Galerie der Nachtigallen - Paul Doherty - E-Book

Galerie der Nachtigallen E-Book

Paul Doherty

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Beschreibung

London im Jahre 1377: Als ein reicher Kaufmann tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden wird, muss natürlich der Coroner den merkwürdigen Todesumständen auf den Grund gehen. Cranston, der dauernd betrunken ist, wirkt auf den ersten Blick dumm und leicht zu übertölpeln, doch in Wahrheit ist sein Verstand so scharf wie sein Schwert. Zusammen mit dem ihm zugeteilten Sekretär Bruder Athelstan begibt er sich auf die Suche nach des Rätsels Lösung …

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Seitenzahl: 341

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Über das Buch:

London im Jahre 1377: Als ein reicher Kaufmann tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden wird, muss natürlich der Coroner den merkwürdigen Todesumständen auf den Grund gehen. Cranston, der dauernd betrunken ist, wirkt auf den ersten Blick dumm und leicht zu übertölpeln, doch in Wahrheit ist sein Verstand so scharf wie sein Schwert. Zusammen mit dem ihm zugeteilten Sekretär Bruder Athelstan begibt er sich auf die Suche nach des Rätsels Lösung … 

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edelelements.de

Copyright © 1991 by Paul Harding Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „The Nightmare Gallery“. Ins Deutsche übertragen von Rainer Schmidt Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Pseudonym Paul Harding. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Designomicon Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

All jenen ungleichen detektivischen Duos gewidmet, die mit spannenden, amüsanten Abenteuern

Einleitung

Der alte König lag im Sterben. Der Wind wehte das Gerücht die Themse hinunter. Bootsleute sprachen flüsternd davon, und die bauchigen, seetüchtigen Frachtkähne trugen die Kunde die Küste entlang. Edward schwand dahin; der große, blonde Eroberer Frankreichs, der neue Alexander des Westens, starb. Zu spät für diejenigen, die sein Mißfallen erregt hatten; ihre struppigen, blutverkrusteten Köpfe staken auf der London Bridge, und während die Raben nach saftigeren Happen wühlten, wurden die marmorbleichen Wangen schwarz.

Der große König – oder der große Halunke, das war Ansichtssache – wollte den Geist aus seinem betagten, stinkenden Körper nicht entweichen lassen. Der Hof war im Frühsommer 1377 nach Richmond gezogen, als der Wind nach Südwesten drehte und heftig und heiß von den trockenen Wüsten um das Mittelmeer heraufwehte. Die Pest war nach London gekommen; Männer und Frauen waren niedergesunken mit geschwollenen Lymphknoten und aufgeblähten Bäuchen, und sie hatten ihr Lebensblut ausgespuckt. Der König bekam es mit der Angst, als der Tod sich wie ein Meuchelmörder an seinen Hof schlich.

Edward begegnete ihm mutig. Er versuchte, sein fahlgelbes Gesicht anzumalen und hielt den Mund geschlossen, um seine zerbröckelnden schwarzen Zähne zu verbergen. Er kleidete sich in silbernen und weißen Taft, mit Gold bestickt, und frisierte sein früher hellblondes Haar, obwohl es ihm in zottigen, verschwitzten Strähnen auf die knochigen Schultern hing. Aber der Tod ließ sich nicht beschwichtigen. Hitze und üble Dünste vom Fluß umfingen seinen verfallenden Körper, und noch immer wollte der König nicht aufgeben. Hatte er nicht bei Crécy und Poitiers die Armeen Frankreichs zerschlagen? Ihren König gefangengenommen und hinter sich reiten lassen, als er, einem neuen Cäsar gleich, nach London zurückgekehrt war, um sich im Glanz seiner Heldentaten zu sonnen?

Edward saß auf Kissen in einem seiner großen Privatgemächer und nahm weder Essen noch Arznei zu sich. Ein Priester kam, huschte an der Wand entlang wie eine kleine schwarze Spinne, ein Tröster Hiobs, wenn es je einen gab.

»Euer Gnaden«, drängte er beharrlich, »Ihr müßt ins Bett.«

Edward fuhr herum wie ein alter Fuchs, die von einem Schlaganfall verzerrten Lippen unwillig gekräuselt.

»Verschwinde, kleiner Mann«, zischte er. »Der Tod wird mich niemals holen!«

Er blieb, wo er war, und starrte auf seinen Finger, wo der Krönungsring, der sich einst so tief in sein Fleisch gegraben hatte, kürzlich durchgesägt worden war. Seine Ehe mit dem Königreich war vorbei. Fünfzig Jahre lang hatte er das Zepter getragen und mußte es nun einem anderen übergeben.

Er schüttelte den Kopf und schaute auf seine Hände. Ringe aus Feuer schienen sie zu umkreisen. Der Tod schlurfte auf leisen Sohlen näher. Tapfer hielt Edward stand, wie er es dreißig Jahre zuvor bei Crécy getan. Er lächelte, als er sich erinnerte, wie seine Hauptleute »Los!« gebrüllt und seine Bogenschützen den lebendigen Tod in schwarzen Wolken gegen die vorrückenden Horden der Franzosen gesandt hatten. Er würde stehen, wie er es damals getan hatte. Der Tod würde ihn nicht holen, solange er stand. Das tat er fünfzehn Stunden lang, bevor er auf den kissenübersäten Boden sank, die Finger vor dem Mund zur Faust geballt. Die Priester trugen ihn zu seinem Bett.

Hysterie erfaßte den Hof, und die Luft war schwer von Düsternis und Entsetzen. Die goldblinkenden Höflinge tuschelten über Zeichen und Erscheinungen; die Wasser der Themse waren gestiegen, in Greenwich über ihre Ufer getreten und hatten den Palast überflutet. Ein mächtiger grauer Fisch, groß wie die Leviathan, war im Norden an den Strand gespült worden. Der Himmel färbte sich am Mittag rot, und seltsame Kreaturen wurden in den dunklen Wäldern des Nordens gesichtet. Man hörte Stimmen im Schatten der Straßen, und Trompeten schmetterten von den Bastionen des Towers in London und von Windsor Castle. Eine der Hofdamen fand eine Tarockkarte mit der schwarzen Gestalt des Todes an einen königlichen Stuhl genagelt. Eine andere erblickte den Geist der Macht des sterbenden Königs in Gestalt eines mystischen Ritters, der durch die mondhelle Galerie zog, die Treppe hinunter und zum Portal des großen Palastes.

