GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 42: STADT UNTER GLAS - Douglas R. Mason - E-Book

GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 42: STADT UNTER GLAS E-Book

Douglas R. Mason

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Beschreibung

Siebentausend Jahre lang hat sich die Stadt Karthago, von den natürlichen Vorgängen der Außenwelt durch eine Glaskugel vollkommen isoliert, gegen die Bedrohung einer neuen Eiszeit behauptet. Doch Gaul Kalmar sieht, in welche Sackgasse des Lebens die Welt der technischen Perfektion führt. Er kämpft mit seinen Freunden für eine neue Zukunft der Menschheit...    STADT UNTER GLAS von Douglas R. Mason erscheint in der  Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION  aus dem Apex-Verlag , in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.

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DOUGLAS R. MASON

 

 

STADT UNTER GLAS

- Galaxis Science Fiction, Band 42 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

STADT UNTER GLAS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

Das Buch

 

Siebentausend Jahre lang hat sich die Stadt Karthago, von den natürlichen Vorgängen der Außenwelt durch eine Glaskugel vollkommen isoliert, gegen die Bedrohung einer neuen Eiszeit behauptet. Doch Gaul Kalmar sieht, in welche Sackgasse des Lebens die Welt der technischen Perfektion führt. Er kämpft mit seinen Freunden für eine neue Zukunft der Menschheit...

 

STADT UNTER GLAS von DOUGLAS R. MASON erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

STADT UNTER GLAS

 

 

   

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die blasse Sonne verbreitete eine gewisse Wärme, obwohl es schon später Nachmittag war. Trotzdem war die Temperatur, als die rechteckigen Bodenplatten langsam zur Seite glitten und die kleine Beobachtungskuppel zum Vorschein kam, um zehn Grad abgesunken. Aber Gaul Kalmar spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Nacken, spürte deutlich ihre Wärme.

Er ließ die Kuppel nach links schwenken, um die kräftigen Linsen in die Sonne zu richten und eine Überprüfung der Direktvision vorzunehmen. Das Meer schien weniger grau zu sein. Man konnte den alten Berichten und Aufzeichnungen, die von einem blauen Mittelmeer sprachen, durchaus Glauben schenken. Doch man musste schon über eine Portion Phantasie verfügen, um sich vorstellen zu können, dass die dunklen, schemenhaften Umrisse der gegenüberliegenden Festlandküste, fünfhundert Meilen nördlich, einmal die Cote d’Azur waren.

Gaul Kalmar, der sich allein im Observatorium auf dem Dach der Zentrale für Umweltstabilisierung befand, gehörte zu den wenigen Leuten, die sich so etwas recht gut vorstellen konnten. Einhundertfünfzigtausend Menschen lebten in dieser nördlichsten aller Siedlungen. Gingen diese Menschen ihrer täglichen Arbeit nach, so kam es kaum jemandem in den Sinn, zu der ungeheuren hellblauen, durchsichtigen Kuppel emporzublicken, die sich über die ganze Stadt wölbte und sie von den natürlichen Vorgängen der Außenwelt vollkommen isolierte. Vielleicht blickte dieser oder jener flüchtig auf die vier mit mathematischer Präzision ausgerichteten Stützpfeiler, die in der Mitte jedes großen Platzes standen und die Aufgabe hatten, das künstliche Himmelsgewölbe vor dem Einsturz zu bewahren. Doch niemand hatte einen Grund, lange Überlegungen darüber anzustellen, ob die umfangreiche Säule, die vom Dach des Hauptgebäudes im Stadtteil Esmun in die Höhe ragte, wirklich das Gewölbe durchdrang und als eine Art Weltfenster endete.

Seit siebentausend Jahren hatte sich Karthago als Bastion menschlichen Lebens gegen die drohende Umklammerung des Eises behauptet. Jetzt konnte, was nur wenige wussten, die unfreiwillige Abkapselung bald ein Ende haben. Die automatisch vorgenommenen meteorologischen Messungen zeigten, dass während des verflossenen Jahrhunderts in dem landumschlossenen Meer keine Eisberge mehr aufgetaucht waren. Die Gletscher auf dem europäischen Festland verschwanden wieder. Auf alten Landstrichen regte sich neues Leben.

