Gab es eine Alternative? / Weltrevolution und Weltkrieg - Wadim S Rogowin - E-Book

Gab es eine Alternative? / Weltrevolution und Weltkrieg E-Book

Wadim S Rogowin

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Beschreibung

'Weltrevolution und Weltkrieg' ist der sechste Band der Reihe 'Gab es eine Alternative?', einer detaillierten Geschichte der linken Opposition gegen den Stalinismus. Im Mittelpunkt steht der Hitler-Stalin-Pakt, der dem Nazi-Regime den Weg zum Zweiten Weltkrieg ebnete. Rogowin stützt sich auf neu erschlossenes sowjetisches Archivmaterial sowie die Schriften Leo Trotzkis. Er weist anschaulich nach, dass der Vertrag nur nach dem Großen Terror möglich war, denn bevor Stalin mit Hitler paktieren konnte, musste er die Kommunisten ausrotten, die der Tradition der Oktoberrevolution verbunden waren. Ein weiterer Teil des Buches befasst sich mit der Entwicklung der Linken Opposition Ende der dreißiger Jahre, der Gründung der Vierten Internationale 1938 und den Vorbereitungen des stalinschen Geheimdienstes, Leo Trotzki zu ermorden.

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Seitenzahl: 628

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Wadim S. Rogowin

Weltrevolution und Weltkrieg

Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth

Mehring Verlag

Inhalt

Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«

Einführung

Teil 1: Die UdSSR nach der großen Säuberung

1. KAPITEL: Die Wirtschaft

2. KAPITEL: Der achtzehnte Parteitag der KPdSU (B) über die wirtschaftliche Hauptaufgabe der UdSSR

3. KAPITEL: Die soziale Zusammensetzung und das Lebensniveau der sowjetischen Bevölkerung

4. KAPITEL: Stalinismus und Bauernschaft

5. KAPITEL: Soziale Ungleichheit

6. KAPITEL: Gesellschaftliche Sitten

7. KAPITEL: Das politische Regime: die Partei

8. KAPITEL: Das politische Regime: Staat und Bürokratie

9. KAPITEL: Das politische Regime und die sozialen Beziehungen

10. KAPITEL: Die Armee

11. KAPITEL: Der Terror nach der »Jeshowstschina«

12. KAPITEL: Die Nationalitätenpolitik

13. KAPITEL: Stalin und der Stalinismus aus der Sicht der weißen Emigration

14. KAPITEL: Antisemitismus

15. KAPITEL: Zwei Arten von Sozialbewusstsein

16. KAPITEL: Die geistige Kultur

17. KAPITEL: Trotzki über den Charakter des Sowjetstaates

Teil 2: Die Welt am Vorabend des Weltkrieges

18. KAPITEL: Stalinismus und Hitlerismus

19. KAPITEL: Auf dem Weg zur Annäherung

20. KAPITEL: Zwei Armeen

21. KAPITEL: »Totalitäre Defätisten«

22. KAPITEL: Trotzki über den Charakter des künftigen Krieges

23. KAPITEL: Der bevorstehende Krieg und die internationale Arbeiterbewegung

24. KAPITEL: »Wenn wir hier siegen, werden wir überall siegen«

25. KAPITEL: Aufstieg und Fall der POUM

26. KAPITEL: Die Niederlage der spanischen Revolution – Ursachen und Folgen

27. KAPITEL: Das Komplott von München

28. KAPITEL: Die Kampagne für eine »Großukraine«

29. KAPITEL: Der Beginn politischer Manöver

30. KAPITEL: Die Veränderungen in der Politik der Westmächte

31. KAPITEL: Der Rücktritt Litwinows

32. KAPITEL: Der »engste Mitstreiter«

33. KAPITEL: Verhandlungen – offene und geheime

34. KAPITEL: Verhandlungen auf höchster Ebene

35. KAPITEL: Der Vertrag

36. KAPITEL: Das Geheimprotokoll

37. KAPITEL: »Ich habe mich fast unter alten Parteigenossen geglaubt«

38. KAPITEL: Die Mitglieder des Politbüros machen Jagd

39. KAPITEL: Die faschistische Presse über den Pakt

40. KAPITEL: Die Sternstunde Molotows

41. KAPITEL: Die Zerstörung der moralischen Kraft

42. KAPITEL: Die Komintern verteidigt den Pakt

43. KAPITEL: Ernst Thälmann über den Pakt und seine Folgen

Teil 3: Trotzki und die Vierte Internationale

44. KAPITEL: Die trotzkistische Bewegung in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre

45. KAPITEL: Die internationalen »Reserven des Trotzkismus«

46. KAPITEL: Trotzki und Victor Serge

47. KAPITEL: Das Schicksal eines Provokateurs

48. KAPITEL: Der Gründungskongress der Vierten Internationale

49. KAPITEL: Worin und warum irrte Trotzki

50. KAPITEL: Die Vorbereitung auf die Operation »Ente«

Personenverzeichnis

Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«

Der vorliegende Band ist Band 6 der sechsbändigen Edition der Publikationen Wadim S. Rogowins unter dem Titel »Gab es eine Alternative?«.

Alle diese Bände sind sowohl einzeln als Buch oder als ePublikation sowie als Gesamtedition erhältlich.

Band 1: »Trotzkismus«Print: ISBN 978-3-88634-080-4 ePDF: ISBN 978-3-88634-880-0 eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-780-3Band 2: »Stalins Kriegskommunismus«Print: ISBN 978-3-88634-081-1 ePDF: ISBN 978-3-88634-881-7 eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-781-0Band 3: »Vor dem großen Terror – Stalins Neo-NÖP«Print: ISBN 978-3-88634-074-3 ePDF: ISBN 978-3-88634-874-9 eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-774-2Band 4: »1937 – Das Jahr des Terrors«Print: ISBN 978-3-88634-071-2 ePDF: ISBN 978-3-88634-871-8 eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-771-1Band 5: »Die Partei der Hingerichteten«Print: ISBN 978-3-88634-072-9 ePDF: ISBN 978-3-88634-872-5 eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-772-8Band 6: »Weltrevolution und Weltkrieg«Print: ISBN 978-3-88634-082-8 ePDF: ISBN 978-3-88634-882-4 eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-782-7Band 1 bis 6: »Gab es eine Alternative« Print: ISBN 978-3-88634-099-6ePDF: ISBN 978-3-88634-899-2eBook/MOBIISBN 978-3-88634-799-5

Einführung

In diesem Buch werden politische Ereignisse beleuchtet, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR und weltweit stattfanden.

Der erste Teil des Buches analysiert die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und geistig-ideologischen Prozesse in der UdSSR unmittelbar nach der großen Säuberung von 1936–1938, d.h. zu einem Zeitpunkt, als sich endgültig jene Gesellschaftsordnung herausgebildet hatte, die gewöhnlich als Stalinismus bezeichnet wird. Wir betrachten die Hauptbereiche des sozioökonomischen und des gesellschaftlich-politischen Lebens der UdSSR in den Vorkriegsjahren, erhalten so die Möglichkeit, die soziale Anatomie des stali­nistischen Regimes aufzuzeigen, und können die Merkmale, die mit Stalins Tod verschwanden, von jenen abgrenzen, die in etwas modifizierter Form in den darauf folgenden Jahrzehnten erhalten blieben und letztlich den Zerfall der UdSSR sowie die Restauration des Kapitalismus in den einstigen Unions­republiken bedingten.

Im zweiten Teil des Buches werden die internationalen politischen Ereignisse in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre untersucht. Ich möchte, ohne Wertungen dieser Ereignisse vorwegzunehmen, lediglich einige Gedanken über den Abschluss des sowjetisch-deutschen Vertrags äußern – ein Ereignis, das den weiteren Verlauf der Weltgeschichte für immer geprägt hat.

Bekanntermaßen gab es in der UdSSR bis zum Ende der achtziger Jahre ein strenges Tabu für jeden Versuch, die stalinistischen Wertungen des »Molotow-Ribbentrop-Paktes«, der eine grundlegende Wende in der sowjetischen Außenpolitik und der internationalen kommunistischen Bewegung bedeutete, zu revidieren. Die Situation schien sich 1989 zu ändern, als der I. Kongress der Volksdeputierten der UdSSR eine Kommission unter dem Vorsitz von Alexander Jakowlew bildete und diese beauftragte, eine politische und rechtliche Einschätzung des von Molotow und Ribbentrop am 23. August 1939 unterzeichneten Paktes vorzunehmen. Ein halbes Jahr später legte Jakowlew auf dem II. Kongress der Volksdeputierten die Ergebnisse der Kommission vor.

Wie in den vorangegangenen Bänden des Zyklus »Gab es eine Alternative zum Stalinismus in der UdSSR und der internationalen kommunistischen Bewegung?« polemisiere ich auch im vorliegenden Buch nicht direkt gegen die historischen Versionen und Mythen, die von früheren und heutigen Geschichtsfälschern konstruiert wurden. Eine Ausnahme mache ich bei dem genannten Vortrag Jakowlews, da es sich hier um ein gewissermaßen staatliches Dokument (die Hauptschlussfolgerungen wurden in einen vom damaligen höchsten Machtorgan der UdSSR gefassten Beschluss aufgenommen)und zugleich um das letzte Wort der sowjetischen Geschichtsschreibung handelte, noch dazu vom Hauptideologen der »Perestroika«.

