Das Leben und wir - Paula Klein - E-Book

Das Leben und wir E-Book

Paula Klein

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Beschreibung

Mit 16 lernen sich Claire und Vincent auf der Kanalinsel Guernsey kennen und verlieben sich unsterblich ineinander. Beide sind sich sicher, dass sie mehr verbindet, als eine flüchtige Sommerliebe - sie sind für immer. Gemeinsam mit Claires Zwillingsschwester Maya, ihrem Freund Jackson und der aufmüpfigen Eloise stellen sie die Insel auf den Kopf - bis eines Tages nichts mehr ist, wie es war. Zehn Jahre später begegnen sie sich wieder und die Wunden der Vergangenheit brechen erneut auf. Vincent, der einst mit ganzer Kraft um Claire gekämpft hat, ist verheiratet und hat die Insel hinter sich gelassen. Claire ist dort geblieben und hat aufgehört, etwas zu wollen, das sie nicht haben kann - bis Vincent wieder in ihr Leben tritt. Beide merken schnell, dass eine Verbindung wie die ihre weder durch Entfernung noch durch Zeit getrennt werden kann. Sind zehn Jahre genug, um zu vergeben oder sind sie zu lang, um noch einmal von ganz vorne anzufangen? Die erste große Liebe, wagemutige Entscheidungen und die stille Hoffnung, dass das Herz niemals vergisst, wohin es wirklich gehört.

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Bisher von Paula Klein erschienen:

„Die Schmetterling-Reihe“

Futter für die Schmetterlinge (Band 1,

ISBN: 9783743103405)

Freiflug für die Schmetterlinge (Band 2,

ISBN: 9783744833660)

Paula Klein

Paula Klein wurde 1986 in Kärnten/Österreich geboren. Nach dem Studium der Sozial- und Integrationspädagogik arbeitete sie als Jugendbetreuerin und Coach. 2012 wurde ihre Tochter, 2015 ihr Sohn geboren. Lesen war schon immer ihre Leidenschaft und Liebesromane – mit und ohne Happy End – haben es ihr seit jeher angetan. Anfang 2015 begann sie selbst zu schreiben. Ihr Debüt „Futter für die Schmetterlinge“ erschien schließlich im November 2016. Schon im Juni 2017 erschien der zweite Teil der Schmetterling-Reihe – „Freiflug für die Schmetterlinge“.

„Das Leben und wir“ ist das dritte Buch der Autorin und entführt den Leser an einen besonderen Ort – die Kanalinsel Guernsey. Während ihrer Schulzeit verbrachte Paula Klein dort ein dreimonatiges Praktikum und hat viele schöne Erinnerungen an diese Zeit, die sie auch teilweise in diesem Buch verarbeitet hat.

Für meinen Ehemann – in guten, wie in schlechten Zeiten – DANKE für uns! Ich liebe dich!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Claire

Kapitel 2: Vincent

Kapitel 3: Claire – 10 Jahre zuvor

Kapitel 4: Vincent

Kapitel 5: Claire

Kapitel 6: Vincent

Kapitel 7: Claire - 10 Jahre zuvor

Kapitel 8: Vincent

Kapitel 9: Claire

Kapitel 10: Vincent – 10 Jahre zuvor

Kapitel 11: Claire

Kapitel 12: Vincent

Kapitel 13: Claire – 10 Jahre zuvor

Kapitel 14: Vincent

Kapitel 15: Claire

Kapitel 16: Vincent

Kapitel 17: Claire – 10 Jahre zuvor

Kapitel 18: Vincent

Kapitel 19: Claire

Kapitel 20: Vincent

Kapitel 21: Claire – 10 Jahre zuvor

Kapitel 22: Vincent

Kapitel 23: Claire

Kapitel 24: Vincent – 10 Jahre zuvor

Kapitel 25: Claire

Kapitel 26: Vincent

Kapitel 27: Claire – 10 Jahre zuvor

Kapitel 28: Vincent

Kapitel 29: Claire

Kapitel 30: Vincent – 10 Jahre zuvor

Kapitel 31: Claire

Kapitel 32: Vincent

Kapitel 33: Claire – 10 Jahre zuvor

Kapitel 34: Vincent – 10 Jahre zuvor

Kapitel 35: Claire

Kapitel 36: Vincent

Kapitel 37: Claire – 10 Jahre zuvor

Kapitel 38: Vincent

Kapitel 39: Claire

Kapitel 40: Vincent – 10 Jahre zuvor

Kapitel 41: Claire

Kapitel 42: Vincent – 10 Jahre zu

Kapitel 43: Claire

Kapitel 44: Vincent

Kapitel 45: Maya

Kapitel 1

Claire

„Komm schon, Honey! Beeil' dich!“ Cecilias Stimme hallt von unten durch das Haus.

Ich stehe immer noch in Unterwäsche vor meinem Kleiderschrank. Ich habe ja gesagt, dass ich nichts anzuziehen habe. Ich schiebe die Kleiderbügel auf der Metallstange hin und her, aber keines der Kleider scheint dem Anlass angemessen. Ich hätte das Angebot meiner Mutter annehmen sollen, die Fähre nach Jersey zu nehmen und mir etwas Neues zu kaufen. Ich kann mich ja ohnehin nicht mehr davor drücken, auf Eloises Hochzeit zu erscheinen. Wenn es sein muss, würde Cecilia mich an den Haaren hinzerren. Für sie ist die Feier die perfekte Gelegenheit, mich endlich aus dem Haus zu bekommen. Für mich bedeutet es nichts weiter, als ein gezwungenes Lächeln aufzusetzen, während ich meiner ehemals besten Freundin dabei zusehe, wie sie immer mehr zu einer Person wird, die ich nicht mehr kenne.

Cecilia erscheint in der Tür. Sie stützt sich am Türrahmen ab und mustert mich, dabei zieht sie die Nase kraus und zwischen ihren Augenbrauen entsteht eine Falte. Sie war gerade bei Maya, ich kann das Desinfektionsmittel noch riechen.

Sie kommt ins Zimmer und stellt sich neben mich. Sie stützt die Hände in die Hüften, während sie den Inhalt meines Kleiderschranks beäugt. Ihr Gesicht erhellt sich und ihre Hand schnellt vor, um nach dem zinnoberroten Sommerkleid zu greifen.

„Das passt doch perfekt!“ Sie hält es mir vor den Körper und mein Herzschlag beschleunigt sich.

Ausgerechnet dieses Kleid! Ich habe es seit über zehn Jahren nicht mehr getragen. Es ist nicht die Angst, dass es mir nicht passen könnte, die mein Herz rasen lässt, sondern die Erinnerung an alles, was vorher war. Bevor ich Worte wie perfekt aus meinem Wortschatz gestrichen habe.

„Es passt mir bestimmt nicht mehr“, lüge ich, obwohl ich weiß, dass meine Figur nahezu gleich geblieben ist. Ich bin 26 und habe immer noch die gleiche Kleidergröße wie mit 16. Das ist aber auch das Einzige, was mir aus dieser Zeit geblieben ist.

„Du wirst toll darin aussehen. Hat Eloise nicht davon gesprochen, dass sie die Tafel rot und weiß dekorieren will?“

Ich habe keine Ahnung, welches Farbkonzept sie gewählt hat, ob sie Brautjungfern hat, die alle die gleichen Kleider tragen oder ob es Fisch oder Fleisch als Hauptgang gibt. Ich bin mir sicher, dass sie es mir erzählt hat. Die Sache ist nur, dass ich nicht zugehört habe. Es interessiert mich ganz und gar nicht, ob ich farblich zur Dekoration gekleidet bin. Ich passe dort nicht hin. Das habe ich nie und es hat mich nicht gestört, weil ich sie hatte. Und die anderen. Während ich immer noch trotzig meinen Status als „Eingewanderte“ verteidige, will Eloise plötzlich nichts Besonderes mehr sein. Sie will dazugehören und ich kann es nicht verstehen.

Meine Hand greift wie automatisch nach dem roten Stoff. Cecilia zu widersprechen führt zu nichts, das weiß ich mittlerweile. Ich schiebe es vom Bügel und streife es mir über den Kopf. Cecilia stellt sich hinter mich und schließt den Reißverschluss. Als ich mich umdrehe, um die Haarbürste von meinem Nachtschrank zu nehmen, schwingt der Rock um meine Beine. Wie damals, am Strand.

Ich begegne meinem Blick im Spiegel und kann sehen, wie die Erinnerung in meinen Augen aufblitzt. Ich schließe die Augen und als ich sie wieder öffne, ist das Funkeln verschwunden. Cecilia ist nicht entgangen, dass ich mich einen Augenblick zu lang angesehen habe. Sie kennt mich einfach zu gut.

„Lass mich deine Haare machen“, murmelt sie nun mit deutlich sanfterer Stimme und schiebt mich zum Bett. Ich setze mich auf die Tagesdecke und Cecilia beginnt meine blonde Mähne zu kämmen. Sie sind länger geworden. Viel länger. Sie wird Schwierigkeiten haben, alle Strähnen so an meinem Kopf festzustecken, dass die Frisur auch die steife Brise aushält, die vom Meer auf die Insel weht.