Gaul Kalmar schien zu frösteln, als sein ganzer Körper sich der Sonne zuwandte. Er schaltete den Motor aus, und die Bewegung der Kuppel hörte auf. Draußen zeigten die wechselnden Jahreszeiten den Frühling an. Die Luft hatte einen frischen, feuchten Geruch – zusammen mit der Sonnenwärme ein ungewöhnliches Erlebnis für einen Organismus, der konstante Temperatur und Feuchtigkeit gewohnt war.

Die Wölbung der künstlichen Himmelskuppel verdunkelte das nackte Felsplateau, auf dem die Stadt stand. Es war eine Verdunkelung im eigentlichen Sinne, denn die Außenkuppel war außen mit einem glänzenden, reflektierenden Material überzogen und hatte innen eine dünne Silberauflage. Ein Isolierraum von zwei Meter Breite trennte die innere, lichtdurchlässige, blaue Halbkugel von der Außenkugel. Hier waren meilenlange Ketten von Leuchtröhren installiert, die den taghellen Himmel simulierten. Weit draußen am Horizont wurden die Felsen von einem endlosen Waldgebiet abgelöst. Man konnte sich nicht recht vorstellen, dass das alles einmal eine dürre Wüste gewesen war.

Ein Warnsignal erinnerte Kalmar daran, dass das Dach seit fünf Minuten offenstand. Er schaltete unverzüglich den Schließmechanismus ein. Der geringfügige Wärmeverlust würde, verglichen mit dem riesigen Energieverbrauch der ganzen Stadt, keine Bedeutung haben; aber Kalmar wusste, wie empfindlich das Kontrollsystem reagierte. Ein paar gescheite Ingenieure würden den Verlust feststeilen und sofort eine umfangreiche Untersuchung in die Wege leiten. Die Wärmeerzeugung jedes Menschen war bis zum letzten Watt genau berechnet und in den Gesamtwärme verbrauch einbezogen. So war es nötig, die Ursache jedes überdurchschnittlich hohen Wärmeverbrauchs zu ergründen, und Kalmar wollte nicht, dass gerade er der Anlass dazu war.

Das Dach war geschlossen. Er überprüfte noch einmal alles, was er berührt hatte, und wischte jede glänzende Oberfläche mit einem Wattebausch ab. Dann öffnete er die Einstiegluke und kletterte in den unteren Teil.

Diesmal war es schwieriger, die Spuren seines Besuches zu verwischen, aber es war auch nicht mehr so wichtig, denn hier durfte er sich aufhalten. Von dieser kleinen Kabine aus hatte man Zugang zu dem Zwischenraum zwischen Innen- und Außenkuppel. Als leitender Mitarbeiter der Zentrale für Umweltstabilisierung hatte Kalmar unter anderem die Aufgabe, die hier untergebrachten Geräte persönlich zu inspizieren. Trotzdem würde man unter Umständen feststellen, dass er dieser Arbeit eine zu große Aufmerksamkeit widmete, und irgendein besonders Eifriger in der Sozialkontrolle würde sich für den Grund interessieren.

Mit dem beruhigenden Gefühl, oben keine Spuren hinterlassen zu haben, ging Kalmar hinaus in die Innenkuppel. Jeder neugierige Bummler auf dem von Zypressen umrandeten Zentralplatz hätte in zweitausend Fuß Höhe am Himmel seine verschwommene Silhouette sehen können. Er war noch außer Reichweite der Monitore und nutzte die ihm zugebilligte Zeit bis zur letzten Sekunde. Dann ging er auf den Lift zu und landete wenig später im Hauptgeschoss der Zentrale für Umweltstabilisierung.

