Tödliches Rätsel - Paul Doherty - E-Book

Tödliches Rätsel E-Book

Paul Doherty

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Sommer 1380: Ein Menschenfischer zieht die Leiche eines Schreibers aus der Themse. Es stellt sich heraus, daß der Tod nicht durch Ertrinken eintrat. Innerhalb kurzer Zeit kommen ein Geldverleiher und weitere Schreiber der Kanzlei vom Grünen Wachs, die für das Ausstellen königlicher Urkunden zuständig ist, auf mysteriöse Weise ums Leben. Bei jedem der Toten findet sich ein Stück Pergament mit einem Rätsel. Welches Geheimnis verbindet die Toten miteinander? Sir John Cranston, Coroner des Königs, und sein Sekretär, der Dominikaner Athelstan, müssen das Rätsel lösen, wenn sie weiteres Unglück verhindern wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 352

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch:

Im Sommer 1380: Ein Menschenfischer zieht die Leiche eines Schreibers aus der Themse. Es stellt sich heraus, daß der Tod nicht durch Ertrinken eintrat. Innerhalb kurzer Zeit kommen ein Geldverleiher und weitere Schreiber der Kanzlei vom Grünen Wachs, die für das Ausstellen königlicher Urkunden zuständig ist, auf mysteriöse Weise ums Leben. Bei jedem der Toten findet sich ein Stück Pergament mit einem Rätsel. Welches Geheimnis verbindet die Toten miteinander? Sir John Cranston, Coroner des Königs, und sein Sekretär, der Dominikaner Athelstan, müssen das Rätsel lösen, wenn sie weiteres Unglück verhindern wollen. 

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edelelements.de

Copyright © 1996 by Paul Harding Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „The Assassin's Riddle“. Ins Deutsche übertragen von Rainer Schmidt Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Pseudonym Paul Harding. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Designomicon Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Prolog

Edwin Chapler, Schreiber in der Kanzlei vom Grünen Wachs, saß in der kleinen, muffigen Kapelle, die mitten auf der London Bridge stand. Draußen war die Sonne untergegangen, aber der Himmel war noch blutrot. So leuchteten die Sterne nur blaß, und die Einwohner von London hatten einen Vorwand, weiter Handel zu treiben, zu spielen oder Arm in Arm am Flußufer entlangzuspazieren. Schenken und Herbergen waren voll. Die Lieder aus den Bierkneipen hallten durch das Gewirr der Straßen. Leiden und Hunger des Winters waren jetzt vergessen; die Ernte war gut gewesen, und auf den Märkten herrschte geschäftiges Treiben. Edwin Chapler aber war das Herz schwer, und so würde es jedem Mann ergehen, wenn er der Wahrheit ins Auge schauen müßte und sie doch niemandem erzählen könnte. Er schaute sich in der Kapelle um. Am vorderen Ende war der kleine Chor, zur Linken stand ein Marienaltar und zur Rechten eine große Statue von St. Thomas à Becket, dem ein Schwert grotesk in den Schädel getrieben war.

»Ich sollte im ›Bäckerdutzend‹ sitzen«, flüsterte Chapler. »Sollte einem Fiedler zuhören und mich fragen, ob Alison wohl zu seiner Musik tanzen könnte.«

Er war hergekommen, wie er es oft tat – um Anleitung zu suchen. Aber er konnte nicht beten. Er öffnete den Mund, doch es kam kein Wort heraus. Er schaute hinauf zu dem buntbemalten Glasfenster. Im rasch verblassenden Licht des Tages wand sich der gemarterte Christus an seinem Kreuz.

Chapler wandte den Blick wieder ab. Hier drin war es kalt, und er war ganz allein; es könnte noch Tage dauern, bis er endlich einen Entschluß faßte. Lautloses Grauen ergriff ihn. Wenn er nun gar nichts unternähme und es entdeckt würde? Chapler schluckte angestrengt. Vor zwei Sommern hatte er gesehen, wie ein Mann wegen Verrats hingerichtet wurde, ein Schreiber, der Geheimnisse an die Spanier verkauft hatte. Chapler schloß die Augen, aber die grausige Szene wollte nicht vergehen: die schwarzverhangene Plattform, die Fleischbank unter dem hoch aufragenden Galgen in Tyburn. Man hatte den unglückseligen Schreiber abgeschnitten und von der Gurgel bis zum Unterleib aufgeschlitzt, wie eine Hausfrau es mit einem Huhn macht. Dann hatte man ihm den Kopf abgehackt und den Leib gevierteilt, um ihn in Pech zu kochen und über dem Stadttor zur Schau zu stellen.

