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In "G. K. Chesterton: Krimis, Aufsätze, Romane und mehr" entfaltet der vielseitige Schriftsteller und Denker G. K. Chesterton seine außergewöhnliche Fähigkeit, tiefgründige Themen mit lebendigem Witz und unerwarteter Ironie zu beleuchten. Dieses Werk versammelt eine Vielzahl von Kriminalgeschichten, Essays und Romanen, die nicht nur die Menschen vor dem Hintergrund ihrer Zeit reflektieren, sondern auch universelle Fragen zu Moral, Glauben und dem menschlichen Zustand aufwerfen. Der literarische Stil Chestertons, geprägt von kunstvoller Sprache und einer Vorliebe für paradoxale Aussagen, läßt den Leser sowohl zum Schmunzeln als auch zum Nachdenken anregen und spricht damit eine breite Leserschaft an. G. K. Chesterton, geboren 1874 in London, gilt als einer der bedeutendsten englischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein gewitzter Intellekt und seine tiefgründige Religiosität prägten seine Schriften, die oftmals als Reaktion auf die gesellschaftlichen und philosophischen Umwälzungen seiner Zeit verstanden werden können. Chesterton war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Journalist, Philosoph und Theologe, was seinen einzigartigen Blickwinkel auf kulturelle und soziale Themen erklärt. Dieses Buch ist für jeden Leser eine Bereicherung, der an anspruchsvoller und zugleich unterhaltsamer Literatur interessiert ist. Chestertons Meisterwerke bieten nicht nur spannende Kriminalfälle, sondern auch tiefgreifende Einsichten in die menschliche Natur und den Glauben. Es ist eine Einladung, seine Gedankenwelt zu erkunden und in eine epische literarische Tradition einzutauchen, die sowohl zeitlos als auch aktuell ist. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Die Autorenbiografie hebt persönliche Meilensteine und literarische Einflüsse hervor, die das gesamte Schaffen prägen. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Diese Sammlung ist als sorgfältig kuratierte Auswahl angelegt, nicht als vollständiges Gesamtwerk. Sie vereint zentrale Romane, eine breite Suite kriminalistischer Erzählungen sowie markante Essays von G. K. Chesterton. Ziel ist es, die Spannweite eines Autors sichtbar zu machen, der gleichermaßen als Romancier, Essayist und Schöpfer eines prägenden Detektivfigurenmythos gilt. Die hier versammelten Stücke stehen stellvertretend für wesentliche Linien seines Schaffens und bieten eine tragfähige Einführung wie auch eine vertiefende Lektüre. Anstelle eines enzyklopädischen Umfangs setzt die Sammlung auf exemplarische Dichte: auf Texte, die seine charakteristische Stimme und seine beständige Fragestellung nach Wahrheit und Wirklichkeit bündeln.
Im Zentrum steht ein Autor des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Werk fortwährend gelesen und diskutiert wird. In deutscher Übersetzung erscheinen seine Romane, Erzählungen und Essays in einer Konstellation, die thematische Brücken sichtbar macht. Der Band führt den Leser von philosophisch aufgeladenen Fiktionen über klassische Kriminalfälle bis hin zu polemisch-ironischen Verteidigungen scheinbar nebensächlicher Dinge. So entsteht ein Panorama, das die oft getrennten Lektürepfade zusammenführt. Wer Chesterton neu entdeckt, erhält eine verlässliche Orientierung; Kenner sehen vertraute Texte im Echo anderer Gattungen neu aufleuchten. Die Sammlung zielt auf Durchblick: auf Zusammenhänge zwischen Form, Idee und erzählerischer Energie.
Die Romane Der Mann, der Donnerstag war und Menschenskind markieren zwei komplementäre Pole. Ersterer erscheint als metaphysischer Thriller, der die Oberflächen eines Verfolgungs- und Maskenspiels nutzt, um tiefere Fragen nach Ordnung, Anarchie und Identität auszuleuchten. Letzterer ist ein heiteres, zugleich ernsthaftes Buch über Freude, Freiheit und die Wiederentdeckung des Alltäglichen, dessen komische Gesten eine moralisch-philosophische Pointe tragen. In beiden Fällen stehen nicht Rätselmechanik oder Milieuskizze im Vordergrund, sondern die Erfahrung des Staunens: das Gefühl, dass die Welt – trotz Gewöhnung – neu und überraschend sein kann, sobald man sie mit offener Aufmerksamkeit betrachtet.
Den weiten Bogen der Kriminalliteratur spannen die Erzählungen um Pater Brown, einen katholischen Priester und unvergesslichen Ermittler. Hier finden sich klassische Fälle, die von täuschend einfachen Prämissen zu verblüffenden Einsichten führen. Vom „blauen Kreuz“ über den „geheimen Garten“ bis zum „Hammer Gottes“ variiert Chesterton die Formen des Rätsels, spielt mit Perspektiven und unterläuft Erwartungen. Charakteristisch ist die Verlagerung der Detektion vom äußeren Spurenlesen zur inneren Einsicht in Motive, Laster und Tugenden. Der Fall entschlüsselt sich, weil die menschliche Seele ernst genommen wird – nicht trotz, sondern wegen der erzählerischen Leichtigkeit.
Die Essays unter dem Titel Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge zeigen den polemischen, zugleich spielerischen Denker. In pointierten Verteidigungen erhebt Chesterton scheinbar Nebensächliches zu Prüfsteinen einer gesunden Kultur: Humor, Demut und populäre Literatur werden als Quellen geistiger Frische begriffen. Nicht Moralisieren, sondern Paradox und Perspektivwechsel strukturieren diese Texte. Sie liefern den kritischen Hintergrund, vor dem seine Fiktionen gelesen werden können: eine Poetik des gesunden Menschenverstands, der das Wunderbare nicht verdrängt, sondern freilegt – im Blick auf Menschen, Geschichten und alltägliche Freuden.
Innerhalb der Krimis entfaltet die Sammlung eine bemerkenswerte stilistische Bandbreite. Manche Erzählungen lehnen sich eng an das klassische Rätsel an, andere berühren das Groteske, wieder andere streifen das Wunderbare, ohne das Realistische preiszugeben. Symbole und Alltagsgegenstände – ein Kreuz, ein zerbrochenes Schwert, Schritte im Korridor – fungieren als Brennpunkte für Täuschung und Erkenntnis. Entscheidend ist, dass Täuschungen meist einfach sind, weil sie den blinden Fleck der Gewohnheit ausnutzen. Pater Browns Methode, aus charakterlichen Regungen auf Taten zu schließen, verbindet Psychologie mit Moral und verleiht selbst den kürzesten Geschichten eine ethische Tiefenschärfe.
Über alle Gattungen hinweg sind Paradox und Staunen die verbindenden Kräfte. Chesterton bevorzugt die überraschende Umkehrung: Das vermeintlich Große erweist sich als klein, das Gewöhnliche als wundersam. Diese Haltung ist nicht bloßer Stiltrick, sondern eine erkenntnistheoretische Geste. Wer die Welt ernst nimmt, entdeckt Rätsel im Trivialen und Klarheit im Rätselhaften. Der metaphysische Nerv des Werks liegt darin, dass Wahrheit nicht nur logisch, sondern leibhaftig und erzählerisch aufscheint. Darum stehen Humor und Ernst einander nicht entgegen: Der Witz entkrampft, damit das Wesentliche, oft in einfacher Form, überhaupt sichtbar werden kann.
Die sprachliche Signatur ist knapp, bildkräftig und aphoristisch. Pointen entstehen aus sauber geführten Kontrasten; Metaphern bringen Abstraktes auf die Straße des Konkreten. Figuren reden in knappen Strichen, Milieus entstehen durch ein präzises Detail statt durch Häufung. Unter der Oberfläche einer konzisen Prosa liegt eine durchdachte Komposition: Hinweise werden früh platziert, Motive kehren in variierter Gestalt wieder. Humor dient selten der Distanzierung, häufiger der Öffnung von Wahrnehmung. So hält der Stil die Balance zwischen Heiterkeit und Gravität, zwischen Tempo und Bedacht – eine Balance, die auch komplexe Themen zugänglich und erinnerbar macht.
Als Gesamtheit sind diese Texte bedeutsam, weil sie ein Denken in Geschichten zeigen. Die Romane erproben existentielle Fragen in spielerischen, dabei stringenten Fiktionen. Die Krimis erziehen zum genauen Hinsehen: Wer das Offenkundige neu betrachtet, entdeckt die Lösung. Die Essays formulieren die Prinzipien dieses Sehens: eine heitere Ernsthaftigkeit, die gerade das Populäre ernst nimmt. Zusammen bilden sie eine Poetik der Aufrichtigkeit, die weder Zynismus noch Naivität benötigt. Der Leser begegnet keiner Doktrin, sondern einer Haltung: der Bereitschaft, die Wirklichkeit als reich, real und überraschend zu akzeptieren – und entsprechend zu erzählen.
Die Anordnung lädt zum Querverkehr ein. Wer von den Romanen kommt, wird in den Erzählungen die gleichen Fragen nach Identität, Freiheit und Verantwortung in kondensierter Form entdecken. Wer in den Krimis heimisch ist, findet in den Essays die begriffliche Klärung des intuitiv Vertrauten. Selbst die Grundkonstellationen – eine Verfolgung, ein Maskenspiel, ein scheinbar unmöglicher Fall – dienen nicht bloßem Nervenkitzel, sondern dem Aufschließen von Sinn. So erweist sich die Sammlung als Werkstatt des Denkens und der Imagination, in der Form und Inhalt einander wechselseitig beleuchten und beflügeln.
