Tod auf der Themse - Paul Doherty - E-Book
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Tod auf der Themse E-Book

Paul Doherty

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Beschreibung

Winter 1379: Sir John Cranstone, Coroner der Stadt London, muß sich mit einer Serie geheimnisvoller Diebstähle in den Häusern reicher Handelsherren beschäftigen. Gleichzeitig bereitet Athelstan, Dominikaner und Schreiber des Sir John, ein Mysterienspiel in seiner Gemeinde vor. All das wird plötzlich unwichtig, als mehrere englische Schiffe, die im Auftrag des Königs französische Küstenorte ausgeplündert habe, um die Staatskasse aufzufüllen, in der Themse vor Anker gehen. Der Tod eines Kapitäns, zwei weitere Morde und drei spurlos verschwundene Seeleute stellen Sir John und Athelstan vor eine beinahe unlösbare Aufgabe. Im Zuge ihrer Nachforschungen stoßen sie auf Skandale, Intrigen und sogar Hochverrat. Als französische Kriegsschiffe für die englische Piraterie Rache üben wollen, wird es lebensgefährlich …

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Über das Buch:

Winter 1379: Sir John Cranstone, Coroner der Stadt London, muß sich mit einer Serie geheimnisvoller Diebstähle in den Häusern reicher Handelsherren beschäftigen. Gleichzeitig bereitet Athelstan, Dominikaner und Schreiber des Sir John, ein Mysterienspiel in seiner Gemeinde vor. All das wird plötzlich unwichtig, als mehrere englische Schiffe, die im Auftrag des Königs französische Küstenorte ausgeplündert habe, um die Staatskasse aufzufüllen, in der Themse vor Anker gehen. Der Tod eines Kapitäns, zwei weitere Morde und drei spurlos verschwundene Seeleute stellen Sir John und Athelstan vor eine beinahe unlösbare Aufgabe. Im Zuge ihrer Nachforschungen stoßen sie auf Skandale, Intriegen und sogar Hochverrat. Als französische Kriegsschiffe für die englische Piraterie Rache üben wollen, wird es lebensgefährlich … 

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edelelements.de

Copyright © 1995 by Paul Harding Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „By Murder's Bright Light“. Ins Deutsche übertragen von Rainer Schmidt Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Pseudonym Paul Harding. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Designomicon Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

Inhalt

 

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Prolog

Das schwere Unwetter, das die Südküste Englands verwüstet hatte, war jetzt über die nördlichen Meere zu den eisigen Ländern gezogen, wo fellbekleidete Männer namenlosen Göttern Opferfeuer entzündeten. Von London bis Cornwall ließen sich die Chronisten der Klöster in allen Einzelheiten darüber aus, wieso das Unwetter eine Gottesstrafe gegen ein sündhaftes Königreich gewesen war. Und tatsächlich hatte der Zorn Gottes in den letzten paar Monaten sich unübersehbar ausgetobt. Eine mächtige französische Flotte unter dem Piratenkapitän Eustace, dem Mönch, hatte die Städte entlang der Südküste überfallen und ausgeplündert. Die Einwohner von Rye in Sussex hatten in ihrer Kirche Zuflucht gesucht. Dort hatten sie die französischen Korsaren einfach eingesperrt und das Gotteshaus bis auf die Grundmauern niedergebrannt; ohne auf die Schreie der Eingeschlossenen zu achten, hatten sie gestohlene Karren mit Silber, Teppichen und Lebensmitteln aus den geplünderten Häusern beladen.

Die französische Flotte hatte sich zurückgezogen. London mit seinen Bastionen hatte nun Ruhe, während der graue Herbst in einen eisigen Winter überging. Schiffe lagen auf der Themse vor Anker und zerrten an ihren Trossen. Die Matrosen hatten Urlaub und vergnügten sich in der Stadt; nur Rumpfmannschaften waren an Bord geblieben und riefen die Stunden aus. Auf einem Schiff aber, auf der großen Kogge God’s Bright Light, war alles still. Die Laterne hoch oben am Mast flackerte und blinkte im kalten, grauen Licht der Morgendämmerung. Das Schiff bewegte sich knarrend und schwang an seiner Ankertrosse in der schwarzen, träge fließenden Themse sanft hin und her. Die Kräne auf St. Paul’s Wharf standen regungslos da, und die Türen der Lagerschuppen waren verrammelt und verschlossen. Nur hin und wieder schlich eine Katze auf der Jagd nach fettbäuchigen Mäusen und geschmeidigen Ratten über die Rollen ölgetränkter Taue, die Holzstapel und die dicken, eisenberingten Salzfässer, die hier standen.

Für die Mäuse und Ratten war es eine Nacht des Überflusses gewesen; sie waren von den Müllhaufen heruntergekommen und unter den Türen der Lagerschuppen hindurchgeschlüpft, um dort an Kornsäcken und an großen, saftigen, in Leintücher gewickelten Schinken zu knabbern. Natürlich mußten sie erst einen Spießrutenlauf zwischen all den Katzen hinter sich bringen, die ebenfalls hier jagten. Eine Ratte, wagemutiger als die anderen, huschte auf dem Kai entlang, schlitterte die schimmelfeuchten Stufen hinunter und schwamm auf die Ankertrosse der Kogge zu; ihr öliger Leib dümpelte auf den Wellen des Flusses. Die Ratte war eine eifrige Jägerin, so gewandt und verschlagen, daß sie drei Sommer überlebt hatte und schon grau um die Schnauze geworden war. Vorsichtig benutzte sie die kleinen Krallen wie auch den Schwanz, um am Tau hinaufzukriechen, und dann glitt sie durch die Klüse auf das Deck. Dort verharrte sie, reckte den spitzen Kopf in die Luft und schnupperte. Irgend etwas stimmte hier nicht – mit ihrer empfindlichen Nase witterte sie Schweißgeruch, vermischt mit Parfümduft. Die Ratte war angespannt, und die Muskeln des schmalen, schwarzen Körpers wölbten sich über den Schultern. Die kohlschwarzen Knopfaugen spähten durch den Nebel, der gespenstisch über das Deck wehte; die Ohren lauschten aufmerksam in die Stille und warteten auf das leise Wischen eines Katzenschwanzes oder das rauhe Knarren von Holz, wo ein anderer Räuber über die Planken pirschte. Aber sie bemerkte nichts Ungewöhnliches, und so schlich sie weiter. Dann erstarrte sie jäh, denn jetzt waren Geräusche zu hören -der dumpfe Stoß eines Bootes, das längsseits kam, gefolgt vom Klang menschlicher Stimmen. Die Ratte witterte Gefahr; sie machte kehrt, lief zur Klüse zurück und wieselte die Ankertrosse hinunter. Lautlos glitt sie ins Wasser und schwamm zurück zum Ufer, wo die Zähne eines räudigen Katers sie erwarteten.