Bei der Darlegung werden die gravierendsten Fehler, Erfindungen- und Verfälschungen aus Jakowlews Vortrag aufgezeigt. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel genannt, das die »Methodologie« seiner Arbeit betrifft. Ohne eine klassenbezogene Analyse und soziale Wertung der wichtigsten historischen Ereignisse äußerte Jakowlew lediglich, bei der Unterzeichnung des Paktes seien »bestimmte Elemente tief im Innern des demokratischen Weltempfindens insgesamt« verletzt worden. Diese Verletzungen sah er im Zusammenhang damit, dass sich »die Vorkriegsereignisse in einem anderen Koordinatensystem (als heute – W.R.) entwickelten. Damals begriffen sich die Länder noch nicht als ein einheitlicher ›Menschheitsstrom‹; weder die gesamteuropäischen noch die weltweiten Ideale der Gerechtigkeit und des Humanismus hatten sich einen Weg in das gesellschaftliche und staatliche Bewusstsein gebahnt … Die Geschicke der Welt wurden durch separate Gruppen von Politikern und Politikastern entschieden, die ihre eigenen Ambitionen durchsetzen wollten und von den Massen isoliert waren.«[[1]]

All diese schwülstigen Phrasen sollten den Eindruck erwecken, dass die genannten negativen Tendenzen in den internationalen Beziehungen überwunden seien oder dass man zumindest dabei sei, sie im Zuge des von Gorbatschow und Jakowlew angestoßenen »neuen Denkens« zu überwinden. Heute können wir aufgrund der historischen Erfahrungen der neunziger Jahre mit Recht die folgenden Fragen aufwerfen: Von wem werden in unseren Tagen die »Geschicke der Welt« entschieden? Von welchen globalen oder regionalen »Idealen« wurden Fehdekriege wie im Kaukasus, in Tadschikistan oder in den nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Ländern inspiriert? Welches »Koordinatensystem« lag dem tschetschenischen Gemetzel zugrunde oder den Schüssen auf das russische Parlament, die von den führenden Repräsentanten der für »Demokratie« und einen »Rechtsstaat« eintretenden kapitalistischen Welt gebilligt wurden?

Unter Berücksichtigung aller historischen Erfahrungen unseres Jahrhunderts wird besonders deutlich, dass der Abschluss des sowjetisch-deutschen Paktes von 1939 eines der schlimmsten Verbrechen Stalins – und ein perfides politisches Komplott darstellte, das von zwei totalitären Diktaturen langfristig vorbereitet wurde. Im zweiten Teil des Buches zeige ich auf, wie die Pläne Stalins und Hitlers beiden der Unterzeichnung des Paktes vorausgehenden Geheimverhandlungen immer konkretere Konturen annahmen und wie die Verhandlungspartner nach und nach ihre Karten aufdeckten, indem sie von allgemeinen Formulierungen wie »Klärung der Beziehungen« zu einer offenen Darlegung ihrer Expansionspläne übergingen.

Die Vorbereitung des Paktes und sein Inhalt widerlegen anschaulich den Mythos von einer »ideologisierten« Außenpolitik Stalins, die angeblich den bolschewistischen Kurs auf eine internationale sozialistische Revolution fortsetzen würde. In Wirklichkeit ließ sich Stalin nicht von irgendwelchen ideologischen Motiven leiten, die sowieso niemals eine wesentliche Rolle in seiner Innen- und Außenpolitik spielten, sondern von rein geopolitischen Erwägungen. »Ideologisch« motiviert wurden die Verhandlungen, wie sich der Leser des vorliegenden Buches überzeugen kann, von nationalsozialistischen Politikern und Diplomaten, die mehrfach zu ihren sowjetischen Partnern sagten, dass Deutschland und die UdSSR als Staaten, die ihrem Geiste nach den westlichen Demokratien feindlich gegenüberstanden, »gemeinsame« Interessen hätten. Diese politische Demagogie verfolgte das Ziel, die Ähnlichkeit totalitärer Regime im Gegensatz zu »plutokratischen« Staaten zu betonen.

Eine sowjetisch-deutsche »Annäherung« war Stalins Ziel von dem Augenblick an, als Hitler an die Macht gelangte. Hitler fasste, seinen eigenen Worten zufolge, den »Entschluss, mit Stalin zu gehen«, im Herbst 1938.[[2]] Nicht unwichtig dafür war, dass er für die Persönlichkeit Stalins Begeisterung (siehe 18. Kapitel) und für die Oberhäupter der bürgerlich-demokratischen Staaten Verachtung empfand. »Die armseligen Würmer Daladier und Chamberlain habe ich in München erlebt. Sie werden zu feige sein anzugreifen«, sagte er am 22. August 1939 zu seinen Generälen.[[3]]

Natürlich war nicht nur der Wille zweier totalitärer Diktatoren ausschlaggebend für die Gruppierung der politischen Kräfte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das sowjetisch-deutsche Bündnis war möglich, weil im Mittelpunkt der damaligen Weltpolitik nicht die Widersprüche zwischen der UdSSR und ihrem kapitalistischen Umfeld standen, sondern die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Hauptmächten, die durch die tiefe Krise des internationalen Kapitalismus in den dreißiger Jahren hervorgebracht worden waren. Die imperialistischen Widersprüche waren derart zugespitzt, dass sie die Bildung eines einheitlichen antisowjetischen Blocks der größten kapitalistischen Staaten ausschlossen.

Wie zahlreiche historische Dokumente belegen, drohte 1939, als Stalin seine endgültige Wahl zugunsten einer sowjetisch-deutschen Allianz getroffen und dadurch, nach Meinung von Historikern wie Jakowlew und Wolkogonow, den Überfall Deutschlands auf die UdSSR hinausgezögert hatte, der Sowjetunion keine unmittelbare Kriegsgefahr von deutscher Seite. Die politische und militärische Führung Deutschlands fühlte sich nicht auf einen Krieg gegen die UdSSR vorbereitet und hatte zu jener Zeit nicht einmal Pläne für einen solchen Krieg ausgearbeitet.

Die meisten in der Sowjetunion und im Ausland veröffentlichten Arbeiten über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs konzentrieren sich auf die Pläne und Taten eines engen Kreises von Politikern und Diplomaten. Die Ereignisse in der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung der dreißiger Jahre werden quasi ausgeklammert. Die Untersuchungen bürgerlicher Historiker ignorieren in der Regel die Arbeiten Trotzkis, in denen Gedanken über den sozialen Inhalt des heraufgezogenen und inzwischen begonnenen Krieges enthalten waren. Genauso wenig lassen sich in der bürgerlichen und erst recht in der sowjetischen Geschichtsschreibung Arbeiten finden, in denen bei der Analyse der politischen Ereignisse jener Jahre der permanente Kampf zwischen Stalin und der stalinisierten Komintern einerseits sowie Trotzki und der trotzkistischen Bewegung andererseits berücksichtigt wird. Im dritten Teil des vorliegenden Buches habe ich mir die Aufgabe gestellt, diese Lücke zu füllen und die enge Verbindung zwischen der stalinschen Innenpolitik, den in der diplomatischen Arena ablaufenden Ereignissen und dem in allen Teilen der Welt stattfindenden Kampf zwischen Stalinismus und Trotzkismus aufzuzeigen.

Ein nachdenkender und unvoreingenommener Leser, der das vorliegende Buch aufmerksam durchgearbeitet hat, wird die Bedeutung der im Titel benannten globalen historischen Alternative sicherlich richtig einschätzen können.

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 24.12.1989.

2 Ansprache Hitlers vor den Oberbefehlshabern, 22. August 1939. – In: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 [im Weiteren: ADAP], Serie D, Band VII, Baden-Baden, 1956, S. 171.

3 Ebenda.

Teil 1: Die UdSSR nach der großen Säuberung

Anmerkungen im Originaltext

1 Nauka i izn’, 4/1989, S. 42.

2 Quelle: Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1969g., S. 235–237; Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1972g., S. 96–99, 170–175.

3 XX sezd Kommunistièeskoj partii Sovetskogo Sojuza. Stenografièeskij otèet. T.I. Moskva 1956, S. 11.

4 L.A. Gordon/Ë.V. Klopov: Èto ëto bylo? Razmy-Šlenija o predposylkach i itogach togo, èto sluèilos’ s nami v 3040e gody. Moskva 1989, S. 76.

5 Sel’skoe chozjajstvo SSSR. Statistièeskij sbornik. Moskva 1960, S. 196.

6 Istorièeskij archiv, 2/1994, S. 27.

7 Nauka i izn’, 4/1989, S. 42.

8 L.A. Gordon/Ë.V. Klopov: Èto ëto bylo?, S. 106.

9 Strana Sovetov za 50 let. Sbornik statistièeskich materialov. Moskva 1967, S. 29.

10 Al’ternativy, 4/1995, S. 27.

11 Nauka i izn’, 4/1989, S. 41.

12 Alexander Nekritsch/Pjotr Grigorenko: Genickschuss. Die Rote Armee am 22. Juni 1941, Wien 1969, S. 85.

13 V. Danilov: Fenomen pervych pjatiletok. – Gorizont, 5/1988, S. 36.

14 Voprosy istorii KPSS, 11/1964, S. 73.

15 Leo Trotzki: Schriften 1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur. Band 1.2 (1936–1940), Hamburg 1988, S. 1134–1135.