Kontextuell wurzeln viele Erzählungen in einer Zeit, die vom Aufkommen moderner Medien, urbaner Räume und neuer Unsicherheiten geprägt ist. Nicht zufällig erschienen zahlreiche Stücke zunächst in Zeitschriften: Die präzise Kurzform passt zu einer Öffentlichkeit, die Tempo sucht, ohne Tiefe preiszugeben. Gleichzeitig behaupten die Texte ein widerständiges Vertrauen in Vernunft, Moral und Freiheit. Diese Grundhaltung erklärt, warum sie über ihre Epoche hinaus wirken. Die Fragen, die sie stellen – Was ist wirklich? Wofür lohnt es, Verantwortung zu tragen? – sind nicht modisch, sondern dauerhaft. Das erklärt ihre Präsenz in kontinuierlichen Neuauflagen und Übersetzungen.
Diese Sammlung möchte Lektüre ermöglichen, die Vergnügen und Einsicht verbindet. Sie versammelt Romane, Krimis und Essays, weil sie zusammengehören: Der eine Bereich erklärt, was der andere erzählt. Wer hier liest, begegnet einer großzügigen Einbildungskraft, die das Kleine ernst nimmt und das Große mit Humor betrachtet. Man findet keinen Zwang zur Botschaft, sondern eine Einladung zur Aufmerksamkeit. In diesem Sinn ist der Band zugleich Einführung und Re-Lektüreanstoß: eine verlässliche Karte durch eine Landschaft, die bei jeder Umkehrung und jedem neuen Blickpunkt reicher wirkt – ein anhaltendes Gespräch über Wahrheit, Freiheit und Freude.
G. K. Chesterton (1874–1936) war ein englischer Schriftsteller, Essayist, Romancier, Kritiker und Dichter, dessen Werk die englischsprachige Literatur vom späten Viktorianismus bis in die Zwischenkriegszeit prägte. Bekannt für geistreiche Paradoxien und eine entschieden bildhafte Prosa, verband er Humor mit philosophischer Ernsthaftigkeit. Sein Name ist eng mit den Erzählungen über den Geistlichen und Detektiv Father Brown sowie mit apologetischen und kulturkritischen Essays verbunden. In öffentlichen Debatten und kontroversen Feuilletons verteidigte er Tradition, Glauben und „gesunden Menschenverstand“ gegen modische Ideologien. Zugleich blieb er ein vielseitiger Literaturkenner, dessen Kritik und Biografik große Autorinnen und Autoren neu lasbar machte.
Aufgewachsen in London, erhielt Chesterton seine Schulbildung an der St Paul’s School und wandte sich zunächst der Kunst zu. Er besuchte die Slade School of Fine Art und belegte Kurse am University College London; ein formaler Abschluss trat hinter praktischer Arbeit zurück. Früh zeichnete und illustrierte er, bevor er zur Literatur und zum Journalismus wechselte. Seine ersten Gedichte erschienen um die Jahrhundertwende, darunter der Band The Wild Knight and Other Poems. Öffentliche Einflüsse, auf die er sich wiederholt berief, reichten von Charles Dickens und Robert Browning bis zu Robert Louis Stevenson sowie zur mittelalterlichen Scholastik, deren Bildwelt und Argumentationskunst ihn dauerhaft prägten.
Seit den frühen 1900er-Jahren schrieb Chesterton regelmäßig für die Londoner Presse, mit langjährigen Kolumnen unter anderem im Daily News und in der Illustrated London News. Aus seinen journalistischen Kontroversen gingen Essaybände hervor, etwa Heretics und Orthodoxy, die seine Vorliebe für paradoxe Zuspitzung, Alltagsbeispiele und begriffliche Präzision zeigen. In What’s Wrong with the World entwickelte er eine Kritik an zeitgenössischen sozialen und pädagogischen Trends. Charakteristisch ist seine Verteidigung von Tradition als „demokratischer“ Abstimmung der Toten und Lebenden, verbunden mit einem Stil, der Anekdote, Aphorismus und analytische Pointe verbindet. Diese publizistische Präsenz machte ihn zu einer landesweit beachteten Stimme.
Parallel dazu entstand eine Reihe von Romanen, die spielerisch Genregrenzen überschreiten. The Napoleon of Notting Hill entwirft eine phantastische Stadtsatire, in der Loyalität und Lokalpatriotismus poetische Energie gewinnen. The Man Who Was Thursday verbindet metaphysische Rätsel mit Elementen der Spionage- und Verfolgungsgeschichte, während The Ball and the Cross religiöse und ideologische Gegensätze dramatisch zuspitzt. Diese Prosawerke arbeiten mit Maskerade, Identitätstausch und dem Thema moralischer Verantwortung, ohne auf didaktische Eindeutigkeit zu zielen. Wiederkehrend ist der Versuch, die alltägliche Welt als Ort des Staunens zu zeigen, in dem Logik und Imagination einander nicht ausschließen, sondern gegenseitig erhellen.
Besonders einflussreich wurden die Erzählungen um Father Brown, die ab den 1910er-Jahren in mehreren Sammlungen erschienen, darunter The Innocence of Father Brown und The Wisdom of Father Brown. Der ungewöhnliche Detektiv stützt sich weniger auf Spurenkunde als auf seelische Einsicht und moralische Erfahrung. So verbindet die Reihe Kriminalhandlung mit Reflexion über Schuld, Freiheit und Gnade, ohne theologische Vorträge zu halten. Die stilistische Ökonomie, pointierte Bildlichkeit und das Gespür für überraschende Wendungen prägten das Genre nachhaltig. Viele spätere Krimiautorinnen und -autoren nahmen Anregungen aus dieser Verbindung von rationaler Aufklärung und psychologischer Deutung auf.
Chesterton engagierte sich in gesellschaftlichen Debatten, häufig im Streitgespräch mit Zeitgenossen wie George Bernard Shaw oder H. G. Wells. Gemeinsam mit Verbündeten propagierte er Distributismus, ein Wirtschafts- und Sozialmodell, das breite Eigentumsstreuung und lokale Verantwortung betont; dazu veröffentlichte er programmatische Texte wie The Outline of Sanity. In Eugenics and Other Evils kritisierte er eugenische Politik. 1922 konvertierte er zur römisch-katholischen Kirche, was seine apologetischen Schriften vertiefte, darunter The Everlasting Man. Seine Biografien St. Francis of Assisi und St. Thomas Aquinas verbinden Verehrung mit literarischer Charakteristik und trugen dazu bei, religiöse Figuren einem allgemeinen Lesepublikum mit erzählerischer Klarheit nahezubringen.
In den späten Jahren blieb Chesterton als Kolumnist, Vortragsredner und Herausgeber – etwa der Wochenschrift G. K.’s Weekly – präsent. Er reiste, veröffentlichte weiter Prosa, Lyrik und Kritik und hielt an seiner Mischung aus Heiterkeit und Intellektualität fest. 1936 endete sein produktives Leben; seine Wirkung hält an. Father-Brown-Erzählungen werden fortlaufend neu aufgelegt und adaptiert, und seine Essays finden in philosophischen, theologischen und literaturwissenschaftlichen Debatten Resonanz. Als Meister der Paradoxie und der anschaulichen Argumentation bleibt er zugleich Anreger und Streitfigur. Sein Vermächtnis besteht in der Beharrlichkeit, mit der er Wirklichkeit durch Sprache sichtbar und diskutierbar machte.
Gilbert Keith Chesterton (1874–1936), in London geboren und in Beaconsfield gestorben, schrieb zwischen der spätviktorianischen Epoche und der Zwischenkriegszeit. Die hier versammelten Kriminalerzählungen, Essays und Romane spiegeln diesen langen Übergang von 1901 bis in die 1930er Jahre. Der Roman von 1908 und der heiter-anarchische Roman von 1912 markieren seine mittlere Schaffensphase; die frühen Essays stammen aus dem Jahr 1901, während zahlreiche Erzählungen seines Priesterdetektivs in Sammlungen von 1911, 1914, 1926, 1927 und 1935 erschienen. Diese Spannweite verbindet Vor- und Nachkriegsstimmung, technische Beschleunigung und religiös-intellektuelle Debatten zu einem einheitlichen kulturellen Panorama.
Die Jahre um 1900 und die edwardianische Ära (Edward VII., 1901–1910) brachten eine Mischung aus Selbstgewissheit und Nervosität. London expandierte, Großmachtpolitik und Attentatsangst prägten die Presse. Aufsehenerregende Ereignisse wie der Tottenham Outrage (1909) und die Belagerung in der Sidney Street (1911) illustrierten die Furcht vor Verschwörungen und internationalem Terror. Solche Diskurse bildeten den Hintergrund für satirische Verschwörungsphantasien und für frühe Detektivgeschichten, in denen das urbane Milieu kosmopolitisch und gefährlich wirkt. Die Kriminalerzählung als populäre Form reagierte unmittelbar auf diese Atmosphäre, indem sie Ordnung, Vernunft und moralische Entscheidung gegen Chaos ins Spiel brachte.
Chestertons Werk ist ohne den Markt der Zeitschriften nicht denkbar. Er schrieb ab 1905 wöchentliche Kolumnen für die Illustrated London News und arbeitete zuvor für The Daily News. Frühe Detektivgeschichten erschienen 1910–1911 in britischen und amerikanischen Periodika wie The Story-Teller und The Saturday Evening Post, bevor sie 1911 in einer ersten Sammlung gebündelt wurden. Der Roman von 1908 wurde bei J. M. Dent verlegt; spätere Bände folgten bei unterschiedlichen Häusern. Der transatlantische Abdruck beschleunigte seine Bekanntheit und bestimmte Tonfall, Länge und Bauprinzip seiner Erzählungen, die oft auf pointierte Publikationsformate zugeschnitten sind.