Es war ein kleines Marketenderboot, das die Ratte verschreckt hatte, und die Stimmen gehörten einem Matrosen und seiner Begleiterin, einer jungen Dirne vom Fischmarkt bei der Vintry. Der Seemann versuchte, die Hure dazu zu überreden, die Jakobsleiter mit ihm hinaufzuklettern. Ihr blondes Haar war schon vom Flußnebel durchfeuchtet, und die grelle Schminke verlief auf ihrem Gesicht. Er schwankte trunken und einigermaßen gefährlich in dem Boot.

»Komm schon«, lallte er. »Rauf mit dir! Und wenn du mir gefällig warst, kannst du auch die anderen haben. Jeder wird dir eine Münze bezahlen.«

Das Mädchen spähte an der halsbrecherischen Strickleiter hinauf und schluckte heftig. Der Matrose hatte sich bereits großzügig gezeigt und ihr einen ganzen Silbergroschen gezahlt. Jetzt hatte er sie hergebracht, damit sie hier mit ihm und den armen Unglücksraben, die als Schiffswache zurückgeblieben waren, weiterschmuste. Sie sah, wie er eine Silbermünze zwischen den Fingern drehte.

»Heirate und zur Hölle mit dir!« Es war ihr Lieblingsfluch, den sie da hervorstieß. Sie packte die Strickleiter, und während der Seemann hinter ihr seine Hände unter ihre Röcke schob, um sie anzutreiben, kletterte sie über die Reling an Deck. Der Seemann folgte und purzelte neben ihr auf die Planken, schwer atmend, mit einer Mischung aus Flüchen und unterdrücktem Kichern. Das Mädchen stand auf.

»Na los doch!« zischelte sie. »Beim Geschäft kommt’s auf die Zeit an, und Zeit ist Geld. Wo sollen wir es machen?«

Sie schlang die dünnen Arme um den Leib des Matrosen, preßte sich an ihn und fing an, sich zu bewegen. Grinsend packte der Seemann die gefärbten Haare des Mädchens und zog ihren Kopf an seine Brust. Er war hin- und hergerissen zwischen der Erregung in seinen Lenden und dem bohrenden Argwohn in seinem biervernebelten Verstand, daß hier etwas nicht stimmte.

»Das Schiff ist zu ruhig«, knurrte er. »Bracklebury!« rief er dann. »Bracklebury, wo steckst du?«

Das Mädchen wand sich. »Bist du einer von denen, die es gern haben, wenn jemand zuschaut?« flüsterte sie.

Der Matrose schlug ihr klatschend auf den Hintern und spähte in die dunstige Finsternis.

»Verdammt, hier stimmt was nicht«, murmelte er.

»Ach, komm!«

»Verpiß dich, du kleine Nutte!« Grob stieß er das Mädchen von sich, packte haltsuchend die Reling und taumelte über das Deck. »Christus erbarme sich«, hauchte er. »Wo sind die nur alle?« Er schaute an der Schiffswand hinunter, ohne die Hure zu beachten, die leise maulend am Fuße des Mastes saß. Dann spähte er über den vernebelten Fluß. Gleich würde der Morgen dämmern; auf dem Wasser konnte er andere Schiffe erkennen, und er sah auch ein paar Gestalten, die sich auf den Decks hin und her bewegten. Die kalte Morgenluft pustete ihm den Bierdunst aus dem Schädel.

»Sie sind weg«, flüsterte er bei sich.

Er starrte hinunter auf das dunkle, rauhe Wasser der Themse und blickte dann erneut übers Deck. Das Beiboot lag noch vertäut auf den Planken. Ohne auf das Flehen der immer noch am Mast kauernden Dirne zu achten, rannte er zum Achterkastell und stieß die Tür zur Kajüte auf. Die Öllampe an ihrem schweren Haken leuchtete ganz friedlich. Drinnen war alles unberührt, sauber und in bester Ordnung. Der Matrose stand stocksteif und breitbeinig da und wiegte sich mit den sanft rollenden Bewegungen des Schiffes; er lauschte dem Knarren von Spanten und Planken und dachte an die unheimlichen Geschichten, die er und seine Kameraden sich auf mitternächtlichen Wachen erzählt hatten. War hier Magie am Werk gewesen? Waren Bracklebury und die anderen beiden Besatzungsmitglieder weggezaubert worden? Auf natürlichem Wege hatten sie das Schiff jedenfalls nicht verlassen – das Boot war noch da, und das eiskalte Wasser dürfte selbst den verzweifeltsten Matrosen kaum dazu verlocken, die Freuden der Stadt schwimmend zu erreichen.

»Bracklebury!« schrie er, als er aus der Kajüte kam. Aber zur Antwort knarrte und ächzte nur das Schiff. Der Matrose schaute zum Mast hinauf und sah die Nebelschleier, die ihn umwehten. »Was ist denn los?« heulte die Dirne.

»Halt’s Maul, du Luder!«

Der Seemann trat zur Reling. Er wünschte, er wäre nie zurückgekommen.

»God’s Bright Light!« höhnte er bei sich. »›Das helle Licht Gottes‹? Aber dieses Schiff ist verflucht!«

Kapitän Roffel war ein leibhaftiger Teufel gewesen. Jahre der blutigsten Kämpfe auf See hatten den Matrosen abgehärtet, doch selbst in ihm war Mitleid aufgeflackert, als er gesehen hatte, wie skrupellos Roffel mit den französischen Gefangenen umgesprungen war. Doch jetzt war Roffel tot, hingerafft von einer plötzlichen Krankheit. Sein Leichnam war, in Ölhäute gewickelt, an Land gebracht worden, und seine Seele war wahrscheinlich zur Hölle gefahren. Den Matrosen schauderte es, als er sich der Dirne zuwandte.

»Wir schlagen wohl besser Alarm«, sagte er, »was immer das noch nützen mag. Der Satan war auf diesem Schiff!«

1

Ich beschuldige Eleanor Raggleweed der Hexerei!«

Sir John Cranston, Coroner der Stadt London, verlagerte seinen massigen Wanst hinter dem hohen Eichenholztisch. In stummer Wut knirschte er mit den Zähnen, während er die giftig dreinschauende Hausfrau aus der Rat-Tail Alley musterte, die mit dramatischer Gebärde quer durch die kleine Kammer im Londoner Rathaus deutete.

»Sie ist eine Hexe!« wiederholte Alice Frogmore. »Und das da« – nicht minder dramatisch wies sie auf eine große fette Kröte, die geduldig auf dem Boden eines Eisenkäfigs hockte –, »das ist ihr Familiaris!«

Cranston faltete die Hände über dem gewaltigen Bauch. Er warf dem grinsenden Schreiber einen wütenden Blick zu und lächelte Alice Frogmore dann mit unechter Honigsüße an.