Ich sitze nun genau vor dem Spiegel und bemühe mich, den Blick abzuwenden. Es wäre falsch, gerade jetzt sentimental zu werden, wo ich doch all meine Beherrschung in weniger als einer Stunde noch gut gebrauchen werde können. Die Hölle wartet auf mich.

Ich weiß nicht, wie viele Haarnadeln sie auf meinem Kopf verteilt hat und wie lange ich hier schon sitze und auf meine Hände starre. Cecilia hat kein Wort mehr gesprochen und sich nur noch auf mein Haar konzentriert. Sie weiß, dass ich jetzt nicht reden will.

„Fertig“, verkündet sie und sieht sich prüfend den in meinem Nacken aufgesteckten Knoten an. Nun hebe ich doch meinen Blick und betrachte ihr Werk im Spiegel. Einige Haarsträhnen streifen lose meine Wange und ich widerstehe dem Drang, sie mir hinters Ohr zu stecken. Es sieht gar nicht so schlecht aus. Ich stehe auf und küsse sie auf die Wange.

„Danke“, erwidere ich und will mich gerade auf den Weg ins Badezimmer machen, bevor sie mich an der Hand zurückhält.

„Ich weiß, dass du nicht hin willst. Umso schöner finde ich es, dass du gehst. Eloise wird sich freuen.“ Ich nicke, obwohl mir nicht danach ist, ihr zuzustimmen. Sie verlässt nach mir mein Zimmer und geht die Treppe hinunter. Es ist Zeit für Mayas Medizin.

Während ich im Badezimmer stehe, höre ich sie im Erdgeschoß hantieren. Ich greife nach meinem Make-Up-Täschchen, in dem sich außer ein bisschen Abdeckcreme und Puder nur noch eine Wimperntusche befindet. Ich verdecke meine Augenringe und trage Mascara auf, bevor ich mir die Hände wasche und schließlich nach unten gehe.

Heute werde ich mich nicht von ihr verabschieden, wie ich es sonst immer mache, wenn ich das Haus verlasse. Es ist zu schwer. Sie müsste auch dabei sein. Wir würden uns über Eloises zukünftigen Ehemann Henry lustig machen und uns auf ihre Kosten betrinken, bevor Dad uns abholen würde und wir ihn bitten würden, uns am Strand abzusetzen, damit wir im Sand in den Sonnenaufgang tanzen konnten. Stattdessen muss ich alleine dorthin und so tun, als würde ich am Glück anderer teilhaben können.

Ich nehme meine Tasche und ziehe mir meine Keilabsatzsandalen an. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch in ihnen laufen kann. Das letzte Mal, als ich sie anhatte, hat Chester mich zu einem Date abgeholt. Ich will gar nicht daran denken, wie viele Jahre seitdem vergangen sind.

Drei, um genau zu sein. Drei verdammte Jahre.

Er blieb hartnäckig, obwohl ich seine wiederholten Einladungen zum Essen drei Monate lang ausschlug. Irgendwann gab ich nach und bereute es bereits, als ich in sein dreckiges Auto stieg, um mit ihm nach St. Peter/Port zu fahren. Wir hatten uns während des Essens kaum etwas zu sagen und auch er sah schnell ein, dass er jetzt, wo er sein Ziel erreicht hatte mich auszuführen, das Interesse an mir verloren hatte. Im Hotel ließ er sich unter vorgehaltener Hand von den anderen Mitarbeitern feiern, dass er mich rumgekriegt hatte. Es war eine Abwechslung zu den sonst so mitleidigen Blicken gewesen.

„Ich fahre jetzt“, rufe ich in Richtung von Mayas Zimmer.

„Viel Spaß“, ruft Cecilia schwer atmend zurück und ich höre die Matratze quietschen. Ich sollte ihr helfen, anstatt gleich mit einem Glas Champagner in der Gegend herumzustehen und Menschen die Hand zu schütteln, die ich gar nicht sehen will.

Als die Tür hinter mir zufällt, spüre ich es wieder. Es ist wie ein Phantomschmerz. Das, was mir fehlt, gehört schon lange nicht mehr zu mir. Trotzdem fühlt es sich so an, als hätte sich in diesem leeren Teil der Schmerz der ganzen Welt kumuliert. Mein Herz und meine Seele sind dortgeblieben und haben sich mit ihr aufgelöst. Geblieben ist mir nur das Überleben, ohne Inhalt, ohne Sinn.

Ich steige in mein Auto und lege den Rückwärtsgang ein. Im Rückspiegel sehe ich, dass meine Mutter gerade zurückkommt. Sie hat den Laden heute früher zugemacht, damit sie Cecilia helfen kann. Wenigstens muss ich mir darum keine Sorgen machen. Sie winkt mir zu, bevor ich vom Hof fahre.

Es ist nicht weit bis ins Hotel. Fünfzehn Minuten und zwanzig Sekunden. Das weiß ich, weil ich diese Strecke täglich fahre und weil es auf dieser Insel nie viel länger dauert, irgendwo hinzufahren.

Die Hochzeit findet ausgerechnet in dem Hotel statt, in dem ich arbeite. Ich verziehe das Gesicht bei dem Gedanken daran, von meinen Kolleginnen und Kollegen bedient zu werden. Zwar arbeite ich im Backoffice und nicht als Kellnerin, aber es ist trotzdem komisch, privat an seinem Arbeitsplatz zu sein.

Ich erreiche die Einfahrt zur Tiefgarage vierzig Sekunden später als sonst und parke mein Auto auf dem üblichen Platz. Bevor ich in den Fahrstuhl steige, der mich direkt in den hinteren Bürotrakt des Hotels bringt, betrachte ich mein Spiegelbild im Autofenster. Es ist immer noch schwer, mich anzusehen ohne sie in mir zu erkennen.

Der Lift hält mit einem leisen ping und die Türen öffnen sich. Die ersten Schritte auf den Absätzen sind noch wackelig, aber als ich den Gang mit den angrenzenden Büros durchquere, gewöhne ich mich daran.

„Hey Claire, du siehst gut aus!“ Ich drehe mich um. Jason lehnt sich in seinem Drehstuhl zurück und zwinkert mir aus der geöffneten Tür zu.

Ich bemühe mich, ein Augenrollen zu unterdrücken und antworte höflich: „Vielen Dank!“ Ich setze einen Fuß vor den anderen und versuche mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen, je näher ich dem Foyer komme. Hier hinten bin ich sicher.

Als ich tief Luft hole und die Tür neben der Rezeption öffne, setzt Jason einen drauf: „Die Wilson-Hochzeit? Ich wusste gar nicht, dass du zur High-Society gehörst.“ Langsam drehe ich mich um. Herausfordernd sieht er mich an.

„Ich gehöre nirgendwo hin, Jason. Aber du, du gehörst doch bestimmt wieder hinter deinen Schreibtisch, oder?“ Ich warte nicht auf eine Antwort, sondern stoße die Tür auf. Sofort umfangen mich die Geräusche der Gäste, die hier bereits auf die Ankunft des Brautpaares warten. Sie stehen in Grüppchen zusammen, die Damen tragen große Hüte und pastellfarbene Kostüme. Alle Farben sind gedeckt und unauffällig, außer meinem Kleid. Noch stehe ich am Rand, doch es ist nicht zu übersehen, dass ich in ihrer Mitte wie ein bunter Papagei in einem Haufen Tauben hervorstechen werde.

Als Virginia mich anspricht, halte ich mich immer noch mit einer Hand am Türgriff fest. Noch kann ich zurück und mich in meinem Büro verkriechen. Die Aussicht, wieder auf Jason zu treffen, hält mich dann doch davon ab.

„Zu welcher Seite gehörst du?“, fragt mich die Rezeptionistin, die jetzt hinter dem Empfangstisch hervorkommt und sich neben mich stellt. Interessant, dass sie mir diese Frage überhaupt stellen muss. Sie nimmt doch nicht wirklich an, dass ich zum Wilson-Clan gehöre?

„Zur Braut“, sage ich und unterdrücke ein Seufzen, ohne den Blick von der illustren Gästeschar abzuwenden. „Eloise Roosevelt, sie war… meine Schulfreundin.“

„Wie schön“, sagt Virginia träumerisch und kommt näher, damit kein Gast unsere Unterhaltung hört.

„Sie muss sich fühlen wie eine Prinzessin. Hast du den großen Saal gesehen? Sam und Stuart haben gestern ganze drei Stunden die Kronleuchter poliert. Holly ist beinahe ausgeflippt, als die bestellten Luftballons nicht exakt die gleiche Farbe hatten wie die Rosenbouquets auf den Tischen. Sie hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Ich glaube durch den ganzen Stress hat sie in dieser Woche mehr abgenommen, als im gesamten letzten Jahr.“

Es war kein Geheimnis, dass Holly, die Weddingplannerin, ständig auf Diät war. An ihren no-food Tagen genügte ein falscher Blick und man war geliefert. Ja, vielleicht fühlt Eloise sich heute wirklich wie eine Prinzessin. Hätte man ihr vor zehn Jahren gesagt, sie würde mal in eine Banker-Dynastie einheiraten und in einem 5000 Pfund teuren Designerkleidchen vor den Altar treten, hätte sie mir den Mittelfinger gezeigt. Ich zucke nur mit den Achseln und sehe Sam und Stuart zu, die Tabletts mit Champagnergläsern zwischen den Gästen hindurchbalancieren. Auf einem Stuhl in der Ecke sitzt Ed – dem Himmel sei Dank.