Als der Monitor wieder nach ihm tastete, konnte er es förmlich spüren. Gaul Kalmar war sensibler als die meisten, weil er häufiger aus der Reihe tanzte, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind hatten ihre Unterscheidungsfrequenz – auch Gaul Kalmar. Auf dieser Frequenz wurden die Gehirnströme den Computern im Verwaltungszentrum des Stadtteils Byrsa zugeleitet. Die Computer prüften durchgehend vierundzwanzig Stunden täglich alle Bewegungen und Reaktionen. Es herrschte die totale Gesellschaftskontrolle.

Unterhielten sich drei Personen miteinander, so war ein Sicherheitsbeamter der unsichtbare Zuhörer. Jede größere Veränderung im körperlichen Spannungsfeld konnte ein Relais in Tätigkeit setzen, was wiederum eine Überprüfung des Gesundheitszustandes zur Folge hatte. Der Vorteil einer derartigen Kontrolle war, dass man einen Menschen, der kurz vor einem Schlaganfall stand, rechtzeitig ins Krankenhaus transportieren konnte. Dies war ein Begleitumstand, der dem System einen Anflug von Achtbarkeit verlieh. Dies und die Tatsache, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, in jeder Minute überwacht zu werden, gering war, genügten, um einem das Gefühl zu geben, sich eine gewisse Privatsphäre bewahrt zu haben.

Die meisten Leute hatten sich den Umständen geradezu vollendet angepasst. Befahl ihnen ein ferner Computer, sich ins Bett zu legen, so leisteten sie Folge, und zwar mit einer beachtlichen Selbstverständlichkeit. Der durchschnittlich sensible Mensch lebte in dieser Welt der Normen, und sein natürliches Benehmen veränderte sich nur leicht. Und die Minderheit, deren Neurose sich verstärkte, wurde von einer Minderheit im Gleichgewicht gehalten, deren Neurose durch den allgegenwärtigen, unterstützenden, beobachtenden, anonymen Beichtvater gelindert wurde. Das war das in der Öffentlichkeit zur Schau gestellte Image. Diejenigen, die vom Kurs abwichen, berichteten nie von der anderen Seite.

Es war der weniger wohldokumentierte Aspekt, der für Gaul Kalmar von Bedeutung war. Seine Immunität gegen fremde Einflüsse basierte auf einer Kombination zufällig vorhandener Attribute, die teils physischer und teils psychologischer Natur waren. Er bewegte sich hart an der äußersten Grenze der gestatteten Toleranz, und zwar an mehreren Grenzen gleichzeitig. Diese Eigenarten hatten ein Gesamtkontingent ergeben, das die auf seiner Profilkarte verzeichneten Fähigkeiten nicht völlig verrieten.

Die Größenordnung der männlichen Erwachsenen lag zwischen einem Meter neunzig und zwei Meter zehn – mit einer geringfügigen Toleranz, wenn all die anderen Faktoren günstig waren. Gaul Kalmar war zwei Meter dreizehn und nur wegen seiner Fähigkeiten auf anderen Gebieten durchgekommen. Seine geistigen Fähigkeiten lagen weit über dem Durchschnitt. Der Grad der Beeinflussbarkeit war niedrig. Der Test bezüglich der Verhaltensweise zeigte eine hohe Stabilität. Das Urteilsvermögen, das nicht aus den Tabellen hervorging, wurde allein durch den kalten Intellekt bestimmt, was Kalmar befähigte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, so dass sich in seinem Wesen keine gefühlsbetonte Veränderung feststellen ließ. Wie dem auch sei, das Gefühl, ein anderer und selbstbewusster Mensch zu sein, war der einwandfreie Beweis dafür, dass er innerhalb dieses Systems ein krasser Außenseiter war. Und von außen betrachtet sah das System alles andere als ideal aus.