Die Gattungsgeschichte des Detektivromans liefert eine zentrale Matrix. Nach Arthur Conan Doyle (Sherlock Holmes, seit 1887) professionalisierte die sogenannte Goldene Ära der 1920er Jahre das Rätselspiel. Regeln von S. S. Van Dine (1928) und Ronald Knox’ Decalogue (1929) versuchten, Fairness und Logik zu kodifizieren. Chesterton wirkte nicht nur als Innovator paradoxaler Auflösungen, sondern 1930 auch als Gründungspräsident des Detection Club, dessen Mitglieder Dorothy L. Sayers, Agatha Christie und andere waren. Diese institutionelle Verdichtung spiegelt sich in seinen Sammlungen von 1926, 1927 und 1935, die das Verhältnis von Intuition, Moral und Beweisführung weiter verfeinern.
Parallel professionalisierte sich die Kriminalistik. 1901 führte Sir Edward Henry im Scotland Yard ein modernes Fingerabdrucksystem ein; die Telegraphie, das Telefon und elektrische Beleuchtung veränderten Ermittlung und Alibi. Medienwirksame Fälle wie der Mordfall Dr. Crippen (1910) oder Spilsburys prominente Gerichtsmedizin in den 1910er und 1920er Jahren schufen ein Publikum, das an forensische Details gewöhnt war. Chestertons Texte reagieren darauf, indem sie wissenschaftliche Gewissheit oft gegen psychologische Einsicht und moralische Deutung kontrastieren. Damit positioniert er sich zugleich in einem kulturellen Feld, das zwischen naturwissenschaftlichem Vertrauen und Skepsis gegenüber Expertenautorität oszilliert.
Die religiös-intellektuelle Landschaft ist ebenso entscheidend. Nach John Henry Newman und den viktorianischen Konversionen blieb der Katholizismus in England Minderheit und Reizfigur. 1922 konvertierte Chesterton selbst zur römisch-katholischen Kirche, nach Jahren der Auseinandersetzung mit Skepsis und Säkularismus. Bereits 1905 (Heretics) und 1908 (Orthodoxy) hatte er gegen relativistische Zeitdiagnosen angeschrieben. Seine früh publizierten Essays von 1901 verteidigen Unsinn, Demut und populäre Genres. Der Priester als Detektiv, der Sünde, Irrtum und Gnade abwägt, erscheint vor diesem Hintergrund weniger als Exot denn als theologisch informierter Gegenentwurf zu kaltem Rationalismus und modischer Desillusionierung.
Die sozialen Spannungen der Industrienation prägten seine politische Imagination. Gegenüber liberalem Manchester-Kapitalismus und sozialistischer Zentralisierung favorisierte Chesterton, zusammen mit Hilaire Belloc, eine distributistische Alternative: Eigentum breit streuen, kleine Wirtschaftseinheiten stärken. 1926 entstand die Distributist League; seit 1925 trug G. K.’s Weekly die Debatten. Dieser Kontext erklärt seine Sympathie für Handwerker, Dorfgemeinschaften und persönliche Verantwortung und seine Skepsis gegenüber plutokratischen Magnaten und bürokratischer Hybris in Erzählungen der 1920er Jahre. Die wirtschaftlichen Krisen nach 1918, Inflationserfahrungen und Arbeitskämpfe verleihen den moralischen Fragen von Schuld und Gerechtigkeit zusätzliche gesellschaftliche Schärfe.
Der Erste Weltkrieg (1914–1918) markiert einen Bruch. Eine Sammlung von 1914 steht an der Schwelle zur Katastrophe; spätere Bände tragen die Last des Verlusts. Der Armistice von 1918, die Spanische Grippe und der Aufbau einer Gedenkkultur schufen ein Klima der Trauer und der Entlarvung heroischer Legenden. Geschichten über militärische Mythen, Opfer und Verrat lesen sich im Licht des öffentlichen Ringens um Heldendenkmäler und Kriegsberichte. Die Interwar-Jahre mit wirtschaftlicher Unsicherheit und politischem Extremismus bildeten den Resonanzraum, in dem Schuld, Sühne und die fragile Zivilität des Rechts besonders ernst genommen werden mussten.
Die Imperienfrage und transnationale Mobilität erweitern den Horizont. Zwischen Home-Rule-Krise (1912–1914), Osteraufstand in Dublin (1916) und dem Anglo-Irischen Vertrag (1921) diskutierte Großbritannien seine innere Ordnung. Zugleich banden Kontinentreisen und Pilgerfahrten in katholische Länder den Autor an alteuropäische Schauplätze, während schottische und französische Provinzen atmosphärische Kontraste zum Londoner Getriebe boten. Solche Räume erlauben es, religiöse, rechtliche und kulturelle Standards einander gegenüberzustellen. In mehreren Sammlungen dienen Grenzerfahrungen – geographisch wie geistig – als Prüfsteine, an denen sich der universale Anspruch von Gerechtigkeit und persönlicher Umkehr bewähren muss.
Die USA sind ein wichtiger Bezugspunkt. Chesterton reiste 1921 und 1930–1931 als Vortragsredner durch amerikanische Städte; seine Erzählungen der 1920er Jahre integrieren nordamerikanische Schauplätze, Wirtschaftsgrößen und den Kult des Wolkenkratzers. Prohibition (1920–1933), der Aufstieg des Tycoons und die Medienmacht großer Zeitungen lieferten Stoff für Reflexionen über Reichtum, Sicherheit und Aberglauben. Der Abdruck in The Saturday Evening Post band ihn früh an ein transatlantisches Massenpublikum. So sprechen spätere Geschichten gleichermaßen britische Traditionen und amerikanische Modernität an, verhandeln Vertrauen in Technik und den alten Einwand, dass moralische Blindheit sich oft hinter Effizienz verbirgt.
Die künstlerische Moderne bildete einen Gegenhorizont. Während sich Bloomsbury, Ezra Pound und der Vortizismus ästhetisch radikalisierten und James Joyce neue Prosastandards setzte, profilierte sich Chesterton als Verteidiger klassischer Narrative, ironischer Paradoxien und volkstümlicher Klarheit. Seine Ausbildung an der Slade School of Fine Art (1893–1895) und seine Tätigkeit als Kunstkritiker schärften den Blick für visuelle Komposition, Täuschung und Bühnenmagie. Die Popularität von Illusionisten wie Harry Houdini in den 1900er und 1910er Jahren spiegelte ein generelles Interesse an Schein und Wirklichkeit, das in den Erzählungen als epistemologisches wie moralisches Motiv wiederkehrt.
Gesellschaftliche Rollen verschoben sich. Mit dem Representation of the People Act von 1918 und der Gleichstellung 1928 erhielten Frauen in Großbritannien vollumfänglich das Wahlrecht. Neue Bildungs- und Berufschancen veränderten die urbane Öffentlichkeit; Polizeiarbeit, Journalismus und Wohlfahrt wurden weiblicher sichtbar. Obwohl Chestertons Kriminalerzählungen selten programmatisch genderspezifisch argumentieren, gehören Repräsentationen weiblicher Klugheit, Frömmigkeit oder Verführung in diese historische Matrix. Die Spannung zwischen traditionellen Tugenden und modernen Selbstentwürfen, zwischen häuslicher Moral und gesellschaftlicher Bühne liefert dem Detektivgenre zugleich überraschende Täterprofile und Gründe dafür, warum Scheinmotive und tiefe Beweggründe auseinanderfallen.
Ein Massenpublikum entstand durch Bildungspolitik und Medien. Der Education Act von 1902, öffentliche Bibliotheken und günstige Reihen wie Everyman’s Library (J. M. Dent, ab 1906) verbreiterten den Leserkreis. Pendler auf Vorortlinien und Leserinnen populärer Magazine verlangten knappe, pointierte Formen. Chestertons Verteidigung des Schundromans und des populären Unsinns (1901) ist daher kulturpolitisch zu lesen: Sie legitimiert das Vergnügen am Rätsel, an moralisch zugänglichen Themen und an Überraschungen, ohne die literarische Ernsthaftigkeit zu opfern. Seine Erzählungen verbinden diese Lesbarkeit mit philosophischen Einsätzen, die sich an ein zunehmend breit gebildetes Publikum richten.
Die Topografie des frühen 20. Jahrhunderts liefert wiederkehrende Bühnen. Londons Clubs, Hotels und Restaurants, die City mit Banken und Versicherungen, neue U-Bahn-Linien (erste Strecken seit 1906) und Gartenstädte wie Hampstead Garden Suburb (ab 1907) schufen Räume des Übergangs. Hier treffen Klassenkodizes, Etikette und technische Modernität aufeinander. Der Detektiv nutzt diese Zwischenräume, um Maskeraden zu entlarven und soziale Ängste zu spiegeln. Auch das ländliche Pfarrhaus, der Marktplatz oder das Herrenhaus stehen nicht außerhalb der Moderne; sie werden zu Experimentierfeldern, in denen vererbte Autorität, Glaubenstraditionen und die wirtschaftliche Gegenwart kollidieren.
Um 1907 gewann die Eugenikbewegung institutionelle Kraft; die Eugenics Education Society und der Mental Deficiency Act von 1913 prägten Debatten über Normalität und Staatseingriffe. Chestertons Gegenschrift Eugenics and Other Evils (1922) gehört zum geistigen Umfeld seiner Erzählungen, in denen die Hybris des Experten, die Verdinglichung des Menschen und technizistische Kurzschlüsse kritisch erscheinen. Zugleich boomte der Spiritismus nach dem Krieg; die Society for Psychical Research untersuchte Phänomene, die viele faszinierten. Chestertons Detektiv entmystifiziert solche Reize regelmäßig und führt sie auf Täuschung oder Sünde zurück, ohne das Geheimnis des Glaubens zu trivialisieren.