„Ich mische mich dann mal unters Volk. Bis später, Virginia.“ Sie wünscht mir viel Spaß und geht zurück an ihren Arbeitsplatz.

Anstatt mich quer durch die Menge zu schieben, gehe ich am Rand des Foyers entlang. Bis jetzt bin ich niemandem aufgefallen. Als ich vor Ed stehen bleibe, hebt der alte Mann den Kopf.

„Ich hab‘ ein Nickerchen gemacht“, schmunzelt er und fährt sich durch den grauen Bart. „Ganz schön langweilig hier. Bis jetzt. Hallo, Eins.“

Als er mich mit meinem Spitznamen anspricht, zucke ich zusammen. Ed ist nicht gerade der einfühlsamste Mensch. Außerdem ist er alt und wird seine Gewohnheiten nicht mehr ändern. Mich Eins zu nennen ist so normal für ihn wie jeden Morgen um sechs Uhr früh am Hafen zu stehen, auch wenn die Fähre mittlerweile seit Jahren ohne ihn ausläuft. Er stützt sich auf seinen Gehstock und steht mühselig auf.

„Hallo Ed“, sage ich und umarme ihn kurz. Sein Bart kratzt an meiner Wange.

„Wer hätte das gedacht, was? Die Rebellin heiratet den Millionär. Wenn das nicht nach einem Märchen klingt.“ Ich verziehe das Gesicht und versuche die Traurigkeit, die mich bei Eds Anblick überkommt, abzuschütteln. Zu viele Erinnerungen, zu viel Geschichte. Zu viele Dinge, die sich in unser beider Gedächtnis gebrannt haben und nie mehr daraus verschwinden werden.

„Es kommt darauf an, was man von einem Märchen erwartet. Ich warte den Auftritt der bösen Schwiegermutter heute ab, dann entscheide ich, ob es Potential hat, weitererzählt zu werden. Ansonsten würde ich sagen, ist es eher ein schlechter Witz als eine Geschichte, aus der man etwas lernen soll.“ Ed lacht auf.

„Ich wusste doch, dass du es noch kannst. Schon als du 16 warst, hast du gesprochen wie ein verbitterter, alter Seemann. Du warst mir immer schon sehr ähnlich.“ Ich weiß, dass Ed mir eben ein Kompliment gemacht hat. Ich muss auch lachen und meine Herzgegend fühlt sich schon nicht mehr so beengt an.

„Wie geht es dir, alter Seemann?“, frage ich ihn und hake mich unter, um ihn zu stützen. Er ist 73 Jahre alt und er sieht so aus, als könnte ihn schon ein leichter Windhauch umhauen. In seinen Augen kann man aber immer noch sehen, wie er wie ein unerschütterlicher Fels am Bug der Fähre steht und der Sturm und die Wellen keine Chance haben, ihn davon abzuhalten, das Meer zu bezwingen.

„Es ist schlimm, wenn der Körper seinen Dienst versagt, der Geist aber immer noch zu Unglaublichem fähig sein will“, hat Ed mir einmal gesagt. Er hatte beinahe sein ganzes Leben auf dem Wasser verbracht und als er es nicht mehr konnte, fühlte er sich plötzlich nicht mehr ganz. Vielleicht hat er mich deshalb von Anfang an so gut verstanden, weil er weiß, wie es ist, wenn einem der Sinn des Lebens fehlt.

Er tätschelt meine Hand, als er sagt: „Ich fehle dem Meer, es ruft mich. Jeden Tag. Und wenn ich nicht komme, zieht es sich enttäuscht zurück. Wie gut, dass ich darauf vertrauen kann, dass es immer wieder kommt.“ Er lächelt und zwinkert mir zu. „Wie soll es einem alten Kerl wie mir schon gehen, der nur noch festen Boden unter den Füßen hat, anstatt sich mit den Wellen zu wiegen. Aber jetzt genug der Melancholie. Wir sind schließlich zum Feiern hier.“ Er hebt die Hand und winkt Sam herbei.

„Hi, Claire“, sagt sie, „ich wusste gar nicht, dass du eingeladen bist.“

„Bin ich“, sage ich und nehme mir ein Glas Champagner von ihrem Tablett. „Der Alte hier hätte gern ein Bier.“ Sie sieht mich zweifelnd an und ihr Blick wandert zu Ed.

„Sie haben sie doch gehört, Schätzchen. Ein Bier. Dieses Blubberwasser bekommt mir nicht.“

Sam setzt ihren professionellen Dienstleistungs-Gesichtsausdruck auf und nickt, bevor sie Richtung Bar marschiert.

„Du hast ja wirklich nette Kollegen“, sagt Ed belustigt. Ich zucke mit den Schultern.

„Wahrscheinlich sind sie wirklich nett und ich bin diejenige, die ein Problem mit Sozialkontakten hat.“ Wir kommen nicht dazu, das Gespräch über meine mangelnde Empathie weiterzuführen, denn Holly steht in der Mitte der Empfangshalle und klingelt mit einem Glöckchen. In ihrem mintgrünen Seidenkleid und dem Glöckchen sieht sie aus wie eine fette Tinkerbell.

„Ladys und Gentleman, die Zeremonie beginnt in wenigen Minuten. Bitte begeben Sie sich in den Garten und nehmen Ihre Plätze ein. Auf der rechten Seite nimmt die Familie des Bräutigams Platz, die linke Seite ist für die Familie der Braut reserviert.“ Ich rolle mit den Augen. Ich bin gespannt, wie Holly die Tatsache gelöst hat, dass die linken Sitzreihen beinahe leer bleiben werden.

Sam kommt mit Eds Bier zurück, der es in einem Zug austrinkt. Er stellt das Glas wieder auf das Tablett und wischt sich über den Bart. Sam schüttelt abschätzig den Kopf, was ich mit einem bösen Blick bestrafe. Die Gäste haben sich in Bewegung gesetzt und gehen leise murmelnd in den Garten. Holly hat sich vor der Terrassentür positioniert und weist wie eine Fluglotsin die Verwandten auf ihre richtigen Plätze. Als sie mich an Eds Arm kommen sieht, zieht sie verwirrt die Nase kraus.

„Roosevelt“, sagt sie knapp, „links“. Mich überkommt das dringende Bedürfnis ihr die Zunge rauszustrecken. Stattdessen beiße ich drauf und schiebe mich betont eng an ihr vorbei. Ich weiß, ich bin gemein.

Auf der linken Seite sind tatsächlich weniger Stuhlreihen angeordnet. Wo rechts die Reihen bis zur Fensterfront des Gartenrestaurants zurückreichen, steht links ein kleines Buffet mit Häppchen und Canapés. So will man wohl verhindern, dass das Missverhältnis auffällt. Keine schlechte Idee.

Ein roter Teppich markiert den Gang für das Brautpaar und am Ende steht ein Blütenbogen aus roten Rosen, worunter der Redner bereits seine Position bezogen hat. Er ist klein, hat eine Glatze und steht auf einem kleinen Podest, damit er überhaupt über das Brautpaar sehen kann, das vor ihm sitzen wird. Als ich mir vorstelle, dass dieser kleine Mann eine Stimme wie Mickey Maus – passend zu seiner Körpergröße – haben könnte, muss ich kichern. Ed sieht mich verwirrt an und gibt mir zu verstehen, dass er sich setzen will. Bereits die wenigen Meter in den Garten haben ihn angestrengt.

Das Hotel liegt auf einer kleinen Anhöhe und von unseren Plätzen aus sehen wir über einen Teil von St. Peter/Port und den Hafen. Vor der Küste, mit ihr verbunden durch eine massive Steinmauer, liegt das Castle Cornet im Wasser, daneben der Leuchtturm. Das Meer ist ruhig und am klaren Himmel kreischen die Möwen.

Immer mehr Menschen lassen sich auf ihren Plätzen nieder, wobei die rechte Seite in wenigen Minuten gut gefüllt ist. Links sitzen Ed und ich in der zweiten Reihe. Vor uns sitzt Eloises Tante Clara mit ihren Töchtern Sophie und Greta. Clara begrüßt uns kurz und es ist nicht zu übersehen, wie stolz sie in der ersten Reihe Platz nimmt. Eloises Cousinen nicken mir zu und kurz bevor die Zeremonie beginnt, erscheinen Eloises Eltern Sarah und Louis. Es wundert mich, dass sie sie eingeladen hat. Auch das hat sie mir wahrscheinlich erzählt. Sie gehen, ohne mich eines Blickes zu würdigen, vorbei und sitzen nun stocksteif genau vor mir. Sarahs Hut ist scheußlich. Er hat die gleiche Farbe wie ihr puderfarbenes Kostüm und ist über und über mit Federn geschmückt. Es sieht aus, als wäre ein Vogel auf ihrem Kopf explodiert. Außerdem nimmt sie mir mit diesem Ungetüm die Sicht. Das Streichquartett stellt sich auf und wartet auf seinen Einsatz.

