bereits vollkommen abgesplittert. Die Uhr, die über dem Anmeldetresen hing, tickte unnatürlich laut und die voranschreitenden Zeiger zeigten mir, dass ich eigentlich schon seit 10 Minuten dran sein sollte. Die Sprechstundenhilfe warf mir alle paar Minuten einen freundlich zuversichtlichen Blick zu, bevor sie sich wieder auf den Computerbildschirm vor ihr konzentrierte. Statt dem üblichen weißen Outfit trug sie ein knallpinkes Shirt, welches wohl von der sonst vorherrschenden Arztpraxis-Atmosphäre ablenken sollte. Auch sonst sah das Vorzimmer, mit seinem bunt gemusterten Teppich, den gelben Stühlen und den überdimensionalen Grünpflanzen, nicht unbedingt wie die Warteräume der anderen Psychotherapeutinnen aus, die ich vor diesem Termin bereits des Öfteren besucht hatte. Das hier war mein vierter Versuch.

Marie hatte mich dazu überredet, es noch einmal zu versuchen. Sie hatte das Internet durchforstet, auf der Suche nach Therapeuten, die alternative Gesprächstherapien anboten und nicht sofort den Rezeptblock zückten, um mir Medikamente zu verschreiben, die auf längere Sicht sogar abhängig oder zumindest dick machten. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte meine negativen Gedanken nicht unter einem von Medikamenten initiierten Nebel verstecken, denn auch wenn ich erst 16 Jahre alt war, wusste ich, dass mir das auf lange Sicht nicht helfen würde. Wenn mir überhaupt jemand helfen konnte.

Ich seufzte und blätterte zum zweiten Mal durch die „Psychologie heute“, ohne auch nur eine Überschrift richtig wahrzunehmen. Frau Doktor Roth arbeitete vor allem mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen und schien, zumindest laut ihrer Homepage, die richtige Wahl zu sein, auch wenn ihr Stundentarif Marie dazu veranlasst hatte, ihren Vater um mehr Taschengeld zu bitten. Die Krankenkasse bezahlte nur einen Bruchteil der Kosten, den Rest borgte ich mir von Marie. Meine finanziellen Mittel waren begrenzt, und meine Eltern würden sofort hellhörig werden, sollte ich sie um Geld bitten, das hatte ich nämlich noch nie getan.

Wieder einmal war ich mit Marie unter einem fadenscheinigen Grund in die nächste Stadt gefahren, und sie hatten mir geglaubt, dass wir ein wenig durch die Innenstadt bummeln wollten, bevor wir ins Kino gingen. Zumindest Letzteres wollten wir tatsächlich machen, sollte die Therapeutin mich rechtzeitig in ihr Sprechzimmer bitten, um den Beginn der Vorstellung nicht zu verpassen. Marie wartete unterdessen in einem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die letzten Male hatte sie mich begleitet, doch diesmal wollte ich stark genug sein und es ohne ihre Unterstützung schaffen.

Als sich die weiße Tür zum Sprechzimmer endlich öffnete, steigerte sich mein Herzschlag rapide. Eine junge Mutter mit einem circa zehnjährigen Mädchen an der Hand verließ den Raum und verabschiedete sich, bevor sie an den Anmeldetisch trat, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Keine Minute später erschien Frau Doktor Roth in der Tür, die offensichtlich den Dress Code ihrer Sprechstundenhilfe teilte, und mich in einem pinken Shirt und langen, beigen Stoffhosen in ihr Zimmer bat. Ich schulterte meinen Rucksack, der meine Schulsachen beinhaltete, und ging mit schweren Beinen an ihr vorbei, bevor sie mir deutete, auf dem hellbraunen Ledersofa Platz zu nehmen. Sie setzte sich auf den kleineren, wild gemusterten Polstersessel mir gegenüber.

„Schön, dass du hier bist, Alice. Ich darf dich doch beim Vornamen nennen?“ Sie zog abwartend die Augenbrauen zusammen und lächelte mich an. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und nickte.

„Gut. Dann lass uns mal anfangen. Es tut mir leid, dass du etwas warten musstest.“

„Schon gut“, erwiderte ich und rutschte unruhig auf der Sitzfläche des Sofas herum, was das Leder unter meinem Hintern zum Quietschen brachte.

„Zuerst möchte ich dir erklären, wie eine Therapie bei mir abläuft. Warst du denn schon einmal in Behandlung?“ Bei der Erinnerung an ihre Vorgänger wurde mir mulmig zumute. Die „Behandlung“ ihrer Kollegen beinhaltete vor allem Gespräche darüber, dass sie versuchten mir begreiflich zu machen, wie wichtig es wäre, meine Eltern miteinzubeziehen, bevor sie mir schließlich allerlei Wundermittel empfahlen, die meine Panikattacken im Keim ersticken sollten. Ich nickte erneut.

„Das hier ist ein geschützter Raum für dich, Alice. Alles, was wir hier besprechen, bleibt unter uns, außer du möchtest jemanden miteinbeziehen, deine Eltern zum Beispiel.“ Sie stoppte ihren Redefluss abrupt, als sie meine zusammengepressten Lippen bemerkte.

„Wie gesagt, es muss von dir aus passieren. Ohne dein Einverständnis wird nichts geschehen.“ Ich wusste natürlich von der ärztlichen Schweigepflicht, und da ich schon 16 war, musste diese zwingend eingehalten werden, außer die Ärztin attestierte mir, mich selbst zu gefährden. Ich würde lügen, hätte ich nicht in den ersten Wochen daran gedacht, einfach alles hinzuschmeißen. Doch meine Fantasien gingen eher in Richtung Flucht aus dem Kaff, das meine Heimat war, und nicht unbedingt dahingehend, mich selbst zu verletzten oder mir gar etwas anzutun. Dazu waren mir meine Eltern und natürlich auch Marie zu wichtig. Selbst in meinen schlimmsten Phasen, geprägt durch Angstzustände und dem Wunsch, mein Zimmer nicht mehr zu verlassen, war es Marie gewesen, die dafür sorgte, dass ich zumindest zeitweise im Stande war, eine alltägliche Routine zu leben. Sie hatte mir mehr geholfen, als es laut meiner Vorstellung eine fremde Therapeutin mit all ihrem Fachwissen je konnte. Marie rettete mich nicht mit Atemtechniken oder Wunderpillen, sondern einfach durch ihre Freundschaft.

In den nächsten Minuten klärte mich Frau Doktor Roth über den Therapieverlauf auf und steckte mir ihre Visitenkarte zu. Ihr horrendes Honorar schloss wohl auch die Möglichkeit ein, sie außerhalb der Termine zu kontaktieren, sollte ich das Bedürfnis danach haben.

„Vielleicht beginnen wir einfach, indem du mir kurz schilderst, warum du hier bist, und welche Vorstellungen du davon hast, wie ich dir helfen kann.“ Jetzt war es also soweit. Ich musste zum wiederholten Male von den Ereignissen erzählen, die mich regelmäßig schwarzsehen ließen. Alleine deshalb, weil es mir so schwer fiel, das Geschehene immer wieder aufzurollen und bis ins Detail durchzukauen, hatte ich keine Kraft mehr, mich erneut in ein Sprechzimmer zu setzen und mir vorzumachen, dass es diesmal die Möglichkeit auf eine Besserung gab.

Doch Marie hatte gewonnen. Sie war eine Meisterin der Überredungskunst und ließ nicht locker, ehe ich, diesmal ohne ihre Begleitung, die Tür zu dieser Praxis geöffnet hatte. Die Therapeutin wartete, ganz ihrem Berufsethos entsprechend, geduldig und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Als ich nach mehreren Minuten immer noch nicht fähig dazu war, den Mund zu öffnen, stand sie auf und setzte sich neben mich auf das Sofa. Meine Hände hatte ich vor dem Körper verschränkt und zählte zum wiederholten Male die Fachbücher, die an der gegenüberliegenden Wand akkurat in einem Regal angeordnet waren. Als sie plötzlich so nahe neben mir saß und immer noch keine Anstalten machte, mein Schweigen zu unterbrechen, rang ich mich dazu durch, ihr einfach zu sagen, was mir durch den Kopf ging.

„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Wissen sie, sie sind die vierte Therapeutin, die wissen will, warum ich zu ihr komme. Jedes Mal habe ich alles erzählt und Fragen beantwortet, immer und immer wieder. Doch anstatt dass es mir danach besser ging, war ich tagelang kaum ansprechbar. Ich glaube nicht mehr daran, dass mir das hier irgendetwas bringt. Ich bin hier, weil mich meine Freundin dazu überredet hat, es noch einmal zu versuchen.“ Frau Doktor Roth nickte und strich sich eine Strähne ihres halblangen, blonden Haares hinters Ohr.

„Verstehe. Deine Freundin muss dir ganz schön wichtig sein, dass du das hier für sie machst, auch wenn du persönlich momentan nicht viel davon hältst. Es ist nie einfach, über das zu sprechen, was man im täglichen Leben versucht zu verdrängen. Wie wäre es, wenn wir zuerst über sie sprechen?“ Überrascht löste ich meine Hände vor der Brust und lehnte mich zurück.