Fröstelnd spähte Chapler durch das Halbdunkel. Die beiden Kerzen, die er vor der Figur des hl. Thomas angezündet hatte, glühten wie feurige Augen. Dunkelheit drängte herein. Chapler hatte das Gefühl, daß eine böse Macht in der Nähe lauerte, bereit, ihn anzuspringen wie eine monströse Katze. Die donnernden Hufe eines Pferdes draußen ließen ihn zusammenfahren. Chapler erinnerte sich, weshalb er hier war. Man hatte ihn hinreichend davor gewarnt, den Mund aufzumachen. Er war in den Stall gekommen, und sein Pferd hatte sich in Schmerzen gewunden. Ein mitfühlender Stallknecht hatte sich bereitgefunden, das Tier von seinem Leiden zu erlösen. Als man den Kadaver zum Abdecker geschleift und den Bauch aufgeschnitten hatte, da hatte man darin nicht Heu und Stroh, sondern Angelhaken und stachlige Distelblätter gefunden. Chapler hatte sich beschwert, aber der Wirt mit dem fettglänzenden Gesicht, dem der Stall gehörte, hatte nur die Achseln gezuckt.

»Gebt mir nicht die Schuld!« hatte er geblafft. »Die Pferde sind hier gut versorgt. Seht Euch um, Meister, seht Euch nur um! Weshalb, um Himmels willen, sollten wir ein armes Pferd mit Angelhaken und Disteln füttern?«

Chapler hatte ihm beigepflichtet und war weggegangen. Ein Feind hatte es getan. Wieder schloß er die Augen und ballte die Fäuste, als er neben dem Pfeiler niederkniete. Ein Geräusch über ihm ließ ihn zusammenschrecken. Entsetzt riß er die Augen auf, als er die schwarze Gestalt erblickte, die unter den wuchtigen Deckenbalken schwebte. Angstvoll stöhnte er auf. Ein Dämon? Eine finstere Seele, die ihn jagte? Der schwarze Schatten kehrte um, und fedrige Schwingen schlugen sanft durch die Luft. Chapler entspannte sich: Es war nur ein Rabe, einer der großen schwarzen Vögel, welche die London Bridge heimsuchten und auf den Pfeilersockeln unten nach Aas stöberten oder – noch besser – auf die abgeschlagenen Köpfe von Verbrechern und Verrätern warteten, die hier auf Stangen gesteckt wurden. Anscheinend war der Rabe hier hereingeflogen und fand den Ausgang nicht mehr. Chapler beobachtete ihn neugierig. Der Vogel krächzte nicht, sondern flatterte auf ein Fenstersims und pochte mit dem gelben Schnabel gegen das horngefaßte Glas. Dann drehte er sich wieder um. Chapler vermutete, daß der Rabe ihn betrachtete. Ein Vorzeichen? Ein Teufel? Er überlegte, ob er die Tür aufmachen sollte, um zu sehen, ob das Tier hinausflog, aber er konnte sich nicht rühren. Eigentlich lohnte sich die Mühe auch nicht; zumindest leistete der Vogel ihm Gesellschaft. Der Rabe krächzte, als könne er seine Gedanken lesen, und drehte den Kopf zur Tür. Seufzend wollte Chapler sich aufrappeln, als die Tür krachend aufflog. Der Rabe krächzte triumphierend, schwebte hinunter und hinaus ins schwindende Licht. Chapler achtete nicht auf ihn, hatte nur Augen für die Schattengestalt, die in die Kirche geschlurft kam.

»Wer bist du?« rief er.