Plötzlich höre ich hinter mir lautes Lachen. Auch die links Sitzenden drehen ihre Köpfe und sehen not amused über diese Störung aus. Jackson ist das herzlich egal. Er stürmt an Holly vorbei und macht angedeutete Verbeugungen in alle Richtungen, bevor er sich hinter mir niederlässt. Die Herrschaften wenden pikiert die Blicke ab und widmen sich wieder ihren leisen Unterhaltungen, in denen sie die Dekoration kritisieren oder über das zu warme Wetter lästern.

„Claire, Baby, wie schön dich zu sehen.“ Ich stehe auf und drücke ihn kurz, bevor er mir einen Kuss auf die Wange drückt. Er sieht gut aus. Bei Männern mit dunkler Hautfarbe wirken weiße Hemden gleich noch viel edler, die Hosenträger und die dunkelblaue Fliege runden seinen Style perfekt ab. Seine langen Beine stecken in edlen Anzughosen, er verzichtet jedoch nicht darauf, mit seinen roten Socken ein Statement zu setzen. Zwei Papageie in einem Haufen Tauben.

„Ich freue mich auch, Jackson. Ich wusste nicht, dass du kommst.“ Oder doch, wie auch immer.

„Ich verpasse doch nicht die Hochzeit der Gothic-Queen mit Henry Wilson junior.“ Als er den Namen des Bräutigams nennt, hält er sich die Nase zu, wodurch seine Stimme piepsig und vollkommen lächerlich klingt. Wir mögen Henry nicht. Nicht, dass wir jemals darüber geredet hätten, aber ich bin mir sicher, dass wir diese Meinung teilen.

Jackson begrüßt Ed und lässt es sich nicht nehmen, seine Eindrücke mit mir zu besprechen: „Mann, hab' ich was verpasst? Stand etwas von Dresscode auf der Einladung? Die sehen ja alle gleich aus!“ Ich blicke an mir runter und auf mein rotes Kleid.

„Ich glaube, die Ansage habe ich auch nicht mitbekommen.“ Wir lachen beide.

„Na hoffentlich haben die guten Stoff da, damit sie mal locker werden. Sieht ja aus, als würde es wehtun, so verkrampft die Beine zu überschlagen.“ Er schlägt ein Bein über das andere und richtet sich kerzengerade auf. Ich schüttle den Kopf und grinse. Der Klassenclown ist zurück.

Bevor wir unsere Unterhaltung fortsetzten können, erklingen die ersten Töne eines bekannten Hochzeitslieds. Alle erheben sich und drehen sich in die Richtung, aus der Eloise in ihrem Traum aus Tüll und Stoffbergen auf uns zuschreitet. Sie geht langsam, an der Hand von Henrys Vater. Sie hat es sich also doch nicht nehmen lassen, öffentlich auf ihren Vater zu scheißen, auch wenn er in der ersten Reihe sitzt. Was für eine tolle Aktion von ihr. Die liefert bestimmt genug Gesprächsstoff für die nächsten Stunden in der Stock-im-Arsch-Clique.

Ihr Gesichtsausdruck ist verkrampft und ich sehe ihr an, dass sie einen Drink braucht, oder zwei. Wahrscheinlich hat man ihr verboten sich locker zu machen. Passt zum Gesamteindruck der Familie, in die sie im Begriff ist einzuheiraten. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass Henry nun neben dem Zwerg steht, der die Zeremonie leiten soll. Er wischt sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und lächelt angestrengt. Als Eloise bei ihm ankommt, küsst er sie auf die Wange. Leider klingt die Stimme des Redners nicht nach Mickey Maus. Schade, ich bin mir sicher, Jackson hätte gemeinsam mit mir darüber gelacht.

Als er gerade über Liebe und Vertrauen spricht, höre ich, ohne mich umzudrehen, dass verspätete Gäste sich bemüht leise in die letzte Sitzreihe schieben. Jackson sagt etwas, das ich nicht verstehe und ich versuche mich krampfhaft, auf das Schauspiel vor mir zu konzentrieren.

Plötzlich habe ich das Gefühl, die Sonne würde heißer vom Himmel brennen als noch vor wenigen Minuten. Von meinen Zehen beginnend breitet sich ein Kribbeln in meinem Körper aus und ich fürchte mich davor, gleich vom Stuhl zu kippen. Ich hätte vielleicht keinen Champagner trinken sollen, bevor ich mich in die Sonne gesetzt habe. Ich versuche langsam ein- und auszuatmen. Ed ist nicht entgangen, dass ich mich neben ihm unwohl fühle. Er mustert mich besorgt und greift nach meiner Hand. Als Eloise und Henry nach einer gefühlten Ewigkeit die Ringe tauschen, stehen alle auf und applaudieren. Das Brautpaar küsst sich filmreif und marschiert schließlich auf dem roten Teppich, der wie eine blutrote Grenze die Familien teilt, nach hinten, um sich aufzustellen und die Glückwünsche zu empfangen.

Als ich ihnen auf wackeligen Beinen nachsehe, entdecke ich im Augenwinkel eine vertraute Person. Ich muss zwinkern, weil ich meinen Augen nicht traue. Ich überlege, ob ich einfach die Augen schließen und so tun soll, als ob gerade nichts passiert wäre. Als hätte ich nicht gerade den Grund für meinen Schweißausbruch und mein rasendes Herz entdeckt, das mir mit seinen hektischen Schlägen das Atmen schwer macht. Er ist hier. Sie hat ihn eingeladen. Hätte ich doch bloß zugehört!

Kapitel 2

Vincent

Sie sieht mich an und es ist, als hätte jemand den Lautlos-Modus aktiviert. Alles, was ich höre, ist das Rauschen meines Blutes in den Ohren. Vereinzelt nehme ich holprige Schläge meines Herzens wahr. Unregelmäßig, aber kraftvoll.

Sie wendet den Blick nicht ab, obwohl ich sehen kann, welchen Kampf sie gerade auszufechten hat. Sie ist immer noch so stur wie damals. Mein Blick wandert über ihren Körper. Dieses Kleid. Oh Gott. Das Kleid. Es schmeichelt ihrer Figur, wie damals. Ich vergleiche sie mit dem Mädchen, das ich zurückgelassen habe. Es ist jetzt eine Frau, aber es ist immer noch sie: Claire. Mein Mädchen, mit den Sommersprossen auf der Nase und dem blonden Haar, das ihr im Wind immer ins Gesicht geflattert ist.

Ich glaube, ich halte die Luft an. So genau weiß ich das nicht, weil ich nichts anderes spüre als ihren Blick auf mir, in mir. Erst als Evelin mich in die Seite boxt, schnappe ich nach Luft. Sie hängt an meinem Arm und lechzt nach meiner Aufmerksamkeit, wie immer. Sie mag es nicht, wenn sie ignoriert wird.

„Wir hätten den früheren Flug nehmen sollen, Schatz. Wir haben ja beinahe alles verpasst.“ Sie klingt enttäuscht. Sie mag Hochzeiten, auch wenn sie keine Verbindung zum Brautpaar hat. Wie heute. Sie steht auf Rosengestecke und Stuhlhussen, goldene Platzteller und aufwendig gestaltete Menükarten. Ich habe ihr bei unserer Hochzeit freie Hand gelassen, was ich später, als ich die Kreditkartenabrechnung gesehen habe, bitter bereut habe. Aber sie war glücklich. Das war es wert.

Jackson ist aufmerksam genug, meinen stummen Blickwechsel mit Claire nicht zu unterbrechen. Er hat mich während der Zeremonie bereits kurz begrüßt und hält sich jetzt zurück – bis Evelin mich ins Hier und Jetzt zurückgeholt hat. Jetzt tritt er auf uns zu und umarmt mich, bevor er mir auf die Schulter klopft.

„Vince, du hast es also tatsächlich geschafft. Wer hätte gedacht, dass Eloise uns auf ihrer Traumhochzeit alle wiedervereint. Und jetzt wird es Zeit, dass du mich vorstellst.“ Seine Augen funkeln übermütig und obwohl wir uns nur ein-, zweimal im Jahr telefonisch hören, fühlt es sich an, als würden wir uns täglich sehen.

„Jackson Smith, das ist meine Frau Evelin Rosemarie Dumont.“ Jackson verbeugt sich galant und nimmt Evelins Hand, um einen Kuss darauf zu hauchen.

„Sehr erfreut, Madame Dumont. Es ist mir ein Rätsel, wie Vince es geschafft hat, jemanden zu finden, der ihn heiratet.“ Ich boxe ihn gespielt verärgert gegen die Schulter und ziehe Evelin an mich. Ich sehe ihr an, dass sie entzückt von ihm ist. Sie mag seine Aufmerksamkeit und sein Kompliment lässt sie erröten. Das liebe ich an ihr.