16 Ebenda, S. 1135.

2. KAPITEL: Der achtzehnte Parteitag der KPdSU (B) über die wirtschaftliche Hauptaufgabe der UdSSR

Trotzki warnte davor, dass die in der Zeit der Einführung kapitalistischer Technik in der UdSSR erreichte hohe Zuwachsrate in der Industrie unweigerlich sinke, wenn die bisherigen Methoden der Wirtschaftsleitung beibehalten würden. »Gigantische Fabriken nach fertigen westlichen Mustern kann man auch auf bürokratisches Kommando errichten, freilich dreimal so teuer. Aber je weiter der Weg geht, umso mehr läuft die Wirtschaft auf das Problem der Qualität hinaus, die der Bürokratie wie ein Schatten entgleitet. Die Sowjetproduktion scheint wie von einem grauen Stempel der Gleichgültigkeit gezeichnet. In einer nationalisierten Wirtschaft setzt Qualität Demokratie für Erzeuger und Verbraucher, Kritik und Initiativfreiheit voraus, d.h. Bedingungen, die mit einem totalitären Regime von Angst, Lüge und Kriecherei unvereinbar sind.«[[1]]

Ein qualitativer Fortschritt in der Wirtschaft ist undenkbar ohne selbstständiges technisches und kulturelles Schaffen, was bei einer bürokratischen Wirtschaftsverwaltung jedoch nicht möglich ist. Deren Geschwüre spürt man weniger in der Schwerindustrie, dafür aber zerfressen sie die Zweige, die unmittelbar die Bedürfnisse der Bevölkerung bedienen, und bereiten ein allgemeines Absinken des Tempos beim Wirtschaftswachstum vor.

Die Bürokratie, berauscht von den Erfolgen in der Industrie, hoffte jedoch, das erreichte Tempo auch in Zukunft bei zu behalten und sogar noch zu steigern. Auf dieser Grundlage wollte sie die ökonomische Hauptaufgabe der UdSSR lösen – die Überwindung des technisch-ökonomischen Rückstands gegenüber den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, d.h. des Rückstands bei der Pro-Kopf-Erzeugung von wichtigen Erzeugnissen der Industrie und Landwirtschaft.

Bereits der sechzehnte Parteitag (1930) stellte die Aufgabe, »in kürzester historischer Zeit die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder in technischökonomischer Hinsicht einzuholen und zu überholen«.[[2]] Im Bericht an den VI. Sowjetkongress (März 1931) konkretisierte Molotow den Begriff »kürzeste historische Zeit« und verkündete, die UdSSR müsse die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder innerhalb der nächsten zehn Jahre einholen und überholen.[[3]]

Die Stalinisten waren überzeugt, dass die Lösung dieser Aufgabe möglich wäre, zum Ersten, weil sich in den kapitalistischen Ländern die Produktivkräfte während der dreißiger Jahre nur langsam entwickelten und in einzelnen Jahren gar ein erheblicher Rückgang der Produktion zu verzeichnen war. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise 1929–1933 sank das Bruttosozialprodukt in den USA um ein Drittel und erreichte in den darauf folgenden Jahren kaum den Stand von 1929.[[4]] Ab Herbst 1937 wurden die reichsten kapitalistischen Länder von einer neuen Wirtschaftskrise erfasst. In den USA sank bis Ende 1937 die Industrieproduktion um ein Drittel. In Frankreich verringerte sich die Industrieproduktion in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 auf 70% des Standes von 1929.[[5]]

Zum Zweiten verringerten die Wirtschaftserfolge der UdSSR den Abstand zwischen der Sowjetunion und den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern beim absoluten Umfang der Industrieproduktion beachtlich.

Die Tabelle zeigt einen Vergleich zwischen der UdSSR und den größten kapitalistischen Ländern bei der Herstellung einiger Industriegüter.[[6]]

Zu Beginn der vierziger Jahre hatte die Sowjetunion den absoluten Rückstand gegenüber den größten Staaten Westeuropas bei der Herstellung der wichtigsten Industriegüter überwunden. Bei der Erzeugung von Elektroenergie, Brennstoffen, Stahl und Zement übertraf sie 1940 die entsprechenden Kennziffern Deutschlands, Englands und Frankreichs bzw. rückte ganz dicht auf. Vom absoluten Umfang her wurden nur in den USA wesentlich mehr Industriegüter erzeugt als in der UdSSR.

Völlig anders dagegen sahen die Relationen zwischen der UdSSR und den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern aus, stellt man bei den gleichen Industriegütern die Pro-Kopf-Erzeugung gegenüber.

Vergleich zwischen der UdSSR und den kapitalistischen Ländern bei der Pro-Kopf-Erzeugung einiger Industriegüter (1937)[[7]]

Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, dass die Pro-Kopf-Produktion wichtiger Industriegüter in der UdSSR nur ein Fünftel bis zwei Drittel dessen betrug, was die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder erreichten.

Stalin und seine Helfershelfer hielten es jedoch weiterhin für möglich, alle kapitalistischen Länder einzuholen und zu überholen (wiederum in »kürzester historischer Zeit«, wenngleich diese Zeit auch die folgenden zehn Jahre umfasste), wobei er die für das kapitalistische System charakteristischen Konjunkturschwankungen außer Acht ließ und sich an den höchsten Kennziffern orientierte, die irgendwann einmal von einem kapitalistischen Land erreicht worden waren. In seinem Bericht an den achtzehnten Parteitag merkte Stalin speziell an, dass man bei der Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe der UdSSR nicht den Stand des Krisenjahres 1938 im Auge haben dürfe, als die USA insgesamt nur 18,8 Millionen Tonnen Gusseisen produzierten, sondern den Stand von 1929, als in den USA etwa 43 Millionen Tonnen Gusseisen gewonnen wurden. Deshalb orientierte er die sowjetische Wirtschaft auf die Erzeugung von jährlich 50–60 Millionen Tonnen Gusseisen, was das Dreieinhalb- bis Vierfache der Plankennziffer von 1940 bedeutete.[[8]]

In der Entschließung des Parteitags hieß es: »Jetzt können und müssen wir in der Praxis die ökonomische Hauptaufgabe der UdSSR stellen und lösen: auch in ökonomischer Hinsicht die am weitesten entwickelten Länder Europas und die Vereinigten Staaten von Amerika einholen und überholen und diese Aufgabe binnen nächster Zeit lösen.«[[9]] Zur Konkretisierung dieser Orientierung beauftragte der Rat der Volkskommissare Anfang 1941 die Staatliche Planungskommission, einen 15 Jahre umfassenden Generalplan zur Entwicklung der UdSSR mit verbindlichen staatlichen Plankennziffern aufzustellen, die es ermöglichen sollten, am Ende dieses Zeitraums »die wichtigsten kapitalistischen Länder bei der Pro-Kopf-Erzeugung von Roheisen, Stahl, Brennstoffen, Elektroenergie, Maschinen und anderen Produktionsmitteln sowie Konsumgütern zu überholen«.[[10]]

Ein weiteres Mal kam Stalin in seiner Rede vor Wählern im Februar 1946 auf die Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe zu sprechen, als er für einige Industriegüter die Kennziffern nannte, die man in den nächsten 10 bis 15 Jahren erreichen müsse, um die führenden kapitalistischen Länder einzuholen und zu überholen. Und schließlich wurde dieses Thema weitere 15 Jahre später, auf dem zweiundzwanzigsten Parteitag der KPdSU, vorgebracht, als Chrustschow neue Planzahlen nannte, deren Erreichen 1980 ein Überholen der USA in der Wirtschaftsentwicklung möglich machen würde.

Alle diese unqualifiziert aufgestellten Berechnungen extrapolierten auf die Zukunft das relativ hohe Entwicklungstempo der UdSSR in bestimmten Zeiträumen und das relativ niedrige Entwicklungstempo der kapitalistischen Länder – ebenfalls während einzelner Zeiträume. Darüber hinaus ignorierten sie die von Trotzki bereits in den dreißiger Jahren aufgezeigten chronischen Krankheiten der sowjetischen Volkswirtschaft, die unvermeidlich zum Rückgang des Wirtschaftswachstums führen mussten.

Anmerkungen im Originaltext

1 Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, Essen 1997, S. 297.

2 KPSS v rezoljucijach i rešenijach sezdov, konferencij i plenumov CK. Izd. 9, T. 4, S. 409.

3 Izvestija, 10.3.1931.

4 Al’ternativy, 4/1995, S. 28.

5 Weltgeschichte in zehn Bänden, Band 9, Berlin 1967, S. 392, 446.

6 Znanie – sila, 3/1988, S. 4.

7 Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1960g. Moskva 1961, S. 188–189.

8 J. Stalin: Fragen des Leninismus, Berlin 1951, S. 696–697.

9 XVIII sezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). Stenografièeskij otèet. Moskva 1939, S. 18.

10 Pravda, 22.2.1941.

3. KAPITEL: Die soziale Zusammensetzung und das Lebensniveau der sowjetischen Bevölkerung

Im Jahrzehnt vor dem Krieg änderte sich die soziale Zusammensetzung der sowjetischen Bevölkerung grundlegend. Dies kam vor allem im zahlenmäßigen Wachstum der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Die Gesamtzahl der Arbeiter stieg von acht bis neun Millionen im Jahr 1928 auf 23 bis 24 Millionen im Jahr 1940, die Zahl der Industriearbeiter entsprechend von vier auf zehn Millionen.[[1]] Arbeiter und Angestellte (in diese Kategorie fielen auch die Angehörigen der Sowchosen) bildeten Ende der dreißiger Jahre mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung.