Die verhüllte Gestalt antwortete nicht. Statt dessen blieb sie vor dem Christophorus-Altar stehen, der sich gleich neben dem Eingang befand. Eine Münze fiel in einen Kasten, ein Kienspan wurde angezündet, eine brennende Kerze auf einen eisernen Dorn vor der Statue des Schutzheiligen der Reisenden gesteckt. Die Gestalt drehte sich um. Es war eine Frau. Ihr zottiges Haar fiel unter der Krempe ihres spitzen Hutes hervor und lag in struppigen Locken auf ihren Schultern. Schlurfend kam sie näher. Chapler erkannte ein runzliges Gesicht, glitzernde Knopfaugen und fest zusammengepreßte Lippen, die zwischen den Falten der Wangen fast verborgen waren. Er seufzte erleichtert auf. Es war nur die alte Harrowtooth, eine Hexe, eine weise Frau, die in einer schäbigen Behausung weiter unten an der Brücke wohnte. Man nannte sie Harrowtooth – Eggenzahn –, weil ein einzelner vorstehender Zahn wie der Zinken einer Egge über ihre Unterlippe hinunterragte.

»Ich bete gern über dem Wasser«, krächzte die alte Harrowtooth und lächelte gezwungen. »Ein guter Ort zum Beten«, sage ich. Immer still. Gottes Wasser unter mir, Gottes Himmel über mir.« Ihre Klauenhand schloß sich um Chaplers Handgelenk. »Und es tut immer gut, wenn man sieht, wie ein stattlicher junger Mann seine Gebete spricht. So manchen jungen Mann hab’ ich im Leben gesehen«, plapperte sie weiter. »Ich erinnere mich an einen hier, der mich mit Flüchen vertreiben wollte, als ich ihn um eine Münze bat.« Sie schob ihr häßliches Gesicht dichter an seines heran. »Krank ist er geworden, ein Fieber hat er bekommen, und schrecklicher Durst wütete in seiner Kehle. Trotzdem wagte er nicht, sich die Lippen zu befeuchten, denn er ertrug es nicht mehr, das Wasser zu hören oder zu fühlen.«

Chapler zog die Hand weg, öffnete seine Börse und reichte ihr einen Penny.

»Gott segne dich, mein Herr.« Sie hielt die Münze in die Höhe. »Gott segne dich. Ich komme herein und gebe einen Farthing für eine Kerze aus, und wie es aussieht, gehe ich reicher wieder hinaus. Wer sagt da, daß Gott unsere Gebete nicht erhört?« Die schmalen Schultern der Alten bebten vor Lachen. Sie öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um. »Ein Wort der Warnung, junger Mann.« Ihre Stimme klang jetzt rauh und überraschend stark. »Der Rabe ist ein Vorbote des Unheils!« Sie schlug die Tür hinter sich zu.

Chapler kehrte zu seinem Pfeiler zurück und kauerte sich nieder. Trotz der Erscheinung der alten Harrowtooth war ihm gelassener zumute, als habe er einen Entschluß gefaßt. Wenn er tat, was recht war, wenn er tat, was sich gehörte, würde ihm nichts geschehen, und alles würde gut werden. Er blieb noch eine Weile und überdachte, was er tun würde. Er sank auf die Knie. Jetzt, da seine Seele ruhig war, konnte er beten. Vielleicht sollte er auch noch eine Kerze anzünden, bevor er ginge? In seiner Andacht versunken, hörte Chapler nicht, wie die Tür sich leise öffnete.

Die Schattengestalt kam schnell wie eine Spinne heran, huschte über die Steinplatten, und man hörte keinen Laut, bis die eisenbeschlagene Keule Chaplers Hinterkopf zerschmetterte und der junge Mann zu Boden fiel, während ihm das Blut aus dem Mund floß.

Die Gestalt bückte sich und schleifte ihn hinaus auf die Stufen vor der Tür. Dort verharrte der Mörder. Niemand war in der Nähe. Es war dunkel geworden, und die Geschäfte des Tages waren beendet. Er hob Chapler auf, als sei das Opfer ein Freund, der zuviel getrunken hatte, und eilte mit ihm seitlich um die Kirche herum zum Brückengeländer. Hier konnte man ihn nicht sehen. Strebpfeiler der Kapelle ragten zu beiden Seiten heraus und schirmten ihn vor fremden Blicken ab. Er wuchtete Chaplers Leichnam auf das Geländer und kippte ihn dann wie einen Sack hinunter in den Fluß, der unten schäumte.