»Du hast deine Anklage vorgetragen.« Er schaute zu der verängstigten Eleanor hinüber. »Jetzt zeige uns deine Beweise.«

»Gesehen habe ich sie!« trompetete Alice. »Nachts im Garten habe ich sie gesehen, wie sie ihren scheußlichen Familiaris mit dem süßesten Brot und ganz frischer Milch gefüttert hat. Ich habe gesehen, wie sie mit ihm geredet hat, und mein Mann hat auch Beweise.«

»Tritt vor, Master Frogmore!« dröhnte Cranston.

Der Mann schlurfte herbei und blieb neben seiner Frau stehen. Cranston fand, daß sie mehr Ähnlichkeit mit einer Kröte hatte als die Kreatur, die da im Käfig hockte. Alice Frogmore hatte kleine Schweinsäuglein, die beinahe ganz hinter dicken Fettpolstern verschwanden, und ihre kurzen, gedrungenen Arme hingen entschlossen zu beiden Seiten eines ziemlich aufgedunsenen Körpers herab. Cranston betrachtete Master Frogmore. Er unterdrückte ein Lächeln, als er sich fragte, wie die beiden wohl im Bett miteinander zurechtkamen, denn Master Frogmore war dünn wie ein Eschenzweig; er hatte zerzaustes weißes Haar, vorstehende Zähne und die ängstlichen Augen eines gehetzten Hasen.

»Nun, Bursche?« blaffte Cranston. »Hast du auch etwas gesehen?«

»Jawohl, Eure Exzellenz.«

»Mylord Coroner genügt.«

»Jawohl, Eure Exzellenz Mylord Coroner.«

Cranstons Blick schnellte zu Osbert, dem Schreiber, dessen Schultern jetzt vor Lachen bebten.

»Nimm dich in acht, Osbert!« flüsterte Cranston. »Nimm dich gut in acht.« Er schaute Frogmore an. »Nun, was hast du gesehen?«

»Es war in der Walpurgisnacht.« Frogmores dünne Stimme senkte sich höchst dramatisch. »Zur Zeit des großen Hexensabbats. Da sah ich, wie Mistress Raggleweed in den Garten ging, eine Kerze anzündete und ihren scheußlichen Besucher aus der Hölle fütterte.«

»Wie kommt’s, daß du über die Walpurgisnacht Bescheid weißt?« unterbrach ihn Cranston mit einem gespielten Ausdruck der Unschuld. »Du scheinst eine Menge über Hexen zu wissen, Master Frogmore.«

Der Mann zog nur die Schultern hoch.

»Aber was noch wichtiger ist: Wieso hast du Mistress Raggleweed überhaupt bespitzelt?«

»Ich war auf dem Dachboden meines Hauses, um einen Fensterladen zu reparieren.«

»Mitten in der Nacht?« rief Cranston.

»Meine Frau hatte es mir aufgetragen.«

Frogmore schob sich hinter seine Frau, die jetzt den Kopf vorstreckte, die Lippen zusammenpreßte und die Backen aufblies. Cranston fragte sich, ob sie ihn anspucken wollte.

»Ich brauche schon mehr Beweise als diese«, schnarrte er. Er kratzte sich den kahlen Schädel, und der vergnügte Ausdruck verschwand auf dem heiteren Gesicht mit den eisblauen Augen. Er funkelte Alice Frogmore an; bei sich nannte er sie bereits »Mistress Kröte«.

»Manchmal«, schrie die Frau zurück, »kommt diese Kröte in meinen Garten, und dann kommt jedesmal ein Unglück über mich.«

»Zum Beispiel?« Cranstons Tonfall klang warnend. Er tastete unter dem Tisch nach seinem Weinschlauch.

Mistress Frogmore war jedoch nicht mehr zu halten. Sie mißdeutete den harten Ausdruck im Gesicht des Coroners, glaubte, es sei die Miene eines strengen Richters. Aber das war es nicht – es war die Miene eines Coroners, der sich verzweifelt nach einem Becher Wein oder einem Humpen Ale im »Heiligen Lamm Gottes« sehnte, bevor er nach Hause hastete, um mit seinen Zwillingen zu spielen und seine Frau, die gesegnete Lady Maude, zu necken.

»Nun?« knurrte Cranston.

»Einmal ist die Milch sauer geworden.«

»Und?« drängte Cranston mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ein andermal bin ich von einem Schemel gefallen.«

»Ein Wunder, daß du einen gefunden hast, der dein Gewicht trägt«, bemerkte Cranston bei sich.

Osbert hob den Kopf, und sein Gesicht war eine Maske der Besorgnis.

»Mylord Coroner, das letzte habe ich nicht mitgekriegt.«

»Du wirst gleich was ganz anderes mitkriegen, wenn du nicht das Maul hältst!« grollte Cranston. »Mir reicht es jetzt!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch und wandte sich an Eleanor Raggleweed. »Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?«

»Sir John, ich bin unschuldig.«

Cranston schaute wütend auf die Kröte. »Gehört diese Kreatur dir?«

»Ja, Mylord Coroner«, quiekte sie.

»Und war sie auf dem Grund und Boden der Frogmores?«

»Ja, Mylord Coroner.«

Cranston funkelte die Kröte an. »Sie hat sich also unbefugtes Betreten zuschulden kommen lassen?«

»Ja, Mylord Coroner.«

»Warum hältst du sie?«

»Mein Gatte war ein sanfter Mann. Er fand sie, als sie klein war, und wir haben sie immer behalten.« Mistress Raggleweeds müdes Gesicht lächelte gezwungen. »Ich lebe allein, Sir. Sie ist alles, was ich habe. Sie ist ein freundliches Wesen.«

Cranston funkelte sie unter seinen buschigen, weißen Brauen an.

»Laßt sie sich doch ausziehen!« fuhr Mistress Frogmore dazwischen. »Laßt uns nach den Hexenmalen suchen! Nach den zusätzlichen Zitzen, mit denen sie ihren Familiaris säugt!«

Cranston ließ seine schwere Faust auf den Tisch niederfahren.

»Ruhe!« brüllte er.

»Sie ist eine Hexe!« beharrte Alice Frogmore.

»Zwei Penny Strafe wegen Mißachtung des Gerichts!« schrie Cranston.

»Aber, Mylord Coroner …«

»Noch mal zwei Penny Strafe wegen Mißachtung des Gerichts!« donnerte Cranston.

Er sah, daß die Büttel an der Tür sich vor Lachen schüttelten. Er holte seinen Weinschlauch hervor, nahm einen ordentlichen Schluck, drückte den Stopfen wieder hinein und hängte den Schlauch an den Haken seitlich des Tisches. Dann starrte er Eleanor Raggleweed an.

»Bist du eine Hexe?«

»Mylord Coroner, ich bin eine ehrbare Witwe. Ihr könnt Pater Lawrence fragen.« Die Frau drehte sich um und deutete auf den weißhaarigen Priester, der bei den Bütteln stand. »Ich gehe regelmäßig zur Kirche, sonntags und noch dreimal in der Woche.«

Der sanft blickende Priester nickte bei diesen Worten.