„Ich freue mich auch, Jackson. Vincent hat mir schon viel von dir erzählt.“ Jackson zieht die Brauen zusammen.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll. Aber mein Ruf eilt mir offensichtlich voraus.“

Vor mir sehe ich, wie Claire sich mit Ed unterhält und ihm aufhilft. Die Schlange der Gratulanten vor dem Brautpaar ist nicht mehr so lang und sie stellen sich in die Reihe. Sie kommt näher, ihr Blick ist jedoch stur nach vorn Richtung Brautpaar gerichtet. Eds Rücken ist gekrümmt und er stützt sich auf einen Gehstock. Der alte Mann ist jetzt wirklich alt. Und nur noch ein Schatten seiner selbst. Ist er wirklich derselbe, der mir vor zehn Jahren so vorkam, als wäre er unsterblich?

Ed hat mich entdeckt und grinst. Er beschleunigt seine Schritte so gut er kann und kommt auf mich zu. Claire sieht immer noch geradeaus, obwohl sie sich bei Ed untergehakt hat.

„Der böse Junge ist auf die Insel zurückgekehrt. Noch ein Grund, um zu feiern, nicht wahr, Eins?“ Er nennt sie bei ihrem Spitznamen und mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Sie tut so, als hätte sie ihn nicht gehört.

„Hallo, Seemann“, sage ich. Ich entziehe Evelin meinen Arm und gehe einen Schritt auf ihn zu. Auch Claire lässt Ed zögernd los und ich umarme den alten Mann, der mir mehr ein Vater war als es mein eigener je sein konnte. Dabei komme ich ihr nahe, so nahe, dass ich sie riechen kann. Vielleicht rieche ich auch nur die salzige Meeresluft, doch da gibt es keinen Unterschied.

Als ich mich aufrichte, sieht sie mich wieder an. Von Nahem erkenne ich es. Es ist alles beim Alten. Sie hat nichts hinter sich gelassen, sie hat nicht nach vorne geschaut. Ihre Augen sind genauso wie an dem Tag, an dem ich sie das letzte Mal gesehen habe. Damals hat es mir das Herz gebrochen. Ich habe das Gefühl, das passiert mir gerade zum zweiten Mal.

„Hallo, Claire“, sage ich und meine Stimme zittert.

„Hallo, Vincent“, erwidert sie, ohne dass eine Emotion in ihrer Stimme sie verraten kann. Sie hält alles versteckt, aber ich durchschaue sie. Und es tut weh.

Erst als Evelin ihre Unterhaltung beendet und sich wieder an mich drängt, sehe ich Schmerz in Claires Augen aufflackern.

„Willst du mich nicht vorstellen?“, fragt meine Frau und setzt ihr strahlendstes Lächeln auf.

„Natürlich“, sage ich mechanisch.

„Evelin, das ist Ed, ein alter Freund, der die wildesten Geschichten über mich kennt, aber keine davon verraten würde.“

„Wir Seemänner können schweigen wie ein Grab. Freut mich Sie kennenzulernen.“ Er schüttelt ihre Hand. Interessiert huscht Evelins Blick zu Claire. Sie versteift sich. Sie weiß, wer sie ist.

„Und das ist Claire.“ Ich halte mich nicht damit auf, ihr zu sagen, in welchem Verhältnis wir stehen. Sie weiß es ohnehin. Wir haben keine Geheimnisse.

„Ich freue mich dich kennenzulernen“, sagt Evelin höflich und reicht Claire die Hand.

„Ganz meinerseits“, lügt Claire. Evelin wirft ihr brünettes Haar nach hinten und sagt: „Ich glaube, wir sollten uns auch anstellen, um zu gratulieren. Das Kleid steht ihr wirklich fabelhaft.“ Es ist offensichtlich, dass sie unsicher ist und sich gezwungen fühlt, eine Unterhaltung vom Zaun zu brechen. Evelin hält Stille nur schwer aus. Claire nickt und hakt sich wieder bei Ed unter.

Wir stellen uns gemeinsam mit Jackson hinter die beiden und warten darauf, dem Brautpaar unsere Glückwünsche zu überbringen. Ich sehe zu, wie Claire Eloise steif umarmt und ihr alles Gute wünscht. Henry reicht ihr die Hand und bedankt sich höflich. In Eloises Augen kann ich sehen, wie traurig sie ist. Sie weiß, dass Claire nicht hier sein will. Vielleicht wünscht sie sich selbst gerade an einen anderen Ort. Ich bin nach Ed dran, der der Braut etwas ins Ohr murmelt, was sie zum Lachen bringt.

„Herzlichen Glückwunsch, Gothic-Girl. Du siehst wunderschön aus.“

„Danke, Vince“, sagt sie und hält mich einen Moment länger fest als die anderen, bevor sie flüstert: „Rede mit ihr, bitte. Seit zehn Jahren warte ich darauf.“ Als sie mich loslässt, glitzert eine Träne in ihren Augen. In dieser bedeutsamen Nacht hat sie die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren. Das haben wir alle.

Ich streiche ihr über die Wange und stelle ihr Evelin vor, die ihre Komplimente für das grässliche Kleid, das nicht zu Eloise passt, fortsetzt. Ich muss mich korrigieren: Zu dieser Eloise passt es, zu der, die gerade meine Ehefrau kennenlernt. An der Eloise, die ich gekannt habe, hätte dieses Kleid ausgesehen wie eine Zitrone auf einem Apfelbaum. Fremd, fehl am Platz, verirrt, gegen die Natur.

Jackson macht seine üblichen Späßchen und folgt uns in den Ballsaal. Das Licht, das sich in den Kristallen des Kronleuchters bricht, blendet mich. Die dicke Weddingplannerin, die uns vorhin für unser Zuspätkommen gerügt hat, bemüht sich alle Gäste an die richtigen Tische zu schicken.

„Dumont“, sage ich, „plus eins.“ Sie nickt und zeigt auf den Tisch, an dem sich gerade Claire mit Ed niederlässt. Wunderbar.

Eine Kellnerin eilt herbei und stellt Ed ein Bier hin, bevor sie Claire ein Glas Weißwein einschenkt, das sie in einem Zug austrinkt. Sie braucht es, um ihre Nerven zu beruhigen. Das weiß ich, weil es mir genauso geht.

Ich gehe mit Evelin an den Tisch, vorbei an Eloises Eltern, die mich nicht ansehen, obwohl sie genau wissen, wer ich bin. Nur ihre Tante Clara erhebt sich und drückt mir einen ihrer feuchten Küsse auf die Wange, ehe sie entzückt aufschreit und meine Frau von oben bis unten begutachtet. Sie kommt nicht umhin, ein „Wer hätte das gedacht?“ in meine Richtung zu hauchen, ehe sie sich wieder ihren Töchtern widmet, die sich über die stickige Luft im Saal beschweren. Wir finden unsere Platzkarten und setzten uns. Claire fummelt nervös an ihrer Serviette herum.

„So wie ich Eloise gekannt habe, hätte ich gedacht, sie hätte hier alles in schwarz dekoriert. Sie stand mehr auf Beerdigungen als auf Hochzeiten“, sagt Ed und stößt ein grollendes Lachen aus. Wir lachen mit. Das Brautpaar betritt den Raum und abermals wird applaudiert. Die Hüte der Damen wippen im Takt und Jackson beginnt mit einem Messer gegen ein Weinglas zu klopfen.

„Kuss, Kuss“, ruft er und wartet darauf, dass die Gäste miteinstimmen. Doch das passiert nicht. Henry und Eloise ist die Situation sichtlich peinlich. Sie lächelt verhalten und drückt Henry einen Kuss auf die Wange.

„Ehrlich?“, mault Jackson. „Das ist alles, was ich kriege?“

Eloise winkt ab und schaut entschuldigend zu ihrer neuen Familie, die sie bereits am Tisch erwartet. Als alle sitzen, streckt die Hochzeitsplanerin ihre Hand in die Luft und gibt das Go für die Reden. Hier scheint jede Sekunde strikt geplant zu sein. Da werden Zwischenrufe, wie Jacksons, nicht gern gesehen. Der Vater des Bräutigams erhebt sich und beginnt ein Loblied auf seinen Sohn und dessen Angetraute vorzutragen. Steif, gespielt, lieblos. Eloises großgewachsener, graumelierter Schwiegervater sieht aus wie eine ältere Kopie seines Sohnes. Was er über Eloise erzählt, kann ich kaum glauben. Eigenschaften wie gütig, liebevoll und zurückhaltend höre ich in Verbindung mit meiner Freundin heute zum ersten Mal. Hätte man mich gebeten etwas zu sagen, hätte ich erzählt: Sie war wild, frech und der rücksichtsloseste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Dafür habe ich sie geliebt.