Die internationale Rezeption ist Teil des historischen Kontexts. Bereits vor 1930 zirkulierten Übersetzungen auf dem Kontinent; in der Weimarer Republik erreichten Detektivgeschichten breite Leserschaften. Deutschsprachige Ausgaben machten Pater Brown als Figur früh vertraut. Die späte Sammlung von 1935 zeugt davon, dass die Form vital blieb, während Radioadaptionen und Bühnenfassungen die Stoffe breitenwirksam vermittelten. Der Umstand, dass die vorliegende Auswahl die Spannweite von Essays aus 1901 bis zu Erzählungen der 1920er und 1930er verbindet, reflektiert eine kontinuierliche Übersetzungsgeschichte und belegt die Stabilität von Themen, die nationale Grenzen überschreiten.
Chestertons Tod am 14. Juni 1936 in Beaconsfield markiert keinen Abschluss seiner Wirkung. Aus der Perspektive der Literaturgeschichte verbinden seine Werke die moralische Ernsthaftigkeit des viktorianischen Romans, den spielerischen Intellekt der edwardianischen Satire und die formale Strenge der Goldenen Ära des Krimis. Der Roman von 1908, der Roman von 1912, die Erzählungen von 1911, 1914, 1926, 1927 und 1935 und die Essays von 1901 stehen vor dem Hintergrund rasanter Urbanisierung, technischer Revolution, Kriegserfahrung und religiöser Kontroverse. In dieser Verdichtung gewinnen Gerechtigkeit, Freiheit und Gnade historische Kontur – und bleiben literarisch lebendig.
Ein Dichter-Polizist dringt in einen anarchistischen Geheimbund ein und wird in eine groteske Verfolgungsjagd verwickelt, in der Identitäten und Autorität stetig ins Rutschen geraten. Der Roman verbindet Thriller-Spannung mit einer metaphysischen Parabel über Ordnung, Freiheit und das Böse.
Der exzentrische Innocent Smith wirbelt eine Londoner Pension mit provozierenden Streichen auf, woraufhin ein improvisiertes Tribunal seine vermeintlichen Vergehen verhandelt. Hinter der Farce steht ein Plädoyer für Staunen, Ehetreue und die Wiederentdeckung des Alltäglichen.
Ein unscheinbarer Priester löst mit psychologischer Scharfsicht und moralischer Klarheit scheinbar übernatürliche oder unmögliche Verbrechen, von festlichen Diebstählen bis zu rätselhaften Morden. Die Geschichten kreisen um Schuld, Reue, trügerische Wahrnehmung und die Kluft zwischen Sensation und Wahrheit.
Die späteren Ermittlungen führen Father Brown zu Millionären, alten Adelssitzen und exotischen Schauplätzen, wo Flüche, Wunder und ‚unmögliche‘ Taten die Vernunft herausfordern. Durch nüchterne Beobachtung entlarvt er okkulte Fassaden als Ausdruck menschlicher Leidenschaften, Habgier und Täuschung.
Essayband, in dem Chesterton mit Paradox und Witz vernachlässigte Tugenden und populäre Formen verteidigt – vom spielerischen Unsinn über Demut bis zum ‚Schundroman‘. Gegen zeitgenössische Dünkel plädiert er für gesunden Menschenverstand, Tradition und die schöpferische Imagination.
Eine Nachtmahr
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Der Vorort Saffron Park, der lag da hinaus, wo über London die Sonne unterzugehen pflegt. Und schaute auch grad so rot und genau so zerschlissen aus wie eine Wolke bei Sonnenuntergang. Durchweg aus knallrotem Backstein erbaut; von einer ganz schrullenhaften Silhouette und gleicherweise von einem überaus ungebärdigen Grundriß. Die Emanation eines spekulativen Baumeisters; eine dilettantische Vorspiegelung von Kunst; in einem Stil, der sich am liebsten – bald gotisch aus der Zeit der Königin Elizabeth und bald nach Queen Anne – nennen hörte… unter der Impression offenbar, daß diese beiden Herrscherinnen identisch wären … Saffron Park war mit einigem Recht als eine Künstlerkolonie verschrien, obschon hier niemals nach irgendeiner Richtung hin irgendwie Kunst produziert wurde. Jedennoch: waren Saffron Parks Prätentionen, ein geistig Zentrum darzustellen, auch ein wenig vage, so war seine Anwartschaft, als ein ulkiger Platz zu gelten, unbestreitbar. Der Fremde, der diese affektiert roten Häuser zum erstenmal sah, der dachte nur dieses: daß es schon ziemlich närrische Leut sein müßten, die es fertig brächten, da drinnen zu wohnen. Aber selbst wenn er das Völkchen dann kennen lernte, selbst dann brauchte er in diesem seinem vorgefaßten Respekt um nichts herunterzugehen. Der Ort war nicht nur ulkig, er war sogar vollendet, sobald du dich entschließen konntest, ihn nicht als eine Täuschung und einen Betrug, sondern als einen Traum anzusehen. Gleichwie, wenn die Leutchen auch keine »Künstler« waren, das ganze dessenungeachtet künstlerisch war … Jener junge Mann, mit dem langen, mehr roten als kastanienbraunen Haar und dem ausverschämten Gesicht – jener junge Mann war nicht so sehr und in der Tat ein Dichter: aber gewißlich war er ein Gedicht. Jener alte Gentleman, mit dem tollen weißen Bart und dem tollen weißen Hut – jener altehrwürdige Humbug war nicht so sehr und in der Tat ein Philosoph: aber wenigstens und nicht zuletzt gab er seinen Nebenmenschen Grund zu philosophieren. Und jener gelehrte Gentleman, mit dem kahlen eiähnlichen Schädel und dem nackten vogelähnlichen Hals, der hatte nicht das leiseste Recht auf das wissenschaftliche Gebaren, mit dem er großtat; nie noch hatte er in der Biologie irgend Neues dargestellt, aber welch eine biologische Ausgeburt stellte er selber dar! .. So also und nur so wollte der ganze Ort genommen werden. Nicht als eine Werkstatt für Künstler – als ein vergängliches, aber vollendetes Kunstwerk vielmehr. Wer immer in diese Gesellschaft geriet, der glaubte, in eine geschriebene Komödie geraten zu sein.
Vorzüglich ums Abendwerden und den Einbruch der Nacht überfiel Saffron Park diese reizende Unwirklichkeit: wenn die Extravaganz der Dächer verschwamm im Nachtglühen und das ganze verrückte Dorf wie eine einsam treibende Wolke wurde. Und noch vorzüglicher war das der Fall in jenen Nächten, da man irgendwie Feste feierte im Ort: wenn die kleinen Gärten illuminiert waren und die mächtigen chinesischen Laternen in den zwerghaften Bäumen erglühten wie viel manche wilde monströse Frucht. Oh und aber am allervorzüglichsten war das der Fall an jenem außergewöhnlichen Abend, an den etliche hierorts zurückdenken mögen wohl bis auf den heutigen Tag, an jenem außergewöhnlichen Abend, an dem der Dichter mit dem mehr roten als kastanienbraunen Haar der Held war. Nicht daß das etwa der einzige Abend gewesen wäre, an dem er der Held war. Wie denn? Gar in manchen Nächten mochten solche, die grad an seinem Hintergärtchen vorbeigingen, seine laute, lehrhafte Stimme gehört haben, wie sie in hohen, selbstbewußten Tönen zu Männlein und insonderheit zu Weiblein sang. Wobei die Attitüde der weiblichen Hörerschaft allemal und in der Tat eine der paradoxesten Paradoxien des Platzes war. Nämlich die meisten dieser Weiblein waren von jenen, so man ein wenig in Bausch und Bogen Emanzipierte nennt, und deren Bestimmung auf Erden gewissermaßen diese war: gegen die Suprematie des Mannes Protest zu erheben. Und gleichwohl zollten diese neuen Weiber dem Manne jene unerhörte Artigkeit, die kein gewöhnliches Weib je einem Manne gezollt: fein still zuzuhören, derweilen er spricht … Und Mr. Lucian Gregory, der rothaarige Poet, war in der Tat (in vielem Betracht) ein Mann, dem zuzuhören sichs wohl verlohnte, auch wenn einem letzten Endes nur ein Lachen blieb. Er sang die alte Leier wohl von der Gesetzlosigkeit der Kunst und der Kunst der Gesetzlosigkeit mit einer gewissen ausverschämten Neuheit, so daß du schließlich einen Augenblick Gefallen daran finden konntest. Und bis zu einem gewissen Grade kam ihm dabei die fesselnde Seltsamkeit seines Aeußeren zugute – staffierte ihn quasi dazu heraus. Sein wie nachgedunkeltes rotes und in der Mitte gescheiteltes Haar war buchstäblich wie das einer Frau und war so sterbenslangweilig gelockt, wie nur das einer Jungfrau auf einem präraphaelitischen Sonett in Wasserfarben. Und war sein Oval auch ein noch so heiligenmäßiges – dieses Gesicht fuhr mit einem Male breit und brutal heraus und das Kinn schoß hervor und war plötzlich eitel Hochmut und echter Londoner Großstadtdünkel. Dies beides in einem, dieses kitzelte die Nerven eines neurotischen Publikums angenehm und peitschte sie im selbigen Augenblick schrecklich auf. Er war die menschgewordene Blasphemie – eine Mischung aus Engel und Aff.
Dieser außergewöhnliche Abend also, der wird, wenn um weiter nichts, so doch um seines seltsamlichen Sonnenuntergangs willen in der Erinnerung so mancher des Ortes haften bleiben. Jener Sonnenuntergang, der sah sich grad an – als ob die Welt unterginge. Der ganze Himmel schien von einem wahren – handgreiflichen Federkleid bedeckt; du konntest es nicht anders sagen als: der Himmel war voller Federn und die Federn streiften dir fast das Gesicht. Ueber dem Dom waren sie grau, mit den absonderlichsten Schattierungen in Violett und Malvenfarben und einem widernatürlichen Hellrot oder Blaßgrün. Aber gegen Westen zu wurde alles über alle Beschreibung transparent und über alle Maßen wild und feurig, und die letzten rotglühenden Federn verhüllten die Sonne wie etwas, das nicht zum Anschauen taugt. Das Ganze war so nah an aller Erde –- als wollte es ein unendliches Geheimnis ausreden. Der ganze Feuerhimmel schien ein Geheimnis zu sein. Er explizierte jene glänzende Niedrigkeit, die die Seele des Lokalpatriotismus ist. Aller Himmel schien sehr sehr niedrig.