„Über wen? Über Marie?“

„Ja, wenn sie so heißt, warum nicht. Wenn sie es schon geschafft hat, dich zu überzeugen hierherzukommen, dann erleichtert sie dir vielleicht den Einstieg.“ War das ein psychologischer Trick, der es mir erleichtern sollte Vertrauen zu fassen? Oder wollte sie mich mit der Frage nach Marie irgendwie manipulieren? Nachdem ich kurz das Für und Wider dieses Themas abwog, entschied ich mich schließlich doch, zumindest über meine Freundin mit ihr zu reden. Ich wusste zwar nicht, wie mir das helfen sollte, aber schaden konnte es doch nicht, und schließlich war ich schon hier, da konnte ich mich auch mit ihr über Marie unterhalten, oder?

„Ich kenne sie schon mein ganzes Leben“, sagte ich lächelnd, als ich an Maries funkelnde Augen und ihren Lockenkopf dachte, der momentan fast schwarz gefärbt war. Frau Doktor Roth nickte zufrieden und lehnte sich ebenfalls zurück, ehe sie mich einfach erzählen ließ.

1

Sechs Jahre später…

Der Tag zog sich wieder mal wie Kaugummi. Schon heute Morgen nach dem Aufstehen war meine Laune mies, und auch die ersten Sonnenstrahlen, die den nahenden Frühling ankündigten, konnten dem keinen Abbruch tun. Unzählige Male hatte ich heute schon auf meine Swatch geblickt, und mit jedem Blick auf die nur langsam voranschreitenden Zeiger meiner Uhr wurde ich nur noch frustrierter. Es war erst 11 – noch drei Stunden bis zum Wochenende.

„Kannst du mal kommen, Alice? Die Herrschaften an Tisch 10 wollen zahlen.“ Seufzend wandte ich mich meiner Kollegin Bea zu, die gerade mit dem Ausräumen der Spülmaschine beschäftigt war. Ich folgte ihrem Blick und erkannte zwei ältere Damen, die gerade im Begriff waren zu gehen. Nach über zwei Monaten in dem kleinen Café tat ich mich immer noch schwer mit der Tischeinteilung. Da der kleine Raum ansonsten aber leer war, wusste ich sofort, welchen Tisch ich ansteuern musste. Ich setzte mein Strahlelächeln auf, das mir normalerweise großzügiges Trinkgeld garantierte, und nannte den beiden Rentnerinnen den Preis für ihre Getränke. Nachdem sich die beiden Freundinnen lachend darüber zankten, wer die Rechnung übernehmen sollte, streckte mir die etwas rundlichere Dame einen zerknitterten Fünf-Euro Schein entgegen und verkündete mit lauter Stimme: „Stimmt so.“

Nur mit Mühe gelang es mir, meine Mundwinkel oben zu halten und freundlich lächelnd meine 10 Cent Trinkgeld in meine Hosentasche zu stecken, nachdem ich den Geldschein in der überdimensionalen Kellnerbrieftasche verstaut hatte.

Auch das noch! Nicht nur, dass aufgrund des schönen Wetters Flaute im „Café Rosa“ herrschte, und die Zeit so langsam verging, als hätte der Uhrzeiger keine Kraft mehr sich in angemessenem Tempo um die eigene Achse zu drehen, konnten sich auch die wenigen Gäste, die sich doch ins Innere des von oben bis unten mit allem möglichen Kitsch und Blümchen dekorierten Lokal verirrten, nicht dazu durchringen, mein mehr als angestrengtes Tausend-Watt-Lächeln mit einem angemessenen Trinkgeld zu quittieren.

Die beiden Damen spazierten schwatzend an mir vorbei, winkten meiner Kollegin mit ihren beringten Fingern zum Abschied zu, und hinterließen ihren Duft von Chanel No5 und Haarspray, ehe sich die Lokaltür mit Schwung hinter ihnen schloss.

„Der Tag kann ja nur noch besser werden“, sagte ich mehr zu mir selbst, als ich die benutzten Kaffeetassen der beiden Damen, die dem Tassenrand zufolge viel zu viel Lippenstift verwendeten, auf meinem kleinen runden Tablett in Richtung Theke transportierte. Bea drehte sich zu mir um und empfing mich mit einem fragenden Blick.

„Du kommst mir heute irgendwie unkonzentriert vor, das ist doch sonst nicht deine Art. Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Hmmm“, murmelte ich, und räumte die Tassen in die leere Spülmaschine. Inständig hoffte ich darauf, dass Bea sich mit meinem Gestammel zufrieden gab und nicht weiter nachfragte.

Die Mittvierzigerin, die für mich den Inbegriff einer immer freundlichen Saftschubse darstellte, war bekannt für ihre bodenlose Neugier und ihre löchernden Fragen. Mit ihren 1,70 m war sie nur unwesentlich kleiner als ich, trug ihre blonden langen Haare stets zu einem ordentlichen Zopf geflochten, und es machte oft den Eindruck, als würde sie die kleine weiße Schürze um ihre Hüften auch im Privatleben nicht ablegen. Sie war stets in eine penetrante Duftwolke gehüllt, und ihren Hang zur Perfektion lebte sie im Café durch die millimetergenaue Anordnung der Kaffeetassen auf dem dafür vorgesehenen, mit Spitzenborte dekorierten Regal aus.

Ich hasste den ganzen Schnickschnack und Kitsch, der in jedem Winkel des Lokals zu finden war. Bea hingegen fügte sich hier ein, als wäre sie selbst ein dekorativer Bestandteil des gewöhnungsbedürftigen Mobiliars. Überall standen leicht angestaubte Plastikblumen herum, die kleinen runden Bistrotische waren mit goldenen Kerzenhaltern geschmückt, und die Servietten trugen selbstverständlich ein entzückendes Blümchenmuster. Die Kaffeetassen zierte ein feiner Goldrand und im gesamten Gastraum war ein abgewetzter rosa Teppichboden verlegt, der jeden Tag nach Ladenschluss von Tortenkrümeln befreit werden musste. Die goldenen Kronleuchter an den Seitenwänden waren der ganze Stolz der Inhaberin Rosa Blumfeld, und sie kümmerte sich täglich persönlich darum, die herunterhängenden Swarovski-Kristalle von jedem einzelnen Staubkörnchen zu befreien. Warum ihr die Staubschicht auf den Plastikrosen nicht auffiel blieb mir ein Rätsel. Die betagte Dame war um die 70, jedoch körperlich in ausgezeichneter Verfassung, und stets so elegant gekleidet, als würde sie gleich von einem englischen Gentleman zu einem Brunch im Golfclub abgeholt werden.

Ich konnte mir immer noch nicht erklären, warum die Inhaberin gerade mich als Teilzeitkraft eingestellt hatte. Das Lokal wurde hauptsächlich von Pensionisten besucht, und vielleicht wollte Frau Blumfeld auch einfach nur frischen Wind in die ansonsten eher altmodisch wirkende Atmosphäre des kleinen Cafés bringen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich außergewöhnlich gut mit alten Menschen umgehen konnte, ihre Geschichten von früheren Zeiten spannend fand, und nicht verriet, wenn ich jemanden dabei erwischte, wie er beim Rommèspielen schummelte. Ich war zwar erst zwei Monate hier, und doch waren die meisten Gäste voll des Lobes für mich und kamen gern auch aufgrund der freundlichen Bedienung meinerseits wieder.

Nur heute war eben irgendwie nicht mein Tag, und ich sehnte mir meinen wohlverdienten Feierabend herbei. Immer wieder warf mir Bea einen Seitenblick zu, und schließlich rang ich mich doch dazu durch, ihr meine miese Laune und fehlende Konzentration an diesem Tag zu erklären.

„Ich habe nächste Woche eine ziemlich schwierige Prüfung, und ich blicke bei dem Stoff einfach nicht durch. Tut mir leid, dass ich heute mit meinen Gedanken woanders bin, aber ich glaube ich brauche einfach mal eine Pause.“ Bea schenkte mir ein mitleidiges Lächeln, und ich wusste genau, was gerade in ihrem Kopf vorging. Als ich ihr von meinem Wirtschaftsstudium erzählt hatte, hatte sie nur ungläubig den Kopf geschüttelt und mir geraten, meine Studienwahl nochmal zu überdenken. Ihrer Ansicht nach gehörten Frauen nicht in von Männern dominierte Wirtschaftskonzerne, sondern sollten lieber ihre hübsch zurecht gemachten Körper hinter irgendeine Theke stellen und süßlich lächelnd Kaffeekochen und reich verzierte Torten servieren. Frauen in maßgeschneiderten Kostümen, die ständig ihre Mails checkten und von einem Meeting ins nächste hetzten, waren für sie arbeitssüchtige Emanzen, die irgendwann ihre Männer an Frauen verloren, die mehr Interesse am Essenkochen und Liebhaberverwöhnen hatten als an Bilanzen und Telefonkonferenzen.