Im Zeitraum 1928–1940 verdoppelte sich die Zahl der Städter nahezu. Diese Zunahme war vor allem dadurch bedingt, dass der Bau neuer Industriebetriebe forciert wurde und die Bevölkerung vom Land in die Städte zog. In den dreißiger Jahren wurden aus der Landwirtschaft etwa 15 bis20 Millionen Menschen freigesetzt. Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten sank von 80% der arbeitenden Bevölkerung im Jahre 1928 auf 54% im Jahre 1940.[[2]]

Ein schnelles zahlenmäßiges Wachstum war bei der Intelligenz zu verzeichnen, besonders bei der ingenieurtechnischen. Die Zahl der in der Volkswirtschaft tätigen Spezialisten stieg von 0,5 Millionen im Jahre 1928 auf etwa 2,5 Millionen im Jahre 1940.[[3]]

Dabei verschlechterten sich allerdings die qualitativen Eigenschaften der Intelligenz, besonders die der »oberen« Schichten. Wie der deutsche Historiker Rauch feststellte, wurden in den dreißiger Jahren die allseitig gebildeten Angehörigen der Intelligenz und echten Volkstribune abgelöst durch wortkarge, rüde Organisatoren und Bürokraten. Im Unterschied zum Westen wurde nicht der Jurist oder Wirtschaftsfachmann zum typischen Vertreter im Bereich der Verwaltung, sondern der Ingenieur (bzw. jemand mit einer ingenieurtechnischen Ausbildung).

Symptome für eine Verbürgerlichung der Sowjetgesellschaft sah Rauch in der verstärkten Differenzierung innerhalb der sozialen Gruppe der Angestellten und insbesondere innerhalb der Offiziere – infolge der Einführung von Diensträngen, Uniformen und anderer Unterscheidungsmerkmale. Die neue Hierarchiestruktur brachte neue soziale Barrieren hervor, die in der Armee besonders zu spüren waren.[[4]]

Mitte der dreißiger Jahre wurden der Arbeiterklasse ihre Vergünstigungen im Bildungsbereich entzogen (bevorzugte Berücksichtigung bei der Immatrikulation an einer Hochschule). Diese Tendenz erreichte 1940 ihren Höhepunkt, als eine Gebühr für den Unterricht in den oberen Klassen der Mittelschule und in der Hochschule eingeführt wurde. Diese Maßnahme ließ den Bildungsstand der Arbeiterklasse langsamer wachsen und war der Beginn für die Reproduktion der Intelligenz aus sich heraus.

Der größte Teil der Arbeiter und Angestellten lebte weiterhin unter äußerst schweren Lebensbedingungen. Ihr Realeinkommen sank durch die inflationären Tendenzen, wie sie für die Zeit der forcierten Industrialisierung charakteristisch waren. ImZeitraum1928–1940 stiegen zwar sowohl die Preise als auch die Löhne, das Wachstum der Preise lag jedoch über dem der Löhne. Insgesamt betrugen die staatlichen Einzelhandelspreise im Jahre 1940 das Sechs- bis Siebenfache im Vergleich zu 1928, während der durchschnittliche Nominallohn der Arbeiter und Angestellten im gleichen Zeitraum nur auf das Fünf- bis Sechsfache stieg und 1940 300 bis 350 Rubel betrug.[[5]] Die Kaufkraft des Arbeitslohns war in den dreißiger Jahren also geringer als in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre.

Eine andere Kennziffer für den Rückgang des Lebensniveaus der Arbeiter und Angestellten war die Verschlechterung ihrer Wohnbedingungen. Die Gesamtfläche (Nutzfläche) an Wohnraum in den Städten und Siedlungen mit städtischem Charakter stieg von180 Millionen qm im Jahre 1913 auf 421 Millionen qm im Jahre 1940. Im gleichen Zeitraum wuchs die Einwohnerzahl in den Städten und Siedlungen mit städtischem Charakter von 28 Millionen auf 63 Millionen, d.h. etwa genauso schnell wie der Wohnraum. Im Ergebnis dessen entfielen 1940 auf jeden Städter etwas mehr als 6qm Nutzfläche und etwa 5qm Wohnfläche, d.h. annähernd genauso viel wie vor der Revolution und zwei Drittel im Vergleich zu Mitte der zwanziger Jahre.[[6]]

Noch niedriger war das Lebensniveau in den Dörfern, die Ende der dreißiger Jahre immer noch einen größeren Beitrag zum Nationaleinkommen leisteten als die Industrie.[[7]] Infolge der administrativen Maßnahmen zur Umverteilung von Mitteln aus den Dörfern in die Städte stieg das Marktaufkommen der Landwirtschaft beträchtlich. Der Anteil des Getreides, das außerhalb des Dorfes verwendet wurde, stieg von 15% im Jahre 1928 auf 40% im Jahre 1940, d.h. fast auf das 2,7-fache, während die Landbevölkerung nicht in der gleichen Proportion abnahm.[[8]] Somit hatte das ungelöste Lebensmittelproblem die ungünstigsten Auswirkungen auf die Lage der Dorfbewohner, die Ende der dreißiger Jahre mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Landes ausmachten.

1940 betrug selbst bei den Kolchosbauern, die im ganzen Jahr nichteinen einzigen Arbeitstag versäumten, die Entlohnung kaum 50 Rubel im Monat, und fügt man den Naturalienlohn hinzu, knapp über 100 Rubel. Die Einnahmen aus der individuellen Nebenwirtschaft lagen 20–30% über denen aus der Arbeit im Kolchos. Somit betrug das durchschnittliche Arbeitsentgelt für einen vollbeschäftigten Kolchosbauern also 200 Rubel.[[9]]

Anmerkungen im Originaltext

1 L.A. Gordon/Ë.V. Klopov: Èto ëto bylo?, S. 63.

2 Trud v SSSR. Moskva 1968, S. 20.

3 Narodnoe chozjajstvo SSSR. Statistièeskij sbornik. Moskva 1956, S. 193.

4 G. von Rauch: Wandlungen der sowjetischen Gesellschaftsstruktur. – In: »Geschichte«. H. 2, Stuttgart 1967, S. 641, 643.

5 L.A. Gordon/Ë.V. Klopov: Èto ëto bylo?, S. 98–99.

6 Ebenda, S. 110.

7 Istorija SSSR, 4/1990, S. 24.

8 L.A. Gordon/Ë.V. Klopov: Èto ëto bylo?, S. 80.

9 Ebenda, S. 100.

4. KAPITEL: Stalinismus und Bauernschaft

Nachdem die Bürokratie 1934 die Bauernschaft nach faktisch sechs Jahren Bürgerkrieg auf dem Lande unterworfen hatte, setzte sie ihren beharrlichen Kampf gegen die Bauern fort, in dem sie ihnen einerseits gewisse Zugeständnisse machte und ihnen andererseits bereits gewährte Vergünstigungen versagte. Die Zeit der »Zugeständnisse« entfiel auf die Jahre 1937/38, als das ZK einige Beschlüsse über »Fehler« verabschiedet hatte, die von der Partei und Staatsführung der Gebiete Kalinin, Leningrad, Orenburg u. a. gegenüber den Kolchos- und Einzelbauern begangen worden waren. Diese Beschlüsse erwähnten »das große Ausmaß von Austritten und Ausschlüssen aus Kolchosen«; »Willkürmaßnahmen gegenüber Einzelbauern, die die Bauern in Zorn versetzt und in ihnen Aversionen gegen die Kolchosen geweckt haben«; die in vielen Kolchosen praktizierte Reduzierung des Hoflandes[*] auf eine Größe unterhalb der festgesetzten Norm; die Streichung der Möglichkeit für viele Bauern, Holz zu kaufen; die Aufstellung von Planvorgaben für die Aussaat, die mit den vorhandenen Bodenressourcen nicht zu schaffen waren, u.a.m. Alle diese Erscheinungen erklärte man mit bewusster Schädlingstätigkeit seitens ehemaliger Verantwortlicher der Partei und Staatsführung in den Regionen und Gebieten, die das Ziel verfolgt hätten, einen »verwahrlosten Zustand« der Landwirtschaft herbeizuführen.

Zur »Beseitigung der Folgen des Schädlingstums bei der Einrichtung der Kolchosen« und als »Hilfe für die Kolchosbauern« sahen die ZK-Beschlüsse vor, die Fläche des Hoflandes zu vergrößern und die Aussaatverpflichtungen für die Kolchosen etlicher Gebiete zu reduzieren. Parallel dazu wurde den Kolchos und Einzelbauern erlaubt, ihr Vieh ungehindert in den Wäldern weiden zu lassen, den Kolchosen einiger Gebiete wurden ihre Schulden bei der Rückzahlung ihrer für den Kauf von Getreide bestimmten Darlehen erlassen, und die Kolchosbauern wurden von ihren seit 1934 ausstehenden Strafzahlungen entbunden.

Gleichzeitig wurden auch für Einzelbauern, die in Kolchosen eintraten, Vergünstigungen eingeführt. Ihnen wurden alle Schulden aus den vergangenen Jahren erlassen. Sie sollten Hofland nach den für Kolchosbauern gültigen Normen erhalten.[[1]]

Im September 1938 wurden die nicht satzungsgebundenen Artels (für Spezialansiedler, d.h. »Entkulakisierte«, die in entlegene Landesteile deportiert wurden) an die allgemeine Satzung landwirtschaftlicher Artelsangebunden. Am 22. Dezember des gleichen Jahres verabschiedete der Rat der Volkskommissariate einen Beschluss, wonach an Spezialansiedler »bei mustergültiger Führung« Personalausweise ausgehändigt wurden und sie das Recht erhielten, ihren früheren Wohnsitz wieder an zu nehmen. Am Januar 1941 lebten in den Spezialsiedlungen 930.221 Personen, die fast unter den gleichen Bedingungen arbeiteten, wie sie im ganzen Land üblich waren.[[2]]

Dieses Entgegenkommen gegenüber der Bauernschaft rief deren verstärktes Interesse an ihrer Nebenwirtschaft hervor, wodurch ihre Aktivität bei der gesellschaftlichen Kolchosproduktion sank. Deshalb beschloss die stalinsche Führung bereits 1939, den »privateigentümlerischen« Tendenzen einen Schlag zu versetzen und auf administrativem Wege die Bauern stärker an die Kolchosen zu »fesseln«. Zu diesem Zweck wurde im Mai 1939einZKPlenumeinberufen, auf dem über »Maßnahmen zum Schutz von gesellschaftlichem Grund und Boden vor Misswirtschaft« beraten wurde. Diese Maßnahmen konzentrierten sich auf zwei Punkte: 1) die größenmäßige Beschränkung der in persönlicher Nutzung der Kolchos und Einzelbauern befindlichen Grundstücke; 2) die Festsetzung eines für die einzelnen Landesregionen differenzierten Minimums an Arbeitstagen,[**] das jeder Kolchosbauer abzuarbeiten hatte.