Sein dienstlicher Rundgang war zu Ende. Er ging an seinen Schreibtisch und drückte auf eine Reihe von Knöpfen, um seine Gedanken allen mitzuteilen, die es etwas anging. Er diktierte einem Roboter einen kurzen Bericht, verließ dann sein schalldichtes Büro und suchte den großen, kreisförmigen Raum auf, in dem die technischen Mitarbeiter der Zentrale für Umweltstabilisierung tätig waren.

Jeder Kontrollbeamte hätte bemerken müssen, dass Kalmar ohne jegliche gefühlsmäßige Regung auf die Reize hochwirksamen Charmes reagierte. Wahrscheinlich hatte man diese ungewöhnliche spartanische Leistung nur deshalb noch nicht untersucht, weil trotz aller Raffinessen lediglich die rein geistigen Reaktionen erfasst wurden. Es gab kein Bild visueller Reize, das in begriffliches Denken umgesetzt wurde.

Der Farbton der Zentrale für Umweltstabilisierung, einfach USZ genannt, war blau und erschien leuchtkräftig auf den Identifizierungsschildern und den vertikalen Flächen. Komplexe Farbharmonien, basierend auf einer Ähnlichkeit mit musikalischen Frequenzen, lösten Akkorde und sanfte tonale Elemente aller Varianten aus. Mädchen in roten und orangefarbenen Gewändern standen graziös an den Konsolen, auf denen sich die Kontrollanlagen der vier Stadtteile befanden. Da war Esmun, das Spezialistenviertel, in dem sich die Zentrale für Umweltstabilisierung befand, ferner die wissenschaftlichen Forschungsstätten nebst Schulen, Krankenhäusern und so fort. Weiter gab es Byrsa, das Verwaltungszentrum mit dem Rathaus, den Tagungsräumen, dem Polizeipräsidium und anderen städtischen Körperschaften. Das Celesta-Viertel diente der Erholung und der sportlichen Betätigung. Dort waren auch das Theater und das Kunstzentrum. Megara war das Wohnviertel für alle Bürger, ausgenommen der Angehörigen der Polizei und der Mitglieder des Stadtrats, die in der engeren Umgebung des Rathauses in Byrsa wohnten.

Gaul Kalmar gestattete sich den flüchtigen Gedanken, dass eine Revolution von der Zentrale für Umweltstabilisierung ihren Anfang nehmen würde. Die Leitungsdrähte der Macht endeten in diesem Raum. Es war erstaunlich, dass man sich eine derartige Dezentralisation gestattete, wo doch Byrsa der Mittelpunkt aller Kontrollen war. Kalmar verscheuchte diesen Gedanken, der äußerst gefährliche Folgen haben konnte, wenn man ihn weiterverfolgte. Doch ein unterbewusster Impuls, den er nicht unterdrücken konnte und dessen Spannung zu gering war, um von einem fernen Monitor registriert zu werden, veranlasste ihn, an der Byrsa-Kontrolle stehenzubleiben.

Jane Welland, in Blau gekleidet und mit orangefarbenen Schulterstücken versehen, die ihren Dienstgrad Bekanntgaben, hatte gehofft, dass er stehenbleiben würde, um mit ihr zu sprechen. Und da blieb er auch schon stehen. Das kurze Aufflackern eines biologischen Interesses, das unwillkürlicherweise von ihr herrührte, genügte, um die Aufmerksamkeit der unsichtbaren Beobachter auf sie zu lenken. Für beide war es keine sehr lohnende Unterhaltung.

»Haben Sie auch alle Energieanforderungen Ihres Viertels berücksichtigt?«

Das war eine so überflüssige Frage, dass sie ihn nur anblickte und auf seine nächsten Worte wartete. Er hatte das Privileg, sie unbefangen betrachten zu können – die warmen Augen in dem vollen, ovalen Gesicht, das rotgoldene Haar, die gerade Nase, den ernsten Mund, die kurze Oberlippe. Es war in der Tat ein sehr befriedigender Anblick. Er stellte fest, dass sein mathematisches Ingenieurhirn äußerst günstige Schlüsse zog. Während der wenigen Sekunden, bis das Schweigen ihn zwang, etwas anderes zu sagen, hatte er zur Kenntnis genommen, dass ihre Kopfbreite mit der Distanz von den Augenbrauen zum Kinn übereinstimmte. Dieses Verhältnis entsprach dem Standard 383 zu 617.