„Und irgendwann stehen sie dann vor dem Nichts, haben zwar vielleicht mehr Geld verdient als eine einfache Kellnerin, sind aber ansonsten allein. Männer mögen keine Frauen die die Versorgerrolle übernehmen. Sie wollen immer das Gefühl haben gebraucht zu werden, der Herr im Haus zu sein. Ich verstehe nicht, warum du es darauf anlegst, nach dem Studium einen Beruf zu ergreifen, der es quasi unmöglich macht, eine Familie zu gründen und in einer glücklichen Ehe zu leben.“

Für Bea gab es nur schwarz oder weiß, ganz oder gar nicht. Für sie war es kaum vorstellbar einen Beruf zu ergreifen, in dem man sich verwirklichen konnte und eine Familie zu haben. Der Beruf als Kellnerin machte sie glücklich. Sie lebte zwar in einer Beziehung, war aber bereits einmal geschieden und hatte wohl aufgrund dieser Erfahrung nie wieder geheiratet. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, und als sie ihren neuen Partner Raphael, einen impulsiven und ständig wild gestikulierenden Italiener, der in der Nähe des Cafés eine Pizzeria betrieb, kennenlernte, war sie bereits zu alt um sich den Traum von einem eigenen Kind zu erfüllen. Anscheinend hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, mich mit ihren mütterlichen Ratschlägen zu meinem zukünftigen Berufsleben und auch allen anderen Lebensbereichen zu bombardieren und mir manchmal damit den letzten Nerv zu rauben. Trotz allem war die Zusammenarbeit mit ihr angenehm und in den letzten zwei Monaten hatte ich sie wirklich liebgewonnen.

Ich kam nicht mehr dazu, Bea zu antworten, da sich gerade ein kleines Grüppchen älterer Herren unserer Eingangstür näherte. Sie schoben drei Tische geräuschvoll zusammen und nahmen Platz.

In den nächsten zwei Stunden füllte sich das Lokal immer mehr. Einige Stammgäste, die ich mittlerweile ganz gut kannte, schätzten meine offene Art und banden mich sofort in ihre Unterhaltung ein, in der es um irgendwelche sich ständig bekriegenden Nachbarinnen aus ihrem Wohnblock ging. Ich hörte nur halbherzig hin und war froh, als sie mich schließlich vor lauter Klatsch und Tratsch vergaßen und ich mich wieder hinter die Theke stellen konnte. Ich war froh, dass ich endlich etwas zu tun hatte, bediente die Kaffeemaschine im Automatikmodus und hatte gar keine Zeit mehr, meiner Uhr übermäßige Beachtung zu schenken.

Schließlich war es Bea, die mich daran erinnerte, dass mein Feierabend bereits vor fünf Minuten begonnen hatte. Eilig zog ich mich um, und bevor ich durch die Hintertür verschwand, winkte ich Bea zu und wünschte ihr einen schönen Nachmittag.

Auf der Straße angekommen wurde mir klar, wie gut die Sonne meiner Laune tat, und ich beschloss, nicht gleich nach Hause in die WG zu laufen, sondern mir erst noch ein Eis in der Fußgängerzone zu gönnen. Meine Bücher liefen schließlich nicht weg. Nach zwei Kugeln Erdbeereis mit Sahne war mir zwar schlecht, meine Stimmung war dafür um einiges besser als heute Morgen.

Als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschloss, wurde mir gleich klar, dass Marie nicht allein war. Mitten in unserem engen Flur lagen Bens Sneakers, und ich konnte die beiden bereits aus unserer Küche kichern hören.

Marie und ich wohnten seit Beginn unseres Studiums gemeinsam in der Drei-Zimmer-Altbauwohnung in der Maximilianstraße. Bis zur Uni waren es nur 10 Minuten mit dem Bus, und ich konnte auch zu Fuß zur Arbeit ins Café gehen. Marie war meine älteste Freundin und engste Vertraute. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und hatten schon viele Hochs und Tiefs gemeinsam erlebt. Als es darum ging, sich für ein Studium und vor allem für eine Universität zu entscheiden, ging es in erster Linie nicht darum, welche Uni das beste Studienprogramm hatte, sondern vielmehr darum, dass wir beide unbedingt zusammenziehen wollten. Schließlich entschied sich Marie dazu, Jura zu studieren, und da ich auf derselben Uni Wirtschaft studieren konnte, war die Sache schnell in grünen Tüchern. Ein weiterer Pluspunkt war die Entfernung zu unserem Heimatort, der, gelinde gesagt, ein Bauerndorf war, und uns somit auch ersparte, jedes Wochenende bei unseren Familien aufzutauchen. Drei Stunden Fahrt fanden sogar unsere überfürsorglichen Eltern zu viel, und so konnten wir unsere Besuche meistens auf Geburtstage und besondere Feiertage beschränken.

Bevor ich mich auf den Weg Richtung Küche machte, hob ich Bens braune Sneakers auf und stellte sie ordentlich auf den dafür vorgesehenen Platz in der Garderobe. Ich war bei Gott keine Ordnungsfanatikerin, aber bei meinem Glück war es durchaus möglich, wieder einmal einen eleganten Stunt hinzulegen und unseren Fußboden aus der liegenden Perspektive zu betrachten. Wäre ja nicht das erste Mal gewesen.

„Hi“, sagte ich kurz und bündig, als ich die angelehnte Flügeltür aufstieß und den kleinen Raum betrat. Marie saß auf der Arbeitsfläche unserer winzigen Kochnische, während Ben zwischen ihren Knien stand und sie an der Hüfte festhielt. Irgendwas musste gerade besonders lustig gewesen sein, denn Marie wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel, als sie mich reinkommen sah.

„Na du?“, sagte sie immer noch leicht kichernd in meine Richtung.

„Wie war das Kaffeekochen für die Altenheimfraktion? Wird Zeit, dass du dir endlich einen anderen Job suchst. Jedes Mal, wenn du von der Arbeit kommst, habe ich das Gefühl, du bist ein paar Jährchen gealtert.“ Ben schenkte mir ein schiefes Grinsen und wandte sich wieder Marie zu.

„Ich lass euch dann mal allein, Süße. Ich habe Chris versprochen, dass wir uns zusammen ein Fußballspiel in der Bar ansehen. Wir sehen uns morgen, ja?“ Er hauchte ihr einen kleinen Kuss auf den rechten Mundwinkel und drehte sich zu mir um.

„Wir sehen uns, Alice.“ Und schon war er weg. Ich hörte wie er sich umständlich in seine Sneakers zwängte und schon fiel die Tür ins Schloss.

„Du bist heute ja wieder mal ganz lustig, Marie. Du weißt, dass ich diesen Job brauche. Frau Blumfeld bezahlt gut, und das Trinkgeld ist wirklich ok. Ich habe keine Lust, ständig meine Eltern anpumpen zu müssen, wenn ich irgendwas haben will. Ich bin gern unabhängig.“ Das stimmte natürlich nicht so ganz. Zwar konnte ich meine Zusatzausgaben ganz gut selbst bestreiten, die Miete und die Studiengebühren mussten immer noch meine Eltern übernehmen, dafür reichte das verdiente Geld dann wirklich nicht.

„Ja klar, du und deine Extraausgaben. Wenn du dein Geld wenigstens in ein paar angesagte Klamotten investieren würdest, würde ich das ja noch verstehen. Aber alles was du außer Lernen im Kopf hast, sind deine Schnulzenromane. Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt mal einen realen Kerl in einem realen Umfeld kennenlernen willst, oder ob du alle netten, normalen Männer dieser Welt mit deinen sexy Buchhelden vergleichst.“ Autsch, das hatte gesessen.

Marie und mich verband zwar eine unzerstörbare Freundschaft, das hieß aber nicht, dass wir auch dieselben Interessen hatten. Obwohl wir fast 20 Jahre lang im selben Kaff aufgewachsen waren und seit zwei Jahren die Wohnung teilten, waren wir uns dann doch nicht so ähnlich wie Zwillinge, die wir aber immer sein wollten.

Marie war groß gewachsen, schlank und hat ihre Rundungen genau dort, wo sie sein sollten. Am Auffälligsten waren wohl ihre schulterlangen Haare, die sie momentan kupferrot gefärbt hatte, und ihr Pony, der ihr nur knapp bis über die Augen reichte. Ihre Haut war blass mit einigen Sommersprossen, und sie achtete stets darauf, niemals ungeschminkt aus dem Haus zu gehen. Vor allem seit wir in der Stadt leben, hatte sie sich zu einem Shopaholic entwickelt, war ständig auf der Suche nach neuen Trends und noch höheren High Heels. Ich für meinen Teil mochte hohe Schuhe zwar auch, setzte aber aufgrund meiner Schusseligkeit lieber auf bequeme Treter für den Alltag, und ein paar ausgefallene, höhere Stücke für die wenigen Gelegenheiten, in denen ich in irgendwelchen Studentenbars eher auf Barhockern saß, als mich inmitten einer schwitzenden Menge auf Tanzflächen zu räkeln. Wieder ein Unterschied zwischen Marie und mir. Marie, die glamouröse, cocktailtrinkende Tanzmaus, Alice, die zurückhaltende, bierschlürfende Beobachterin.