Stalin hielt auf dem Plenum zu dieser Frage ein Referat und schaltete sich bei anderen Rednern energisch ein. In der Diskussion sprachen hauptsächlich »Neulinge«, die erst wenige Monate dem ZK angehörten. Sie waren bemüht, die Weisheit Stalins zu unterstreichen, der mit seinem Referat, wie Stykow sagte, »uns, die auf unterer Ebene in der Praxis tätigen Parteiarbeiter, aus der Sackgasse, in der wir uns befunden haben, herausführte«.[[3]] Einige Redner verstiegen sich zu der Meinung, die Kolchosbauern würden die vom Zentralkomitee geplanten Maßnahmen mit Begeisterung aufnehmen. Besonders bezeichnend in dieser Hinsicht war das Auftreten Suslows, Sekretär des Parteikomitees für die Region Ordshonikidse, der, um zu bestätigen, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen »absolut zurrechten Zeit« kämen, davon berichtete, wie er vor kurzem in mehreren Kolchosen gewesen sei und mit den Bauern über die bei ihnen durchzuführende Reduzierung ihres individuellen Hoflands gesprochen habe. Er gab wieder, was angeblich ein Bauer gesagt hatte, dem von seinen 1,39 Hektar Hofland nur 0,35 Hektar gelassen worden waren.

Da frage ich ihn also: »Nun, es tut Ihnen sicher leid, dass man Ihnen das Stück Land weggeschnitten hat?« Er sagt: »Wie soll ich’s ausdrücken, ich hatte schon Gewissensbisse … Man kam nach Hause, wollte ja im Kolchos arbeiten, aber die Frau schimpfte, wieso man sein eigenes Stück Land nicht bearbeitet. Und so hatte man auch zu Hause keine Ruhe.«[[4]]

Zu Beginn der Diskussion über das obligatorische Minimum an Arbeitstagen hatten sich einige Teilnehmer des Plenums für Vergünstigungen für Betagte und kinderreiche Frauen ausgesprochen. Doch Stalin hatte mit seinen Zwischenrufen deutlich seinen Missmut über derartige Vorschläge zu verstehen gegeben. So hatte beispielsweise Tschubin erklärt, das für Baumwolle anbauende Wirtschaften festgelegte Minimum von 100 Arbeitstagen sei für Frauen mit Kindern unter 12 Jahren zu schwer, und vorgeschlagen, für sie das Minimum auf 50–60 Arbeitstage zu beschränken. Im Anschluss daran kam es zu folgendem Dialog zwischen Stalin und Tschubin:

Stalin: (Dieser Vorschlag) wurde in der Kommission abgelehnt. Man darf die Frauen nicht abwerten.

Tschubin: Die Frau ist das Familienoberhaupt.

Stalin: Demzufolge also erst recht nicht.[[5]]

Stykow, der danach sprach, sagte: »Hier haben die Genossen das Alter erwähnt, aber ich kann eine ganze Reihe von Kolchosen aufzählen, in denen 80-Jährige Bauern arbeiten, die die Norm übererfüllen und 500 Arbeitstage schaffen.«[[6]]

Stalin rief ständig dazwischen, verlangte eine Verschärfung der vorgeschlagenen Maßnahmen und unterstützte alle Redner, die selbst eine solche Verschärfung vorschlugen. Als Stykow verkündete, man müsse »die Größe des Hoflands der Einzelbauern möglichst stark einschränken«, reagierte Stalin sofort: »Man bekommt von ihnen (den Einzelbauern – W.R.) ohnehin so viel Nutzen wie von einem Ziegenbock Milch. Den Einzelbauern ist ein Achtel Hektar Hofland zu belassen.«[[7]]

Die Entschließung des Plenums schrieb vor, eine Vermessung aller in persönlicher Nutzung von Kolchosbauern befindlichen Grundstücke vorzunehmen, daran anschließend »sämtlichen über die Norm hinausgehenden Boden« – die Norm war in der Satzung des jeweiligen landwirtschaftlichen Artels festgelegt – vom Hofland der Kolchosbauern abzutrennen und dem Kolchos zuzuschlagen, sämtlichen außerhalb des Hofes befindlichen persönlich genutzten Grund und Boden der Kolchosbauern einzuziehen und dem Kolchos zu zu sprechen so wie das persönlich genutzte Land der Einzelbauern auf ein Minimum zu reduzieren.

Die Entschließung ordnete auch direkte Repressivmaßnahmen an, beispielsweise gegen Kolchosbauern und -bäuerinnen, die innerhalb eines Jahres das vorgeschriebene Minimum an Arbeitstagen nicht schafften. Diese Personen sollten aus dem Kolchos ausgeschlossen werden und die Rechte von Kolchosbauern verlieren.

Noch härtere Maßnahmen waren gegen Kolchosvorsitzende vorgesehen, die zu ließen, dass Kolchosbauern oder auch kolchosfremde Personen Kolchoswiesen und -felder übertragen bekamen, um dort Heu für ihren Eigenbedarf zu mähen. Solche Vorsitzende waren aus dem Kolchos auszuschließen und vor Gericht zu stellen.

Versuche, Kolchosland zugunsten der Nebenwirtschaften von Kolchosbauern zu beschneiden, sowie eine Aufstockung des Hoflands über die fest gelegte Norm hinaus galten als Straftat. Die Sekretäre von Kreisparteikomitees, die Vorsitzenden von Kreisexekutivkomitees und andere Partei- und Staatsfunktionäre, die eine solche Praxis zuließen, waren ihres Amtes zu entheben, aus der Partei auszuschließen und vor Gericht zu stellen.[[8]]

[*]zur Führung einer privaten Nebenwirtschaft durch Arbeiter und Angestellte – d.Ü.

[**] Der Begriff »Arbeitstag« (»trudoden«) entspricht hier einer bestimmten Arbeitseinheit – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 RCChIDNI, f. 17, op. 3, d. 993, l. 88, 89; d. 994, l. 55; d. 995, l. 32; d. 997, l. 4951.

2 Deportacija. – In: Kommunist 3/1991, S. 101; Istorija oteèestva: ljudi, idei, rešenija. Moskva 1991, S. 182.

3 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 646, l. 61, 62.

4 Ebenda, l. 145147.

5 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 652, l. 36.

6 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 646, l. 74.

7 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 654, l. 17.

8 Pravda, 28.5.1939.

5. KAPITEL: Soziale Ungleichheit

Die offizielle Propaganda stellte natürlich die Situation des Sowjetvolks in einem günstigeren Licht dar, als es sich in Wirklichkeit verhielt. Trotzki bemerkte dazu, dass die soziale Reaktion immer gezwungen sei, sich zu maskieren und die wahre Lage der Dinge zu verzerren. Dies gelte besonders für den Stalinismus als Produkt des Kampfes der neuen Aristokratie gegen die Massen, die ihr zur Macht verholfen hatten. Deshalb nähmen Stalin und seine Apologeten, wenn sie das soziale Wesen des Regimes und das Lebensniveau der Bevölkerung charakterisierten, ständig Zuflucht zu Lüge und Fälschung.

Den Mechanismus dieser Fälschungen deckte Trotzki auf, als er den Abschnitt aus Stalins Referat auf dem achtzehnten Parteitag analysierte, in dem es um das Wachstum des Volkswohlstands ging. Wichtig sei nicht das gewesen, was Stalin gesagt habe, sondern das, was er verschwiegen habe. Verschwiegen hatte Stalin bereits manches zur sozialen Struktur der sowjetischen Gesellschaft. Er hatte behauptet, die Zahl der Arbeiter und Angestellten sei von 22 Millionen im Jahre 1933 auf 28 Millionen im Jahre 1938 gestiegen. Dazu schrieb Trotzki: »Die Kategorie der ›Angestellten‹ umfasst hier nicht nur die Beschäftigten eines Genossenschaftsladens, sondern auch die Mitglieder des Rats der Volkskommissare. Arbeiter und Angestellte sind hier wie immer in der Sowjetstatistik zusammengefasst, um nicht die numerische Größe der Sowjetbürokratie, ihr schnelles Anwachsen und vor allem das rasche Ansteigen ihrer Einkünfte zu enthüllen.«

Stalin hatte nichts zur Differenzierung der Bevölkerung hinsichtlich ihres Einkommens gesagt. Er hatte sich darauf beschränkt, Durchschnittslöhne anzuführen, also eine Methode angewendet, zu der »immer nur die minderwertigsten Apologeten der Bourgeoisie Zuflucht genommen (haben). In entwickelten Industrieländern ist man von dieser Methode fast völlig abge­kommen, weil man damit niemanden mehr täuschen kann. Dafür wurde sie zur beliebten Methode im Lande des verwirklichten Sozialismus, wo sich alle sozialen Beziehungen durch völlige Transparenz auszeichnen sollten. ›Sozialismus ist Buchhaltung‹, sagte Lenin. ›Sozialismus ist Betrug‹, lehrt Stalin.«[[1]]