»Und warum erheben die Frogmores solche Vorwürfe?« wollte Cranston wissen.

»Weil sie mir immer schon das Besitzrecht auf ein kleines Stück Land hinter meinem Haus streitig machen. Meinen Mann haben sie mit Streit und Zank in ein frühes Grab gebracht.« Die Stimme der Frau senkte sich zu einem Murmeln. »Ich habe Angst, daß sie Thomas töten werden.«

»Wer, zum Teufel, ist Thomas?« fragte Cranston.

»Die Kröte, Mylord Coroner.«

Plötzlich verlagerte das kleine, gelb-grüne Ungeheuer im Käfig seinen fetten, aufgeschwollenen Körper und gab ein äußerst machtvolles Quaken von sich. Osberts Kopf sank auf die Tischplatte; er bebte so sehr vor Lachen, daß er nicht mehr schreiben konnte. Mistress Frogmore machte einen Satz nach vorn.

»Seht Ihr? Die Kröte spricht mit ihr!«

»Einen Silbergroschen Strafe!« brüllte Cranston.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und dankte Gott im stillen dafür, daß Bruder Athelstan, sein Privatsekretär, nicht anwesend war, um dieses Theater mitanzusehen, sondern wohlbehalten in seiner Pfarrkirche St. Erconwald auf der anderen Seite des Flusses in Southwark saß. Athelstan wäre inzwischen sicher zusammengebrochen und läge, sich vor Lachen windend, am Boden. Cranston funkelte die Kröte an; sie hatte ihn anscheinend liebgewonnen, denn sie hüpfte vorwärts und quakte ihn laut an, als wäre er ein Bekannter.

»Jetzt reicht es aber«, brummte Cranston. »Osbert, wenn du nicht gleich gerade sitzt, zahlst du einen Nobel Strafe und wanderst für eine Woche ins Fleet-Gefängnis.«

Der Schreiber biß sich auf die Lippen, um ernst zu bleiben, und griff nach seinem Federkiel. Cranston schnippte mit den Fingern, winkte den Priester nach vorn und deutete auf die große Bibel, die angekettet auf einem schweren Pult neben seinem Tisch lag.

»Erhebe deine Hand, Pater, und lege den Eid ab.«

Der Priester gehorchte.

»Laß die Hand, wo sie ist«, befahl Cranston. »Und jetzt, Pater, erzähl mir von Eleanor Raggleweed.«

»Eine gutherzige Frau«, antwortete der Priester. »Brav und treu, Sir John. Ihr Ehemann kämpfte bei Euren Bogenschützen, als Ihr im Dienste Sir John Chandos und des Prinzen Edward standet.«

Cranston lehnte sich zurück, und sein Unterkiefer klappte herunter, als er sich plötzlich an Raggleweed erinnerte, einen meisterhaften Bogenschützen und fröhlichen Burschen, ehrlich, tapfer und treu. Er sah den alten Priester an.

»Und diese Vorwürfe?«

»Bei Christus und Seiner Mutter, Sir John: krasse Lügen.«

Sir John nickte und winkte dem Priester, er möge zurücktreten.

»Dies ist mein Urteil. Erstens: Du, Mistress Alice Frogmore, bist schuldig der Mißachtung des Gerichts. Die Strafe dafür beträgt vier Penny. Zweitens: Du, Mistress Alice Frogmore, hast die Zeit dieses Gerichts verschwendet. Die Strafe dafür beträgt noch einmal vier Penny. Überdies« – wutfunkelnd schaute er der fetten Frau ins haßerfüllte Gesicht – »sollst du verpflichtet sein, für alle Zeit Frieden zwischen dir und Mistress Eleanor Raggleweed, deiner Nachbarin, zu wahren. Was sagst du dazu?«

»Aber die Kröte war auf unserem Grundstück!« wimmerte sie. »Ach ja.« Cranston wandte sich Eleanor Raggleweed zu. »Eleanor Raggleweed, deine Kröte namens ›Thomas‹« -jetzt hatte auch Cranston Mühe, ernste Miene zu bewahren – »hat sich des unbefugten Betretens eines fremden Grundstücks schuldig gemacht. Zur Strafe bezahlst du die kleinste Münze des Reiches: einen Farthing.«

Eleanor lächelte. Cranston funkelte die Kröte an, die fröhlich zurückquakte.

»Du, Thomas Kröte, wirst hiermit zum Mündel des Gerichts ernannt.« Er warf den Frogmores einen bösen Blick zu. »Wenn dem Tier also etwas passiert, werdet ihr zur Verantwortung gezogen.«

»Das ist nicht gerecht«, winselte Frogmore. »Ich werde Berufung einlegen.«

»Verpißt euch!« brüllte Cranston. »Büttel, räumt die Kammer!« Eleanor Raggleweed nahm die Kröte auf und gesellte sich zu dem Priester, der sie leise beglückwünschte. Die Frogmores wühlten niedergeschmettert in ihrer Börse und reichten Osbert widerstrebend das Bußgeld. Cranston lehnte den Kopf an die Stuhllehne und belohnte sich mit einem weiteren tiefen Schluck aus seinem Weinschlauch.

»Teufelsschwanz und Satanszitzen!« knurrte er und warf einen Blick auf die Stundenkerze in ihrem eisernen Halter. »Es ist noch nicht einmal zehn Uhr früh, und ich bin bereits völlig erledigt von diesem Unfug.« Er blickte zu Osbert. »Hast du je solchen Blödsinn gehört?«

Osbert leckte sich die schmalen Lippen und schüttelte wortlos den Kopf. Es war immer lustig, Schreiber in Sir Johns Gericht zu sein; der dicke, weinselige Coroner war bekannt für seine unverblümte Art und seine Unnachgiebigkeit gegen Dummköpfe wie auch für seine unbestechliche Ehrlichkeit.

»Noch nie«, erzählte Osbert seiner pausbäckigen Ehefrau und seinen Kindern, »noch nie habe ich erlebt, daß Sir John sich durch Angst oder Voreingenommenheit ins Wanken bringen ließ. Er ist gradlinig wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schwirrt.«

Der Schreiber beugte sich vor und nahm eine schmierige Pergamentrolle zur Hand. Zu gern studierte er die Launen des Coroners.

»So, Sir John – die nächste Sache wird Euch gefallen.«

»Berichte«, brummte Cranston.

»Nun, Rahere, der Bratkoch, hat eine Garküche in einer Gasse abseits der Seething Lane. Sein Nachbar, der Bäcker Bernard, ist sein erbitterter Rivale. Die beiden können sich nicht ausstehen.«

»Und?« bellte Cranston.