»Ich weiß, dass Sie alle Schwierigkeiten zu melden haben«, fuhr er fort. »Vermutlich beanspruchen Sie noch immer den Löwenanteil des Leitungsnetzes?«

Auch das war eine dubiose Frage, aber er bekam zu hören: »Byrsa hat eine Menge Zubehör, doch wir achten darauf, dass nichts verschwendet wird.«

Er war draußen, bevor ihm die Erkenntnis kam, dass sie durchaus eine Verbündete sein konnte.

 

Die Zeiger des Zifferblatts am gegenüberliegenden Gebäude des Elementar-Lehrinstituts zeigten auf 16.15 Uhr. Das ELI schloss früh, und auf den Gehwegen begegnete man keinen lärmenden Gruppen nach Hause eilender Schüler. Die Gehwege rollten in einer mittleren Geschwindigkeit, etwa zehn Stundenkilometer, und Kalmar erreichte das medizinische Zentrum in weniger als drei Minuten. Er traf auch hier zu früh ein. Tania Clermont würde auf die Minute genau um 16.30 Uhr erscheinen. Er verließ den Weg an der Reduktionsstufe, stieg auf eine Rolltreppe um und fuhr zu der breiten Piazza oberhalb der Laboratorien hinauf. Von dort aus konnte er auf den Zentralplatz der Stadt hinunterblicken.

Um diese Zeit waren nicht viele Leute zu sehen. Der direkte Rollweg zum Platz hielt an. Was die technischen Einrichtungen der Stadt betraf, so schien kaum noch eine Steigerung möglich zu sein. Die Stadt war perfekt und trug den höchsten Ansprüchen in jeder Hinsicht Rechnung. Die Luft war stets frisch gefiltert, die Temperatur angenehm und gleichbleibend. Die ärztlichen Dienste wurden kaum in Anspruch genommen; war man krank, so landete man automatisch im Krankenhaus. Zweifellos eine vollkommene menschliche Siedlung von großer Schönheit und Kühnheit, doch andererseits ein Prokrustesbett, dem sich jeder anzupassen hatte.

Gaul Kalmar lehnte sich an die rosafarbene Balustrade und dachte nüchtern über die Situation nach, in der er sich befand.

Er erinnerte sich an die würzige, kühle Frühlingsluft der Außenwelt. Einmal glaubte er, einer Illusion nachzujagen, ein andermal hatte er das Gefühl, wie Abraham in die Wildnis hinausgehen zu müssen, um sich dort irgendwo anzusiedeln.

Er hörte rasche, entschlossene Schritte und sah das Mädchen auf sich zukommen. Sie trug einen kurzen Rock aus einem gelben, steifen Stoff über dem blauvioletten Gewand des psychotherapeutischen Gesundheitsdienstes. Sie hatte dunkles Haar und ein ovales Gesicht; sie war groß, schlank und bewegte sich wie eine Tänzerin.

Sie sagte: »Sie sehen aus, als würden Sie im nächsten Augenblick auf die Straße hinunterspringen.«

»In Ihrer Nähe sollte ich eher aufsteigen, wie?«

»Das ist eine atavistische Tendenz.«

»Herzlichen Dank. Das hat man davon, wenn man einer Psychologin Komplimente macht...«

»Wohin?«, fragte sie kurz.