Eloises Vater ist zum Zuhören verdammt. Wahrscheinlich hätte er ohnehin nichts zu sagen gehabt, wenn man bedenkt, dass er sie kaum kennt. Genauso wie ihre Mutter. Schließlich geht das Wort an Tante Clara, die ein, zwei Tränchen vergießt und darüber spricht, wie es war, als Eloise auf der Insel angekommen ist. Bei ihr. Das Warum lässt sie unerwähnt.

Claire sitzt mir mit ausdruckslosem Gesicht gegenüber. Anstatt sich den Rednern zuzuwenden, sieht sie mich an. Evelin bekommt davon nichts mit. Sie steht auf Geschichten über andere, auch wenn sie die Person nicht kennt. Unsere Blicke verhaken sich ineinander. Wir ziehen und zerren beide an der unsichtbaren Kette, können die starken Glieder aber nicht zerbrechen.

Ich lasse mir Zeit, sie genau anzusehen. Ihr Haar sieht schön aus, obwohl es mir immer besser gefallen hat, wenn es sich offen über ihren Nacken und die Schultern ergossen hat. Sie ist leicht gebräunt. Bestimmt ist sie noch so gern am Meer wie früher. Ich sehe sie förmlich vor mir, wie sie ihr Gesicht in die Sonne reckt und ihre Zehen im Sand vergräbt. Und neben ihr steht Maya.

Ich sollte sie besuchen, solange ich noch da bin. Ich werde einige Tage bleiben, Evelin zeigen, wo ich einen Teil meiner Jugend verbracht habe. Wir waren noch nie zusammen hier, obwohl wir seit acht Jahren ein Paar sind. Ich habe Ed besucht, ein-, zweimal und wie er schon erwähnt hat: Er kann wahrlich schweigen wie ein Grab. Ich wusste, dass Claire mich nicht sehen wollte. Lange wollte ich das nicht akzeptieren. Ed hat mir geraten, ihr Zeit zu geben. Jetzt sind es zehn Jahre und ausgerechnet Eloise bringt uns wieder zusammen. An einen Tisch.

Claire mustert mich ebenso wie ich sie. Ich weiß, dass ich mich verändert habe. Mein Haar ist kürzer, der Bart länger. Er ist an den Seiten rötlich. Evelin mag es, wenn ich Bart trage. Sie hängt jetzt an den Lippen des Bräutigams, der auf seine Frau hinabsieht, als wäre sie eine Trophäe. Als er fertig ist, wird höflich geklatscht. Schon hat die Weddingplannerin wieder das Zepter in der Hand und dirigiert die Kellner an die Tische, die ausschwärmen wie ein Haufen Arbeitsbienen. Zum Glück tragen sie keine gelb-gestreifte Uniform; das weiße, frackähnliche Oberteil mit den goldenen Knöpfen sieht mehr nach Pinguin aus. Ich frage mich, ob Claire auch so etwas tragen muss. Ich weiß, dass sie hier im Büro arbeitet. Ed hat es mir erzählt. Von ihren Träumen ist nichts übrig geblieben, das sieht man ihr an. Sie hat ihren Blick abgewendet und redet mit Jackson.

Ein Gang nach dem anderen wird serviert, dazwischen unterhalte ich mich mit Jackson über seinen Job als Creative Director in einer Werbeagentur in London und Ed erzählt mir, dass Cliff, der Besitzer des Schnapsladens im Hafen, vor einem Jahr gestorben ist. Sein Sohn Craig hat das Geschäft übernommen und auch Cliffs leichtfertigen Umgang mit dem Verkauf von Hochprozentigem an Jugendliche. Evelin hört zu, stellt Fragen, wenn es angebracht ist. Claire spricht nicht. Manchmal scheint sie in Gedanken ganz weit weg zu sein. Dann merke ich plötzlich, dass ihr einfällt, wo sie ist und es sieht aus, als würde es ihr körperliche Schmerzen bereiten hier zu sein. Mir tut es weh. Und der Druck in mir wächst. Ich möchte sie sprechen hören, wie früher. Sie lachen sehen. Die ganze Zeit.

Ich zucke zusammen, als Evelin das Wort ergreift und Claire fragt: „Vincent hat mir erzählt, dass du in diesem Hotel arbeitest. Es ist wunderschön hier. Muss toll sein, diese Aussicht jeden Tag genießen zu können.“ Sie zeigt auf das große Panoramafenster, von dem man das Meer sehen kann. Claire scheint sich zu überlegen, was sie antworten soll oder ob es der Mühe überhaupt wert ist.

„Es ist ein Arbeitsplatz wie jeder andere. Auf dieser Insel kann man beinahe von jedem Ort aus das Meer sehen.“ Sie wirft mir einen fragenden Blick zu, widmet sich aber gleich wieder ihrem Weinglas, das nie leer zu werden scheint. Ihre Augen sind schon etwas glasig vom Alkohol.

„Was tust du, Evelin? Lehrerin, Frisörin, Astronautin?“ Sie lehnt sich etwas in ihrem Stuhl zurück und wartet auf die Antwort auf ihre patzige Frage.

„Ich bin Stewardess“, erwidert Evelin und ich spüre, dass sie es bereut, Claire angesprochen zu haben.

„Aha“, sagt Claire ausdruckslos, „da hätte ich auch selbst drauf kommen können.“ Ich weiß gerade nicht, ob ich diese Claire leiden kann.

Die Hochzeitstorte wird mit einem Tischfeuerwerk auf einem Servierwagen hereingeschoben. Die Torte wird angeschnitten, die Hand der Braut ist oben. Alle Lachen. Ha ha ha. Nur Claire nicht. Sie starrt in ihr Glas.

Nach dem Essen lockert sich die Stimmung. Eloise und ihr Mann gehen von Tisch zu Tisch, um sich kurz zu unterhalten und Nettigkeiten auszutauschen. Ich rücke meinen Stuhl zur Seite, als sie an unseren Tisch kommt. Sie setzt sich neben mich und sieht sich prüfend um, bevor sie sagt: „Scheiße, wer hätte gedacht, dass es so anstrengend ist eine Braut zu sein.“ Sie lässt sich undamenhaft gegen die Lehne sinken und lockert eine Haarnadel, die ihr schon seit Stunden gegen die Kopfhaut drückt. Alle lachen und stimmen ihr zu. Außer Claire.

Evelin versucht die Stimmung oben zu halten, indem sie von unserer Hochzeit letzten Mai erzählt. Eloise hört nur mit halbem Ohr zu, ihre restliche Aufmerksamkeit gilt Claire, die kaum verbergen kann, wie sehr sie alles hier hasst.

Ed ist müde. Er fährt sich immer wieder über die Augen. Es ist erst acht, aber Ed steht immer frühmorgens auf, deshalb wird es wohl Zeit für ihn, zu gehen.

„Ist alles in Ordnung, Ed?“, fragt Claire. Obwohl in ihr immer so viele Gefühle gleichzeitig toben, hat sie gute Antennen für die Befindlichkeit anderer.

„Es geht schon“, sagt Ed, „ich bin es nicht mehr gewohnt zu feiern. Früher, da bin ich direkt von der Fähre in den Pub und vom Pub wieder auf die Fähre. War kein Problem. Heute schaffe ich kaum mehr ein ganzes Rugby Spiel im Fernsehen.“

„Ich fahre dich nach Hause“, sagt Claire und schiebt bereits ihren Stuhl zurück.

„Ich glaube kaum, dass du noch fahren kannst.“ Ich stehe ebenfalls auf. Wir stehen beide, jeweils am anderen Ende des runden Tisches und funkeln uns an. Beobachtet von vier Augenpaaren verschränkt Claire ihre Arme vor der Brust. Ed sieht zwischen uns hin und her.

„Du meine Güte, ihr müsst euch nicht wegen mir streiten.“

„Tun wir nicht“, sagen Claire und ich unisono, doch sie gibt nicht nach.

Eloise mischt sich ein: „Warum fährst du nicht mit Claires Auto, Vince? Ihr seid doch gleich wieder da.“ Evelin sieht mich unsicher an. Ich sehe Claire an. Sie beißt sich auf die Lippe und neigt leicht ihren Kopf. Sie weiß, es wird schwer sein mit mir in einem Auto zu sitzen. Doch das würde sie nie zugeben. Sie bleibt stur. Wie immer.

„Okay“, sagt sie schließlich, „wir bringen dich nach Hause, Ed.“

Evelin zieht mich zu sich runter und flüstert: „Du kannst mich doch nicht hier allein lassen, ich kenne niemanden!“ Jackson reagiert sofort und rückt zu ihr auf.

„Es gefällt mir, Vince' Frau für mich allein zu haben. Fahrt schon und gönnt uns ein bisschen Privatsphäre.“ Er lacht dabei und es klingt auch, als ob es witzig wäre. Stattdessen weiß ich genau, was Jackson und Eloise vorhaben. Und Ed. Er sieht sichtlich zufrieden aus.