Im Gegensatz zu Maries waren meine Haare in unauffälligem Dunkelblond gehalten, die ich meistens zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf aufgesteckt trug. Mein Make-Up bestand meistens aus etwas Puder und Wimperntusche, für mehr konnte ich einfach keine Geduld aufbringen. Mit meiner Figur war ich, nun ja, zufrieden. Meiner Meinung nach wurde ich von unserem Schöpfer vor allem obenrum etwas benachteiligt. Nicht ohne Neid linste ich manchmal auf Maries Dekolletee, das sie meist mit weit ausgeschnittenen Tops präsentierte.

„Was machen wir zwei Hübschen denn heute Abend?“, fragte mich Marie und hüpfte etwas umständlich von der Küchenarbeitsplatte.

Oh nein. Es war Freitag, und Marie versuchte mich wie jedes Wochenende zu überreden, mit ihr in irgendeiner verqualmten Bar auf den Putz zu hauen.

Als sie meine gelangweilte Miene sah, fuhr sie fort: „Du kannst doch nicht schon wieder zu Hause bleiben wollen. Du hast doch gehört, Ben ist heut in der Sportbar, das schreit also geradezu nach einem Mädelsabend!“ Lächelnd zwinkerte sie mir zu. Wenn ich nur daran dachte, mich heute aufbrezeln zu müssen, wurde mir ganz anders. Außerdem saß mir der Prüfungstermin im Nacken und ich sollte wirklich lieber in meine Bücher sehen, als diverse Cocktailkarten zu studieren.

Gerade als ich mir im Kopf meine Ausrede zusammengereimt hatte, plapperte Marie einfach weiter: „Ich weiß, ich weiß … deine Prüfung. Wenn ich dir verspreche, dass wir es ganz gemütlich angehen, und wir nicht zu lange bleiben, ist es dann ok für dich?? Biiitttteeeeee....ich will in diese neue Cocktailbar in der Fußgängerzone, Lena von der Uni sagt, sie soll ganz toll sein und allein macht‘s keinen Spaß.“ Als ob Marie auch nur fünf Minuten allein an der Bar sitzen würde. Ihre Ausstrahlung war phänomenal, und innerhalb kürzester Zeit hatte sie immer einen Haufen sabbernder Singlemänner um sich geschart. Fragend blickte sie in meine Richtung.

„Ok, ich gebe mich geschlagen. Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass ich heute eine angenehme Gesprächspartnerin bin. Heut ist irgendwie nicht mein Tag.“

„Ich bring dich auf andere Gedanken.“ Marie lächelte süß und drückte mir im Vorbeigehen ein Küsschen auf die Wange.

„Du hast ja noch Zeit. Um acht starten wir und ich verspreche dir, ich werde alles tun um deine schlechte Laune zu vertreiben.“ Das konnte ich mir bereits bildlich vorstellen. Wahrscheinlich würde sie den nächstbesten Typen, der in ihre Nähe kommt, fragen: „Hi, kennst du schon Alice?“, und sich schließlich abwenden und auf die Toilette verschwinden oder sonst wohin. Für gewöhnlich stand ich dann einfach nur da, wurde von einem völlig perplexen Fremden angestarrt, und mein Gesicht nahm nach und nach die Farbe einer Tomate an. Mir blieb dann nichts Anderes übrig, als mich für Marie zu entschuldigen und beschämt einen Schluck aus meiner Bierflasche zu nehmen.

Meine Vorfreude auf den bevorstehenden Abend hielt sich also in Grenzen und ich beschloss, die restliche Zeit zu nutzen, um meine Prüfungsunterlagen ein weiteres Mal durchzugehen.

Um kurz vor sieben rauchte mir der Kopf und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass mir ein Abend außerhalb meines kleinen Studentenzimmers und abseits meiner überall herumliegenden Ordner wirklich guttun würde. Ich schlurfte ins Bad, genehmigte mir eine heiße Dusche, und trug ein bisschen Make-Up auf. Als ich fand, dass ich so ganz ok aussah und das Bad verließ, rannte ich geradewegs in Marie.

„Das ist doch nicht dein Ernst, Alice. Wir gehen aus und nicht zum Einkaufen. Komm mit.“ Völlig überrumpelt stolperte ich hinter ihr her in mein Zimmer. Sie wühlte kurz in meinem Kleiderschrank und hielt schließlich triumphierend meinen einzigen Jeansrock und ein enges dunkelblaues, etwas tiefer ausgeschnittenes, Shirt in der Hand.

„Zieh das an! Mit deinen Alltagsjeans nehme ich dich nicht mit. Wahrscheinlich hattest du auch noch vor, deine roten Converse dazu anzuziehen.“ Übertrieben angewidert zog sie ihre Nase kraus. Ich rollte mit den Augen, wusste aber, dass Widerstand zwecklos war. Ich tat wie mir befohlen und war schließlich ganz zufrieden. Ich sah zwar nicht so heiß aus wie Marie in ihrem knappen Minirock, musste aber auch keine Angst haben, dass sie mich aufgrund meines Aufzugs nicht in die Bar ließen. Bevor ich wusste wie mir geschah, kam Marie aus dem Bad, drückte mich auf mein Bett und begann mir mehr Farbe ins Gesicht zu zaubern. Nach zehn Minuten trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk zufrieden.

Wir schnappten uns unsere Mäntel, und ich wählte ausnahmsweise hohe schwarze Pumps statt meiner geliebten Sneakers. Selbstsicher stöckelte Marie zur Tür und ich versuchte ihr, etwas wackelig, zu folgen. Ich musste mich immer erst an die ungewohnt hohen Absätze gewöhnen, während sie sie sogar zum Einkaufen trug.

Die Tür fiel geräuschvoll hinter uns ins Schloss, und wir machten uns auf den Weg in die neue Bar.

2

Aufgrund unserer langjährigen Freundschaft wusste ich, dass Marie ihr Versprechen, nicht allzu lang zu bleiben, mit Sicherheit nicht einhalten würde. Nach ihrem zweiten ‘Sex on the Beach‘ lief sie bereits zur Höchstform auf. Sie versuchte mich zum x-ten Mal auf die kleine Tanzfläche zu zerren, bestellte mir ebenfalls einen Cocktail, und hatte bereits einen neuen Verehrer an Land gezogen. Er hieß Sven, studierte „zufällig“ auch Jura, und konnte seinen Blick kaum von Maries Dekolletee wenden. Marie ignorierte seine Aufdringlichkeit einfach und ließ sich fleißig weiter auf ihre Cocktails einladen. Mir schenkte der große Blonde überhaupt keine Aufmerksamkeit und langsam wurde mir seine Schmachterei wirklich zu blöd.

Als er gerade auf dem Weg zur Bar war, um einen weiteren Cocktail für seine Angebetete zu organisieren, schrie ich Marie ins Ohr: „Wie kannst du nur so freundlich bleiben? Der Kerl starrt dir seit einer Stunde ununterbrochen auf die Möpse, und du glaubst doch wohl selbst nicht, dass dieser Hohlkopf Jura studiert. Außerdem, was würde Ben wohl dazu sagen, dass du hier mit so einem Typen abhängst?“

„Seit wann machst du dir solche Sorgen um die Beziehung zwischen Ben und mir? Es ist alles ok, es ist doch nur Spaß. Du weißt doch, dass ich nie weiter gehen würde, als mich einladen zu lassen. Soll der nur brav seine Brieftasche zücken, und wir machen uns einen schönen Abend auf seine Kosten.“ SIE machte sich einen schönen Abend auf seine Kosten, MIR hatte der Schnösel noch nicht mal ein Bier ausgegeben.

Was die Beziehung zwischen ihr und Ben anging, so hatte sie wirklich recht. Es interessierte mich nicht sonderlich. Sie und Ben waren seit über einem Jahr ein Paar, und auch davor war Marie eigentlich nie allein gewesen. Bereits zu Schulzeiten war sie überall beliebt, vor allem bei den Jungs. Es gab immer irgendeinen, der bereit stand und gerne seine Stelle einnahm, wenn sie dem aktuellen „festen Freund“ den Laufpass gab.. Marie genoss es im Mittelpunkt zu stehen, sonnte sich gern in männlicher Aufmerksamkeit, und hatte den verführerischsten Augenaufschlag, den ich je bei einem menschlichen Wesen gesehen hatte. Kein Wunder also, dass ihr das männliche Geschlecht seit jeher zu Füßen lag.

Ich hingegen hatte mich immer gern in ihrem Schatten aufgehalten, war stets die beste Freundin, die von den geifernden Jungs gefragt wurde, ob Marie sie vielleicht mal in einem Gespräch erwähnt hatte, und ob ich wusste, ob sie Chancen bei ihr hatten. Marie benutzte mich gern als Schutzschild, und allzu oft war ich es, die die Hoffnungen der pubertierenden, pickeligen Jungs zerschlagen musste, indem ich ihnen mitteilte, dass Marie bereits in festen Händen war oder leider kein Interesse an ihnen hatte.