Sagte ich nicht, daß da welche sein mögen, die sich dieses Abends nur um eines überwältigenden Himmels willen erinnern werden? Es sind aber auch andere, die sich erinnern, weil an diesem Abend erstmalig der zweite Dichter von Saffron Park auftrat. Eine lange Zeit hatte der rothaarige Revolutionär ohne einen Rivalen geherrscht. Aber in der Nacht jenes Sonnenuntergangs war es, daß seine Alleinherrschaft jählings endete. Der neue Poet, der sich selber einführte und als Gabriel Syme vorstellte, war ein sehr mild dreinschauender Sterblicher, mit lieblichem und zugespitztem Bart und wenigem und gelbem Haar. Aber es half ihm etwas, daß er weniger sanftmütig erschien, als er mit den Augen dreinsah. Er machte sein Eintreten merkwürdig, indem er über die Dichtkunst überhaupt gerade der entgegengesetzten Meinung war als wie der eingesessene Poet Gregory. Er sagte, daß er (Syme) ein Dichter von Gesetz sei, ein Dichter von Ordnung; ja sogar, er sagte, er wäre ein respektierlicher Dichter. Also daß ihn die Saffron Parker all anstarrten, als ob er eben diesen Moment aus jenem unmöglichen Himmel herabgefallen sei. Und richtig, Mr. Lucian Gregory, der anarchistische Poet, brachte die beiden Geschehnisse sofort in einen Konnex.
»Es mag wohl sein«, sagte er in seiner unvermutet lyrischen Manier, »es mag wohl sein in einer solchen Nacht der Wolken und himmelschreienden Farben, daß da plötzlich solch ein ahnungsvoller respektierlicher Poet uns zur Welt gekommen ist. Sie sagen, Sie seien ein Dichter von Gesetz. Ich sage – Sie sind eine ›contradictio in adjecto‹. Wundere mich nur, daß nicht gleich auch Kometen schweiften und die Erde erbebte in der Nacht, da Sie in diesem Garten erschienen.« Der Mann mit den himmelblauen Augen und dem blassen gespitzten Bart ertrug dies Donnerwetter mit einer gewissen submissen Feierlichkeit. Die dritte Person von der Gruppe, Gregorys Schwester Rosamond, mit roten Haarflechten wie ihr Bruder, aber einem kindlich-liebenswürdigeren Antlitz darunter, die lachte ihr Lachen halb voller Bewunderung und halb voller Mißbilligung, das sie stets lachte zu ihrem Familienorakel.
Gregory resümierte hoch oratorisch und bei guter Laune.
»Ein Artist ist identisch mit einem Anarchisten[1q]«, schrie er. »Transponieren Sie das Wort wie Sie nur wollen. Ein Anarchist ist ein Artist. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Artist, weil er einen großen Moment allem andern vorzieht. Er erkennt, um wieviel kostbarer ein Strahl des Feuerleuchtens einer Explosion, ein Ohrvoll vom Krach eines richtigen Donners wiegt als ein Korps von krüppeligen Policemen. Ein Artist ignoriert alle Regierung, bricht mit aller Konvention. Der Poet entflammt sich einzig am Chaos. Wenn dem nicht so wäre, dann wäre das poetischste Ding von der Welt die Untergrundbahn.«
»Dem ist so«, sagte Mr. Syme.
»Blödsinn!« sagte Gregory, der sehr vernunftgemäß tat, sowie ein anderer etwas Paradoxes versuchte. »Warum schauen all die Schreiber und Kanalarbeiter in den Eisenbahnen so verdrießlich und ermüdet, so sehr verdrossen und ermattet aus – warum? Ich wills Ihnen sagen. Darum, weil sie wissen, daß der Zug richtig fährt. Darum, weil sie wissen, daß, für was für eine Station sie immer ein Billett gelöst haben mögen … daß sie diese Station erreichen werden. Darum, weil … nachdem sie Sloan Square passiert haben … weil sie wissen, daß die nächste Station Viktoria sein muß – und nichts und nichts und nichts als Viktoria. Oh, oh, denken Sie sich nur mal diese tolle Verzückung! Wie ihre Augen zu Sternen würden und ihre Seelen neu im Paradiese wandelten, wenn die nächste Station auf ganz unerklärliche Weise mit einemmal Baker Street wäre!«
»Sie sind es, Sie, die unpoetisch sind«, erwiderte der Poet Syme. »Wenn das wahr ist, was Sie von jenen Bureauangestellten sagen, so sind diese nur ebenso prosaisch wie Ihre Poesie. Das Feine, Unerhörte, das triff; – das Rohe, Alltägliche, das fehl! Wir fühlen, es ist heroisch, wenn der Mensch mit einem kühnen Pfeil einen weit entfernten Vogel trifft. Ja, ist es denn nicht ebenso heroisch, wenn ein Mensch mit Hilfe eines kühnen Dampfrosses eine weit entfernte Bahnstation nicht verfehlt? Alles Chaos ist trostlos; weil ja im Chaos der Zug in der Tat ganz und gar irgendwo hinfahren würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Aber der Mensch ist ein Magier; und all seine Magie ist diese: er sagt Viktoria und sieh da, sieh da! es ist Viktoria. Nein, nein, nein, nein, behalten Sie fein Ihre Bücher von all Ihrer Poesie und Prosa – und lassen Sie mir meinen Eisenbahnfahrplan, lassen Sie mich ihn lesen unter Tränen der Rührung und des Stolzes. Behalten Sie nur bloß Ihren Byron, der die Schlappen der Menschheit feiert; und geben Sie mir das Kursbuch, darin auf Stunde und Minute der Menschheit Siege verzeichnet stehen. Geben Sie mir das Kursbuch, bitte, so geben Sie es doch her!«
»Fahren Sie fort?« fragte Gregory sarkastisch.
»Ich sage Ihnen, ich sage Ihnen«, fuhr Syme mit Eifer fort, »daß ich allemal, sowie ein Zug ankommt, fühle, fühle: daß er Breschen schlug in die Belagerer – fühle, fühle: der Mensch erfocht einen neuen Sieg über das Chaos. Sie schätzen es gering, Sie halten es für mehr als selbstverständlich, daß einer, wenn einer Sloan Square verlassen hat, nach Viktoria kommen muß. Ich aber sage Ihnen: daß einer statt dessen tausend andere Dinge tun könnte … und daß ich allemal, wenn ich wirklich dahin gelange, das Gefühl habe: ich bin mit knapper Not davongekommen. Und wenn ich den Schaffner sodann »Viktoria« schreien höre, so klingt das absolut nicht so mir nichts dir nichts. Da schreit für mich, da schreit für mein Gefühl ein Herold: Sieg. Das klingt für mich in der Tat: »Viktoria, Viktoria!« Da siegt Adam, Adam!«
Gregory schüttelte sein schweres rotes Haupt und lächelte verdrossen und kläglich.
»Und dann«, sagte er, »dann fragen wir Poeten immer die Frage: ›Ja was ist denn dieses Viktoria nun, das wir da haben? Hm?‹ Sie meinen, Viktoria, das sei Neu-Jerusalem. Wir aber wissen, daß Neu-Jerusalem nur wieder – Viktoria sein wird. Der Poet wird sogar auf den Wegen im Himmel noch der Mißvergnügte sein. Der Poet ist ewig in Revolte.«
»Dorten wieder«, sagte Syme, »was ist dorten poetisch, um in Revolte zu sein? Da könnten Sie ebensogut behaupten, es sei poetisch, seekrank zu sein. Krank sein, das ist eine Revolte. Beides: krank sein und rebellisch sein, das mag in gewissen desparaten Lebenslagen gesund sein. Aber ich will gehängt sein, wenn ich einsehen soll, warum sie poetisch sein sollen. Empörung – abstrakt – ist – einfach – empörend. Es ist rein zum Kotzen.«
Das Mädchen fuhr leicht zusammen bei diesem gemeinen Ausdruck. Aber Syme war zu sehr in der Hitze, um sich vor ihr zusammenzunehmen.
»Das Richtiggehende«, schrie er, »das – das ist das Poetische! Unsere Verdauung – zum Beispiel – daß die fein still und wie fromm vor sich geht: das ist die Grundlage aller Poesie. Ei ja, die poetischste Sache, poetischer als alle Blumen sind und poetischer als alle Sterne, die poetischste Sache von der Welt ist: … nicht krank sein.« »Wahrhaftig«, sprach Gregory da hochnäsig, »die Beispiele, so Sie zu wählen belieb –«
»Bitt um Verzeihung«, tat Syme grimmig, »aber ich vergaß ganz, daß wir alle und jede Konvention perhorresziert hatten.«
Und da wardst du einen brennroten Fleck gewahr auf Gregorys Stirn …
»Sie scheinen mir demnach nicht zu glauben«, sagte er, »daß ich, diesem Gesetz zufolge, die bürgerliche Gesellschaft umwälze?«
Syme schaute ihm dreist ins Gesicht und lächelte süß:
»Nein«, sagte er, »absolut nicht«, sagte er, »außer … ich meine … außer es wäre Ihnen ernst um Ihren Anarchismus: dann ja … dann …«
Gregorys ungeheure Glotzaugen leuchteten plötzlich wie bei einem zornigen Löwen auf – und dir mochte beinah scheinen, als ob seine rote Mähne sich sträubte.