Dieser Betrug zeigte sich ganz deutlich in Stalins Äußerungen über den jährlichen Lohnfonds, der sich seinen Worten zufolge in den fünf Jahren zwischen dem siebzehnten und dem achtzehnten Parteitag von 35 Milliarden auf 96 Milliarden Rubel, d.h. fast auf das Dreifache, erhöht hatte. Stalin sprach hier selbstverständlich vom Nominallohn und nicht vom Reallohn, der die Preisänderungen berücksichtigte. Hätte man Letzteren angeführt, wäre leicht zu erkennen gewesen, dass das Lebensniveau der Werktätigen in dem von Stalin genannten Zeitraum nur unbedeutendgestiegen war. Außerdem sagte Stalin kein Wort darüber, wie sich der jährliche Lohnfonds auf die einzelnen Kategorien der Arbeiter und Angestellten verteilte. Er teilte lediglich mit: »Der mittlere Jahreslohn der Industriearbeiter, der im Jahre 1933 1.513 Rubel betrug, hat sich auf 3.447 Rubel im Jahre 1938 erhöht.«[[2]] »Plötzlich wird nur noch von Arbeitern gesprochen; es ist aber nicht schwer nachzuweisen, dass es sich auch hier um Arbeiter und Angestellte handelt: Es genügt, den durchschnittlichen Jahreslohn (3.447 Rubel) mit der Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten (28 Millionen) zu multiplizieren, und wir erhalten die von Stalin genannte Jahreslohnsumme der Arbeiter und Angestellten, nämlich 96 Milliarden Rubel. Um die Lage der Arbeiter zu beschönigen, gestattet sich der ›Führer‹ die schäbigsten Verdrehungen, derer sich selbst der gewissenloseste bürgerliche Journalist schämen würde. Wenn wir die Kaufkraftveränderung des Geldes außer Acht lassen, bedeutet ein Durchschnittsjahreslohn von 3.447 Rubel folglich nur, dass bei Zusammenziehung der Löhne von ungelernten, qualifizierten und Stachanow-Arbeitern, von Ingenieuren, Trustdirektoren und Volkskommissaren der Industrie ein Jahresdurchschnittslohn von weniger als 3.500 Rubel pro Person herauskommt. Um wie viel ist in den letzten fünf Jahren der Lohn von Arbeitern, Ingenieuren und leitendem Personal gewachsen? Wie viel bekommt heutzutage ein ungelernter Arbeiter?[*] Darüber kein Wort.«

Trotzki verwies darauf, dass es ein schwerer Fehler wäre zu denken, dass in den von Stalin genannten Mittelwerten das gesamte Einkommen der höchsten »Angestellten«, d.h. der herrschenden Kaste, eingeschlossen wäre. »In Wirklichkeit erhalten sogenannte ›verantwortliche Mitarbeiter‹ zusätzlich zum offiziellen, vergleichsweise bescheidenen Gehalt geheime Einkünfte aus der Kasse des Zentralkomitees oder der örtlichen Komitees; Automobile stehen ihnen zur Verfügung …, prächtige Wohnungen, Datschen, Sanatorien und Krankenhäuser. Zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse oder ihrer Eitelkeit werden alle Arten von ›Sowjetpalästen‹ gebaut … All diese enormen Einkünfte (für den Staat sind es Ausgaben) gehen natürlich nicht in die von Stalin erwähnten 96 Milliarden ein. Davon abgesehen, wagte es Stalin jedoch nicht einmal, die Frage anzuschneiden, wie der legale Lohnfonds (96 Milliarden) zwischen Arbeitern und Angestellten, zwischen ungelernten und Stachanow-Arbeitern, zwischen einfachen und hohen Angestellten aufgeteilt wird. Zweifellos fällt der Löwenanteil am Zuwachs des offiziellen Lohnfonds an die Stachanow-Arbeiter bzw. in Form von Prämien an die Ingenieure. Wenn Stalin mit Durchschnittsziffern operiert, die an sich schon keinerlei Vertrauen verdienen; wenn er die Arbeiter und Angestellten in einer Kategorie zusammenfasst; wenn er die Spitzen der Bürokratie zu den Angestellten zählt; wenn er geheime Milliardenfonds verschweigt; wenn er ›vergisst‹, bei der Bestimmung des Durchschnittslohns die Angestellten zu erwähnen, und nur von den Arbeitern spricht, dann verfolgt er damit ein einfaches Ziel: die Arbeiter zu betrügen, die ganze Welt zu betrügen, und die gewaltigen und stetig anwachsenden Einkünfte der privilegierten Kaste zu verheimlichen.«[[3]]

Auf die soziale Struktur und die Lebensweise der sowjetischen Gesellschaft kam Stalin noch einmal zu sprechen, als er darlegte, wie sich die Funktionen des Sowjetstaats geändert hatten. Er verkündete: »An Stelle der Funktion der Unterdrückung erhielt der Staat die Funktion, das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern des Volksguts zu schützen.«[[4]] »Es erweist sich so«, kommentiert Trotzki diese Worte, »dass der Staat nicht wegen der ausländischen Spione, sondern auch wegen der einheimischen Diebe besteht. Deren Bedeutung ist offenbar so groß, dass sie die Existenz einer totalen Diktatur rechtfertigen und sogar als Begründung für eine neue Staatsphilosophie dienen. Wenn die einen Leute die anderen bestehlen, bedeutet das offenkundig, dass in der Gesellschaft nochbittere Not und erhebliche Ungleichheit herrschen, die zum Diebstahl anstiften. Hier kommen wir der Wurzel des Problems schon näher. Soziale Ungleichheit und Not sind sehr wichtige historische Faktoren, die an sich schon das Bestehen eines Staates erklären. Ungleichheit bedarf immer der Überwachung, Privilegien erfordern immer Absicherung und Übergriffe der Armen erfordern Bestrafung. Darin genau besteht die Funktion des Staates in der Geschichte!«

»Stalin muss über die soziale Natur seines Staates aus demselben Grund lügen«, fasste Trotzki seine Schlussfolgerungen zusammen, »aus dem er über den Lohn der Arbeiter lügen muss; in dem einen wie in dem anderen Fall tritt er als Repräsentant der privilegierten Parasiten auf. In einem Land, das die proletarische Revolution vollzogen hat, kann man nur dann die Ungleichheit kultivieren, eine Aristokratie schaffen und Privilegienanhäufen, wenn man die Massen in eine Flut von Lügen und immer ungeheuerlicher Unterdrückung stößt.«[[5]]

Diese Schlussfolgerungen wurden durch die gesamte nachfolgende Entwicklung des stalinschen Regimes bestätigt. Der Druck der sozialen Antagonismen, von denen die sowjetische Gesellschaft zerfressen wurde, erwies sich gegen Ende der Stalinzeit als so stark, dass Stalins Nachfolger nach dessen Tod auf dem Gebiet der Sozialpolitik zu beträchtlichen Zugeständnissen an die Volksmassen gezwungen waren. Von 1953 an wurden großangelegte Sozialprogramme und -reformen realisiert, die auf eine Verringerung der enormen Unterschiede im Lebensniveau der unterschiedlichen sozialen Gruppen in der Gesellschaft abzielten. Infolgedessen begann die privilegierte Stellung der Bürokratie und der in ihrem Lebensstandard an sie angenäherten sozialen Schichten (die Oberschichten der wissenschaftlichen, technischen und schöpferischen Intelligenz) zu bröckeln. Unter diesen Bedingungen war die Bürokratie, die ihre privilegierte Stellung behalten wollte, besonders empfänglich für Günstlingswirtschaft und andere Formen der Korruption. Korruption und Diebstahl von sozialistischem Eigentum als Massenerscheinung wurden zum Hauptfaktor für das Dahinsiechen des nachstalinschen Regimes. Es zeichnete sich ein neuer sozialer Widerspruch ab zwischen der Bürokratie, die weiterhin das Steuerrad der Macht in ihren Händen hielt und sich gierig an ihre offiziellen und inoffiziellen Privilegien klammerte, und den obersten Schichten der Intelligenz, die den Verlust ihrer materiellen Privilegien schmerzvoll wahrnahmen. Die Realeinkommen, die diese Schichten in Form von hohen Gehältern, Prämien und anderen Gaben seitens des herrschenden Regimes erhielten, begannen relativ zu sinken, da sich das Einkommen der niedrig und durchschnittlich bezahlten Kategorien von Werktätigen erhöhte und inflationäre Tendenzen wirksam wurden. Aus der Tatsache, dass die Kaufkraft des Rubels fiel und immer neue Mangelerscheinungen auftraten, zog die neue Schicht von Geschäftemachern der Schattenwirtschaft ihren Nutzen.

Die Restauration des Kapitalismus in den Republiken, die auf den Trümmern der UdSSR entstanden waren, bestätigten Trotzkis Prognose: »Der Widerspruch zwischen den Eigentumsformen und den Verteilungsnormen kann nicht endlos wachsen. Entweder werden die bürgerlichen Normen – so oder so – auch auf die Produktionsmittel übergreifen, oder es müssen umgekehrt die Verteilungsnormen mit dem sozialistischen Eigentum in Einklang gebracht werden.«[[6]] In die Praxis umgesetzt wurde gegen Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre die erste Variante aus dieser Prognose. Korrumpierte Elemente und Elemente der Schattenwirtschaft der »alten« Sozialstruktur waren das Milieu, aus dem sich die Klasse der neuen Bourgeoisie rekrutierte. Die Einkommen dieser Klasse wachsen synchron zu den immer neuen Angriffen auf die sozialen Interessen und das Lebensniveau des größten Teils der Bevölkerung.