„Begleitest du mich vorher noch kurz auf die Toilette?“, fragt Evelin und lässt mir keine Zeit zu antworten. Sie zieht mich hinter sich her aus dem Saal. Vor den Toiletten dreht sie sich zu mir um und stemmt die Hände in die Hüften: „Kannst du mir verraten, was dieses Theater hier soll? Ich fühle mich nicht wohl dabei, wenn du mit ihr mitfährst.“

„Ich werde fahren, Schatz. Claire hat zu viel getrunken und Ed muss nach Hause.“ Es ist schwach von mir, sie mit Belanglosigkeiten abspeisen zu wollen, wo es doch um etwas ganz anderes geht. Es fällt ihr nicht schwer, mich zu durchschauen.

„Das weiß ich. Was mir nicht ganz klar ist, ist, warum deine Freunde ganz heiß darauf sind euch allein zu lassen. Hast du mir etwas zu sagen?“ Ich seufze.

„Du weißt alles, Schatz. Claire geht es nicht gut. Sie ist allein und traurig. Ich dachte eigentlich, dass es ihr nach all den Jahren schon besser ginge, aber da habe ich mich getäuscht. Vielleicht braucht sie jemanden zum Reden.“ Evelin lässt die Hände sinken, sie weiß, dass sie mir nichts entgegenzusetzen hat. Wir vertrauen uns. Es gibt keinen Grund, etwas dahinter zu vermuten, dass ich mit Claire sprechen will. Sie redet auch mit ihren Ex-Partnern. Und ich habe nichts dagegen.

„Okay“, gibt sie schließlich auf, „ich werde vermutlich betrunken sein, wenn du zurück kommst. Jackson ist ziemlich unterhaltsam.“ Ich küsse sie und schlinge meine Arme um ihren zierlichen Körper. Ich kann es mir nicht verkneifen ihr den Hintern zu tätscheln. Er sieht toll aus in diesem engen, hellblauen Kleid. Evelin verschwindet auf die Toilette und ich kehre zu unserem Tisch zurück.

„Es kann losgehen“, sage ich und stelle mich neben Ed, um ihm aufzuhelfen. Claire nimmt ihre Tasche und geht voran. Eloise gibt Ed einen Kuss auf die Wange und sagt gerührt: „Danke, dass du da warst. Du weißt nicht, was mir das bedeutet.“

„Doch, Rebellin“, sagt Ed, „ich weiß es, weil ich dich kenne wie das Meer zwischen Herm und Sark. Du bist noch immer die Alte, da drunter.“ Er zupft am Tüll ihres bauschigen Rockes und drückt nochmal ihre Hand, bevor er mir das Zeichen gibt, zu gehen. Claire wartet bereits vor der Rezeptionstür auf uns. Sie führt uns durch den Gang, in dem auch ihr Büro liegen muss und wir fahren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage.

Ihr Auto ist klein. Sie reicht mir widerwillig die Schlüssel und setzt sich auf die Rückbank. Ed hat Mühe, sich bequem auf dem Beifahrersitz niederzulassen. Ich starte den Motor und verlasse die Garage. Draußen dämmert es und ich erinnere mich wieder an die Ruhe, die immer über der Insel lag, kurz bevor die Sonne unterging. Das war immer unsere Zeit gewesen.

Im Rückspiegel sehe ich Claire. Sie sieht aus dem Fenster. Mein Herz legt einen Zahn zu, als ich ihr zusehe, wie sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. Mein Mädchen.

Wir fahren am College vorbei. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Auch Claire ist nicht davor gefeit, von den Erinnerungen übermannt zu werden. Sie rutscht unruhig auf der Rückbank herum und kaut auf ihrer Lippe. Ich weiß, dass in unseren Köpfen gerade die gleichen Bilder ablaufen.

Kapitel 3

Claire – 10 Jahre zuvor

Ausgerechnet heute wirkt unser Zwillingsbonus nicht. Im Normalfall wäre ich jetzt auch zu Hause und würde mir die Seele aus dem Leib kotzen. Wir stehen alles gemeinsam durch, auch die unangenehmen Dinge. Ich frage mich allerdings, was im Moment schlimmer für mich wäre: die Kloschüssel zu umarmen oder allein das Klassenzimmer unserer neuen Schule zu betreten.

Ich bin mit dem Bus gekommen, weil Mum bei Maya bleiben muss und Dad ein Bewerbungsgespräch am anderen Ende der Insel hat. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als in dieser scheußlichen Schuluniform den ersten Tag allein anzutreten. Ich war bereits in der Direktion und habe mir meinen Lehrplan abgeholt. Jetzt bin ich auf dem Weg in meinen ersten Kurs am Guernsey College und das ist ausgerechnet Mathe. Ich hasse Mathe! Da ich mich nicht entscheiden konnte, habe ich meine Kurse breitgefächert ausgewählt und damit auch meinem Vater einen Gefallen getan. Er hält mir regelmäßig Vorträge darüber, dass ich „endlich Verantwortung übernehmen muss“ und „mein Leben in die Hand nehmen soll“.

Im Gegensatz zu Maya, die genau weiß, was sie will, habe ich gar keinen Plan, was ich nach den nächsten zwei Jahren mit meinem Leben anfangen will. Maya will Tierärztin werden, deshalb belegt sie Latein und einige naturwissenschaftliche Fächer. Ich mag Sprachen und habe mich für Englisch und Französisch eingeschrieben. Wieder eine Premiere: Wir werden zwar im selben Gebäude sein, aber nicht im selben Raum.

Auf den Gängen herrscht gähnende Leere. Obwohl es noch nicht mal geklingelt hat, sind alle bereits in ihren Schulsälen. Was für ein komischer Ort. Nicht nur die Schule, sondern diese ganze verdammte Insel.

Ich lehne mich gegen einen Spind und atme tief durch. In den letzten zwei Monaten hat sich unser Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Dad hat seinen Job in einer Londoner Bank verloren und Mum bildete sich plötzlich ein, dass das alles Schicksal ist. Ihr Esoteriktrip ist kaum auszuhalten und dann kommt auch noch die Nachricht vom Tod ihres Bruders Raymond. Er besaß einen kleinen Hof auf Guernsey, mit zwei Bed & Breakfast-Zimmern und hat ihn ausgerechnet meiner Mutter überlassen. Wir konnten die Miete für die Stadtwohnung in London kaum mehr bezahlen und so wurde über Mayas und meinen Kopf hinweg entschieden, dass wir ab jetzt Insulaner werden. Von der Großstadt auf die Insel. Wunderbar.

Zwei Jahre Schule liegen noch vor uns und hier auf dieser Insel, die mir vorkommt wie eine Festung, von der man nicht flüchten kann, gibt es keine große Auswahl. Das Guernsey College ist die einzige Möglichkeit wenigstens einen Abschluss zu machen. Und ohne die A-Levels in der Tasche würde ich nie von hier wegkommen.

Eine der Flügeltüren am Ende des Ganges öffnet sich. Als er mich ansieht, wünsche ich mir, mein Faltenrock würde nicht knapp unter meinen Knien aufhören, sondern bis auf den Boden reichen. Er scheint überrascht, mich hier zu sehen. Wahrscheinlich rechnet man hier nicht mehr mit Schülern auf dem Gang, zwei Minuten bevor es klingelt.

Er fixiert mich mit seinem Blick und ich habe das Gefühl, nur in Zeitlupe wahrzunehmen, wie er näher kommt. Wie eine Raubkatze, die sich an die Beute heranschleicht. Jetzt grinst er. Was auch immer er da tut, es bringt mich vollkommen aus dem Konzept. Beruhige dich, Claire! Er sieht dich nur an, sonst gibt’s hier auf diesem kargen Gang auch nichts zu sehen. Auf seinen Wangen bilden sich Grübchen und bevor er mich erreicht, streicht er sich sein blondes Haar aus der Stirn. Er ist groß, denn als er bei mir ankommt, muss ich meinen Kopf heben, um ihn ansehen zu können.

„Hast du dich verlaufen?“, fragt er und lehnt sich neben mir an den Spind. Ich schüttle den Kopf. Einige Sekunden sagt er nichts. Er zieht seine Augenbrauen zusammen und sieht mich fragend an: „Du verstehst mich doch, oder? Bist du eine der Austauschschülerinnen?“ Wieder schüttle ich den Kopf. Verdammt, ich scheine vergessen zu haben, wie man spricht!

Er kratzt sich am Kinn. „Hm, da du nicht mit mir redest muss ich annehmen, dass es an mir liegt. Vielleicht sollte ich mich vorstellen – ich bin Vincent.“ Er streckt mir die Hand hin. Einen kurzen Moment starre ich darauf, dann ergreife ich sie schnell.

„Claire“, sage ich leise und sehe ihm jetzt in die Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie das Meer, wenn es frühmorgens still daliegt und aussieht, als könnte man darüber laufen. Eine Mischung aus grau und blau. Ich glaube, jetzt bin ich es, die den Blick nicht abwenden kann. Er hält immer noch meine Hand, oder ich seine. Wie auch immer. Es fühlt sich gut an. Die Luft zwischen uns scheint zu brennen. Was würde ich dafür geben, zu wissen, was er jetzt denkt.