»Sie glauben also nicht«, fuhr ein Drohen und Dräuen in seine Stimme, »daß es mir ernst um meinen Anarchismus ist?«
»Bitte?« sagte Syme.
»Mir nicht ernst um meinen Anarchismus?« schrie Gregory und ballte seine knotigen Fäuste.
»Lieber, verehrter Kollege!« sagte Syme – und verließ ihn.
Ueberrascht, aber auch voller Neugierde und Vergnügen bemerkte er da, daß Rosamond Gregory mit ihm ging.
»Mr. Syme«, sprach sie, »meinen die Leute, die so wie Sie und mein Bruder reden, meinen die oft auch wirklich, was sie sagen? Meinen Sie denn, was Sie jetzt sagen?«
Syme lächelte:
»Wie meinen Sie?«
»Was meinen Sie?« fragte das Mädchen … und Ihre Augen waren tief …
»Meine teuere Miß Gregory«, sagte Syme verbindlich, »es gibt Aufrichtigkeit und es gibt Unaufrichtigkeit. Es gibt aber auch solche Aufrichtigkeit und solche – und solche Unaufrichtigkeit und andere. Wenn Sie für das Salzfaß etwa ›danke‹ sagen: meinen Sie da auch, was Sie sagen? Nein. Wenn Sie sagen: ›die Welt ist rund‹: meinen Sie da auch, was Sie sagen? Nein. Es ist allemal etwas Wahres; – aber Sie meinen es nicht. Nun denn: ein Mann wie Ihr Bruder findet zuweilen in der Tat ein Ding, das er meint. Es braucht nur ein halbwahr, viertelwahr, zehntelwahr Ding zu sein; aber dann sagt er mehr als er meint – vor lauter Meinen-müssen.«
Sie sah ihn, unter wagrecht eingestellten Brauen hervor, an. Tief und offen lag ihr Antlitz da, überschattet von dem Schatten jenes vernunftlosen Verantwortlichkeitsgefühls, das die Seele selbst des leichtfertigsten Frauenzimmers noch ausmacht: jenes Bemuttern-müssen um jeden Preis, das so alt ist wie die Welt selber.
»Ist er also wahrhaftig ein Anarchist?« fragte sie. »Nur in jenem Sinn, von dem ich Ihnen sprach«, antwortete Syme, »oder wenn Sie lieber wollen – in jenem Unsinn.«
Sie zog die breiten Augenbrauen zusammen und sagte abrupt:
»Er würde nie wirklich Bomben schmeißen oder so was –«
Brach Syme in ein groß Lachen aus, das viel zu groß war für sein kleines einigermaßen stutzerhaftes Gesicht.
»Herr Jesus, nein!« sagte er, »es müßten denn Fruchtbonbons sein.«
Danach formte sich in den Winkeln ihres Mundes gleichfalls ein Lächeln … und sie erinnerte sich mit einem zwiefachen Vergnügen teils an Gregorys Ungereimtheiten, teils an sein Wohlergehen …
Und dann steuerte Syme mit ihr auf eine Sitzgelegenheit los, in einer Ecke des Gartens, und hub neu an, von seinen Meinungen zu verbreiten. Denn er war ein aufrichtiger Bursche, und ohngeachtet seines oberflächlichen Gebarens und Kokettierens im Grunde ein bescheidener Junge.
Und es ist immer der Bescheidene, der zuviel redet; der Hoffärtige, der überwacht sich selber viel zu sehr. Also verteidigte er die Respektabilität mit Ungestüm und manniger Uebertreibung. Und wurde hitzig im Rühmen von Nettigkeit und Anstand. Und all die Zeit schwamm Fliederduft um ihn … Mit einmal hörte er sehr schwach von fernher aus einer Straße, daß eine Drehorgel zu singen anhub, und es war ihm, als ob seine heroische Rede eine liebliche Weise gebar von unter oder außer der Welt her …
Und er sah sie an und er sang zu ihr: zu ihrem roten Haar und zu ihrem amüsierten Gesicht – minutenlang wohl. Aber dann, wie ihm einfiel, daß es doch nicht schicklich wäre an einem solchen Ort, ein Plaudergrüppchen auf so lange auszudehnen – da sprang er auf. Und ersah zu seinem Erstaunen: der ganze Garten leer. Ein jeder war längst schon gegangen, und so ging er nun selber auch – mit einer ziemlich übereilten Entschuldigung. Ging – – als wie mit Champagnerwein im Kopf, ein Gefühl, für das er nie eine Erklärung fand … An all den wilden Geschehnissen, die jetzund folgen werden, hatte das Mädchen nicht den geringsten Anteil. Er sah sie auch nimmermehr wieder, ganz bis zu allem Ende all dieser seiner Erlebnisse. Und dennoch, dennoch: – auf irgendeine unbeschreibliche Weise kehrte sie ihm immer wieder, tauchte sie ihm immer und immer wieder auf, wie ein musikalisches Leitmotiv durch all die folgenden wahnsinnigen Aventüren, und die Glorie ihres seltsamlichen Haares spann sich leuchtend so wie ein roter Faden durch all den geheimnisvollen und unheimlichen Gobelin dieser Nacht. Alles was von nun an geschah, oh das war all so unwahrscheinlich, daß es gar wohl nur ein Traum hätte sein können …
Als Syme auf die sternhelle Straße heraustrat, fand er sie erst leer. Dann vergegenwärtigte er sich (auf eine gewisse absonderliche Manier), daß die Stille weit eher eine lebendige Stille war denn eine tote. Unmittelbar vor dem Tor, da stand eine Straßenlaterne, und ihr Strahl vergoldete das Blattwerk des Baumes, der über den Zaun hinter ihm sich herüberneigte und herausverbeugte. Und einen Schritt weit von dem Laternenpfahl, da hielt eine Gestalt, so steif und starr wie der Laternenpfahl selber. Der kühne Hut und der zweireihige Gehrock mit Schößen, die waren schwarz. Das Gesicht, steil überschattet, nicht minder dunkel. Nur eine Franse brennroten Haars in der Helle und etwas Aggressives in der Haltung, das verriet; es war der Dichter Gregory. Und hatte etwas von einem Bravo mit einer Maske über dem Gesicht, wie er mit einem Mordstahl in der Hand auf seinen Feind wartet.
Und grüßte einen immerhin bedenklichen Gruß. Worauf Syme um ein etzliches förmlicher zurückgrüßte.
»Ich hab auf Sie gewartet«, sagte Gregory, »könnte ich Sie in einer Angelegenheit sprechen?«
»Gewiß … In welcher?« fragte Syme ein wenig erstaunt.
Gregory schlug mit seinem Spazierstock erst gegen den Laternenpfosten und dann gegen den Baum.
»In dieser und in dieser da«, schrie er; »über Gesellschaftsordnung und über Anarchismus. Das da, das ist Ihre unschätzbare Ordnung: diese schiefe eiserne Funsel, diese ekelhafte blöde Latichte. Und das da, das ist die Anarchie: reich, strotzend von Leben, die sich selbst erzeugt – das ist die Anarchie, strahlend in Grün und Gold.« »Genau so ist es«, antwortete Syme geruhig, »genau wie jetzt –: Sie sehen den Baum nur durch das Licht der Laterne. Und ich müßte mich sehr wundern, wenn Sie jemals die Laterne durch das Licht des Baumes sehen würden.« Und dann nach einer Pause sagte er noch: »Aber darf ich fragen, ob Sie hier heraußen im Dunkeln einzig gestanden haben, um unsere kleine Auseinandersetzung wieder aufzunehmen?«
»Nein!« rief Gregory aus – und seine Stimme läutete die halbe Straße hinab, »ich hab weiß Gott nicht hier gestanden, nur um unsere Auseinandersetzung wieder aufzunehmen – sondern um sie für alle Zeit und in Ewigkeit zu enden!« Stille fiel wieder ein. Und obschon Syme nichts von allem begreifen konnte, witterte er doch instinktiv etwas Ernsthaftes. Gregory hub nun an in sanftmütigen Tönen und mit einem beinahe verführerischen Lächeln.
»Mr. Syme«, sagte er, »Ihnen glückte heute abend bei mir etwas ziemlich … Merkwürdiges. Etwas … das bislang noch keinem aus einem Weibe Geborenen mit mir glückte.«
»Wahrhaftig!«
»Doch! Nun erinnere ich mich«, resümierte Gregory nachdenklich, »einem vor Ihnen, dem glückte es gleichfalls schon. Und das war … und das war der Kapitän eines Sechserfährbootes (wenn ich mich recht erinnere) in Südend. Sie haben mich, Sie haben mich … gereizt.«
»Tut mir ungemein leid«, erwiderte Syme würdig. »Und ich fürchte und ich muß sehr fürchten, daß ich viel zu schwer beleidigt bin, als daß eine bloße Entschuldigung die Sache abzuwaschen vermöchte«, sprach Gregory geruhig. »Und auch kein Zweikampf wäre da Genugtuung genug. Es ist nur ein Weg, den Insult auszutilgen, und diesen Weg wähle ich. Ich werde … und werde dabei womöglich mein Leben und meine Ehre zu Opfern bringen müssen … ich werde Ihnen beweisen, daß Sie unrecht hatten mit dem, was Sie sagten!«
»Was sagte ich?«
»Sie sagten, daß es mir nicht ernst um meinen Anarchismus wäre.«
»Es kann einem so und so ernst um etwas sein. Es gibt verschiedene Grade. Es gibt Nüancen«, erwiderte Syme. »Ich habe niemals gezweifelt, daß Sie es restlos ehrlich meinten, insofern als Sie dachten: was Sie sagten, das sei wohl wert, daß Sie es sagten … daß Sie dachten: ein Paradoxon vermag einen Menschen aufzurütteln zu neuer Erkenntnis einer längst geringgeschätzten, verachteten Wahrheit.«
Gregory blickte ihn fest und schmerzlich an.