Drei Abende später, als der Fluß mit voller Kraft dem Meer zuströmte, löste sich eine lange Barke von St. Paul’s Wharf und überquerte die wogende Flut. Verhüllte Gestalten stakten die Barke voran, und im Bug und im Heck standen weitere, ähnlich gekleidete und hielten Fackeln in den Händen. In der Mitte der Barke saß der Menschenfischer, die Kapuze zurückgeschlagen, und starrte mit lidlosen Augen über den Fluß. Er suchte nach Leichen. Er und die Seinen, die Ausgestoßenen von London, wurden von der Gemeinde nach einem festen Gebührensatz für jede Leiche bezahlt, die sie aus dem Wasser zogen – eine bestimmte Summe für einen Unfalltoten, eine andere für einen Selbstmörder. Den höchsten Preis erzielte natürlich ein Mordopfer. Der Menschenfischer, der sein gespenstisches, birnenförmiges Gesicht zum Schutz vor dem kalten Wind auf dem Fluß sorgfältig eingefettet hatte, gurrte ein Wiegenlied, während er das Wasser absuchte.

»Es wird Leichen geben«, murmelte er. »Schaut nur angestrengt und lange hin, meine Hübschen!«

Die wenigen Barken und Kähne, die auf dem Fluß unterwegs waren, machten einen weiten Bogen um sie. Der Menschenfischer war nicht beliebt, und besonderen Schrecken besaß er für diejenigen, die an der Themse arbeiteten. überall in den Schenken und Bierstuben munkelte man, daß der Menschenfischer und seine Kumpane sich nicht zu schade seien, auch selbst für die Opfer zu sorgen, die sie dann aus der Themse fischten. Jeder Bootsmann zwischen Southwark und Westminster betete unablässig zu seinem Schutzpatron, sein Leichnam möge nicht vom Menschenfischer gefunden und in seine seltsame Kapelle geschafft werden, wo er in einem Behelfssarg liegen würde, bis man ihn identifiziert hätte.

Heute nacht war der Fischer voller Hoffnung. Vor zwei Tagen hatten sie die Leiche eines Betrunkenen und die eines Brabanter Matrosen, der in einer Wirtshausprügelei ums Leben gekommen war, aus dem Wasser gefischt. Sir John Cranston, der dicke Coroner der Stadt, hatte sie gut bezahlt. Jetzt war der Menschenfischer wieder auf der Jagd.

»Ah ja, meine Hübschen!« wisperte er und zitierte falsch aus der Totenmesse. »Gedenket jenes schrecklichen Tages, da die Erde ihre Toten herausgeben wird und die Flüsse Gottes ihre Geheimnisse.«

Dann bellte er einen Befehl, und die Barke fuhr einen Bogen, um einem Mistkarren auszuweichen, der am Rande der Fleet stand und den Kot und Müll der Stadt einfach in den Strom kippte. Die Mistsammler fluchten und machten ein Zeichen zum Schutz vor dem bösen Blick, als die grausige Barke des Menschenfischers vorüberglitt.

»Steuert auf die Uferböschung zu«, befahl der Menschenfischer. Er deutete auf die Stelle, wo der Fluß eine Biegung machte, ehe er nach Westminster weiterrauschte.

»Bist du sicher, Meister?« fragte Ichthys, der beste Schwimmer des Menschenfischers. »Sollten wir nicht in der Strommitte bleiben?«

»Nein, nein«, antwortete der Fischer. »Ich kenne den Fluß, da fließt er zu schnell. Leichen aus Southwark oder von der London Bridge werden hier ins Schilf geschwemmt.«

Die Barke wendete, die Pechfackeln flackerten und knisterten im Abendwind. Der Menschenfischer griff zu seiner Handglocke und läutete sie. Ominös hallte ihr Klang über den Fluß und warnte andere davor, näher zu kommen. Die Barke steuerte dichter ans Ufer.