»Rahere hat sich neue Latrinen graben lassen.«

»Ja?«

»Und Bernard behauptet, Rahere habe sie aus Bosheit und Niedertracht so graben lassen, daß die ganze Jauche nun in den Keller seiner Bäckerei sickert.«

»Oh, beim Hintern einer Fee!« stöhnte Cranston. »Daß du mich nur stets daran gemahnst, Osbert, in beiden Häusern nie etwas zu essen.« Er schmatzte beim Gedanken an die knusprig goldene Wachtelpastete, die ihm die Wirtin vom »Heiligen Lamm Gottes« für heute zubereiten wollte. »Muß ich diesen Fall jetzt verhandeln?«

Der Schreiber nickte bekümmert. »Ich fürchte, ja, wenn es keine dringenderen Geschäfte gibt.«

Cranston stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das runde Gesicht in die Hände mit den Wurstfingern.

»Na schön.«

Eben wollte er den Bütteln zubrüllen, sie sollten die nächsten Kläger hereinführen, als es donnernd klopfte. Edward Shawditch, der Untersheriff der Stadt, kam hereingerauscht; sein schmales, pockennarbiges Gesicht war rot vor Wut. An dem stoppligen Kinn erkannte Cranston, daß Shawditch sich nicht rasiert hatte. Seine kleinen grünen Augen waren rotgerändert von zuwenig Schlaf, und seine Lippen waren so schmal zusammengepreßt, daß man meinen konnte, er habe einen Schluck Essig getrunken. Der Untersheriff streifte den Handschuh ab und strich sich das schweißfeuchte rote Haar zurück.

»Auf ein Wort, Sir John.«

Auf tausend Worte, meinst du wohl, dachte Cranston erbittert.

»Was gibt’s denn, Shawditch?« Er achtete den Untersheriff als einen rechtschaffenen Mann, aber der Kerl war so diensteifrig und pingelig, daß es Cranston grauste.

»Zwei Dinge, Sir John.«

»Eins nach dem andern«, sagte Cranston.

»Es hat einen Einbruch gegeben. Schon wieder einen.«

Cranston stöhnte auf.

»Der sechste«, erklärte Shawditch ungerührt.

»In wessen Haus diesmal?«

»Selpots«, sagte Shawditch.

»O Gott, nein«, seufzte Cranston. Selpot war ein Ratsherr, ein hochrangiges Mitglied der Gerberzunft. »Doch nicht sein Haus in der Bread Street?«

»Doch, ganz recht.«

»Und auf die gleiche Weise wie zuvor?«

»Ja, auf genau die gleiche Weise. Selpot ist abwesend, mit Frau und Kindern bei Freunden in Surrey – sagt wenigstens sein Verwalter. Wahrscheinlich will er einen Bauern um ein paar Häute betrügen. Wie dem auch sei, Selpot hat sein Haus in der Obhut des Verwalters gelassen.« Shawditch zuckte die Achseln. »Am besten kommt Ihr mit und seht es Euch selbst an.«

Cranston schob seinen Stuhl zurück, setzte den dicken Biberfellhut auf und schnallte sich den Schwertgurt um den mächtigen Bauch. Er raffte seinen schweren Soldatenmantel an sich und folgte Shawditch hinaus. In der Tür drehte er sich noch einmal um und lächelte Osbert schadenfroh zu.

»Die heutigen Verhandlungen sind vertagt«, verkündete er. »Entweder das, oder du kannst sie einem anderen Gericht übergeben.«

Der Coroner und der Untersheriff traten hinaus in die eiskalte Morgenluft und gingen zusammen die Cheapside hinauf. Unrat und Kot auf den Pflastersteinen waren hart gefroren. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren im wallenden Nebel, der Lärm und Getöse dämpfte, halb verborgen. Die Menschen waren zum Schutz gegen den eisigen Dunst von Kopf bis Fuß eingemummt, die Reichen in wollene Mäntel und Gewänder, die Armen in bunt zusammengeflickte Lumpen.

Ein altes Bettelweib, das in einer Gasse in einem Winkel gekauert hatte, war in dieser Haltung erfroren. Jetzt hob man den sperrigen Leichnam auf einen Karren, von Ochsen gezogen, deren Atem wie dicker Dampf aufstieg. Hinter dem Karren schlitterte eine Schar Kinder, unempfindlich für diese Tragödie, auf Schafsknochen über die gefrorenen Kloaken und Sickergruben. Eine Gruppe junger Männer in seltsamen, aus Lumpenstücken zusammengenähten Gewändern sang ein Lied von Christus, der uns zum Heil in Bethlehem geboren sei. Ein Stück weiter unten auf der Cheapside spielte ein Dudelsackpfeifer in schrillen Tönen vor dem Pranger, wo Spitzbuben und mindere Verbrecher, an Hals und Händen angeschlossen, einen Tag lang stehen würden, um beschimpft und mit Unrat beworfen zu werden und unter der Eiseskälte eines harten Wintertages zu leiden. Ein Franziskaner, der einen Ledereimer mit warmem Wasser in der einen und einen weichen Lappen in der anderen Hand hielt, wischte ihnen sanft die Gesichter ab und hielt ihnen einen Napf mit heißer Milch und Wein an die Lippen. Einer der Gefangenen weinte vor Kälte. Sir John blieb stehen. Er schaute in die aufgesprungenen Gesichter und sah die bläulichen Wangen im verkniffenen Gesicht eines Taschendiebs und die Tränen, die dessen rattenäugigem Komplizen über die Wangen liefen. Er wollte weitergehen.

»Cranston, um der Liebe Christi willen!« schrie der Taschendieb. »Oh, bitte!«

Cranston blieb stehen und schaute den diensthabenden Büttel an. Shawditch kam ungeduldig zurück.

»Was ist los, Sir John?«

Cranston winkte den Büttel zu sich. »Wie lange stehen die schon hier?«

»Seit vier Stunden.«

»Laßt sie frei.«

Lobpreisungen ertönten vom Pranger, und Segnungen wurden herabgerufen über Sir John und seine Nachkommenschaft bis ins fünfundvierzigste Glied.

»Das dürft Ihr nicht machen«, stammelte der Büttel.

»Darf ich nicht?« Cranston zwinkerte dem Untersheriff zu, der seinem steinharten äußeren zum Trotz ein Mann mit Mitgefühl war. »Habt Ihr das gehört, Master Shawditch? Man verwendet das Wort ›darf nicht‹ gegen den Coroner der Stadt London und seinen Untersheriff.«

Shawditch stieß dem Büttel mit dem Finger vor die Brust, wühlte in seinem Geldbeutel und drückte dem Mann ein Geldstück in die Hand.

»Du wirst sie nicht nur freilassen, mein fetter Freund«, schnarrte er, »sondern du wirst ihnen um der Liebe Christi willen dazu noch etwas Warmes zum Essen kaufen.« Er deutete mit dem Kopf zu den Sängern hinüber. »Bald ist Advent, Jultid, und wir feiern die Geburt Christi. Zeig ein wenig Erbarmen, um seinetwillen.«

Der Büttel nahm seinen schweren Schlüsselbund und machte sich daran, die Gefangenen freizulassen. Diese rieben sich Hände und Gesichter. Der Franziskaner kam lächelnd herangewatschelt.