»Und aber anders als so«, fragte er, »halten Sie mich nicht für ernst? Sie glauben also, ich wäre der flâneur, der gelegentliche Wahrheiten fallen läßt? Sie glauben absolut nicht, daß ich es in einem tieferen, in einem tödlicheren Sinn ernst meinen könnte?«
Syme stieß hart mit dem Spazierstock auf die Pflastersteine.
»Ernst – ernst!« schrie er. »Herr Jesus, Herr Jesus! Ist am Ende diese Straße ernst? Sind am Ende diese verdammten chinesischen Papierlaternen ernst? Ja, ist denn der ganze Klimbim ernst? Da kommt man hierher und redet seinen Stiefel zusammen – und das so gut, als man es eben vermag – – aber das muß ich denn doch sagen, daß ich verflucht wenig von einem Menschen halten würde, der als Bodensatz seiner Seele nicht etwas Ernsteres zurückbehielte als all den Quatsch – etwas Ernsteres, sei es nun Religion oder ein guter Tropfen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Gregory, und sein Antlitz verfinsterte sich, »so sollen Sie denn etwas Ernsteres erleben, Ernsteres als ein guter Tropfen oder Religion!«
Und Syme stand wartend – mild dreinschauend wie gewöhnlich – bis daß Gregory neu den Mund auftat.
»Sie sprachen gradeben von Religion. Ist es tatsächlich wahr, daß Sie Religion haben?«
»Oh«, sagte Syme und lächelte strahlend, »wir sind heutzutage alle gute Katholiken.«
»Dann frage ich, ob Sie mir bei was immer für Göttern oder Heiligenmännern Ihrer Religion schwören wollen: daß Sie das, was ich Ihnen nun anvertrauen werde, keiner Menschenseele und insonders nicht der Polizei verraten? Wollen Sie mir schwören? «Wenn Sie zu solcher entsetzlicher Selbstverleugnung imstande sind, wenn Sie bereit sind, Ihre Seele mit einem Schwur zu belasten, den Sie nimmer schwören sollten, und mit einem Wissen, das Sie sich nicht hätten träumen lassen: dann versprech ich Ihnen meinerseits – –«
»Sie mir Ihrerseits?« forschte Syme, als der andere innehielt.
»– – dann versprech ich Ihnen meinerseits einen ungemein unterhaltlichen Abend.«
Da zog Syme eilends seinen Hut.
»Ihre Einladung«, sagte er, »ist viel zu wahnsinnig, als daß man sie ablehnen könnte. Sie sagen, ein Dichter sei alleweil ein Anarchist. Ich widerspreche dem; aber ich hoffe zumindest, daß er ein sportsman ist. Gestatten Sie also, hier und jetzund, daß ich Ihnen als Christ zuschwöre und als guter Kamerad und als Dichterkollege feierlich verspreche: von all diesem, was es auch sein möge, niemals etwas … nie, nie irgendetwas der Polizei zu verraten. Und nun, sagen Sie mir in drei Teufels Namen, was ist es?«
»Ich denke«, sagte Gregory mit liebenswürdiger Selbstverständlichkeit, »daß wir einen Fiaker rufen werden.«
Er pfiff zwei lange Pfiffe, und ein Kabriolett kam ratternd den Weg daher. Die zwei stiegen stillschweigend ein. Gregory gab durch die Wagenklappe die Adresse an: einer obskuren Kneipe am Chiswickdammufer. Das Kabriolett rollte eilends dahin – – und somit verließen zwei Phantasten ihre phantastische Vorstadt.
Inhaltsverzeichnis
Das Gefährt hielt vor einer besonders trostlosen und schmierigen Kaschemme, und Gregory lotste seinen Kumpan auffallend eilfertig da hinein. Man nahm Platz in etwas wie einem engen finstern Gastzimmer, an einem dreckigen Holztisch mit nur einem hölzernen Bein. Und so eng und finster war der Raum, daß man von der herbeigerufenen Aufwartung nur eine vage und unheimliche Impression bekam: von etwas sehr Großem und sehr Bebartetem.
»Nehmen Sie vielleicht ein kleines Abendbrot?« fragte Gregory zuvorkommend. »Pâté de foie gras ist weniger ausgezeichnet hier. Aber Wildfleisch könnte ich Ihnen sehr empfehlen.«
Syme nahm solche Bemerkung dumm hin, indem er sich einbildete, daß das ein Schabernack sei. Und wollte auf den Humor eingehen und sagte mit wohlerzogener Indifferenz:
»Oh – bringen Sie mir etwas Hummermayonnaise.«
Da sagte aber, zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen, der Mensch nur: »Sehr wohl, mein Herr!« und ging anscheinend fort, die Bestellung auszuführen.
»Was wünschen Sie zu trinken?« fing da Gregory wieder an – mit seiner alten dreisten und dennoch wie entschuldigenden Miene. »Ich für mich will nichts als etwas crème de menthe; ich habe diniert. Aber dem Champagner ist total zu trauen. Darf ich Sie wenigstens mit einer halben Flasche Pommery in Gang bringen?«
»Danke!« sagte der erstarrte Syme. »Sie sind sehr liebenswürdig.«
All seine ferneren Anläufe zu einer Konversation, die indes diesmal, sozusagen von Haus aus, sich gar ungeschickt anließen, waren wie mit einem Donnerschlag zu Ende – als plötzlich der Hummer angeschwirrt kam. Syme kostete ihn; und fand ihn … besonders ausgezeichnet. Dann begann er plötzlich mit großer Hast und großem Appetit zu essen.
»Entschuldigen Sie mich, bitte, daß ich mich ziemlich rückhaltslos amüsiere!« sagte er zu Gregory und lächelte. »Ich hatte noch nicht oft das Glück, einen Traum zu träumen als wie diesen. Das ist mir neu an einer Nachtmahr, daß man dabei zu Hummer eingeladen wird. Gewöhnlich ist das Gegenteil der Fall.«
»Wenn ich Sie aber versichere, daß Sie nicht träumen!« sagte Gregory. »Sie stehen im Gegenteil vor dem wirklichsten und ungeheuerlichsten Augenblick Ihres Lebens. Ah, da kommt Ihr Champagner! Ich gebe zu, es ist ein kleines Mißverhältnis, sagen wir ein kleines Mißverhältnis zwischen den inneren Arrangements dieses exzellenten Hotels und seinem simpeln und unprätentiösen Exterieur. Aber das kommt all von unserer Bescheidenheit. Wir sind die bescheidensten Kerle, so je auf diesem Planeten gelebt.« »Und wer – wer sind diese wir?« fragte Syme und trank sein Champagnerglas aus.
»Das ist doch sehr einfach«, versetzte Gregory. »Wir sind die durchaus ernsthaften Anarchisten, die Sie durchaus nicht ernst nehmen wollen.«
»Oh!« sagte Syme kurz. »Sie wissen einen guten Tropfen nicht schlecht zu würdigen, Sie!« »Jahah«, meinte Gregory, »wir meinen es mit allem und jedem ernst!«
Und nach einer Pause setzte er hinzu:
»Sollte, in einigen wenigen Augenblicken, dieser Tisch da anfangen, sich ein bißchen herumzudrehen, so schieben Sie das bitte durchaus nicht dem Champagner in die Schuhe. Ich möchte nicht gerne, daß Sie etwa ungerecht gegen sich würden.«
»Gut, gut, ich bin nicht besoffen: ich bin wahnsinnig«, versetzte Syme vollkommen kalt; »aber ich verlasse mich darauf, ich kann mich darauf verlassen, daß ich mich in jeder Situation wie ein Gentleman benehmen werde … Darf ich rauchen?«
»Aber gewiß doch!« sagte Gregory und zog ein Zigarrenetui. »Versuchen Sie eine von den meinigen.«
Syme griff zu, knipste die Spitze ab mit einem Zigarrenabschneider aus seiner Westentasche, steckte sich den Glimmstengel ins Gesicht, brachte ihn bedächtig in Brand und ließ eine langgestreckte Wolke Rauches ausfahren. Es kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden, daß er all die Praktiken mit so sehr viel Fassung vollführte, denn fast bevor er noch dazu kam, sie alle zu tun, hatte der Tisch, an dem er saß, sich zu drehen angefangen – als wie behutsam zuerst und dann rapid – ganz und gar als wär’s eine verrückte Seance.
»Sie müssen nicht – – lassen Sie ihn nur machen!« sagte Gregory. »Das ist nämlich – gewissermaßen eine Schraube.«
»Treffend bemerkt«, sagte Syme gelassen, »eine Schraube – gewissermaßen! Wie so unkompliziert!«
Denselbigen Augenblick stieg der Rauch seiner Zigarre, der bislang waberte und wie durchsichtige Schlangenleiber über ihnen lagerte, kerzengerade auf als wie aus einer Fabrikesse – und die zwei fuhren mit Stühlen und Tisch hinab, hinunter, hinein, durch den Fußboden durch, als ob die Erde sie verschlänge. Sanken unter Rasseln ein Ding wie einen pfauchenden Schacht hinab, so rapid als wie in einem Lift, hinein, hinunter, – und plumpsten plötzlich auf den Boden auf. Aber während Gregory zwei Türflügel aufstieß und eine rote unterirdische Helle einließ, saß Syme, immer drauflos schmauchend, das eine Bein faul übers andere geschlagen, ohne daß auch nur ein einziges Härchen seines Gelbhaars Farbe gelassen hätte.