»Zunächst etwas essen und dann zurück in meine Wohnung. Lee kommt um sechs Uhr und bringt Wanda mit. Eine kleine Party. Wir können noch einen Stadtbummel machen.«

»Wie ruhelos!«

Sie wusste, woran er dachte. Unter den vielen Abteilungen der Stadt hatte, allein die psychotherapeutische Sektion einen kleinen abgeschirmten Behandlungsraum. Es hatte sich herausgestellt, dass sogenannte Stressfälle Opfer der ständigen Überwachungsprozedur waren. Die Betroffenen konnten sogar sagen, wann ihnen ein ferner Monitor direkt zuhörte. Die Psychologen hatten einen Behandlungsraum gefordert und erhalten, der gegen jede Art von Außeneinflüssen isoliert war. Seine Wirkung war äußerst beruhigend. Nervlich überreizte Patienten entspannten sich und konnten frei mit den Ärzten reden. Dieser Behandlungsraum war unter der Kuppel der einzige Ort, an dem man tatsächlich mit sich allein sein konnte.

Die Stadtbewohner hatten ihre tägliche Arbeit verrichtet, und die breite Avenue wurde von extravaganten Farben überflutet. Farbe und Bewegung. Obwohl Gaul Kalmar seit achtundzwanzig Jahren in dieser Stadt lebte und nichts anderes kannte, hatte er das Gefühl, etwas zu vermissen. Die große Menschenmasse verursachte kaum ein Geräusch. Er erinnerte sich an das Flüstern des Windes, der draußen die frische, feuchte Luft bewegte. Wahrscheinlich war es dieses Element, das er vermisste. Die Leute waren unterwürfig und befangen. Das war die unausbleibliche Folge. Gab sich jemand allzu selbstbewusst, so hatte das einen Reorientierungskursus zur Folge, der jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf Monate hinaus lähmte.

Er registrierte dies als ein Stück Information, auf das er gelegentlich zurückkommen würde. Dann bestiegen sie das schnelle Band des Rollweges und näherten sich dem fernen Platz, dem Zentrum von Karthago.

Vier große Verkehrsadern mit jeweils sechs Bahnen zweigten vom Zentrum der Stadt ab und führten zu den vier Stadtteilen. Gaul und Tania stiegen in Celesta ab. Hier war es ruhiger, und als sie an der weißen Wand des Kolosseums ankamen, waren sie wieder allein.

Es war noch früh. Die meisten Leute würden erst ihre Wohnungen in Megara aufsuchen und dann zum Restaurantbezirk gehen. Breite Stufen führten in eine kreisförmige Halle, die sich auf dem Grund des Meeres hätte befinden können. Hinter den Glaswänden bewegten sich tropische Fischschwärme und tänzelten auch über die Decke hinweg. Diese bewegten Fischmotive folgten ihnen bis in den vieleckigen Essraum, der so eingerichtet war, dass nur Gäste, die häufig auswärts speisten, ihn ausführlich hätten beschreiben können.

Die Geschäftsführung des Staring Fish forderte die Gäste sowohl intellektuell als auch gastronomisch heraus. Jeder Tisch hatte einen Selbstwähler mit einem vierstelligen Kode. Man konnte unter Millionen essbarer Kombinationen molekularen Gehalts wählen. Unter dem Selbstwähler lag auf einem Regal ein umfangreiches Buch, in dem die Spezialitäten aufgeführt waren. Wer es eilig hatte und sich auskannte, der konnte ein Tagesmenü bestellen. Letzteres war im Staring Fish am vorteilhaftesten, denn die Geschäftsleitung betrachtete eine solche Bestellung als Wahl des Vertrauens und war bestrebt, einen so gut wie möglich zu bedienen.

Eine Handvoll Leute war bereits anwesend. Als Gaul und Tania Platz genommen hatten, war niemand anders in der Nähe zu sehen; der Raum erschien als Trapezoid mit großen abstrakten Wandgemälden, die die Form von Früchten hatten.