»Der Herr segne Euch, Master Shawditch.«

»Aye«, murmelte der Untersheriff. »Möge der Herr mich segnen. Aber jetzt, Pater, sorgt dafür, daß der Büttel mein Geld gut verwendet. Kommt, Sir John.«

Der Untersheriff ging weiter, und Cranston hastete ihm nach.

»Es heißt, Ihr seid ein Mistkerl«, sagte Cranston. »Aber ein gerechter Mistkerl.«

»Aye, Sir John, und von Euch habe ich das gleiche gehört.«

Shawditch sah sich nach dem Pranger um. »Das habe ich mir gedacht.«

»Was?«

»Der verdammte Taschendieb hat dem Büttel soeben meine Münze geklaut.«

Cranston grinste und drückte eine behandschuhte Hand ans Ohr, das in der beißenden Kälte allmählich zu schmerzen begann.

»Zu kalt für alles«, knurrte er, als sie in die Bread Street einbogen.

»Nicht für die Einbrecher«, antwortete Shawditch.

Er blieb vor einem hohen Fachwerkhaus stehen; es war gut gepflegt und frisch gestrichen. Beifällig betrachtete Cranston die buntgemalten Wappenschilder über der Tür.

»Selpot muß viele Felle verkaufen«, meinte er.

»Aye«, bestätigte Shawditch. »Darunter manch eines, das er einem Kunden über die Ohren gezogen hat.«

Sie klopften an die Tür. Der Verwalter geleitete sie mit banger Miene in eine kleine behagliche Stube und schob ein paar Schemel vor ein tosendes Kaminfeuer.

»Möchtet Ihr Wein?« Er sah Shawditch an.

»Dies ist der Coroner der Stadt, Sir John Cranston«, sagte der Untersheriff zu ihm. »Und du? Ich habe deinen Namen vergessen.«

»Latchkey, der Verwalter.«

»Ach ja, Master Latchkey.«

»Wir nehmen einen Schluck Wein«, trompetete Cranston.

»Schweren, roten Wein.«

Er sah sich in dem kleinen Zimmer um und bewunderte die schimmernde Täfelung, die schweren Wandbehänge und ein kleines Triptychon über dem Kamin. Bronzenes Küchengeschirr stand in der Kaminecke, und der Steinboden war von dicken Wollteppichen bedeckt.

»Sicher hat Master Selpot einen guten Burgunder«, fuhr er drohend fort.

Latchkey hastete zu einem Schrank in der Fensternische und kam mit zwei randvollen Bechern zurück.

»So, dann erzähle uns mal, was passiert ist.« Cranston leerte den Becher in einem Zug und streckte die Hand aus, um sich nachschenken zu lassen. »Komm schon, Mann, bring den Krug herüber! Du hast nicht zufällig eine Hühnerkeule übrig?«

Der Mann schüttelte betrübt den Kopf und füllte Sir Johns Becher noch einmal, bevor er seine traurige Geschichte erzählte. Sein Herr sei nicht in der Stadt, und in der vergangenen Nacht sei ein Gauner in das Haus eingedrungen und habe Kleider, kostbare Becher und Juwelen aus den oberen Stockwerken gestohlen.

»Und wo warst du? Und die Dienerschaft?« fragte Cranston.

»Oh, im Erdgeschoß, Sir John.« Der Mann nagte an der Unterlippe. »Die Gesindestuben sind hier unten, müßt Ihr wissen. Niemand schläft auf dem Dachboden. Master Selpot besteht darauf. Ich habe eine kleine Kammer an der Rückseite des Hauses, und der Koch und die Küchenjungen schlafen in der Küche oder auf der Diele.«

»Und du hast nichts gehört?«

»Nein, Sir John. Kommt, ich zeige es Euch.«

Latchkey führte sie durch das luxuriöse Haus und zeigte ihnen, wie die Fenster mit Läden gesichert wurden, die von innen mit Vorhängeschlössern versehen waren.

»Bist du sicher, daß kein Fenster offengeblieben war?«

»Gewiß, Sir John.«

»Und die Türen unten waren ebenfalls verschlossen.«

»Ja, Sir John. Wir haben außerdem Hunde, aber die haben auch nichts gehört.«

»Es gibt keinen geheimen Eingang?«

»Überhaupt keinen, Sir John.«

»Und das Dach?«

Latchkey zuckte die Achseln und führte sie hinauf auf den kalten Dachboden, der als Speicher diente. Cranston spähte in die Höhe, aber er sah kein Loch im Dach.

»Wieviel ist verschwunden?« fragte er, als sie wieder hinuntergingen.

»Fünf Silberbecher, zwei davon mit Juwelen besetzt. Sechs Messer – zwei goldene, drei silberne, eins aus Kupfer. Eine Statuette der Jungfrau Maria aus Marmor. Zwei Suppenlöffel, ebenfalls Gold. Fünf Silberteller, einer mit Edelsteinen am Rand.«

Shawditch stöhnte, als er die lange Liste hörte.

Unten angekommen, setzte Cranston seinen Biberhut auf und zog sich den Mantel an.

»Könnten es die Diener gewesen sein?« fragte er.

Latchkeys betrübte Miene wurde noch düsterer.

»Sir John, ich war es, der den Diebstahl entdeckt hat. Ich habe auf der Stelle jeden einzelnen durchsucht. Nichts wurde gefunden.«

Cranston verdrehte die Augen zum Himmel, dankte dem Verwalter und ging auf die eisige Straße hinaus, gefolgt von einem nicht minder ratlosen Untersheriff.

»Wie viele, sagt Ihr?« fragte Cranston. »Sechs seit Sankt Michael?«

Shawditch nickte verdrossen.

»Und wo ist Trumpington?«

Shawditch deutete die Straße hinunter. »Wo er um diese Zeit immer ist – im ›Munteren Schwein‹.«

Vorsichtig umschifften sie die Müllhaufen und wanderten die Straße entlang; dann bogen sie in eine Gasse, wo ein leuchtend gelbes Schild mit einem roten Schwein, das Dudelsack spielte, ächzend und knarrend an einer Eisenkette baumelte. Im Schankraum fanden sie Trumpington, den Bezirksbüttel, der sich eben eine Fischpastete einverleibte und mit noch vollem Mund gleich einen Humpen schäumendes Bier hinterherkippte. Er rührte sich kaum, als Cranston und Shawditch sich bemerkbar machten, rülpste nur laut und fing an, sich mit dem Daumennagel geschäftig zwischen den Zähnen herumzustochern. Cranston bemühte sich, seine Abneigung gegen den Mann zu verbergen. Insgeheim stellte er sich Trumpington als Schwein vor: gedrungener Körper, rotes Fettgesicht, zitternde Hängebacken, behaarte Nasenlöcher und flinke, hin und her huschende Äuglein unter einer niedrigen Stirn mit schmutzigen, blonden Haarfransen.