Ben hingegen passte eigentlich so gar nicht in Maries Beuteschema. Er war groß, dunkelhaarig und recht gut gebaut, was vor allem an seiner Leidenschaft fürs Fußballspielen lag. Er studierte Soziologie und arbeitete nebenbei in einer Werbeagentur als ‘Mädchen für alles‘. Maries vorangegangene Verehrer zeichneten sich eher durch primitive Komplimente, stundenlanges Prolo-Gequatsche über irgendwelche Autos und ihre Vorliebe für lange Partynächte aus, als durch Intelligenz und Bodenständigkeit. Ja, so konnte man ihn bezeichnen, als intelligent und bodenständig. Wow, ein Kompliment für Ben aus meinem Mund. Eigentlich konnte ich nicht viel mit ihm anfangen, und von Beginn ihrer Beziehung an gingen wir uns eher aus dem Weg, warum auch immer.

Irgendwie gab Ben mir immer das Gefühl, „überflüssig“ zu sein, und die traute Zweisamkeit der zwei Verliebten zu stören. Wir hatten eigentlich noch nie ein längeres Gespräch geführt, und alles, was ich über ihn wusste, wusste ich von Marie. Sie hatte ihn auf einer Uniparty kennengelernt, was an sich schon ungewöhnlich war, weil Ben seither nur sehr selten Maries Drängen nachgegeben hatte und mit ihr auf irgendwelchen Studentenalkoholexzessen erschien. Lieber saß er in gemütlichen Bars, um mit seinen Freunden die neuesten Fußballergebnisse zu bequatschen. Marie störte das wenig. Sie fand immer Mittel und Wege, um auf den Putz zu hauen, ob mit oder ohne Ben. Sie ließen sich viele Freiheiten, und obwohl Ben wusste, dass Marie ständig angebaggert wurde, hatte ich noch nie einen Funken Eifersucht zwischen den beiden bemerkt.

Irgendwann schüttelte mich Marie und schrie über die laute Musik hinweg: „Hey, Partymaus. Bist du noch da oder wo warst du mit deinen Gedanken? Ich habe dich gefragt ob du noch was trinken willst.“ Ich starrte auf meinen lauwarmen Rest ‘‘Sex on the Beach’‘ und schüttelte den Kopf. Ein Blick auf die Uhr machte mir bewusst, dass es viel später war, als ich eigentlich dachte, und ich versuchte ebenfalls die lauten house beats, die aus den viel zu nahen Boxen dröhnten, zu übertönen.

„Nein danke. Und ich sollte jetzt wirklich los. Ich kann es mir nicht leisten, morgen im Bett zu bleiben und meinen Kater auszuschlafen. Ich muss wirklich lernen. Kommst du mit oder bleibst du noch?“ Übertrieben enttäuscht hauchte mir Marie einen Kuss auf die Wange und ich konnte ihre Alkoholfahne deutlich riechen.

„Jaja, du Streberin.“ Ihre Stimme war belegt vom Alkohol und sie tat sich sichtlich schwer, ihren Schwips zu verbergen.

„Ich bleibe noch. Sven erzählt mir gerade, welche Lehrveranstaltungen ich unbedingt besuchen muss. Anscheinend ist er doch ein ‘echter‘ Student. Grinsend zeichnete sie Gänsefüßchen in die Luft und kicherte übertrieben. Das kannte ich schon von ihr. Ich war eigentlich immer die erste, die ging, und bevor die Sonne nicht aufging würde sie den Heimweg wohl nicht finden.

„Ist es ok, wenn ich dich mit „dem da“ allein lasse? Ich weiß, du kannst auf dich aufpassen, aber wenn du allein nach Hause gehst, dann ruf mich an. Du weißt ich mach mir Sorgen.“ Jetzt war ich es, die Gänsefüßchen in die Luft malte und erinnerte sie daran, auf alle Fälle mit mir zu telefonieren, wenn sie nach Hause ging. So machten wir das immer.

„Ja, Mama!“, schrie sie in meine Richtung, ehe sie sich zu ihrem Verehrer umdrehte und mit ihm auf die Tanzfläche verschwand.

Als ich aus dem Lokal kam, war es ein Uhr morgens. Die Fußgängerzone war noch relativ belebt, da sich hier die meisten Lokale in der ganzen Stadt befanden. Schnellen Schrittes machte ich mich auf den Heimweg. Ich schaute nicht links und nicht rechts, da ich keine Lust hatte, von irgendwelchen besoffenen Aufreißern angemacht zu werden. Ich hielt mein Handy in der Hand, um im Notfall so zu tun, als würde ich mit jemandem sprechen. Das hatte bis jetzt immer geholfen und mir viele unschöne Anmachsprüche erspart.

Zu Hause angekommen stieg ich unbeholfen aus meinen Pumps, und merkte erst jetzt, wie sehr meine Füße schmerzten. Auf dem Weg ins Bad zog ich mir bereits Rock und Oberteil aus und ging in mein Zimmer, um mir meinen Pyjama zu holen. Nichtsahnend marschierte ich an Maries Zimmertür vorbei, die einen Spalt offen stand. Als ich ein Geräusch darin hörte, wurde ich panisch. Meine Hände begannen zu zittern und ich durchforstete mein leicht vom Alkohol benebeltes Gehirn nach Möglichkeiten, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Unmittelbar spielten sich Horrorszenarien vor meinem inneren Auge ab. Ich dachte an maskierte Räuber, die mich knebelten, bedrohten und schließlich abknallten. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nichts als meine Unterwäsche trug, und dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, was ich jetzt machen konnte. Ich stand wie erstarrt im Vorzimmer, als in Maries Zimmer plötzlich die Nachttischlampe anging. Ein Einbrecher würde doch wohl kaum das Licht einschalten, oder?

Ich hörte Schritte auf mich zukommen und schließlich wurde ich erlöst. Ben öffnete die Tür und rieb sich verschlafen die Augen.

„Hi!“ sagte er gähnend, und als er sah, dass ich nur einen dunkelblauen BH und eine passende Panty trug, legte sich ein schelmisches Grinsen auf sein Gesicht.

„Was machst du denn hier?“ stotterte ich, immer noch mit Panik in der Stimme.

„Du weißt doch, dass ich einen Schlüssel habe. Die Bar, in der ich war, ist gleich um die Ecke, und ich konnte kein Taxi bekommen. Also habe ich mir gedacht ich komm her und schau, ob Marie schon zu Hause ist.“

„Ist sie nicht!“ schnauzte ich mürrischer als beabsichtigt. Als mir in den Kopf schoss, dass ich hier schon minutenlang in meiner Unterwäsche stand und Ben mich nach wie vor von oben bis unten musterte, wurde mir heiß, und ohne ein weiteres Wort und mit hochrotem Kopf marschierte ich in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu.

Ich atmete tief durch, nahm meinen Morgenmantel vom Haken und beschloss, mich wieder vor die Tür zu trauen. Ben stand immer noch in Maries Tür, und erst jetzt fiel mir auf, dass auch er nichts als Boxershorts trug und seine Haare ganz zerknautscht aussahen. Er saß schon oft mit nacktem Oberkörper am Frühstückstisch, aber da war Marie immer dabei gewesen. Irgendwie hatte ich jetzt ein komisches Gefühl dabei.

„Du hast dir also was angezogen?“ schlussfolgerte Ben und verzog seine Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen, als er meinen Morgenmantel mit den aufgedruckten Häschen sah. Schon wieder schoss mir die Hitze in die Wangen, und ich konterte selbstbewusster, als ich mich eigentlich fühlte: „Und du hast mich fast zu Tode erschreckt. Und jetzt stehst du quasi nackt da und ich muss deinen Anblick ertragen. Also tu mir einen Gefallen und zieh dir was an oder geh wieder ins Bett.“ Jetzt lachte er laut und machte nicht den Eindruck, sich zurückziehen zu wollen. Ganz im Gegenteil.

Lässig und auf nackten Füßen kam er auf mich zu und zeigte mit einem Finger auf ein aufgedrucktes Häschen auf meinem Morgenmantel.

„Du fühlst dich also durch meine nicht vorhandene Kleidung gestört. Was soll ich dann zu deinem Modegeschmack sagen?“ Er grinste und schaute mir dabei herausfordernd in die Augen. Ich hatte keine Lust mehr auf irgendwelche Neckereien und sagte bestimmt: „Ich wohne hier, ich kann hier anhaben, was ich will. Wenn es dich stört, dann sieh weg.“

Belustigt zuckte er mit den Schultern und setzte noch einen drauf: „So ein Pech. Ich dachte, ich könnte dich dazu überreden, dieses scheußliche Teil in die Altkleidersammlung zu geben. Deine Unterwäsche hat mir nämlich bedeutend besser gefallen.“ Mir blieb der Mund offen stehen und ich war unfähig, irgendetwas zu erwidern. Noch immer lächelnd drehte sich Ben um und ging in Maries Zimmer. Er schloss die Tür und ich stand immer noch da, außerstande mich zu rühren.