Kleine Aufmerksamkeiten – sofern sie in einem nahezu vollautomatisierten Bedienungssystem überhaupt erforderlich waren – zollte ein junger Mann, dessen Schulterklappen verrieten, dass er das letzte Jahr seiner öffentlichen Dienstpflicht ableistete, die vom einundzwanzigsten bis zum dreiundzwanzigsten Lebensjahr dauerte. Frank Shultz machte den Eindruck, als sei er froh darüber, es bald geschafft zu haben. Er war kräftig gebaut, flachshaarig und hatte ein mit winzigen Sommersprossen übersätes Gesicht. Im Übrigen sah er verschlossener aus, als es ein zweijähriger Zwangsdienst rechtfertigte.

Gaul zeigte seine Identifizierungskarte und gab die Bestellung auf.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, erkundigte sich der junge Mann. Er blickte finster drein, wie ein Spross der Borgias, dem es versagt ist, eine Phiole Gift in die Tasse des Gastes auszuleeren.

»Danke«, sagte Gaul. »Unter Fischen zu leben, scheint nicht Ihr Geschmack zu sein. Wo wollen Sie später einmal hin?«

»Byrsa.«

Das hätte Gaul genügen müssen. Jeder, der nach Byrsa wollte, hatte meistens schon ein Orientierungstraining hinter sich. Tania machte ein entmutigtes Gesicht; sie kannte die Zusammenhänge aus der soziometrischen Perspektive. Der Jüngling würde einmal ein Polizist erster Ordnung werden.

Gaul sagte: »So? Was gefällt Ihnen denn hier nicht? Sie können es wohl nicht erwarten, an die Quelle zu kommen?«

Etwas in Shultzens Augen zeigte, dass er sich bemühte, seine Gefühle unterhalb der Signalschwelle zu halten. »Das meinen Sie«, sagte er. »Sie sitzen da und wollen mir erzählen, was ich tun soll und was nicht. Machen Sie sich nicht über mich lustig, Ingenieur, oder ich wickle Ihnen diesen Tisch um den Kopf.«

Gaul Kalmar blieb eine halbe Minute unbeweglich sitzen. Er war überrascht von der ersten ehrlichen Reaktion, die er – solange er zurückdenken konnte – bei einem Erwachsenen beobachtet hatte. Als er sich wieder bewegte, geschah das aus reiner Neugier, ohne jeglichen Sinn von Kränkung. Er wollte sehen, wie weit Shultz gehen würde. Er spürte nicht Tanias beschwichtigende Hand auf seinem Arm, als er sich mit einer schnellen Bewegung erhob und auch schon vor Shultz stand.

Sie hatten fast die gleiche Größe und Schulterbreite. »Zum Teufel!«, sagte Shultz, und es schien ihm gleichgültig zu sein, ob sie überwacht wurden oder nicht. Gaul schlug unerwartet zu. Der junge Mann stolperte und kippte den Tisch um. Ungläubig und erstaunt sah er Gaul von unten herauf an.

Selbst in der Pseudo-Zurückgezogenheit des Staring Fish konnte eine derartige Demonstration nicht verborgen bleiben. Ein älterer, grauhaariger Mann im blauvioletten Uniformrock des Ordnungsdienstes erschien am offenen Ende des Trapezoids.

Gaul half Shultz auf die Beine und kratzte mittels eines Tischmessers eine zerquetschte Mangofrucht von seiner weißen Jacke. Als der Wächter eintraf, sagte Shultz: »Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung, Mr. Kalmar. Das war sehr ungeschickt von mir. Ich hoffe, Sie werden trotzdem bleiben. Erlauben Sie mir, Ihnen eine frische Portion Dessert zu bringen.« Dann wandte er sich an den Mann vom Ordnungsdienst und erklärte: »Ich stolperte über meine eigenen Beine und fiel gegen den Tisch. Das hätte sehr unangenehm werden können.«

Was der Mann auch dachte, er neigte den Kopf und sprach: »So etwas kann passieren. Ich hielt mich gerade in der Nähe auf und dachte, jemand sei krank geworden.«

Sein Blick hatte alles registriert. Er war nicht völlig zufrieden, aber der Rang der beiden Gäste war hoch genug, um einen Bericht erforderlich zu machen, und Shultz war in seiner eigenen Branche bekannt. Es konnte so sein, wie sie behaupteten. Aus der Aufzeichnung würde jedoch einwandfrei hervorgehen, ob ihr geistiger Rhythmus Disharmonien hatte oder nicht. Niemand konnte die Stadt verlassen. Es bestand also kein Grund zur Eile. Er ging wieder weiter.