Geleitete ihn Gregory alsdann eine niedrige gewölbte Passage hinab, von deren Ausgang das rote Leuchten heraufleuchtete. Und das kam von einer enormen hochroten Laterne, die so riesige Dimensionen hatte wie ein ganzer brennender Herd, – über einem schmalen, aber schwereisernen Tor. Und in dem Tor, da war eine Luke oder ein Gatter – und an das Tor, da schlug Gregory wohl fünfmal. Ein mächtiges Organ mit einem fremdländischen Akzent fragte heraus: »Wer da?« Und diesem Koloß antwortete Gregory sodann mehr oder weniger unvermutet: »Mr. Joseph Chamberlain.« Und die schweren Türangeln kreischten … und vermutlich war das eine Passeparole gewesen …
Vom Tor an erstrahlte die Passage auf den ersten Blick als wie über und über ein Stahlnetzwerk. Aber beim zweiten Zusehen ersah Syme: dieses glitzernde Muster war in Wirklichkeit: Reihe um Reihe um Reihe – eine Armee von Gewehren und Revolvern, in Reih und Glied aufeinandergeschlossen, gerad wie Mann an Mann, Schulter an Schulter.
»Entschuldigen Sie vielmals, bitte, all diese Formalitäten«, sagte Gregory, »aber wir haben äußerst strikt zu sein hier.«
»Keine Entschuldigung, bitte«, sagte Syme. »Ich kenne doch Ihre Passion für Gesetz und Ordnung« – und er marschierte die stahlstarrende Passage fürbaß. Mit seinem langen gelblichten Haar und seinem ziemlich stutzerhaften Ueberrock gab er eine besonders fragile und schwärmerische Figur ab, die da diese schimmernde Avenue des Todes hinabstapfte.
Sie gingen durch mehrere solche Passagen hindurch und gelangten zuletzt in einen wunderlich gepanzerten Raum, ein Zimmer mit gekrümmten Wänden, fast kugelförmig von Gestalt … und das aber dann doch wieder, durch seine vielen, vielen Bankreihen, eher nach einem wissenschaftlichen Hörsaal aussah … Und da waren keine Gewehre und da waren keine Pistolen in diesem Appartement … aber rundum an den Wänden hingen noch viel dubiosere, viel schrecklichere Dinge, Dinge, die aussahen so wie Knollen von Pflanzen aus Eisen oder so wie Eier von Vögeln aus Stahl. Und das waren Bomben. Und der Raum selber, der war wie das Innere einer Bombe … Syme streifte die Asche seiner Zigarre an der Wand ab und trat ein.
»Und nun, mein vielwerter Mr. Syme«, sagte Gregory und warf sich mit einer expansiven Manier auf die Bank gerad unter der größten Bombe, »nun wir absolut kosig beieinander sind, nun lassen Sie uns so recht im eigentlichen Sinne miteinander plaudern. Nun … kein menschlicher Mund vermöchte irgendwie auszusagen: warum denn ich Sie hierher gelotst habe. Es geschah rein aus einer von jenen total willkürlichen Emotionen, so wie man einen Abhang erklettert oder sich Hals über Kopf in Verliebtheit stürzt. Es genüge zu erwähnen, daß Sie ein unaussprechlich geriebener Bursche waren, und – um gerecht zu sein – es noch sind. Ich wäre imstand und bräch zwanzig Eide auf Geheimnisse – für das eine Vergnügen, Ihnen etwas gelindere Saiten aufzuziehen. Ihre Art und Weise bis hierher zu gehen mit Ihrer brennenden Zigarre – das hätte dazu ausgereicht, bei einem Erzpfaffen die sieben Siegel des Beichtgeheimnisses zu lockern. Also gut – Sie behaupteten, Sie wüßten gewiß, ich sei kein seriöser Anarchist. Wollen Sie diese Ihre Behauptung auch noch angesichts dieses Ortes – seriös aufrechterhalten?«
»Der Ort sieht aus, als verberge sich hinter all seiner Lustigkeit eine Moral«, gab Syme zu. »Aber … dürfte ich an Sie nun zwei Fragen stellen? Ja? Sie brauchen bei Ihren Antworten keine Angst zu haben, (denn wie Sie sich erinnern werden) – Sie haben mir vorher schlau genug das Versprechen abgenommen, daß ich nichts der Polizei anzeige … ein Versprechen, das ich mit tödlicher Sicherheit halten werde. Es ist aus bloßer Neugierde, daß ich die zwei Fragen stellen will. Zu allererst … was ist dieses alles? Was bezwecken Sie damit? Wollen Sie die Regierung abschaffen?«
»Wir wollen Gott abschaffen!« sagte Gregory, und seine Augen weiteten sich fanatisch. »Wir wollen nicht nur die paar Despotismen und Polizeireglements umstürzen; diese Sorte Anarchismus existiert ja wohl, aber die ist nichts als ein Zweig der Nonkonformisten. Wir wühlen tiefer um, wir sprengen auch höher in die Luft. Wir verneinen all jene arbiträren Distinktionen wie Laster und Tugend, Treue und Verräterei, Phrasen, wie sie die bloßen Rebellen allzeit im Munde führen. Jene albernen, übergeschnappten Sentimentalisten der französischen Revolution pappelten von Menschenrechten! Wir hassen Recht und hassen Unrecht. Wir haben Recht und Unrecht abgeschafft.«
»Und Rechts und Links«, sagte Syme mit einer heftigen Begierde. »Ich hoffe, daß Sie diese beiden auch abschaffen. Die stören mich fortwährend viel zu sehr.«
»Sie sprachen von einer zweiten Frage«, schnappte Gregory da ein.
»Gern, sehr gern«, fuhr Syme fort. »Aus all Ihren gegenwärtigen Handlungen und aus dieser ganzen Umgebung da spricht ein wissenschaftliches Streben nach Heimlichkeit. Ich hatte wohl einst eine Tante, die wohnte über einem Kaufladen. Aber nun treffe ich zum erstenmal Leute, die es vorziehen, unter einer Kaschemme zu wohnen. Sie haben da ein schweres eisernes Tor. Und Sie gelangen nicht anders durch dieses Tor – außer Sie erniedrigen sich so weit, daß Sie sich Mr. Chamberlain nennen. Sie umgeben sich mit stählernen Instrumenten, die den Ort, sagen wir, ergreifender machen als wie gemütlich. Darf ich fragen, wieso Sie – nachdem Sie sich so unendlich viel Mühe gemacht haben, sich derart in den Eingeweiden der Erde zu verbarrikadieren – wie Sie dann mit Ihrem ganzen Geheimnis so paradieren können, daß Sie mit jedem blödsinnigen Frauenzimmer von Saffron Park über Anarchismus reden?«
Gregory lächelte.
»Die Antwort ist eine äußerst einfache«, sagte er. »Ich sagte Ihnen, ich wäre ein seriöser Anarchist, und Sie glauben mir’s nicht. Auf ganz dieselbe Weise glauben’s alle und auch jene nicht. Glauben es einfach nicht und glauben es nicht … es sei denn, ich führe sie hierher an diesen infernalischen Ort.«
Syme rauchte nachdenklich und sah ihn interessiert an. Gregory fuhr fort zu reden:
»Könnt sein, daß Sie die Geschichte amüsiert«, sagte er. »Ganz zu Anfang, als ich einer von den Unsrigen, als ich ein Neo-Anarchist wurde, da versuchte ich es mit allen Arten von respektablen Vermummungen und Maskierungen. Ich gerierte mich als wie ein Bischof. Ich ochste und büffelte alles in mich hinein, was ich über Bischöfe in unsern anarchistischen Pamphleten, in ›Die Wahrheit über die Vampire‹ und ›Die Blutsauger im Ornat‹, nur finden konnte. Und wollte mit Bestimmtheit aus alldem herausgelesen haben: wie daß Bischöfe unerhört scheußliche alte Herren seien, die der Menschheit ein fürchterliches Geheimnis vorenthielten. Ich war total falsch unterrichtet. Sowie ich bei meinem ersten Auftreten in bischöflichen Schnallenschuhen in einem Salon mit Donnerstimme ausrief: »Nieder! nieder! nieder mit dir, töricht vermessenes Menschenwissen!« fand man irgendwie heraus, daß ich nichts weniger als ein Bischof war. Ich war auf der Stelle entlarvt. Dann spielte ich mich als ein Millionär auf. Allein ich verteidigte das Kapital mit so viel Spitzfindigkeit, daß ein Narr einsehen mochte: ich war der fleischgewordene Dalles. Dann mimte ich … versuchte ich einen Major zu mimen. Dabei bin ich das Humanitätsprinzip selbst; doch hoff ich, daß ich genug an intellektuellem Freisinn aufbringe, die Anschauung jener zu begreifen, so gleich Nietzsche die Gewalttätigkeit bewundern, den verwegenen rasenden Kampf der Natur und so – na, Sie wissen schon. Ich stürzte mich also in die Rolle des Majors. Zog mein Schwert und schwang es in einem fort. Schrie ‘Blut!’ und ‘Blut!’ und ‘Blut!’ – aber wie einer, der Himbeerlimonade bestellt. Und kommandierte oft: ‘Laßt die Schlappen und Feigen untergehen; das ist das Gesetz.’ Aber… aber … es scheint, Majore gehaben sich anders … und ich war wieder einmal entlarvt. Zuletzt lief ich in meiner Verzweiflung zum Präsidenten des Zentral-Anarchistenrates, zum größten Mann von ganz Europa.«
»Wie heißt der?« fragte Syme.
»Das werden Sie nicht in Erfahrung bringen«, antwortete Gregory. »Das ist seine Größe. Cäsar und Napoleon, die setzten all ihren Genius ein, gehört zu werden – und sie wurden gehört. Er, er aber setzt all seinen Genius ein, nicht gehört zu werden, und er wird nicht gehört. Aber Sie können nicht fünf Minuten lang in ein und demselbigen Raum mit ihm zusammen sein, ohne daß Sie fühlen: Cäsar ? Napoleon ? – die wären Kinder gewesen in seiner Hand.«