Was fiel dem verdammten Idioten ein, über meinen Kleidergeschmack zu urteilen? Das war ein Morgenmantel und kein Abendkleid, zum Teufel!

Als ich mich schließlich wieder gefasst hatte, setzte ich meinen Weg ins Bad fort und stellte mich unter die Dusche, nachdem ich den Badschlüssel zweimal, anstatt nur einmal, umgedreht hatte. Sicher ist sicher. Auf noch so eine Begegnung hatte ich wirklich keine Lust.

Unter der Dusche ertappte ich mich dabei, wie sich Bens Worte in meinem Kopf wiederholten. „Deine Unterwäsche hat mir nämlich bedeutend besser gefallen.“ Als mir schließlich auffiel, dass ich dämlich vor mich hin grinste, befahl ich mir, mich am Riemen zu reißen.

Das war kein Kompliment, Alice. Er ist ein Mann, noch dazu ein eingebildeter Idiot. Was interessiert es dich, dass er deine Unterwäsche toll findet?

Ich versuchte mich zwanghaft auf meine Körperpflege zu konzentrieren, putzte mir wie automatisch die Zähne, zog meinen Morgenmantel wieder an, und rannte im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Bad in mein Zimmer. In Maries Zimmer war es ruhig.

Ich zog meinen Pyjama an, legte mich in mein Bett und zog mir die Decke bis zum Kinn hoch. Obwohl ich müde war und wusste, dass ich morgen früh aufstehen sollte, um zu lernen, war ich viel zu aufgekratzt, um zu schlafen. Ich döste vor mich hin, als ich etwas später die Haustür hörte und Marie, die versuchte möglichst leise an meiner Tür vorbeizustöckeln. Ein paar Minuten später war es wieder ruhig. Marie war wohl nicht mehr in der Lage gewesen, den langen Weg ins Bad auf sich zu nehmen. Seufzend drehte ich mich auf die Seite und schlief schließlich doch tief und fest ein.

3

Die Sonnenstrahlen, die sich den Weg durch meine Vorhänge bahnten, explodierten in kleinen Blitzen hinter meinen geschlossenen Augenliedern. Unfähig auch nur zu blinzeln, drehte ich meinen Kopf von der eintretenden Helligkeit weg und versuchte, meine pochenden Schläfen zu ignorieren.

“Sex on the Beach“...ich wusste es. Selbst schuld, Alice.

Irgendwie schaffte ich es, tief durchzuatmen und blind nach meinem Handy am Nachttisch zu tasten. Ein stechender Schmerz machte sich in meinem Kopf breit, als ich es endlich schaffte, meine Augen zu öffnen. Als ich die Uhrzeit am Display erkannte, saß ich kerzengerade im Bett.

Scheiße, zwölf Uhr mittags. Warum verdammt noch mal hatte ich mir keinen Wecker gestellt?

Normalerweise brauchte ich gar keinen. Irgendwie hatte ich eine innere Uhr, auf die bis jetzt immer Verlass war. Anscheinend war der “Sex on the Beach“ nicht nur für meine üblen Kopfschmerzen verantwortlich, sondern hatte auch noch meine innere Uhr verstellt.

Umständlich schwang ich meine müden Beine aus dem Bett, griff nach meinem Morgenmantel und musste kurz durchatmen, bis ich schwindelfrei auf meinen nackten Füßen stand. Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz – der Morgenmantel, Ben und unsere Begegnung auf dem Flur. Inständig hoffte ich, dass Ben aufgrund der Uhrzeit schon längst zu Hause war, und ich ein Zusammentreffen nach unserem nächtlichen Schlagabtausch vermeiden konnte. Angestrengt lauschte ich, doch durch meine Zimmertür war kein Geräusch zu hören.

Gut. Entweder er schlief noch, oder er war nicht mehr da. Bitte lass ihn nicht mehr da sein!!

So entschlossen, wie es mit meinen Kopfschmerzen und den Erinnerungen an letzte Nacht nur möglich war, drückte ich die Türklinke runter und machte mich schnellen Schrittes auf den Weg ins Bad. Ich schaute mich um, doch sowohl die Küchentür, als auch die Tür zu Maries Zimmer waren zu. Ich atmete auf und schloss die Badezimmertür hinter mir. Ich putzte mir die Zähne und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, was leider auch nicht gegen meinen pochenden Schädel half. Ich nahm mir vor, gleich eine Schmerztablette zu nehmen, nachdem ich was gegessen hatte. Mein Magen meldete sich nämlich bereits mit mürrischem Knurren.

Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich auch so aussah wie ich mich fühlte. Meine Haare standen mir zu Berge und unter meinen Augen waren deutlich die Spuren von zu wenig Schlaf und zu viel Alkohol zu sehen. Ich fischte ein Haarband aus einer Schublade, band meine Fransen zu einem lockeren Knoten im Nacken und holte schließlich eine Aspirin aus dem Arzneischrank. Da ich annahm, dass Marie noch den Schlaf der Gerechten, oder der Besinnungslosen, schlief, schlich ich so leise in die Küche, wie es bei unseren knarrenden Dielen nur möglich war.

Als ich die Küchentür öffnete, quälte mich nicht nur das gleißende Sonnenlicht, das durch unsere Balkontür fiel, sondern auch ein offensichtlich gut gelaunter und ausgeschlafener Ben, der mit Maries Laptop an unserem Küchentisch saß.

Ich stieß einen Seufzer aus, und ohne ihn eines Blickes zu würdigen drehte ich mich zur Kaffeekanne um, die Gott sei Dank gut gefüllt auf der Arbeitsfläche stand. Ich spürte sein spöttisches Grinsen förmlich in meinem Rücken, als er, viel zu laut für meinen dröhnenden Kopf, sagte: „Danke fürs Kaffeekochen, Ben!“ Etwas zu schwungvoll drehte ich mich um und blickte geradewegs in seine übermütig funkelnden braunen Augen.

„Danke, dass ich mich hier breit machen darf, obwohl ich gar nicht hier wohne“, erwiderte ich kurz angebunden und wandte mich dem Kühlschrank zu, um mir Milch einzugießen.

Offensichtlich hatte er mit meiner Reaktion nicht gerechnet. Als ich mir ein Glas kaltes Wasser einschenkte, um die Kopfschmerztablette damit runterzuspülen, erkannte ich aus dem Augenwinkel seinen reumütigen Blick.

„Tut mir leid, dass ich dich gestern erschreckt habe. Ich dachte, Marie wäre nach Hause gekommen, und ich müsste ihr helfen den Weg in ihr Zimmer zu finden. Sie hat mir erzählt, dass ihr in diese neue Cocktailbar wolltet, da habe ich damit gerechnet, dass ihr die Cocktails wohl wie immer etwas zu gut geschmeckt haben. Du bist hier zu Hause und ich möchte auf keinen Fall, dass du dich durch mich irgendwie eingeschränkt fühlst. Ich meine, du kannst natürlich anziehen, was du willst.“ Bei seinem letzten Satz konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Zerknirscht blickte ich an mir hinab, direkt in die Augen eines kleinen rosa Häschens auf meinem Bademantel.

Ich wusste nicht, ob es die Kopfschmerzen waren oder sein entwaffnendes Lächeln, aber mir wollte einfach keine sarkastische Antwort einfallen, und so sagte ich stattdessen: „Schon gut. Vielleicht hätte ich mir den letzten ‘Sex on the Beach’ auch sparen können. Dann hätte ich mir nicht solche Horror-Einbrecher-Überfalls-und-Fesselungs-Geschichten eingebildet, und vielleicht eher die näherliegende Möglichkeit in Betracht gezogen, dass eigentlich nur du in der Wohnung sein kannst. Du musst dich nicht rechtfertigen, ich weiß, dass Marie dir einen Schlüssel gegeben hat, und ich bin damit einverstanden.“

Schwerfällig ließ ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen und legte meine nackten Füße auf den zweiten freien Stuhl. Ich nahm einen großen Schluck meines Milchkaffees, und auch die Tablette begann wohl langsam zu wirken. Ich unterdrückte ein lautes Gähnen und massierte mir die Schläfen.

„Hangover?“ fragte Ben, „und seit wann trinkst du eigentlich ‘Sex on the Beach’?“

Ok, eigentlich wollte ich nur in Ruhe meinen Kaffee trinken und mich dann wieder meinen Lernunterlagen widmen. Anscheinend stand Ben aber der Sinn nach Kommunikation.

„Hmmmm....“ murmelte ich, „das war Maries‘ Werk. Erst schleppt sie mich in diese Bar, obwohl ich eigentlich lernen müsste, und bringt mich dazu, völlig überteuerte und ekelhaft süße Cocktails zu trinken....“, allein bei dem Gedanken daran dröhnte mein Kopf wieder heftiger und mein Magen rumorte, „und dann flirtet sie auch noch inbrünstig mit einem arroganten Jurastudenten, der sicher etwas anderes im Sinn hatte, als nur die Studienpläne mit ihr zu diskutieren, nachdem er ständig dafür sorgte, dass Marie nie ein leeres Glas in der Hand hielt.“

Verdammt, ich blöde Kuh.