An dieser Stelle sei erwähnt, wie sich Trotzki die Evolution der Verteilungsnormen in einer Gesellschaft vorstellte, die sich wirklich zum Sozialismus hin entwickelte. Sein Ideal lief selbstverständlich niemals darauf hinaus, dass »die gesamte Bevölkerung in Armut gleichgestellt« ist. Sein Gedankengang war prinzipiell anders und kann in den folgenden Thesen zusammengefasst werden: Die sozialistische Macht muss als strenge ökonomische Notwendigkeit »bürgerliche Verteilungsnormen« einführen und diese dann mit wachsendem gesellschaftlichem Reichtum durch sozialistische Gleichheit, d.h. konsequente Angleichung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihres Wohlstands, ersetzen.

Ein solcher Weg wurde von keinem Staat, der sich sozialistisch nannte, versucht. In allen so genannten sozialistischen Staaten, die sich nach dem Muster und Vorbild der UdSSR entwickelten, entstanden neue Systeme von sozialer Ungleichheit und Privilegien, und dementsprechend starb die Hauptfunktion, wie sie ein jeder Staat hat – Schutz der Vermögensprivilegien einer Minderheit gegenüber der großen Mehrheit der Gesellschaft – nicht ab, sondern festigte sich. Dies bedingte die Dynamik der sozialen, ökonomischen und politischen Widersprüche, die letztlich zum Zusammenbruch der Staatsordnungen in der UdSSR und in den Ländern Osteuropas führte.

Die Rückkehr zu sozialistischen Organisationsprinzipien der Gesellschaft setzt voraus, dass man sich über Folgendes bewusst ist: Wenn man anerkennt, dass die Ungleichheit in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus historisch notwendig ist, bleiben Fragen offen, wo die zulässigen Grenzen dieser Ungleichheit in jeder historischen Etappe liegen. Die Beantwortung dieser Fragen muss von den Interessen und vom Willen der Volksmassen abhängig gemacht werden, was wiederum nur auf dem Boden einer wahrhaft sozialistischen Demokratie möglich ist.

[*]Dieser Satz fehlt im deutschen Text – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 Leo Trotzki: Schriften 1, Band 1.2, S. 1192–1193.

2 J. Stalin: Fragen des Leninismus, S. 705.

3 Leo Trotzki: Schriften 1, Band 1.2, S. 1193–1194.

4 J. Stalin: Fragen des Leninismus, S. 727–728.

5 Leo Trotzki: Schriften 1, Band 1.2, S. 1192, 1194.

6 Leo Trotzki: Verratene Revolution, S. 270.

6. KAPITEL: Gesellschaftliche Sitten

Die alltägliche Not der übergroßen Bevölkerungsmehrheit im Land und die krasse materielle Ungleichheit führten zu einem Kampf um die notwendigen Konsumgüter, der darin zum Ausdruck kam, dass Diebstahl an der Tagesordnung war, Gesetze und Festlegungen umgangen sowie Staat und Verbraucher betrogen wurden. Die Bürokratie, die in diesem Kampf als Richter, Kontrolleur und Bestrafender auftrat, versank selbst immer tiefer in Korruption. 1939 schrieb Trotzki: »Selbstverständlich gibt es in der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft, der Armee und selbst im bürokratischen Apparat überall ehrliche und der Sache ergebene Menschen. Aber genau sie sind gefährlich. Gegen sie braucht man eine Auswahl besonders gerissener Kerle, eine Ordensgemeinschaft hundertprozentiger Stalin-Anhänger, eine Hierarchie von sozial Verfemten und Ausgestoßenen. Diese Leute sind dressiert auf Lüge, auf Fälschung, auf Betrug. Eine Idee, die über ihren persönlichen Interessen stünde, haben sie nicht. Kann man etwa von Menschen, denen die Fälschung zur legitimen Arbeitstechnik in ihrem Dienst geworden ist, erwarten und verlangen, dass sie für ihre persönlichen Ziele keine Fälschung einsetzen? Das widerspräche allen Gesetzen der Natur.«[[1]]

Trotzki betonte, dass die offiziellen Privilegien der Bürokratie, die sich weder durch die Prinzipien des Sozialismus noch durch die Landesgesetze rechtfertigen ließen, nichts anderes seien als Diebstahl. »Neben diesem legalisierten Diebstahl gibt es noch zusätzlich illegalen Diebstahl, über den Stalin hinwegsehen muss, weil die Diebe seine wichtigsten Stützen sind. Der bonapartistische Staatsapparat ist folglich ein Organ zum Schutz der bürokratischen Diebe und Räuber des Volkseigentums …

Unterschlagung und Diebstahl, die Haupteinnahmequellen der Bürokratie, stellen kein Ausbeutungssystem im wissenschaftlichen Sinne des Wortes dar. Aber von der Interessenlage der Volksmassen her sind sie unermesslich schlimmer als jede ›organische‹ Ausbeutung. Im wissenschaftlichen Sinn des Wortes ist die Bürokratie keine besitzende Klasse. Aber sie trägt in verzehnfachtem Maße alle Laster einer besitzenden Klasse in sich … Zum Schutz des systematischen Diebstahls der Bürokratie muss ihr Apparat zu systematischer Gewalttat Zuflucht nehmen. Alles das macht das System des bonapartistischen Gangstertums aus.«[[2]]

Heute erscheinen die Worte über den »zusätzlichen illegalen Diebstahl« der Bürokratie, bezogen auf die Realität der dreißiger Jahre, vielleicht übertrieben. So sehen selbst einige seriöse Erforscher des ideellen Erbes Trotzkis dessen Hinweis auf die »Straffreiheit der Bürokratie« und »alle Arten von Verkommenheit und Verfall«, die sich aus der »auf Gewalt begründeten Geschlossenheit der Partei« ergeben. Sie beziehen derartige Erscheinungen erst auf die sechziger bis achtziger Jahre und bezeichnen sie als »Phänomen der Breshnew-Zeit«.[[3]]

Eine unvoreingenommene historische Analyse lässt jedoch erkennen, dass die Korruption in der sowjetischen Gesellschaft durchaus nicht erst in der Regierungszeit Breshnews aufkam. Bereits in den zwanziger Jahren rief die Korrumpierung eines Teils der Partei- und Staatsbürokratie, die aus den inneren Widersprüchen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) ihren Nutzen zog, in Arbeiter- und Kommunistenkreisen aktiven Protest und Besorgnis hervor. Während jedoch damals die Hinterzieher von Staatseigentum und die Bestechlichen sowohl von der Partei als auch vor Gericht bestraft wurden, widmete in den nachfolgenden Jahren die Staatsmacht, die ihre Anstrengungen auf die Unterdrückung oppositioneller Gedanken und überhaupt jeglichen Andersdenkens konzentrierte, dem Kampf gegen die Korruption immer weniger Aufmerksamkeit. Außerdem rückten an die Stelle der vormals herrschenden, in den Jahren des großen Terrors fast vollständig ausgerotteten Schicht Personen, denen es in der Regel an ethischen Prinzipien und moralischen Hemmungen fehlte und die deshalb besonders empfänglich für verschiedene Arten von Korruption waren. Schon 1937 stellte die menschewistische Zeitschrift »Sozialistitscheskij westnik« [»Sozialistischer Bote«] ganz richtig fest, dass »jene privilegierte Schicht, die Stalin liebevoll aufzieht und auf die er sich stützt, gerade zu wimmelt von ›Nutznießern der Revolution‹, Räubern und Raffern, die bereit sind, sich an jeden ›Sieger‹ zu verkaufen.«[[4]] In diesen Kreisen standen Vetternwirtschaft, gegenseitige Unterstützung aus Eigennutz und Begünstigung in voller Blüte.

Lenin hatte mehrfach betont, dass die Hauptschwierigkeit bei der Errichtung des Sozialismus darin bestehe, dass er von Menschen errichtet werden müsse, die in ihrem Moralbewusstsein, ihren Sitten und Gewohnheiten das Erbe der alten Welt mit sich trügen. Und genau auf diese Seiten des moralischen Antlitzes oder der »menschlichen Natur«, vergiftet durch die Jahrtausende lange Herrschaft der Ausbeutungsverhältnisse, stützte sich der Stalinismus. Ständig übte er totalitären Druck auf die Persönlichkeit aus und zwang die Menschen zu lügen, zu heucheln, aktiv oder passiv (beispielsweise durch eine Abstimmung bei Massenkundgebungen und Versammlungen) die ungeheuerlichsten Aktionen des herrschenden Regimes zu unterstützen. Dieses Verhalten führte dazu, dass das moralische Erbe der alten Welt wieder erstand und triumphierte, häufig in übertriebenen Formen, die die schlechten Seiten der bürgerlichen Gesellschaft noch übertrafen. In diesem Sinne konnte niemand moralisch sauber bleiben, und das um so weniger, je erfolgreicher der Betreffende nach Karriere und Aufstieg strebte.

Zahlreiche treffende Beobachtungen zu den gesellschaftlichen Sitten und insbesondere zum moralischen Verfall der »Elite«, deren sittliches und geistiges Niveau unter dem »Landesdurchschnitt« lag, enthalten die Tagebuchaufzeichnungen des Akademiemitglieds W.I. Wernadski:

1939. 11. April. Eine Zeit lang dachte ich, die bestehende Unterdrückung und der Despotismus könnten nicht gefährlich für die Zukunft werden. Jetzt sehe ich, dass dadurch alles zersetzt und vernichtet werden kann, was an Neuem und Gutem hervorgebracht wird. Die drastisch gesunkene geistige Kraft der Kommunistischen Partei, ihr im Vergleich zum Durchschnitt meiner Kreise deutlich niedrigerer Stand bei Intellekt, Moral und Überzeugung erzeugt Zweifel an der Stabilität der aufkommenden Situation.