»Es hat ein Raub stattgefunden«, verkündete Trumpington.

»Ja, der sechste in diesem Bezirk«, blaffte Shawditch.

Trumpington fuhr sich mit der Zunge im Mund herum, und Sir John lehnte es zum erstenmal seit Wochen ab, etwas zu trinken oder einen Happen zu essen.

»Das ist nicht meine Schuld«, blökte Trumpington.

»Ich gehe jede Nacht durch die Straßen. Na ja, zumindest, wenn ich Dienst habe. Mir ist nichts Ordnungswidriges aufgefallen, und diese Diebstähle sind für mich ebenso rätselhaft wie für Euch, meine prächtigen Freunde.«

Mit honigsüßem Lächeln legte Cranston seine Hände auf die des Büttels und drückte fest zu, bis er sah, wie der Mann das Gesicht verzog.

»Nichts Ordnungswidriges, sagst du? Nie?«

»Nein«, keuchte der Mann, und der Druck auf seinen Händen färbte sein Gesicht hellviolett.

»Gut.« Cranston schob den Schemel zurück und nahm die Hände weg. »Halte die Augen offen.« Er zupfte Shawditch am Ärmel, und die beiden verließen die Schenke.

»Ein regelrechtes Geheimnis«, stellte Shawditch fest. Er warf Cranston einen wachsamen Blick zu. »Euch ist klar, daß deshalb die Hölle los sein wird?«

Cranston wartete, bis eine Gruppe von Ladenjungen, die lärmend eine aufgeblasene Schweinsblase die Straße hinuntertrieben, johlend und jauchzend vorbeigestürmt war. Dann dachte er laut nach. »Sechs Häuser. Alle in diesem Bezirk. Alle gehören mächtigen Kaufleuten, aber zur Zeit des Einbruchs sind ihre Eigentümer fort und nur die Dienstboten anwesend. Keine Spur eines gewaltsamen Eindringens, weder durch die Tür noch durch ein Fenster. Ein Diebstahl von innen?« Er schüttelte den Kopf. »Eine Absprache zwischen den Dieben und der Dienerschaft in sechs verschiedenen Haushalten halte ich für ausgeschlossen.« Er blies die Wangen auf und stapfte vor Kälte mit den Füßen. »Zuerst wird es Protestgemurr aus dem Stadtrat geben. Dann wird es sich zu einem Gebrüll des Mißfallens auswachsen, und irgend jemandes Kopf wird rollen. Was, Shawditch?«

»Aye, Sir John, und es könnte der meine sein. Oder der Eure«, fügte er nüchtern hinzu. »Brechen irgendwo Recht und Ordnung zusammen, glaubt man immer, es würde die Sache besser machen, wenn man einen Beamten bestraft, weiß der Himmel, warum.«

Cranston schlug ihm auf die Schulter. »Ihr kennt Bruder Athelstan?«

»Euren Sekretär? Den Pfarrer von St. Erconwald in Southwark?« Shawditch nickte. »Natürlich. Er ist höchst einprägsam, Sir John, denn zwischen ihm und Euch ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.«

Shawditch lächelte bei der Erinnerung an den schmalen, olivhäutigen Dominikanermönch mit seinen rabenschwarzen Haaren und den lächelnden Augen, die eine scharfe Intelligenz und einen wachen Verstand verrieten. Anfangs hatte Shawditch ihn für verschlossen gehalten, aber dann hatte er erkannt, daß der Dominikaner nur schüchtern war und eine ziemliche Ehrfurcht vor dem übermächtigen Sir John mit seinem gefräßigen Appetit und seiner ständigen Gier nach Erfrischungen hatte.

»Worüber lächelt Ihr?« fragte Cranston grob.

»Oh, über gar nichts, Sir John. Ich dachte nur …« Shawditch ließ den Satz unvollendet.

»Wie dem auch sei«, dröhnte Cranston und wandte sich ab, um weiterzugehen, »Athelstan sagt immer, wo es ein Problem gibt, muß es auch eine Lösung geben; es ist alles nur eine Frage von Beobachtung, Betrachtung und Schlußfolgerung.«

Mit einer Behendigkeit, die sogar Thomas, die Kröte, bewundert hätte, machte er einen Satz zur Seite, als über ihm ein Fenster aufging und der Inhalt eines Nachttopfs auf die Straße geschüttet wurde. Shawditch hatte weniger Glück, und sein Mantel bekam ein paar Spritzer ab. Er blieb stehen und drohte mit der Faust zu dem Fenster hinauf; dann sprang er ebenso flink wie Cranston beiseite, als es wieder geöffnet wurde und ein zweiter Nachttopf erschien.

»Das sollte gesetzlich verboten werden«, knurrte er. »Aber was sagtet Ihr gerade, Sir John?«

Der Coroner zog sich den Biberhut fest über den mächtigen Schädel. »Die Frage ist, wie kommt der Dieb ins Haus? Zweitens, woher weiß er, daß niemand da ist?«

»Was die zweite Frage angeht, das weiß ich nicht. Und die erste? Nun, das ist ebenfalls ein Geheimnis.«

»Habt Ihr alle Dächer überprüft?« fragte Cranston.

»Ja. Trumpington hat einen Dachdecker kommen lassen, der Mann hat die Dächer untersucht und nichts feststellen können.« Sie hatten die Bread Street erreicht. Cranston wollte abbiegen, aber Shawditch hielt ihn am Ärmel fest.

»Ich sagte, ich hätte zwei Probleme für Euch, Sir John. Das zweite ist ernster.«

Cranston seufzte. »Schön, aber nicht hier.«

Er führte den Untersheriff die Cheapside hinauf und in die heimelige Wärme der Schenke »Zum Heiligen Lamm Gottes«. Dort rief er nach der Wirtin, verlangte eine Wachtelpastete und Rotwein für sich und seinen Freund. Als er den ersten Bissen genommen hatte, nickte er dem Untersheriff zu.

»So. Erzählt.«

»Ihr wißt, daß die Schiffe des Königs gegen die Franzosen gefahren sind?«

»Aye. Wer wüßte das nicht?« Cranston mampfte seine Pastete. Vom Parlament zum Handeln gedrängt, hatte John von Gaunt schließlich eine Flottille von fünfzehn bewaffneten Schiffen zusammengestellt, die Vergeltungsmaßnahmen gegen die französischen Kaperfahrer im Kanal und Überraschungsangriffe gegen die Städte und Dörfer an der Küste der Normandie ausführen sollten.