Meine Augen weiteten sich und mir wurde schlecht, als mir einfiel, mit wem ich Maries nächtliche Eskapaden hier eigentlich besprach.

Was bin ich nur für eine Freundin?? Wie so oft in meinem Leben wünschte ich mir, die Zeit zurückdrehen zu können und zuerst mein Gehirn zu aktivieren, bevor die Worte unbedacht aus meinem viel zu losen Mundwerk sprudelten. Obwohl ich Ben gerade brühwarm erzählt hatte, wie sich seine Freundin von einem ihrer vielen Verehrer die ganze Nacht einladen ließ, hatten sich seine Körperhaltung und sein Gesichtsausdruck kaum verändert. Er fuhr sich durch seine dichten braunen Haare und streckte sich.

Mit erheitertem Tonfall schaute er wieder auf den Bildschirm vor sich und sagte: „Ja, das ist Marie, wie sie leibt und lebt. Ich hoffe mal, der Typ hat nicht sein ganzes Taschengeld in der Bar liegen lassen und sich erhofft, er würde dafür etwas zurückbekommen.“ Er sah vom Bildschirm auf, direkt in meine Augen.

„Da ist er bei Marie an der falschen Adresse. Bei ihr braucht es schon etwas mehr als ein paar Cocktails, um sie zu knacken.“ Aha, anscheinend spricht er da aus Erfahrung.

Bevor Ben in Maries Leben kam, reichten schon ein Bier und ein paar süßliche, einfallslose Komplimente. Bevor auch diese Worte wieder unüberlegt meinen Mund verlassen konnten, nahm ich lieber noch einen Schluck Kaffee. Obwohl es mich eigentlich nichts anging, lag mir doch eine Frage auf der Zunge.

„Bist du eigentlich gar nicht eifersüchtig? Ich meine, sie geht viel allein weg, und jetzt erzähle ich dir auch noch, dass sich deine Freundin vor Verehrern kaum retten kann.“ Schief lächelnd nahm auch er einen Schluck Kaffee aus Maries übergroßer Minnie-Mouse-Tasse und erwiderte: „Du hast mir nichts erzählt, was ich nicht schon weiß. Mach dir keinen Kopf, ich kenne sie inzwischen. Sie steht gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, das weißt du genauso wie ich. Sollen diese Idioten sich doch das Geld aus den Taschen ziehen lassen, am Ende des Abends geht sie nach Hause, und das war‘s dann. Ich vertraue ihr. Wir vertrauen uns.“ Der letzte Satz wirkte irgendwie einstudiert. Wie eine Floskel, die er sich selbst bestätigen musste. Wie schon gesagt, es ging mich nichts an, und das Gespräch war in dem Moment beendet, als eine taumelnde Marie, nur in T-Shirt und Panty, mit völlig verstrubbeltem Haar und tiefen Ringen unter den Augen, die Küche betrat.

„Morgen...“ murmelte sie kaum hörbar und streckte ihre schlanken Beine durch, um an eine Kaffeetasse im oberen Küchenregal zu kommen. Während sie sich Kaffee einschenkte, widmete Ben sich wieder dem Laptop.

„Wie geht’s dir Süße?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort schon wusste. „Hmmm....“ nuschelte Marie, ohne mich dabei anzublicken.

„Was gibt’s zum Frühstück?“ Da ich gestern gearbeitet hatte, und mich dann zum Lernen in meinem Zimmer vergrub, war ich nicht einkaufen. Eine Sache, die auch Marie gern mal vergaß, sowie Aufräumen, Wäsche waschen und die Geschirrspülmaschine auszuräumen. Das Wort Haushalt war in Maries Wortschatz so gut wie nicht existent, und somit war ich es, die größtenteils die anfallenden Arbeiten erledigte, damit wir nicht im Dreck versanken, verhungern oder Marie nichts mehr anzuziehen hatte, nachdem sie gern mehrmals täglich ihr Outfit wechselte.

„Tut mir leid. Ich glaube mehr als Toast und Marmelade ist nicht drin, außer du warst einkaufen?“ Fragend blickte ich in ihre Richtung, und mein knurrender Magen erinnerte mich daran, dass ich auch dringend etwas zu mir nehmen sollte, sonst wurde das heute nichts mit dem Lernen.

„Neee, war ich nicht...also Toast und Marmelade.“ Sie zog ihre Nase kraus und kramte im Vorratsschrank, stellte das spärliche Frühstück auf den Tisch und begann, sich einen Toast zu schmieren. Ben saß immer noch ungerührt da, seine Finger flogen zwischendurch über die Tasten, und ich fragte mich, ob Marie ihn überhaupt bemerkt hatte.

Schweigend kaute ich auf meinem Erdbeermarmeladentoast herum und stellte erfreut fest, dass meine Kopfschmerzen sich wohl der Tablette geschlagen gegeben hatten. Marie schien es nicht so gut zu gehen, die verzog immer wieder schmerzverzerrt das Gesicht und seufzte lautstark. Offensichtlich bemerkte auch Ben, dass es seine Freundin gestern wohl etwas übertrieben hatte, und blickte sie mitfühlend an.

„Nimm eine Aspirin und dann leg dich wieder hin. Du hast doch heute eh nichts vor, oder?“ Maries Miene erhellte sich etwas.

„Du hast recht, ich sollte mich wirklich nochmal hinlegen. Hast du heute nicht Fußballtraining?“

„Ja, aber erst um vier. Ich sollte jetzt los. Tom und ich wollten vorher noch die Wohnung auf Vordermann bringen.“ Er stand auf, umrundete den Tisch, um Marie einen kleinen Kuss auf den Scheitel zu hauchen.

„Bye, Süße. Tschüss, Alice!“ Als er die Küche verließ zwinkerte er mir kurz zu. Er wusste genau, warum es besser war, jetzt das Feld zu räumen. Marie in Katerstimmung zu erleben war kein Vergnügen. Wenn sie sich nicht wohl fühlte, verwandelte sie sich gern in die Prinzessin auf der Erbse, ließ sich bedienen und erwartete aufrichtige Mitleidsbekundungen, wenn sie über ihren dröhnenden Kopf und ihre schmerzenden Füße jammerte. Ich fragte mich, wie ich ihrer fordernden Art heute entkommen sollte, um mich auf meine Unterlagen zu konzentrieren. Die Prüfung war am Montagnachmittag und ich hatte noch reichlich Stoff aufzuarbeiten. Mit einer verkaterten Mitbewohnerin die nötige Konzentration aufzubringen war nicht gerade einfach. Während Marie nach dem Frühstück wortlos die Biege machte, blieb ich mit dem schmutzigen Geschirr zurück und räumte die Küche auf.

Wie immer Alice, du hast ja sonst nichts zu tun.

Marie und ich sind beide Einzelkinder. Keiner von uns musste je irgendetwas teilen, es hatte uns an nichts gefehlt, und die Aufmerksamkeit unserer Eltern gehörte ausschließlich uns allein. Obwohl wir in dieser Hinsicht die gleichen Erfahrungen beim Aufwachsen machen durften, hatten meine Eltern stets sehr viel Wert darauf gelegt, dass ich im Haushalt mitzuhelfen hatte, und mir beigebracht, selbstständig zu sein. Marie hingegeben war stets von allen Pflichten entbunden, lies sich von ihrer Mutter den Schulrucksack packen und das Zimmer aufräumen. In unserer Schulzeit legte ich mich oft mit meinen Eltern an, da ich damals einfach nicht verstand, wie mich das Tischabräumen auf mein späteres Erwachsenenleben vorbereiten sollte. Deshalb verbrachte ich auch viel Zeit in Maries Elternhaus und ließ mich von Maries Eltern, Claudia und Werner, von vorne bis hinten verwöhnen. Claudia sah sich selbst gern als unsere „Freundin“, war manchmal etwas ausgeflippt und immer entzückt, wenn wir ihr die neuesten Klatschgeschichten aus der Schule berichteten. Sie war verträumt und albern, was sie wohl auch an ihre Tochter weitervererbt hatte und arbeitete stundenweise in Werners Kanzlei. Werner, ein angesehener Anwalt, war schon damals selten zu Hause und verwöhnte seine Tochter mit teuren Geschenken und jeder Menge Taschengeld, wovon natürlich auch ich des Öfteren profitierte. Dabei fiel mir ein, dass Claudia in vier Wochen Geburtstag hatte, was für Marie und mich so viel hieß, wie jede Menge Schokokuchen zu essen und uns über unser Studentenleben ausfragen zu lassen.