5. Oktober. Es frappiert die »profitorientierte« Einstellung der an die Spitze der Massen rückenden Kommunisten. Sich gut kleiden, gut essen, wohnen – auch alle bürgerlichen Bestrebungen erleben einen deutlichen Aufschwung. Sie unterstützen sich gegenseitig. Das wird sich in der realen Staats und Gesellschaftsordnung zeigen, die sich herausbildet. Sämtlicher Abschaum geht in die Partei.

23. Oktober. Zu viele schtschedrinsche Gestalten sind jetzt in der Partei und erhalten Macht. Dann platzen ihre krummen Geschäfte, und sie werden bestraft, aber ihre Sache machen sie weiter. Ein Großteil des »Schädlingstums« kommt daher.

1940. 1. Januar. Sie (die Machtbehörden) beklagen, dass es schwer wäre, Leute zu finden. In Wirklichkeit hängt die Auswahl wie nie zuvor von der »Vertrauenswürdigkeit« ab. Und dann werden, wie immer in solchen Fällen, »Allianzen« gebildet, die sich gegenseitig unterstützen. Einmal habe ich zu Krshishanowski gesagt: »Wo nehmt ihr bloß diese gogolschen und schtschedrinschen Gestalten her?!«

1941. 21. Januar. Modern ist jetzt der Kurs, der in der Akademie der Wissenschaften gefahren wird – konform zur ausgeprägten Verrohung des Lebens und zur krassen Missachtung der Menschenwürde, wie es jetzt bei uns im Zusammenhang mit der Unfähigkeit der Staatsmaschinerie immer stärker Sitte wird … Der auf Gewaltanwendung beruhende Kommunismus nimmt zu und zerfrisst de facto die Staatsstruktur. Alles ist durchdrungen von Spionage( d.h. von Beschattung durch NKWD-Agenten – W.R.). Überall mehren sich die Fälle von Diebstahl. Die Verkäufer in Lebensmittelgeschäften stehlen allerorts. Man schickt sie in die Verbannung – wenige Jahre später kehren sie zurück, und das Ganze beginnt von vorn.

4. Februar. Druck, Bespitzelung und Formalismus durch Ignoranten und Dummköpfe, eine besondere Art von »Geschäftemachern« – junge Staatsdiener, von denen die einen aus Überzeugung handeln und die anderen auf Gewalt setzen.

Besondere Beunruhigung löste bei Wernadski der »trotz talentierter und arbeitender Menschen existente Verfall in der Wissenschaft« aus, den er durch »Fäulnis des Zentrums« und die »verantwortungslose Rolle der Parteiorganisation an der Akademie« erklärte, »die aus jungen Leuten besteht, deren sämtliche Bestrebungen auf ein ›besseres‹ Leben – auf Erhalt von Geld, ganzgleich, wie, gerichtet sind«. Für die Parteifunktionäre sei ein »deutlich niedrigeres wissenschaftliches Niveau, die Verteilung des Kuchens und der ausgesprochen bürgerliche Wunsch, mehr Geld zubekommen, charakteristisch. Wir alle sehen und wissen das. Intrigen sind eine typische Erscheinung unter den Parteileuten, bedauerlicherweise auch zum großen Schaden für den Staat.«[[5]]

Moralischer Verfall und das Streben nach einem »fröhlichen Leben« traten bei den »Rekruten des Jahres 1937« sogar in den Kriegsjahren zutage. In diesem Zusammenhang sei ein Beispiel angeführt, das von Interesse ist, weil es auch das Verhalten des jungen Breshnew betrifft.

Im Jahre 1942 richtete der Politleiter Aison, der vor seinem Wechsel an die Front im Gebietsparteikomitee Dnepropetrowsk gearbeitet hatte, an das ZK der KPdSU(B) eine Meldung über die »Heldentaten« eines gewissen Gruschewoi, Zweiter Sekretär des Gebietskomitees. Wie daraus hervorging, hatte Gruschewoi, als er von Dnepropetrowsk in das damals im Hinterland gelegene Stalingrad umzog, die Teppiche aus dem Gebietskomitee, einen Sack mit Leder und zwei Mädchen mitgenommen, die er sich unterwegs, ohne dass es ihm vor den Reisegefährten peinlich gewesen wäre, in sein Schlafabteil holte. Ende November 1941 kamen der Stellvertretende Chef der Politischen Verwaltung der Front Breshnew und der frühere Sekretär des Gebietskomitees Dnepropetrowsk Kutschmi nach Stalingrad, wo Gruschewoi als Bevollmächtigter des Militärrats der Südfront tätig war. Über dieses Ereignis schrieb Gruschewoi in seinen Memoiren: »Die Begegnung verlief sehr herzlich, freudvoll … L.I. Breshnew … gab sowohl unserer Operativgruppe als auch den Genossen, die in Betrieben arbeiteten, viele nützliche Ratschläge.«[[6]]

In Aisons Schreiben ergibt sich ein anderes Bild: »Man traf sich, veranstaltete Trinkgelage, und Gruschewoi stellte ihnen (Breshnew und Kutschmi) Anja und Katja zur Verfügung … Die Trinkgelage fanden regelmäßig statt. Als Breshnew dann nach seinen Sauforgien wieder abreiste, rief er mich zu sich und sagte, ich solle meine Zunge im Zaum halten.«

Bei der Prüfung von Aisons Meldung konstatierte das ZK der KP(B) der Ukraine: »Die Angaben über das taktlose Benehmen des Gen. Gruschewoi haben sich im Wesentlichen bestätigt«, verschob jedoch die weitere Bearbeitung« im Zusammenhang damit, dass Gruschewoi derzeit in der Roten Armee dient und es deshalb unmöglich ist, dieses Problem in seinem Beisein zu behandeln«.[[7]] Gruschewoi und Breshnew entgingen einer Bestrafung und setzten ihren Aufstieg auf der Karriereleiter erfolgreich fort. Während Breshnews Regierungszeit wurde Gruschewoi Generaloberst und Kandidat für das ZK der KPdSU.

In den Nachkriegsjahren entwickelten sich Wirtschaftskriminalität und Korruption der Bürokratie zu einem der Faktoren für die soziale Spaltung der Gesellschaft. Eine anschauliche Beschreibung erfahren diese Erscheinungen in den Werken von W. Dudinzew, W. Owetschkin, W. Panowa und anderen sowjetischen Schriftstellern der fünfziger Jahre sowie in den Romanen »Leben und Schicksal« von W. Grossmann, »Krebsstation« und »Im ersten Kreis« von A. Solschenizyn, in denen die Realität des Spätstalinismus retrospektiv dargestellt wird.

Die Veränderungen in den sozialen Eigenschaften der 1937 rekrutierten Apparatschiki erreichten in den Jahren der Stagnation ihre stärkste Ausprägung. In dieser Zeit setzte sich der Apparat, der Partei und Land regierte, hauptsächlich aus Personen zusammen, die nach den Repressalien der dreißiger Jahre an die Macht gekommen waren. Diese Generation, die die erste Generation der sowjetischen Bürokratie ablöste, hatte ein neues Stadium politischer, moralischer und allgemeiner Zersetzung durchlaufen. Sie nutzten den »Liberalismus« der Innenpolitik Breshnews für ihre eigennützigen Zwecke aus und fühlten sich an keine moralischen Gesetze gebunden, da ihre politische Erziehung, die die Ausführung der unmoralischsten Aktionen verlangte, absolut nicht zur Herausbildung eines inneren Maßstabs für soziales Verhalten beitrug. Der bürokratische Apparat, in dem keine Vertreter des moralischen Erbes der Oktoberrevolution mehr verblieben waren, verwuchs zu einem großen Teil mit kriminellen Elementen und Geschäftemachern der Schattenwirtschaft und beteiligte sich auch selbstaktiv an der zügellosen Unterschlagung von Staatseigentum. Das erklärt die Enttäuschung der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit über die Partei und hatte schließlich deren ungehinderte Liquidierung im Jahre 1991 zur Folge.

Anmerkungen im Originaltext

1 Bjulleten’ oppozicii, 75–76/1939, S. 32.

2 Leo Trotzki: Schriften 1, Band 1.2, S. 1194.

3 V. Kozlov/E. Plimak: Koncepcija sovetskogo termidora. – In: Znamja, 7/1990, S. 169.

4 Socialistièeskij vestnik, 3/1937, S. 4.

5 Nezavisimaja gazeta, 9. 6. 1992.

6 K. Gruševoj: Togda, v sorok pervom. Moskva 1977, S. 297.

7 Argumenty i fakty, 36/1995.

7. KAPITEL: Das politische Regime: die Partei

In der heutigen Geschichtspublizistik wird häufig eine Parallele gezogen zwischen der bolschewistischen und der nationalsozialistischen Partei. Dabei wies jedoch die Entwicklung dieser Parteien tiefe Unterschiede auf. Hitler hatte seine Partei selbst geschaffen, und infolge dessen blieb die Zusammensetzung ihrer Funktionäre und einfachen Mitglieder nach der Vernichtung der Röhm’schen SS-Gruppe im Jahre 1934 stabil. Stalin hatte die bolschewistische Partei vom leninschen Regime »geerbt«, was ihn veranlasste, ständige Kadersäuberungen durchzuführen, bis hin zur fast vollständigen Ausrottung in den Jahren des großen Terrors. Insgesamt repressierte Stalin mehr Kommunisten als die faschistischen Diktatoren Hitler, Mussolini, Franco und Salazar in ihren Ländern zusammengenommen.