„Sag mir, dass du in meinen Kurs musst, Claire, denn ich glaube, es würde mich umbringen, wenn ich dich nicht weiter ansehen könnte.“ Ok, jetzt weiß ich es. Ich glaube, ich stehe kurz vor einem Herzinfarkt. Oder einem Schlaganfall. Ich habe Angst, er hört meinen Herzschlag von den Wänden des Ganges widerhallen. Jetzt klingelt es, aber Vincent unterbricht den Blickkontakt nicht. Er lässt auch meine Hand nicht los.

Eine Tür öffnet sich.

„Mr. Dumont, haben sie die Glocke nicht gehört?“ Ich weiß nicht, wie die Person aussieht, die das gesagt hat, denn alles was ich sehe, ist er.

„Mr. Dumont“, wiederholt der Mann, der wohl sein Professor sein muss, nun etwas lauter. „Es ist Zeit.“ Vince lächelt. Über das ganze Gesicht. Ich sage nichts, aber ich lächle auch.

Es ist, als hätte er mich gerade aufgeweckt. Als hätte ich mein ganzes Leben lang geschlafen und würde erst jetzt merken, wer ich eigentlich bin. Schritte nähern sich, bis sich neben uns jemand räuspert.

„Wie ich sehe, haben Sie Ms. Adams schon kennengelernt.“ Als er meinen Namen nennt, lasse ich Vince' Hand los und wende mich dem Lehrer zu. Ich weiß, dass meine Wangen sich rot gefärbt haben.

„Es tut mir leid“, stammle ich, „ich habe Ihren Saal nicht gefunden.“ Er nimmt mir meinen Plan aus der Hand.

„Nun, Sie stehen genau davor. Bitte folgen Sie mir. Sie auch, Mr. Dumont.“ Der Professor dreht sich um und verschwindet in der Klasse. Ich folge ihm. Bevor ich durch die Tür treten kann, nimmt Vincent nochmal meine Hand.

„Wie erfreulich, dass ich heute nicht sterben muss.“ Er zwinkert mir zu, lässt meine Hand los und geht an mir vorbei.

Sein Blick brennt sich in meinen Rücken, die gesamte Stunde lang. Es ist beinahe unmöglich mitzubekommen, was vor mir an der Tafel passiert, wenn ich mich krampfhaft dazu überwinden muss, mich nicht umzudrehen. Neben mir sitzt ein Mädchen, das sich nicht vorgestellt hat. Sie kritzelt auf ihrem Block herum und hat nicht mal aufgesehen, als ich mich neben sie gesetzt habe. Wir tragen dieselbe Schuluniform, doch sonst haben wir keinerlei Ähnlichkeiten. Ich werfe ihr einen Seitenblick zu, den sie einfach ignoriert. Ihre Augen sind dunkel umrandet und sie schlägt ihre dicht getuschten Wimpern nieder. Ihre Lippen sind blutrot geschminkt und ihr schwarzes Haar ist durchzogen von roten Strähnen, die sich mit dem Lippenstift beißen. Ihre Nägel sind schwarz lackiert und sie hat die Farbe von den Spitzen geknabbert. Ihre gesenkten Schultern und ihr angespannter Gesichtsausdruck geben mir klar zu verstehen, dass ich sie nicht ansprechen soll. Es war wohl kein Zufall, dass der Platz neben ihr noch frei war.

Niemand im Raum beachtet mich, alle schreiben fleißig mit. Niemand tuschelt oder tratscht. Keiner kaut Kaugummi. Hier funktionieren alle. Außer ihr, neben mir. Ich frage mich, ob Vincent einer von ihnen ist.

Ich kann nicht widerstehen und drehe mich um. Es ist ihm in keiner Weise unangenehm, dass ich ihn dabei erwische, wie er mich immer noch anstarrt, als wäre ich eine Außerirdische. Naja, so komme ich mir auch vor, zwischen all den Marionetten hier. Der Lehrer steht der Tafel zugewandt da und ich erlaube mir, ihn noch ein paar Sekunden zu mustern. Seine Grübchen sind sofort wieder da, als er seine Mundwinkel anhebt und lächelt.

Vincent. Ich denke seinen Namen und überlege mir, wie er wohl aus meinem Mund klingt. Wie es wäre, ihn zu flüstern oder über die Klippen der Insel zu schreien. Ich weiß nicht, woher diese Gedanken kommen, doch als ich ihn so ansehe, ist es, als würde ich einen Teil meiner Zukunft sehen. Es fühlt sich nicht nach träumen an, sondern eher nach einem Plan, der unausweichlich für uns festgelegt zu sein scheint.

Es klingelt. Meine Mitschüler scheinen aus ihrer konzentrierten Starre zu erwachen und räumen ihre Bänke. Einer nach dem anderen kommt auf mich zu und stellt sich vor. Sie sind alle so höflich. Und nett. Ich könnte kotzen.

Meine Kieferpartie tut mir weh von meinem angestrengten Lächeln und ich mache mir gar nicht erst die Mühe, mir alle Namen zu merken. Es kommt mir nicht vor, als hätte irgendjemand hier ernsthaftes Interesse an mir. Das ganze Händeschütteln und höfliche Lächeln dient lediglich dem Zweck, die hier herrschenden Werte hochzuhalten. Höflichkeit, Disziplin, Langeweile. Der Raum leert sich und ich packe meine Tasche.

„Hey Eloise, ich glaube, du hast vergessen dich vorzustellen.“ Vince hat sich seine Tasche umgehängt und tippt meiner Sitznachbarin auf die Schulter. Ich zucke kurz zusammen, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sie es mag, dass man so mit ihr spricht. Fast erwarte ich, dass sie aufspringt und ihm eine scheuert. Ich glaube, sie mag keine Menschen. Schon gar nicht diese Roboter hier.

Das Mädchen lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und grinst. Diese Reaktion hätte ich nicht erwartet.

„Fick dich, Vince. Ich wette, du warst der Erste, der sich vorgestellt hat.“ Die Wortwahl passt zu ihr. Sie steht auf und schultert ihren Rucksack. Dann sieht sie mich an und legt den Kopf schief.

Anstatt sich vorzustellen, wendet sie sich wieder an Vincent: „Ich glaube, bei ihr ist es noch nicht zu spät, die Gehirnwäsche hat noch nicht begonnen. Ich sehe noch viel eigenen Willen in ihr, vielleicht auch ein Fünkchen Meinungsfreiheit. Bei der Vorstellungsrunde hat sie sich zumindest wacker geschlagen.“ Vincent nickt zustimmend und Eloise hält ihre Hand zum High-Five hoch. Vincent schlägt ein.

„Ich bin Eloise“, sagt sie, ohne mir die Hand zu geben, „und wenn du nicht eine von denen werden willst, hältst du dich besser an uns.“

Kapitel 4

Vincent

Es ist fast unheimlich, so still ist es im Wagen. Es scheint, als würden wir uns lieber in der Stille verlieren wollen, als durch unbedachte Worte den Augenblick zu zerstören. Wir waren schon lange nicht mehr zusammen. Nicht nur Claire, Ed und ich, sondern auch Jackson und Eloise. Jener Tag im September hat uns getrennt und nie wieder zusammengebracht, obwohl wir damals meinten, unsere Freundschaft würde das überstehen können. Wir alle glaubten daran – außer Claire. Von diesem Tag an glaubte sie an nichts mehr.

Wir erreichen Eds Haus und ich schüttle den alten Mann kurz, als wir in der Einfahrt stehen. Es gibt kein Tor, nur eine kleine Steinmauer, die das Gebäude von der Straße trennt. Der Hafen ist nur wenige Gehminuten entfernt, das Meer beginnt beinahe vor der Haustür. Ed öffnet seine schweren Lider und räuspert sich, als er merkt, dass wir zum Stehen gekommen sind.

„Tut mir leid, Kinder. Mir sind wohl die Augen zugefallen.“ Er löst den Sicherheitsgurt und öffnet die Tür. Ich steige aus und auch Claire verlässt den Wagen in der Absicht, Ed zu helfen. Stur stellt sie sich zwischen ihn und mich und streckt ihm die Hand entgegen. Ed lacht.

„Ich weiß ja, dass ich alt bin, aber ihr zwei gebt einem das Gefühl, schon mit einem Bein im Grab zu stehen. Geht zur Seite.“ Er stöhnt, als er sich auf seinem Stock abstützt und aufsteht. Als er es endlich schafft, sich ganz aufzurichten, sucht er nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Noch bevor Ed ihn in seiner zitternden Hand hält, ist Claire dabei, die Tür mit dem Ersatzschlüssel aufzuschließen. Das Versteck, unter einem Stein auf der Mauer, ist seit jeher dasselbe. Ich begleite Ed zur Tür, wo Claire bereits wartet.

„Brauchst du noch etwas, Seemann?“, fragt sie. Ed bleibt auf der Fußmatte stehen und sieht von Claire zu mir und wieder zurück. Der Wind frischt auf und lässt Claires lose Haarsträhnen in der Brise tanzen. Sie schlingt die Arme um ihren Oberkörper und sieht unseren alten Freund abwartend an. Ed schluckt hörbar, bevor er spricht und seine Stimme ist so leise, dass seine Worte beinahe vom Wind davongetragen werden.