»Wann sind Sie mit der Arbeit fertig?«, fragte Gaul.

»Achtzehn Uhr fünfzehn.«

»Dann unterhalten Sie sich nachher ein wenig mit uns. Hier ist die Adresse. Wir werden bis neunzehn Uhr da sein.«

»Worüber unterhalten wir uns?« Obwohl Shultz ein freundlicheres Gesicht machte, gab er sich keineswegs redselig.

»Spielt das eine Rolle?«

»Ich glaube, nicht. Nun gut, wir sehen uns dann. Ich verabschiede mich einstweilen, Mrs. Kalmar.«

»Ich bin nicht Mrs. Kalmar. Mein Name ist Clermont – Tania Clermont.« 

Als er das Tablett mit den Scherben davontrug, sah er noch vergnügter aus.

»Wieder ein Treffer«, sagte Gaul.

»Ja.«

»Ein Glück, dass wir noch einen gefunden haben. Ich glaube, man sieht Ihnen an, dass Sie Psychiater sind. Sie könnten mich schon mit Karthago versöhnen.«

Ihr Schweigen kam einer direkten Empfehlung gleich, vorsichtig zu sein. Wenn sie gerade überwacht wurden, näherten sie sich bedrohlich der Klassifizierungs-Grenze. Aber er sprach weiter, als sie mit der Untergrundbahn nach Megara fuhren.

»Wie hoch ist der Prozentsatz der Bevölkerung, der Sie konsultiert?«

»Nicht sehr hoch«, antwortete sie ausweichend.

»Wie hoch?«

»Ach – vielleicht neun Prozent. Das ist nicht schlecht, müssen Sie wissen. Erstaunlich wenig, wenn man das Ganze vom historischen Standpunkt aus betrachtet und bedenkt, dass in der Vergangenheit die Mehrheit nicht von den Gesundheitsdiensten erfasst wurde und man nur einem kleinen Kreis psychotherapeutische Hilfe angedeihen lassen konnte.«

»Vielleicht hatte dieser kleine Kreis es nicht einmal nötig, in einer natürlichen Umgebung hätte man selbstregulierende Faktoren nutzen können. Neurosen kurieren sich innerhalb weniger Jahre von selbst. Es ist zwar Ihr Gebiet, aber ich glaube gehört zu haben, dass die psychotherapeutische Behandlung ebenso viel Zeit erfordert wie die natürliche.«

»Das ist ein Irrtum, denn erstens gibt es keine Garantie dafür, dass die therapeutischen Fälle auf natürliche Weise hätten geheilt werden können. Es handelte sich wahrscheinlich um ernsteste Störungen des Nervensystems. Und da ist noch etwas.«

»Was denn?« Er griff nach ihrem Arm und führte sie über die Verzögerungsschwellen auf die schnelle Rollspur. Die geschmeidige Bewegung, mit der ihre Taille seinen Arm berührte, bildete einen Kontakt, den sie sich nicht lange gestattete. Sie war sensibel genug, zu wissen, dass ihm diese Berührung mehr bedeutete, so dass man es als Einbruch in die Privatsphäre bezeichnen konnte. Kaum standen sie auf dem fast leeren Rollweg, entzog sie sich seiner Berührung und sagte: »Wenn Sie glauben, dass es einmal ein goldenes Zeitalter gegeben hat, in dem die Menschheit keinen nervenbeanspruchenden Kräften ausgesetzt war, dann irren Sie sich. So etwas hat es immer gegeben.«

»Hmhm. Doch sicher gibt es das, was man als produktiven Stress bezeichnet, und einen einfachen Verdrängungsstress.«