»Ich sehe einen!« schrie ein Ausguck. »Meister, ich sehe einen! Da, im Schilf!«

Der Menschenfischer spähte durch das Dämmerlicht. Für ihn war es immer noch hell genug. Er suchte das Schilf ab, und dann sah auch er es: den Schimmer einer Gürtelschnalle und noch etwas anderes.

»Fahrt näher heran!«

Die Barke tat es. Ichthys sprang ins Wasser. Er schwamm wie ein Fisch, und »Fisch« bedeutete ja auch sein Name. Und bald hatte er Edwin Chaplers vom Wasser aufgedunsenen Leichnam, der da dümpelte, gepackt. Er sah das verquollene Gesicht, die starren Augen und den blutverkrusteten Mund.

»Ein Toter!« krähte Ichthys. »Meister, wir haben einen Toten gefunden!«

In der Ratcat Alley, gleich hinter der Watling Street im Schatten der turmhohen Massen der St.-Paul’s-Kathedrale, war auch Bartholomew Drayton, ein Geldverleiher, der in dem Ruf stand, so schlecht wie der Satan zu sein, kurz davor, dem Tod ins Auge zu sehen. Drayton lag auf dem Boden in seinem Kontor und stöhnte in Todesqualen, denn ein Armbrustbolzen mit Widerhaken saß tief in seiner Brust. Er wälzte sich auf die Seite und schaute zur Tür, aber er konnte unmöglich die zahlreichen Riegel zurückschieben oder die Schlüssel in den drei großen Schlössern umdrehen. Drayton schloß die Augen und ächzte. Er war immer so stolz gewesen auf diese Tür. Sechs Zoll dick, mit stählernen Angeln, außen von starken Messingnägeln geschützt – für ihn erwies sie sich nun als tödlich. Er hatte sich stets sicher geglaubt, hier unten in seinem Kontor. Hier konnten keine Diebe einbrechen, und keiner seiner habgierigen Schreiber konnte sich nehmen, was der Geldverleiher im Laufe der Jahre zusammengetragen hatte. Keine Fenster. Nicht einmal eine Schießscharte. Und am Ende erwies sich nun alles als nutzlos. Drayton, ein alter Soldat aus den Frankreichkriegen des Königs, wußte, daß er sterben würde. So seltsam – hier in dieser Gewölbekammer. Er starrte auf die Wand am hinteren Ende. Vielleicht war es richtig so. Die Gerechtigkeit hatte ihn eingeholt. Er schloß die Augen. Die Beine und die Füße wurden ihm so kalt.

Wie Chapler, versuchte auch Drayton zu beten, aber ihm fielen nur die Worte aus der Heiligen Schrift über jenen reichen Mann ein, der seine Scheuern gefüllt hatte und sich nun auf ein Leben des Schmausens und der Fröhlichkeit freute. »Narr!« hatte Gott da gedonnert. »Weißt du denn nicht, daß der Ruf erging nach deiner Seele?« Drayton murmelte ein Gebet. Er hatte noch Zeit, Gott um Verzeihung zu bitten, aber wie stand es mit dem anderen Verbrechen? Drayton drehte sich auf die andere Seite. Mit all seinen schwindenden Kräften versuchte er, zur hinteren Wand zu kriechen und sie zu berühren. Ja, wenn er sie berühren könnte, dann könnte er um Vergebung bitten. Aber er war nur ein paar Handbreit vorangekommen, als der Schmerz ihn überwältigte. Kälte strömte in seinem Körper herauf, und Bartholomew Drayton gab seine Seele auf.

Eins

Sir John Cranston, der Coroner der Stadt London, balancierte seine Leibesfülle auf einem Schemel, schob die Biberfellmütze in den Nacken und wischte sich über das rote, glänzende Gesicht. Zu gern hätte er den wunderbaren Weinschlauch unter seinem Mantel hervorgezogen, aber er war nicht sicher, in welcher Stimmung sein Secretarius war, der Dominikanerbruder Athelstan, der am anderen Ende des Zimmers saß. Athelstan war still – noch stiller als sonst. Das schmale, olivhäutige Gesicht unter dem schwarzen Haar mit der Tonsur war regungslos, und seine sonst lächelnden Augen blitzten ziemlich streng. Er hatte die Hände in die Ärmel seiner weißen Kutte geschoben und nagte an der Unterlippe.