Edward III., der Löwe von England, lag im Sterben. Alte Männer erinnerten sich an die Erzählungen ihrer Großeltern: Wie der Löwe in seiner Jugend seiner Mutter Isabella und ihrem Liebhaber Mortimer den Thron entrissen hatte. Jetzt waren die Tage des Löwen vorbei.

Der König bewegte sich. Er verlangte Musik, und ein junges Mädchen mit spitzengesäumtem Schleier spielte die Viola. Der König wanderte durch die Zeiten zurück, und die Geister versammelten sich um sein Bett. Sein Vater, Edward II., in Berkeley umgebracht. Seine Mutter Isabella, schön und leidenschaftlich. Philippa, sein Weib, mit dunkler Haut und sanften Rehaugen, schon seit acht Jahren tot. Und noch ein Geist: sein so kostbarer Sohn Edward, der Schwarze Prinz, der Führer seiner Armeen, ein Pompejus für seinen Cäsar. Der General, der die englische Fahne über die Pyrenäen nach Navarra getragen und nichts mit zurückgebracht hatte als eine Krankheit, die seinen Körper zerfraß. Alles dahin!

Sie kamen mit den Proklamationen zur Thronfolge zurück, und der alte König wußte, daß er starb. Siegel wurden angebracht. Er wurde immer schwächer, und sein Gefolge schmolz. »Ist kein Glaube mehr in Israel?« wisperte Edward. Der Palast in Sheen wurde ein Mausoleum. Im eigenen Schweiß und Dreck ließ man den König liegen, nur Alice Perrers, seine Geliebte, war noch da. Sie kam in sein Sterbegemach gerauscht, die Finger beringt mit Golddraht und das üppige rote Kleid mit kostbaren Steinen besetzt. Sie mit der schmeichlerischen Zunge und dem schönen Gesicht, die sich aus niemandem etwas machte, weil niemand sich etwas aus ihr machte – sie saß nun neben ihrem sterbenden Herrn und Liebhaber und bewachte ihn hungrig. Der König erwachte aus einem Traum und sah ihre harten Augen und wollüstigen Lippen.

»Meine Sonne«, flüsterte er.

Die Perrers lächelte, und ihre weißen Zähne blinkten, als sie daran dachte, wie sie in goldenem Tuch durch die Cheapside heraufgeritten war, mit hocherhobenem Kopf, die Ohren verschlossen vor den Rufen. »Hure! Metze! Dirne!« Jetzt saß sie neben dem König und bewachte ihn wie eine Löwin ihre Beute. Ein alter Franziskanerpriester, John Hoccleve, kam herein, aber die Perrers fauchte und scheuchte ihn hinaus. Der König schloß die Augen. Sein Atem ging flach; furchtbares Rasseln tobte in seiner Kehle. Die Perrers wartete nicht länger; sie nahm ihm ab, was er an Geschmeide noch trug, und floh.

Der alte Franziskaner kam zurück, nahm des Königs Hand, hielt ihm ein Kruzifix vor die verlöschenden Augen. Er intonierte das Dies irae, und als er zu dem Vers kam, der da heißt: »Weh, was werd' ich Armer sagen, wenn Gerechte selbst verzagen?«, da öffnete der König die Augen.

»Wünscht Ihr die Absolution?« flüsterte Hoccleve.

»Ach, Jesus!« murmelte der König und drückte dem Franziskaner matt die Hand.

»So spreche ich dich los …«, sagte der Priester, »… von deinen Sünden im Namen des …«, und seine Stimme wurde lauter, während das Todesrasseln des Königs klang wie das Trommeln eines Tambours. Und der König wandte sich um. Ein letztes Keuchen, und seine Seele fuhr hinaus in die Dunkelheit. Hoc-cleve beendete sein Gebet und dachte an die goldenen Tage, da der König in all seinem Glanz einhergegangen war. Er neigte den Kopf, legte die Stirn auf die Hand des toten Königs und beweinte die Vergänglichkeit.

Ein paar Stunden später saß John von Gaunt, Herzog von Lancaster und ältester lebender Sohn des toten Königs, im Palast von Westminster allein vor einem großen Kamin. Das Wams geöffnet, die Schenkel gespreizt, saß er da und ließ sich von der Hitze der lodernden Scheite die Kälte von Beinen und Gemächt vertreiben. Der Herzog hatte die Nachricht bekommen, als er, von einem plötzlichen Unwetter bis auf die Haut durchnäßt, von der Jagd zurückgekehrt war. Sein Vater war tot, und er war Regent, aber nicht König. John stöhnte auf und ballte die juwelengeschmückte Faust. Er sollte König sein, ein Mann der Krone mit Anspruch auf die Throne von Kastilien, Frankreich, Schottland und England. Und was war das einzige Hindernis? Ein goldblonder Zehnjähriger, sein Neffe, Richard von Bordeaux, der Sohn seines älteren Bruders, des gefürchteten Schwarzen Prinzen.

»Nur einen Herzschlag entfernt!« murmelte Gaunt. Nur ein kurzer Atemzug trennte ihn von dem Diadem des Bekenners. Gaunt streckte sich, und sein muskulöser Körper bebte vor Wut. Regent, aber kein König! Das Land brauchte unbedingt einen entschlossenen Herrscher. Die Franzosen plünderten die Küsten im Süden. Die Schotten sammelten sich an der Grenze im Norden. Die Bauern murrten, verlangten ein Ende der immer neuen Besteuerung. Und das Unterhaus, geführt von seinem Sprecher, schimpfte heftig, wenn es in der Kapelle von St. Stephen zu Westminster zusammentrat. Gaunt strich sich über den sauber gestutzten Bart. Konnte er den Schritt tun? Würde er ihn tun? Er biß sich auf die Unterlippe und erwog die Konsequenzen. Seine jüngeren Brüder würden sich wehren. Die großen Lords des Rates, mit den sanften, aber mächtigen Bischöfen im Rücken, würden zu den Waffen greifen und den Zorn des Himmels erflehen. Und Richard – der blasse, blauäugige Richard -, was würde aus ihm werden? Gaunt fröstelte. Er entsann sich der alten Prophezeiung: Wenn die alte Katze stirbt, dürfen die Mäuse nicht frohlocken, denn das neue Kätzchen wird zu einem noch schrecklicheren Ungeheuer heranwachsen! Gaunt fürchtete sich vor nichts, aber sein stiller Neffe mit der Grabesmiene barg ganz besonderen Schrecken für ihn, so als könnten die uralten Augen in dessen zehnjährigem Antlitz seine geheimsten Gedanken lesen. Auch die Gemeinen im Unterhaus würden ein Auge auf ihn haben, und Gaunt war unvorsichtig gewesen. Er hatte versucht, Geld aufzutreiben, und die Beweise waren offenkundig. Die Söhne des Dives hatten ihn in ihren Klauen. Die Geheimnisse, die sie kannten, durften niemals enthüllt werden.