Lächelnd dachte ich an letztes Jahr zurück, als Marie überschwänglich über ihre neue, und natürlich größte Liebe Ben erzählte, und Claudia fasziniert an ihren Lippen hing. Insgeheim beneidete Claudia uns um diese aufregende Zeit, ließ sich gern von Maries Erzählungen mitreißen, und seufzte oft theatralisch, wenn sie von ihrer eigenen Jugend erzählte: „Macht es bloß nicht wie ich. Versteht mich nicht falsch, Werner ist wunderbar und ich liebe unser Leben. Wenn ich aber nochmal etwas anders machen könnte, dann würde ich mich nicht so schnell binden, nicht so schnell eine Familie gründen, und würde mich richtig ausleben. Werner hat mich mitten in meiner Ausbildung geschwängert, und dann war ich nur noch Mutter. Lebt euch aus, Mädchen, verliebt euch, genießt eure Studentenzeit. Das Leben ist zu kurz, um auf irgendetwas zu verzichten.“ Ich konnte noch immer förmlich ihren Blick auf mir spüren, wenn sie ihre mütterlichen Ratschläge zum Besten gab. Ihrer Meinung nach war ich viel zu diszipliniert, zu ernst und viel zu realistisch. Tagträume erlaubte ich mir nur, wenn ich in meine Bücher versunken war und vollkommen in den romantischen Abenteuern meiner Romanhelden aufging, ansonsten war mein Leben durchgeplant und mein Studienplan straff organisiert, um mein Studium bestenfalls in der Mindestzeit zu absolvieren.

Das erinnerte mich daran, dass ich heute schon viel zu viel Zeit verloren hatte, und mich lieber wieder meinen Unterlagen widmen sollte.

4

Montagmorgen. Noch sechs Stunden bis zu meiner Klausur. Mein Kopf war vollgestopft mit Fakten und Statistiken, und ich konnte es kaum erwarten, nach der Prüfung wieder besser durchatmen zu können. Das Wochenende verlief unspektakulär und Maries Hangover war diesmal wohl so schlimm, dass sie kaum aus ihrem Zimmer kam, und ich weitgehend von ihrer post-alkoholischen Stimmung verschont geblieben war, die sie sonst in ein jammerndes Häufchen Elend verwandelte. Als ihre beste Freundin kam ich natürlich nicht drum herum, ihr am Samstag ein leichtes Hühnersüppchen zu kochen, und zwischendurch immer mal wieder ihre Teekanne aufzufüllen. Ansonsten plauderten wir nur kurz beim Essen und gönnten uns Sonntagabend, nachdem ich das Gefühl hatte, keine weiteren Zahlen mehr in mein Hirn hämmern zu können, einen ruhigen Filmabend.

Wenigstens in dieser Hinsicht hatten wir etwas gemeinsam: Action- und blutrünstige Horrormovies waren verboten, romantische Komödien dagegen immer willkommen. So konnte ich wenigstens für einige Zeit meine Prüfung vergessen und gemeinsam mit Marie von Herzen über Ben Stiller lachen, der übrigens sowohl bei Liebeskummer als auch bei Prüfungsstress immer die richtige Ablenkung war.

Die anstehende Prüfung hatte mir wohl auf den Magen geschlagen und so landeten meine Cornflakes im Mülleimer, als Marie die Küche betrat und mir einen mitleidigen Blick zuwarf

„Das wird schon Süße, du bist bestens vorbereitet, also kann ja wohl nichts schiefgehen. Ich drück dir die Daumen, und danach gehen wir shoppen, was hältst du davon?“

„Hast du keinen Kurs am Nachmittag? Ich dachte. bei dir steht auch irgendein Abgabetermin für eine Arbeit an?“

„Ach das, hm, ja, du hast recht. Aber du bist wichtiger. Wenn ich dem Prof maile, dass ich krank bin, verschiebt er den Termin sicher auf nächste Woche.“ Ja, da war sie wieder, Maries Art, das Leben zu genießen. Um Ausreden war sie nie verlegen, und irgendwie schaffte sie es immer, sich rauszureden und letztendlich das zu bekommen, was sie wollte. Ich nahm an, dass sie sowieso nie vorhatte, die Arbeit heute abzugeben, geschweige denn, dass sie überhaupt damit angefangen hatte. Die einzigen Aktivitäten mit ihrem Laptop, bei denen ich sie beobachten konnte, waren ihr Facebook-Profil zu checken, um sich im Chat mit ihrer neuen Partybekanntschaft Sven zu unterhalten. Seufzend goss ich mir noch eine Tasse Kaffee ein und zuckte mit den Schultern.

„Wenn du meinst. Die Prüfung müsste um vier zu Ende sein. Treffen wir uns in der Fußgängerzone?“

„Um vier...da war doch was um vier...lass mich überlegen. Ach ja, Scheiße, tut mir leid...Bens Fußballspiel. Das hatte ich total vergessen. Ich habe ihm versprochen, dabei zuzusehen. Was hältst du davon, wenn du mitkommst? Wir könnten danach mit der Mannschaft was trinken gehen und du könntest dich mal unter seinen Fußballfreunden umsehen, wäre doch genau der richtige Tag für Ablenkung durch nackte Waden?“ Abwartend und über beide Wangen grinsend sah sie mich an.

„Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe keine Lust. Du weißt doch, dass ich nicht mal die einfachsten Fußballregeln kenne. Ich würde mir total fehl am Platz vorkommen.“ Marie begann schallend zu lachen und warf ihre kupferfarbene Mähne nach hinten.

„Glaubst du, ich habe irgendeinen Plan, worum es geht? Ein Ball und jede Menge schwitzender, gutaussehender Fußballgötter, alles andere interessiert mich nicht. Komm schon, früher waren wir auch ständig am Fußballplatz, das wird lustig.“ Da ich keine Lust mehr auf weitere Diskussionen hatte, nickte ich schließlich und gab mich wieder mal geschlagen, obwohl es mir bei der Erinnerung an unsere Schulzeit mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Es war unnötig von ihr gewesen, mich daran zu erinnern.

Um die Stunden bis zu meiner Klausur totzuschlagen, zog ich mich in mein Zimmer zurück und sah nochmal meine Notizen durch.

Oh Mann, hoffentlich hatte der Prof gute Laune, als er die Prüfung zusammengestellt hat!

Die Zahlen verschwammen immer wieder vor meinen Augen, und schließlich hatte ich das Gefühl, mein Gehirn wäre nur noch mit einer undefinierbaren grauen Masse gefüllt, anstatt mit seitenlanger Controlling-Theorie. Irgendwann sah ich ein, dass der Zug abgefahren war. Egal, wie sehr ich versuchte mich zu konzentrieren, das Maß war einfach voll. Es war bereits nach zwölf, und meine Nervosität stieg langsam ins Unermessliche. Klar war ich Prüfungen gewöhnt, es war ja nicht meine erste, aber jedes Mal davor hatte ich das Gefühl, plötzlich alles vergessen zu haben, was ich mir in mühevoller Kleinarbeit in mein Hirn gehämmert hatte.

Ich packte gedankenverloren meine Tasche und machte mich auf den Weg zur Uni, wo ich schließlich auf meine Studienkollegen traf, denen die Nerven ähnlich flatterten wie mir.

Wie immer waren dort zwei verschiedene Gattungen anzutreffen. Die erste, und meinerseits beliebteste Gruppe, waren die Studenten, die nervös ihre Notizen durchblätterten, sich gegenseitig Informationsbrocken zuwarfen und dann erschüttert erkannten, dass sie sicher nicht gut genug vorbereitet waren, um die Klausur zu bestehen. Ihre Augen waren rot unterlaufen von zu wenig Schlaf, und ihre Hände zitterten von zu viel Kaffee und Energiedrinks. Wie man sich vielleicht denken konnte, war ich eine von ihnen.

Die von mir am meisten verhasste Gruppe stand draußen, zog an ihren Zigaretten, und plauderte über das Wetter oder die anstehenden Campusfestivitäten. Sie machten den Eindruck, als wären sie nicht für eine Prüfung hier, sondern einfach nur, um sich mal anzusehen, wie man studiert. Keiner von ihnen machte den Eindruck, als hätte er nur einmal in ein Lehrbuch gesehen, und trotzdem waren sie es, die am Ende immer die Höchstpunktezahl erreichten. Jedes Mal versuchte ich mich neben einen von ihnen zu setzen, um hinter ihr Geheimnis zu kommen, oder einfach nur, um in ihrer in sich ruhenden Aura zu baden.

Als der Lehrsaal geöffnet wurde, reihte ich mich in den Studentenstrom ein, klappte einen Sitz herunter und testete meine Kugelschreiber, bevor die Prüfungsroutine schließlich ihren Lauf nahm. Ein gelangweilt wirkender Professor, natürlich graumeliert, mit Brille und schlechtsitzendem dunkelblauen Anzug, gab die Prüfungsbögen durch, schrieb die Startzeit auf die überdimensionale Tafel, und gab uns schließlich zwei Stunden, um uns mit dem von ihm ausgearbeiteten Prüfungsfragen zu quälen. Was meinen Sitznachbarn betraf, hatte ich wieder mal ins Klo gegriffen. Statt einem relaxten Hochbegabten ließ sich neben mir ein schwitzender Brillenträger nieder, der wahrscheinlich nur Minuten zuvor seinen rebellierenden Darm auf der Toilette entleert hatte.