»Ja«, fuhr Shawditch fort. »Ein paar dieser Schiffe liegen vor Queen’s Hithe auf der Themse, darunter auch die God’s Bright Light.« Shawditch nahm einen Schluck Wein. »Das Schiff stand unter dem Befehl von William Roffel. Es ist vor zwei Tagen in den Hafen eingelaufen, nachdem es eine ganze Anzahl französischer Schiffe erobert und versenkt hatte. Roffel jedoch wurde auf der Heimreise plötzlich krank und starb. Seinen Leichnam hat man an Land gebracht. Die Besatzung bekam ihre Heuer und sieben Tage Landurlaub. Letzte Nacht nun waren als Wache nur der Erste Maat und zwei Matrosen an Bord, einer am Bug, einer am Heck.« Shawditch nagte an der Unterlippe. »Am Mast hing eine Laterne, und das Schiff lag in Hörweite anderer Schiffe, die dort ankerten.«

»Und was ist geschehen?« unterbrach Cranston ungeduldig.

»Kurz vor Tagesanbruch kam ein Matrose mit seiner Dirne zurück. Sie kletterten an Bord und fanden das Schiff verlassen vor – kein Erster Maat, keine Wache.«

»Und?«

»Niemand hatte gesehen, daß jemand vom Schiff weg oder dort hingefahren ist; freilich lag in der Nacht dichter Nebel über dem Fluß. Aber das ist nur die Hälfte des Rätsels, Sir John. Seht Ihr, eine Stunde bevor der Matrose zurückkam, fragte die Wache an Bord des benachbarten Schiffes, der Holy Trinity, gemäß dem Befehl des Admirals, ob alles in Ordnung sei. Und von der God’s Bright Light antwortete eine Stimme mit der vereinbarten Parole.«

»Die lautete?«

»Zum Ruhme des hl. Georg.«

Cranston lehnte sich zurück. »Mit anderen Worten, es ist also anscheinend überhaupt nichts Außergewöhnliches an Bord dieses Schiffes geschehen? Die Wache hat dem Nachbarschiff sogar mit der richtigen Parole geantwortet?«

»Aye, und sie dann dem nächsten Schiff weitergegeben, der Saint Margaret«, antwortete Shawditch.

»Und doch«, fuhr Cranston fort, »wird das Schiff kurz danach verlassen vorgefunden. Keine Spur vom Ersten Maat und der Wache, zwei gesunden Seeleuten.«

»So ist es, Sir John.«

»Könnten sie desertiert sein?«

Shawditch verzog das Gesicht.

»Und es gab kein Anzeichen von Gewalt?«

»Nicht das geringste.«

»Etwas gestohlen?«

Shawditch schüttelte den Kopf.

»So, so, so«, sagte Cranston leise. »Was Athelstan wohl dazu sagen wird?«

»Das weiß der Himmel«, antwortete Shawditch.

»Aber der Bürgermeister und der Stadtrat verlangen Aufklärung.«

2

Bruder Athelstan saß am Küchentisch seines kleinen Pfarrhauses von St. Erconwald in Southwark und starrte mißgelaunt ins Feuer. Er hatte die Frühmesse gelesen, hatte mit Hilfe der Kurtisane Cecily die Kirche geputzt und mit Tab, dem Kesselflicker, über ein paar Töpfe gesprochen, die repariert werden mußten. Dann hatte er sich von der Witwe Benedicta verabschiedet, weil sie für ein paar Tage auf die andere Seite der Themse zu einer Verwandten wollte, die kurz vor der Niederkunft stand.

Athelstan erhob sich und rührte in dem Porridge, der in einem schwarzen Kessel über den Flammen kochte. Dann schaute er sich nach Bonaventura um, dem großen, einäugigen Kater, der geduldig auf dem Tisch saß und sich zierlich putzte, nachdem er die Nacht über in den Gassen rings um die Kirche auf der Jagd gewesen war.

»Gleich ist es fertig, Bonaventura. Heiße Hafergrütze mit Milch, dazu Zimt und Zucker. Benedicta hat sie selbst zubereitet, bevor sie ging. Sie wird köstlich schmecken. In der kommenden Woche werden wir frühstücken wie die Könige.«

Der Kater gähnte und starrte diesen seltsamen Dominikaner, der dauernd mit ihm sprach, mit arroganter Miene an. Athelstan wischte den Hornlöffel ab, hängte ihn an seinen Haken, streckte sich und gähnte.

»Ich hätte ins Bett gehen sollen«, murmelte er. Statt dessen war er auf den Kirchturm geklettert, um die Sterne zu betrachten, und mit ehrfürchtigem Staunen hatte er den feurigen Fall eines Meteors beobachtet. Er setzte sich wieder an den Tisch und trank einen Schluck von seinem verdünnten Ale.

»Warum nur?« fragte er Bonaventura. »Sag es mir, du gerissenster unter den Katern. Warum fallen Meteore vom Himmel, aber Sterne nicht? Oder«, fuhr er fort, als er sah, daß der Kater ihm aufmerksam zuhörte, »sind Meteore herabfallende Sterne? Und wenn sie es sind, was veranlaßt den einen und nicht den anderen Stern herabzufallen?«

Der Kater blinzelte mit seinem gesunden Auge.

»Und das Problem wird noch verwickelter«, sagte Athelstan. »Ich will es einmal so ausdrücken. Warum bewegen sich manche Sterne? Das Sternbild, das man den Großen Bären nennt, tut es zum Beispiel, aber der Stern der Schiffe, der Polarstern, tut es nie.«

Zur Antwort miaute Bonaventura laut und ließ sich auf den Tisch plumpsen, als verzweifle er ob des langen Wartens auf seine morgendliche Schale Hafergrütze. Athelstan lächelte und streichelte dem Kater sanft über das zerfranste Ohr.

»Sollen wir überhaupt Fragen stellen?« flüsterte er. »Oder sollen wir die großen Wunder Gottes nur staunend betrachten?«

Seufzend wandte er sich wieder dem Pergament zu, das er am Abend zuvor studiert hatte. Es zeigte eine rohe Grundrißzeichnung seiner Kirche. Der Gemeinderat in seiner Weisheit hatte entschieden, am Namenstag des Pfarrheiligen im Kirchenschiff ein Mysterienspiel aufzuführen. Athelstan legte jetzt eine Liste der Dinge an, die man dazu brauchen würde. Thomas Drawsword, ein neues Mitglied der Gemeinde, hatte sich bereit erklärt, einen großen Karren zu beschaffen, der als Bühne dienen konnte, aber sie würden noch mehr benötigen. Athelstan studierte seine Liste:

Zwei Teufelsmäntel

Ein Hemd

Drei Masken

Flügel für die Engel

Drei Trompeten

Eine Höllenpforte

Vier kleine Engel

Nägel

Zu guter Letzt: eine große Plane für den Hintergrund.

Das Stück hieß Das Jüngste Gericht, und Athelstan bereute inzwischen, daß er das Unternehmen mit solcher Begeisterung in Angriff genommen hatte.