Gaunt lehnte sich zurück. Wovor hatte er Angst? Die Dämonen seiner privaten Hölle stiegen aus der schwarzen Grube der Erinnerung empor. Mord! Starr blickte er sich um. Meuchelmörder! Die Ankläger schienen aus den Flammen aufzusteigen, und ihm brach der kalte Schweiß aus. Der Dämon wuchs in seinem Herzen, und der Herzog nahm gierige Schlucke aus dem Weinbecher und hoffte, die Dämonen mit seiner Schwere zu ertränken.

Gaunt hatte Grund zur Wachsamkeit In London war der Mord schließlich kein Fremder. Er strich durch die Straßen, die Augen blind wie die Nacht, und suchte seine unglücklichen Opfer. Mord wanderte durch die kotverklebten Gassen und Straßen von Southwark, glitt wie Nebel durch die halboffenen Türen heißer, stickiger Schänken und hockte mit kaltem Blick dabei, wenn die Menschen einander zu Tode hackten. Mord lauerte in der Tür der schmierigen Apotheke, wo Gifte verkauft wurden: gemahlene Diamanten, Belladonna und Arsen. Manchmal ließ der Mord auch die Stadtmauern hinter sich und schlich hinter dem Tower auf dunklen Landstraßen dahin, doch in jener Nacht hatte er sich eine saftigere Beute auserkoren und sein Lager in Sir Thomas Springalls hübscher Villa im Strand aufgeschlagen, einem veritablen Palast mit Ziegeldach, schwarzem geschnitztem Holzwerk, schimmernd weißem Putz und einem frischgemalten Schild mit dem Wappen des Goldschmieds: silbernen Streifen, goldenen Kleeblättern und Spangen aus Gold und Seide.

Das Haus lag in tiefer Ruhe. In der hohen Banketthalle war das Feuer heruntergebrannt; es knackte noch ein wenig in der Glut, und die Asche schwelte. Die Kerzen waren längst gelöscht, aber der süße Duft ihres Wachses hing noch in der Luft. Gobelins, schwer und golddurchwirkt, hingen an den Wänden und bewegten sich leise im kalten Nachtwind, der durch die Ritzen in den bleiverglasten Fenstern hereinblies. Der mächtige Tisch trug die Reste eines Banketts, und das weiße Damasttischtuch voller Fett- und Rotweinflecken schimmerte noch im ersterbenden Schein des Feuers. Die silbernen Teller waren abgetragen worden, aber die Platten mit den Resten von Frikassee und Hammelkeulen und mit den Knochen von Gänsen, Pfauen und Hühnern standen noch da. Daneben bauchige Becher, klebrig von Malvasier, Bordeaux und Sherry. Eine kräftige, langschwänzige Ratte huschte zwischen dem Geschirr umher; ihre roten Augen funkelten, ihr Bauch war voll und schwer, und sie war so träge, daß sie kaum quiekte, als die hellbraune Hauskatze sich auf sie stürzte und den aufgequollenen Leib zermalmte. Auf dem Korridor hörte ein Hund das Geräusch; er regte sich und hob den zottigen, schlaftrunkenen Kopf.

Ein Stockwerk tiefer schnarchten die Diener ungestört. Sie hatten sich die Bäuche vollgeschlagen, und ihre Köpfe waren dumpf von den Essens- und Weinresten. In einer Kammer lag eine Magd, den Saum ihrer Röcke in den Mund gestopft, und wand sich in stummer Leidenschaft unter den Lenden eines jungen Knechtes. Sie hätte unbekümmert schreien können. Die breite Treppe nach oben war verlassen, ebenso wie die holzgetäfelte Galerie, die an den herrschaftlichen Schlafgemächern vorbeiführte. In einem lagen Mann und Frau unter dem blau und scharlachrot gemusterten Baldachin ihres vierpfostigen Bettes schweißglänzend in heftiger Umarmung. Ein silberner Kandelaber auf rot-weiß gekacheltem Tisch erfüllte das Zimmer mit goldenem Glanz, der sich in den kostbaren Silberfäden der Wandbehänge und den auf dem Boden verstreuten Gewändern aus Seide und Spitze widerspiegelte.

Im großen Schlafgemach des Hausherrn Sir Thomas Springall brütete der Mord in seinem gespenstischen Winkel. Sir Thomas erwartete ihn nicht. O nein! Er mißachtete die Worte des Predigers: »Inmitten des Lebens sind wir vom Tod umfangen.« Wie der Reiche in der Heiligen Schrift wollte Springall seine alten Scheunen niederreißen und neue errichten. Sir Thomas lag zwischen seidenen, goldbefransten Laken und suhlte sich in seinem Reichtum. Daß der alte König tot war, freute ihn. Ein kleiner Junge trug jetzt die Krone.

»Wehe dem Reich, dessen König ein Kind ist!« flüsterte Sir Thomas und lachte leise. »Gott sei Dank«, murmelte er dann. Der Regent brauchte ihn, und er würde noch reicher werden, denn er kannte Gaunts Geheimnisse. Sir Thomas leckte sich die vollen roten Lippen. Er starrte in die Dunkelheit, zu dem Tisch hinüber, wo die Syrer, seine kostbaren Schachfiguren, im Mondlicht leuchteten, das durch das Flügelfenster hereinschien. Er würde Zugang zu den Schatzkammern des Königreiches bekommen. Und die Schlüssel zu so viel Reichtum? Das Buch der Apokalypse, Kapitel 6, Vers 1. Und der andere? Genesis 3, Vers 8. Springall lächelte, drehte sich auf die Seite und betrachtete die kunstreich geschnitzten Bettpfosten. Er dachte an seine Frau mit ihren kastanienbraunen Locken, der goldenen Haut und den Augen, so blau wie der frische Frühlingshimmel. Doch Springall verlangte es nach anderem Fleisch. Er packte die Bettdecke, und in diesem Augenblick wußte er, daß etwas nicht stimmte. Seine Hände fuhren zu seiner Kehle, aber zu spät. Der Tod war da.

Kapitel 1

Bruder Athelstan saß auf einem steinernen Sockel vor dem Lettner der Kirche von St. Erconwald in Southwark. Verzweifelt starrte er zu dem Loch im roten Ziegeldach hinauf und dann hinunter auf die schmutzige Pfütze, die vor seinen Füßen auf dem Steinboden schillerte. Er strich sich über das glattrasierte Gesicht und schaute wütend auf das kleine Stück Pergament in seiner Hand.

»Weißt du, Bonaventura«, murmelte er, »und das sage ich im Geiste des Gehorsams – also wiederhole meine Worte nicht, sollte er je herkommen –, aber die Bemerkungen des Pater Prior über meine Vergangenheit haben geschmerzt wie Dornen.« Er faltete das Pergament sorgfältig zu einem makellosen Quadrat und schob es in die verschlissene Ledertasche an seinem Gürtel.

»Ich tue täglich Buße für meine Sünden«, fuhr er fort. »Ich befolge streng die Regel des heiligen Dominikus und verbringe, wie du weißt, Tag und Nacht mit der Seelsorge.«

Weiß Gott, dachte Athelstan, und seine Füße tippten auf die Steinplatten, die Ernte der Seelen war groß. Die dreckigen Gassen, die Kloaken voller Pisse und die armseligen Hütten seiner Pfarrgemeinde beherbergten gebrochene Menschen, die an Geist und Seele verletzt waren, vergiftet von einer zermürbenden Armut. Die Fetten im Lande kümmerte das einen Dreck; sie versteckten sich hinter leeren Worten und falschen Versprechungen, und ihr Mangel an Mitgefühl hätte sogar einen Hero-des erröten lassen. Athelstan schaute sich in der leeren Kirche um und betrachtete die schmutzigen Wände, die abblätternden Säulen und das Fresko des heiligen Johannes. Er grinste; er wußte, daß der Täufer enthauptet worden war, aber doch nicht, während er predigte! Jemand hatte das Gemälde abgeschrubbt und dabei die Köpfe von Johannes und seinen aufmerksamen Zuhörern verschwinden lassen.

»Du hast mein Haus gesehen, Bonaventura. Es ist nur ein gekalkter Schuppen mit zwei Kammern, einer Holztür und einem Fenster, das nicht schließt. Mein Pferd, Philomel, mag ein betagtes Schlachtroß sein, aber es frißt, als gäbe es morgen nichts mehr, und ist dabei nicht schneller als eine Katze beim Spaziergang.« Er lächelte. »Ich will Anwesende nicht beleidigen, aber es frißt mir die Börse leer. Ich jammere ja nicht; ich erwähne diese Dinge nur, damit wir unsere derzeitige Lage nicht vergessen und ich meinem Prior erklären kann, wie unnötig seine väterliche Kritik ist.« Seufzend ging Athelstan zu der kleinen Lesenische neben dem Marienaltar, wo er seinen Brief an den Pater Prior bereits angefangen hatte. Er griff nach dem Federkiel, überlegte eine Weile und schrieb:

Wie ich schon sagte, Ehrwürdiger Vater: Meine Börse ist leer, zusammengeschrumpft und so geizig wie die Seele eines Wucherers. Meine Kollektenkästen sind gestohlen, und der Lettner ist zerbrochen. Der Altar ist verschrammt und fleckig, und im Kirchenschiff stehen oft große Wasserpfützen, denn unser Dach möchte als Sieb wohl bessere Dienste leisten denn als Regenschutz. Gott weiß, ich büße meine Sünden. Ich scheine bis zum Hals in Mordtaten zu stecken, blutig und furchtbar. Das stellt meinen Geist auf eine harte Probe und erinnert mich an mein eigenes großes Verbrechen. Ich diene den Menschen hier jetzt seit sechs Monaten und habe auch die Pflichten übernommen, die Ihr mir aufgetragen habt: als Kanzleigehilfe und Schreiber für Sir John Cranston zu arbeiten, den Coroner der Stadt London.

Immer wieder holt er mich, und wir sitzen über der Leiche irgendeines Mannes, einer Frau oder eines jammervoll erschlagenen Kindes. »War es Mord, Selbstmord oder ein Unfall?« fragt er dann, und so nehmen die furchtbaren Geschichten ihren Anfang. Oft ist der Tod eine Folge der Dummheit: Eine Frau vergißt, wie gefährlich es für ein Kind ist, auf der gepflasterten Straße zu spielen, umherzutanzen zwischen den Hufeisen der Pferde oder den knarrenden Rädern mächtiger Karren, die ihre Ware vom Fluß heraufbringen. So wird dann das Kind getötet, der kleine Körper zermalmt, zerschlagen und gezeichnet, derweil die junge Seele hinausfährt zu ihrem Christus. Aber, hochwürdiger Vater, es gibt schrecklichere Arten des Todes. Betrunkene Männer in den Schänken: In ihren Bäuchen schwappt billiges Ale, und ihre Seelen sind tot und schwarz wie die finsterste Nacht, wenn sie aufeinander zutaumeln mit Schwert, Dolch oder Knüppel. Ich zeichne alles genau auf. Doch jedes Wort, das ich höre, jeder Satz, den ich schreibe, jeder Schauplatz eines Mordes bringt mich zurück zu jenem blutgetränkten Schlachtfeld für Edward, den Schwarzen Prinzen. Ich, ein Ordensnovize, der sein Gelübde vor Gott gebrochen und seinen jüngeren Bruder in den Krieg geführt hat. Jede Nacht träume ich von dieser Schlacht, dem Gedränge der Männer in ihren Rüstungen, den gesenkten Piken, Geschrei und Gebrüll. Jedesmal löst sich der Alptraum auf wie ein Nebelschleier über dem Fluß, und ich knie allein neben dem Leichnam meines toten Bruders und schreie in die Finsternis hinaus nach seiner Seele, auf daß sie zurückkehre. Aber ich weiß, Hochwürdiger Vater, sie kommt nicht mehr.

Athelstan schaute prüfend auf die Worte, die er geschrieben hatte, legte den Federkiel neben seinen Brief und ging zurück zum Chorgitter. Er schaute hinüber zu Bonaventura, der sich streckte.

»Es ist nicht böse gemeint, Bonaventura«, sagte er. »Ich meine, Sir John ist – trotz seiner fülligen Gestalt, dem pflaumenroten Gesicht, dem kahlen Schädel und den wäßrigen Augen – im Grunde seines Herzens ein guter Mann. Ein ehrlicher Beamter, ein rarer Vogel, der kein Schmiergeld nimmt, sondern die Wahrheit will und mit unerschütterlicher Geduld den Grund jedes Todesfalles sucht Aber warum muß ich ihn immer begleiten?« Athelstan setzte sich wieder vor das Chorgitter. Welchen Sinn hatte es, die schrecklichen Morde und Gewalttaten aufzuzählen, deren Zeuge er gewesen war? Wenn Christus je nach London käme, dachte Athelstan, so würde er sicher nach Southwark kommen, wo Armut und Verbrechen wie zwei häßliche Brüder hockten oder Arm in Arm durch die Straßen wanderten und ihren Gestank verbreiteten.

Bonaventura kam samtpfotig zu ihm herüber. Athelstan schaute auf den Kater hinunter.

»Vielleicht sollte ich dem Pater Prior von dir erzählen, Bonaventura«, sagte er und bewunderte den geschmeidigen schwarzen Körper, die weiße Maske und die weißen Pfoten, das zerfranste Ohr und das halbgeschlossene Auge des Gassenkaters, den er adoptiert hatte.

»Du bist ein Söldner«, fuhr er fort und streichelte dem Kater sanft über den Kopf. »Aber auch mein treuestes Pfarrkind. Für einen Teller Milch und etwas Fisch sitzt du geduldig da, wenn ich mit dir spreche, und in der Messe paßt du genau auf.«

Athelstan fuhr zusammen, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Er spähte über das Chorgitter und merkte, wie dunkel es in der Kirche inzwischen war. Das einzige Licht kam von einem Kienspan, der vor der Madonnenstatue entzündet worden war. Athelstan gähnte. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. Er schloß nicht gern die Augen, um dann im Traum wieder dem marmorweißen Gesicht seines Bruders zu begegnen, der ihn mit glasigen Augen anstarrte. Statt dessen stieg er auf den Kirchturm, um die Sterne zu beobachten, denn die Bewegungen des Firmaments faszinierten ihn, seit er in Prior Bacons Observatorium auf der Folly Bridge in Oxford begonnen hatte, sie zu studieren. Er war müde und ein wenig besorgt, weil Godric, ein bekannter Mörder und Attentäter, in der Kirche um Asyl gebeten hatte. Der Mann lag jetzt wie ein Hund zusammengerollt in einem Winkel der Kirche und schlief den Schlaf der Erschöpfung. Er hatte Athelstans Abendbrot verschlungen, verkündet, daß ihm nun wohl sei, und sich schlafen gelegt. »Wie kommt es nur«, brummte Athelstan, »daß solche Leute so gut schlafen können?« Godric hatte einen Mann umgebracht, auf dem Markt erschlagen, ihm die Börse abgenommen und war dann geflüchtet. Er hatte geglaubt, entkommen zu können, doch er hatte das Pech gehabt, einer Gruppe von städtischen Beamten mit ihrem Gefolge über den Weg zu laufen; die hatten Zeter und Mordio geschrien und ihn bis St. Erconwald verfolgt. Athelstan war gerade damit beschäftigt gewesen, den Lettner zu reparieren, und hatte ihn hereingelassen, als er an die Tür hämmerte. Godric hatte sich keuchend an ihm vorbeigedrängt und mit seinem noch blutbeschmierten Dolch gefuchtelt; er war durch das Kirchenschiff gerannt und hatte geschrien: »Asyl, Asyl!« Die Beamten, die ihm auf den Fersen gewesen waren, hatten die Kirche nicht betreten, aber – da er Sir John Cranstons Schreiber war – erwartet, daß er ihnen Godric auslieferte. Athelstan hatte sich geweigert.

»Dies ist Gottes Haus!« hatte er gerufen. »Es steht unter dem Schutz der Heiligen Mutter Kirche und dem Dekret des Königs!«

Da hatten sie ihn und Godric in Ruhe gelassen, aber eine Wache an der Pforte aufgestellt und geschworen, den Mörder umzubringen, wenn er versuchen sollte zu fliehen.

Athelstan spähte hinüber. Godric schlief noch immer. So bereitete er den Altar für die Messe vor, legte das ziemlich zerfledderte Missale aus und stellte zwei Kerzen auf, die so krumm waren, daß sie kaum allein stehen konnten. Ein abgestoßener versilberter Kelch, die Patene und zwei kleine Glaskrüge mit Wasser und Wein kamen auf das makellos weiße Altartuch. Athelstan ging in die klamme Sakristei, legte die Albe und den scharlachroten Chormantel über, bekreuzigte sich und ging wieder hinaus, um die Zeremonie der Messe zu beginnen, ein Priester vor Gott, der dem Vater Christus in der Gestalt von Brot und Wein zum Opfer darbrachte. Athelstan bekreuzigte sich und intonierte den einleitenden Psalm.

»Hintreten will ich zum Altare Gottes, zu Gott, der meine Jugend erfreut.«

Godric schnarchte weiter und merkte nichts von dem Schauspiel, das wenige Schritte neben ihm inszeniert wurde. Bonaventura strich um die Altarstufen herum und leckte sich das Maul. Athelstan, der inzwischen vom Wohlklang der Gottesdienstworte ergriffen war, verlas schwungvoll das Evangelium und mischte zum Offertorium Wasser und Wein. Am hinteren Ende der Kirche öffnete sich eine Tür. Eine verhüllte Gestalt schlüpfte herein und huschte lautlos durch das Kirchenschiff, um neben Bonaventura am Fuße der Treppe niederzuknien. Athelstan zwang sich, den Blick nicht von der weißen Brotscheibe zu heben, über die er die Worte der Wandlung gehaucht hatte und die so zum Leib Christi geworden waren. Nun war die Wandlung vorbei, und er begann mit dem Gebet des Herrn: »Pater noster, qui es in coelis …«

Seine Stimme hallte laut und klar durch das leere Kirchenschiff. Er hielt inne, wie es der Kanon der Messe gebot, um für die Toten zu beten. Er dachte an Fulke, den Hegemeister aus seiner Pfarrgemeinde, der vier Nächte zuvor bei einer Prügelei in der Schänke umgekommen war, und dann an seine Eltern und an seinen Bruder Francis …

»Gott schenke ihnen die ewige Ruhe«, flüsterte er.

Schwankend stand er vor dem Altar und fragte sich zum hundertsten Mal, weshalb er sich wie ein Mörder fühlte. Oh, in Frankreich hatte er Menschen getötet im Kampf für den Schwarzen Prinzen, den ältesten Sohn des alten Königs, der die Krone von Frankreich und Kastilien mit der von England hatte vereinigen wollen. Da hatte Athelstan seine Pfeile so tüchtig und genau verschossen wie alle anderen. Er erinnerte sich an die Leiche eines jungen französischen Ritters, dessen kornblumenblaue Augen blicklos gen Himmel gestarrt hatten; das blonde Haar hatte das Gesicht umrahmt wie ein Heiligenschein, und Athelstans widerhakenbewehrter Pfeil hatte zwischen Helm und Halsberge tief in der Kehle gesteckt. Auch für diesen unbekannten Kämpen betete der Mönch, doch Schuld empfand er nicht. Das war Krieg gewesen, und die Kirche lehrte, daß der Krieg Teil des sündigen Menschenlebens war, das Vermächtnis von Adams Unbotmäßigkeit.

»O Gott, bin ich denn ein Mörder?« flüsterte er und dachte daran, wie er als Novize in Blackfriars nahe der Westmauer der Stadt sein Gelübde gebrochen hatte und zum Bauernhof seines Vaters nach Sussex geflohen war. Er hatte vom Krieg geträumt damals und seinen jüngeren Bruder zu ähnlichen Phantasien aufgestachelt. So hatten sie sich einer jener lustigen Banden von Bogenschützen angeschlossen, die über die sonnigen, staubigen Straßen von Sussex hinunter nach Dover marschiert und über das glitzernde Meer gefahren waren, um auf den grünen Feldern Frankreichs Ruhm zu ernten. Sein Bruder war getötet worden, und Athelstan hatte die schaurige Nachricht zum rotgemauerten Hof nach Sussex gebracht. Seine Eltern waren vor Gram gestorben. Athelstan war nach Blackfriars zurückgekehrt, hatte sich auf den kalten Steinboden des Kapitelhauses geworfen und seine Sünden bekannt, um Absolution gebeten und Gott sein Leben geweiht, als Wiedergutmachung für die schweren Sünden, die er begangen hatte.

»Eine Schuld, größer als die Kains«, hatte der Pater Prior den im Kapitelhaus versammelten Brüdern erklärt. »Kain hat seinen Bruder ermordet. Athelstan hat sein Gelübde gebrochen und den Tod seiner ganzen Familie verschuldet.«

»Pater!«

Athelstan öffnete rasch die Augen. Die Frau, die auf den Stufen kniete, schaute zu ihm auf; ihr schönes Gesicht wirkte besorgt. »Pater, fehlt Euch etwas?«

»Nein, Benedicta. Entschuldige.«

Die Messe ging weiter, und auf das Agnus Dei folgte die Kommunion. Athelstan trug eine Hostie zu der wartenden Frau hinunter. Sie legte den Kopf in den Nacken, schloß die Augen, öffnete die vollen roten Lippen und streckte die Zunge hervor, damit Athelstan den Leib Christi darauflegen könne. Er verharrte einen Augenblick und bewunderte die makellose Schönheit: die zarte, golden schimmernde Haut, die sich über hohe Wangenknochen spannte; die langen Wimpern, dunklen Schmetterlingsflügeln gleich, bebend geschlossen; den geöffneten Mund mit den weißen, makellosen Zähnen.

»Und auch die Wollust in deinem geistigen Auge …«, ermahnte Athelstan sich, legte behutsam der Frau die Hostie in den Mund und kehrte zum Altar zurück. Der Kelch war geleert, der Schlußsegen gesprochen, die Messe beendet.

Godric rülpste in seiner kleinen Nische; er schnaufte und bewegte sich im Schlaf. Bonaventura streckte sich und miaute leise. Aber die Witwe Benedicta kniete immer noch mit gesenktem Kopf.

Athelstan räumte den Altar ab. Als er aus der Sakristei zurückkam, tat sein Herz einen Satz. Benedicta war noch da. Er ging zu ihr und setzte sich neben sie auf die Altarstufe.

»Geht es dir gut, Benedicta?«

In ihren dunklen Augen stand stummes, spöttisches Gelächter. »Mir geht es gut, Pater.«

Sie wandte sich um und streichelte Bonaventura sanft am Hals, daß der Kater vor Behagen schnurrte. Dann warf sie Athelstan einen Blick zu.

»Eine Witwe und ein Kater, Pater. Die Gemeinde von St. Erconwald wird nie reich werden.« Ihr Gesicht wurde ernst. »In der Messe wart Ihr abgelenkt. Was gab es denn?«

Athelstan schaute weg. »Nichts«, murmelte er. »Ich bin nur müde.«

»Wegen Eurer Astrologie?«

Er grinste. Dieses Gespräch hatten sie schon oft geführt. Er rückte ein Stück näher.

»Astrologie, Benedicta«, begann er mit gespielter Gewichtigkeit, »ist der Glaube daran, daß Sterne und Planeten die Stimmungen und Handlungen des Menschen beeinflussen. Der große Aristoteles akzeptierte die Theorie der antiken Chaldäer, nach der der Mensch ein Mikrokosmos all dessen ist, was das Universum enthält. Demnach gibt es ein Band zwischen jedem von uns und den Sternen am Himmel.«

Benedictas Augen weiteten sich in ironischer Bewunderung ob solcher Gelehrsamkeit.

»Die Astronomie hingegen«, fuhr Athelstan fort, »ist das Studium der Planeten und der Sterne.« Er streckte beide Hände aus. »Es gibt zwei Denkschulen.« Er schob die flache linke Hand vor. »Die Ägypter und einige andere glauben, die Erde sei eine flache Scheibe mit dem Himmel darüber und der Hölle darunter.« Jetzt streckte er den rechten Arm aus, die Hand fest geballt. »Ptolemäus, Aristoteles und die Klassiker dagegen glauben, daß die Erde eine Kugel in einem kugelförmigen Universum sei. Jeder Stern, jeder Planet ist eine Welt in sich.«

Benedicta ließ sich auf die Fersen zurücksinken.

»Mein Vater«, erwiderte sie spitz, »hat gesagt, die Sterne seien Gottes Lichter am Firmament, die zu Beginn aller Zeit von den Engeln dort aufgesteckt wurden.«

Athelstan wußte, daß sie ihn necken wollte.

»Dein Vater hatte recht.« Er zuckte betreten die Achseln. »In Exeter Hall zu Oxford habe ich die größten Denker studiert. Am Ende verblassen alle ihre Erklärungen vor den Schöpfungswundern Gottes.«

Benedicta nickte; ihr Blick war jetzt ernst, das Scherzen vorüber. »Warum verbringt Ihr also so viel Zeit dort, Pater? In der Nacht, auf der Spitze des Kirchturms? Wir können Eure Laterne sehen.«

Athelstan schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Aber wenn man in einer klaren Sommernacht in die samtige Schwärze hinausschaut und die Bewegungen der Planeten verfolgt, das schimmernde Licht des Abendsterns, dann verliert man sich in dieser Weite.« Er sah sie scharf an. »Näher kann der Mensch der Ewigkeit nicht kommen, ohne durch die Pforte des Todes zu schreiten. Wenn ich dort oben bin, dann bin ich nicht länger Athelstan, Priester und Ordensbruder. Ich bin nur noch ein Mensch und aller Sorgen ledig.«

Benedicta schlug die Augen nieder und berührte die Altarstufen mit sanften Fingerspitzen.

»Heute abend«, murmelte sie, »werde ich es auch tun. Zum Himmel hinaufschauen und sehen, wie es ist, zu sterben, ohne zu sterben.«

Rasch erhob sie sich, beugte das Knie vor dem flackernden Ewigen Licht und verließ leise die Kirche.

Athelstan sah, wie die Tür hinter ihr ins Schloß fiel, und wandte sich Bonaventura zu, der auf seine Belohnung wartete. Der Ordensbruder ging in die Sakristei und holte das erwartete Schälchen Milch. Dann setzte er sich und sah zu, wie der Kater gierig den weißen Schaum mit rosiger Zunge aufleckte.

»Weißt du, Bonaventura«, sagte er leise, »immer wenn sie geht, möchte ich sie zurückrufen. Sie kommt hierher, um für die Seele ihres Mannes zu beten, auch ein Kriegsopfer des Königs. Aber manchmal gaukle ich mir vor, daß sie kommt, um sich mit mir zu unterhalten.«

Der Kater hob den ramponierten Kopf, gähnte und widmete sich wieder seiner Milch.

»Der Meister hatte recht«, fuhr Athelstan fort; sein alter Novizenmeister, Pater Bernhard, war ihm plötzlich eingefallen, der in Blackfriars für Athelstans geistliche Erziehung verantwortlich gewesen war.

»Im Leben eines Priesters, Athelstan«, hatte Pater Bernhard einst begonnen, »gibt es drei große Schrecknisse. Die erste, das sind die Gelüste des Fleisches. Sie werden deine Träume heimsuchen mit Visionen von weichen Leibern, seidig schimmernden Gliedern, vollen, sinnlichen Lippen und Haar, das glänzt wie poliertes Gold. Aber das wird vergehen. Beten, Fasten und das Alter werden diesen Feind aus dem Felde schlagen.« Der alte Novizenmeister hatte sich vorgebeugt und Athelstan bei den Handgelenken gepackt. »Dann kommt der zweite Schrecken: die absolute, seelenvernichtende Einsamkeit eines Priesters. Keine Frau, keine Kinder, niemals die Umarmung kleiner warmer Körper, niemals Ärmchen, die sich um deinen Hals schlingen. Aber auch das wird vergehen. Der dritte Schrecken ist noch gräßlicher.« Athelstan erinnerte sich, daß dem alten Priester die Tränen in die Augen gestiegen waren. »Es gibt den Glauben«, hatte der Novizenmeister geflüstert, »daß es jedem Menschen, der zur Welt kommt, bestimmt sei, einen anderen zu lieben. Nun, manchmal haben wir Priester Glück und begegnen diesem anderen Menschen nicht in den frühen Tagen unserer Pilgerreise. Aber wenn es doch geschieht, dann wirst du wahrhaft alle Schrecken der dunklen Nacht der Seele erfahren.« Der Novizenmeister hatte geschwiegen und schließlich weitergesprochen. »Kannst du dir das vorstellen, Athelstan, dieser Liebe zu begegnen, und dann, durch Gottes Gesetz, ihr niemals Ausdruck geben zu dürfen? Tust du es doch, so brichst du deine Gelübde als Priester, und die Kirche verdammt dich zu ewigem Höllenfeuer. Bleibst du aber deinem Gelübde treu, so brennst du in einem Höllenfeuer, das du selbst entfachst, denn du wirst sie nie vergessen. Du suchst ihr Gesicht in der Menge, du siehst ihre Augen im Antlitz jeder Frau, der du begegnest. Sie sucht dich heim in deinen Träumen. Kein Tag vergeht, ohne daß sie in deinen Gedanken erscheint.«

Athelstan dachte an Benedicta, und er wußte, was der Novizenmeister gemeint hatte.

»Oh, gütiger Christus«, murmelte er.

Er stand auf und klopfte sich den Staub von der Kutte. Bonaventura hatte seine Milch aufgeschleckt, kam herüber und schaute zu ihm hoch.

»Katholisch oder katerlich, Bonaventura?« Athelstan lachte über seinen matten Scherz. »Will der Pater Prior mir einen Streich spielen?« fragte er sich. »Ich habe meinen achtundzwanzigsten Sommer hinter mir und werde von Pontius nach Pilatus geschickt.« Vielleicht wollen seine Oberen ihn auf die Probe stellen, indem sie ihn von den Härten des Noviziats zu den akademischen Glorien von Exeter Hall sandten, dann wieder zu niedrigen Diensten nach Blackfriars zurückholten und schließlich als Schreiber des Leichenbeschauers und als Gemeindepfarrer von St. Erconwald arbeiten ließen.

Der Bruder kniete nieder, bekreuzigte sich und begann leise einen Psalm zu rezitieren, als er ein Geräusch hörte. Erschrocken sprang er auf; vielleicht hatten die Behörden doch noch ihre Schergen ausgeschickt, um Godric zu holen. Selbst im Elend von Southwark entging Athelstan nicht, daß er in politisch turbulenten Zeiten lebte. Edward III. war tot und sein Erbe, Richard II., noch ein Kind. Die mächtigen, adeligen Falken setzten in den meisten Fällen noch immer ihren Willen durch. Athelstan griff einen Kienspan, entzündete ihn an der Kerze vor der Madonna und eilte durch die Kirche, daß die Pfützen spritzten, die der heftige Regenguß ein paar Tage zuvor hinterlassen hatte. Er öffnete die Kirchentür, streckte den Kopf hinaus und lächelte. Die städtischen Wächter waren aus dem Schlaf aufgeschreckt und führten ein heftiges Wortgefecht mit Sir John Cranston, der, als er seinen Schreiber sah, lospolterte: »Um Gottes willen, Bruder, sag diesen Trotteln, wer ich bin!« Cranston tätschelte seinem mächtigen Roß den Hals und schaute blitzenden Auges in die Runde. »Wir haben Arbeit, Bruder. Wieder einen Toten, ermordet in Cheapside. Einer der Großen dieser Gegend. Komm schon, und kümmere dich nicht um diese Tröpfe.«

»Sie kennen Euch nicht, Sir John«, erwiderte Athelstan. »Wie Ihr aber auch ausseht, in Mantel und Kapuze gewickelt! Schlimmer als ein Mönch.«

Der Coroner blies die dicken Backen auf, zog die Kapuze zurück und brüllte seine Peiniger an: »Ich bin Sir John Cranston, Coroner der Stadt – und Ihr, meine Herren, stört den Frieden des Königs! Zurück jetzt!«

Die Männer wichen zurück wie geprügelte Mastiffs, und in ihren dunklen Gesichtern glommen Angst und Wut.

»Komm jetzt, Athelstan!« rief der Coroner, dann fiel sein Blick auf etwas zu Füßen des Ordensbruders. »Und schaff mir die Katze aus den Augen. Ich hasse das Vieh.«

Bonaventura dagegen schien in Cranston einen lange vermißten Freund zu sehen. Eilig sprang der Kater die Treppe hinunter, ließ sich neben dem richterlichen Roß nieder und schaute so zärtlich zu dem großen Mann hinauf, als brächte er einen Eimer voll Milch oder einen Teller mit den schmackhaftesten Fischen. Cranston wandte nur den Kopf ab und spuckte aus.

»Laßt Godric in Ruhe«, warnte Athelstan die Wächter. »Ihr dürft meine Kirche nicht betreten.«

Sie nickten. Athelstan schloß die Tür ab und ging zu seinem Haus neben der Kirche. Er stopfte Pergament, Federkiele und Tinte in seine verschlissenen Ledertaschen, sattelte Philomel und schloß sich Sir John an. Der Coroner war gut gelaunt; er genoß seinen Streit mit den städtischen Wächtern, weil er das Beamtentum haßte. Lautstark verfluchte er die Stadtgarde und mit ihr alle Goldschmiede, Pfaffen und – mit listigem Seitenblick auf Athelstan – alle Dominikanermönche, die die Sterne studierten. Athelstan ignorierte ihn und trieb Philomel an.

»Kommt, Sir John«, sagte er. »Ich dachte, wir hätten Arbeit.«

Aber Cranston war jetzt vollends in Wallung geraten. Noch einmal brüllte er die Wachen an, trieb dann seinem Pferd die Fersen in die Weichen und holte lärmend auf, bis er an Athelstans Seite ritt.

»Wahrscheinlich hast du letzte Nacht nicht geschlafen, Bruder. Bei deinen verdammten Sternen, deiner verfluchten Katze, deinen Gebeten und Messen!«

»Stets himmelwärts gewandt«, witzelte Athelstan. »Ihr solltet auch einmal zum Himmel hinaufschauen und die Gestirne studieren.«

»Wieso?« wollte Cranston brüsk wissen. »Du glaubst doch wohl nicht diesen Unsinn von den Sternen und Planeten, die unser Leben regieren? Sogar die Kirchenväter verdammen das.«

»In diesem Falle«, versetzte Athelstan, »verdammen sie den Stern von Bethlehem.«

Sir John rülpste, packte den stets gegenwärtigen Weinschlauch, der an seinem Sattelknauf hing, und nahm einen tiefen Schluck. Dann hob er eine Hinterbacke aus dem Sattel und furzte, so laut er konnte. Athelstan beschloß, Sir Johns Meinung, unausgesprochen oder sonstwie geäußert, zu ignorieren. Er wußte, daß der Coroner im Grunde ein gutmütiger Mann war.

»Was sollen wir in Cheapside?« erkundigte er sich.

»Sir Thomas Springall«, antwortete Cranston. »Besser gesagt, der verstorbene Sir Thomas Springall, ehedem mächtiger Kaufmann und Goldschmied. Jetzt ist er so tot wie die Ratte da drüben.« Cranston deutete auf einen Müllhaufen – ein Gemisch aus tierischen und menschlichen Exkrementen und zerbrochenen Töpfen, auf dem eine räudige Ratte lag. Ihr rostbraun und weiß gefleckter Körper war in der Verwesung aufgedunsen.

»Es ist also ein Goldschmied gestorben?«

»Ermordet worden. Anscheinend war der Bürger Springall nicht beliebt bei seinem Majordomus Edmund Brampton. Letzte Nacht ließ Brampton einen vergifteten Becher im Gemach seines Herrn zurück. Sir Thomas wurde tot aufgefunden, und Brampton entdeckte man später: Er baumelte am Balken in einer Dachkammer.«

»Und jetzt reiten wir dorthin?«

»Nicht sofort«, antwortete Cranston. »Erst wünscht Oberrichter Fortescue uns zu empfangen, in Alphen House in Castle Yard bei Holborn.«

Athelstan schloß die Augen. Oberrichter Fortescue rangierte an erster Stelle auf der Liste der Leute, die er lieber nicht sehen wollte. Ein mächtiger Höfling, ein korrupter Richter, ein Mann, der Schmiergeld nahm und denjenigen, die mächtiger waren als er, Gefälligkeiten erwies. Unter den kleinen Ganoven von Southwark war die Skrupellosigkeit des Oberrichters sprichwörtlich.

»Daher«, unterbrach Cranston leutselig Athelstans Gedankengang, »werden wir also erst den Oberrichter besuchen und uns dann den Toten in Cheapside ansehen. Kaufleute, die von ihren Dienstboten ermordet werden! Dienstboten, die sich dann aufhängen! Tz, tz! Was soll noch aus dieser Welt werden?«

»Das weiß Gott allein«, entgegnete Athelstan. »Wenn schon Coroner saufen und furzen und bissige Bemerkungen über Menschen machen, die bei all ihren Unzulänglichkeiten immer noch Menschen sind, egal ob sie nun Priester oder Kaufleute …«

Sir John lachte, trieb sein Pferd näher heran und schlug Athelstan freundschaftlich auf die Schulter.

»Du gefällst mir, Bruder«, trompetete er. »Aber weshalb dein Orden dich nach Southwark geschickt und dein Prior dich zum Schreiber eines Untersuchungsrichters gemacht hat, weiß Gott allein!«

Athelstan gab darauf keine Antwort. Sie hatten solche Gespräche schon öfter geführt: Sir John hatte gebohrt, und er hatte gemauert. Eines Tages, beschloß Athelstan, würde er Sir John die ganze Wahrheit sagen, obwohl er den Verdacht hatte, daß der Coroner sie schon kannte.

»Ist das eine Wiedergutmachung?« fragte Cranston jetzt.

»Neugier«, gab Athelstan zurück, »kann eine schwere Sünde sein, Sir John.«

Wieder lachte der Coroner und lenkte das Gespräch geschickt auf andere Dinge.