Er ist nicht gern hier, dachte Cranston. Er wäre lieber drüben am anderen Ufer in St. Erconwald, bei seiner verdammten Pfarrgemeinde. Der Coroner betrachtete die Miene des Freundes aufmerksam. Athelstan hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, sich zu rasieren oder zu frühstücken. Er hatte eben die Morgenmesse gelesen, als Cranston ihn gerufen hatte.

»Du mußt kommen, Bruder«, hatte der Coroner gedrängt und auf den großen Kater gedeutet, der mit Athelstan in der Kirche ein und aus ging. »Bonaventura kann St. Erconwald bewachen. Wirf dem alten Philomel ein bißchen Heu vor. Ich möchte ein Geheimnis aufdecken, welches sogar deinen Verstand auf eine harte Probe stellen wird. Der meine ist jedenfalls ratlos.«

Athelstan war schnell und schweigend gefolgt, und sie waren über die London Bridge und durch das Gedränge zum Haus des Wucherers Bartholomew Drayton in der Ratcat Alley marschiert.

»Erzähle es uns noch einmal.« Cranston winkte seinen obersten Büttel, Henry Flaxwith, heran.

Der Mann prustete geräuschvoll.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Cranston zuckersüß. »Aber Bruder Athelstan muß alle Tatsachen erfahren. Wir wären alle lieber anderswo. Aber Drayton ist ermordet worden, und eine Menge Silber ist verschwunden.«

»Es ist so, Sir John«, begann Flaxwith. »Heute früh, lange bevor es zur Morgenandacht läutete, waren ich und Samson …«

»Zur Hölle mit ihm!« unterbrach Cranston. »Ich will nichts von deinem verdammten Köter hören.«

»Ich und mein Hund«, fuhr Flaxwith unerschütterlich fort, »waren auf meinem dienstlichen Rundgang. Samson nun …« Er zwinkerte Athelstan zu. »Samson …«, intonierte er, ohne auf Cranstons verdrossenen Seufzer zu achten, »geht immer sehr langsam, bleibt gern stehen, schnuppert und hebt das Bein. Ich hatte mir eine Aalpastete gekauft, weil ich noch nicht gefrühstückt hatte …«

Cranston schloß die Augen. O Gott, gib mir Geduld, betete er. Flaxwith hatte ein so trübsinniges Aussehen, aber er war ehrlich und gründlich und besaß einen scharfen Blick für Einzelheiten.

»Ich hatte die Pastete eben aufgegessen«, fuhr Flaxwith fort, »als wir in die Ratcat Alley kamen. Zwei junge Männer, Draytons Schreiber, Philip Stablegate und James Flinstead, standen vor dem Haus ihres Herrn und hämmerten an die Tür.«

»Das sind die beiden Hübschen dort oben?«

»So ist es, Sir John. Nun, ich fragte sie, was denn los sei.« Flaxwith hob das pausbäckige Gesicht. »Ich sollte eigentlich nachsehen, was Samson macht…«

»Samson geht es wunderbar«, gurrte Cranston. »Ich habe eine Wurst in der Speisekammer gefunden. Die frißt er, als sei morgen der Jüngste Tag.«

»Nun – ich fragte sie also, was los sei. Sie berichteten, sie hätten die Glocke geläutet und an die Tür gehämmert, aber Master Drayton habe nicht aufgemacht. Nun habt Ihr ja die Haustür gesehen, Sir John – dick wie ein Franzosenschädel. Wir gingen also außen herum. Alle Fenster waren verrammelt, die Läden geschlossen.«

»Gibt es einen Hintereingang?« fragte Athelstan.

»O ja, aber die Tür ist wie die vordere, hartes Eichenholz. Wir hätten eine Belagerungsmaschine aus dem Tower gebraucht, um diese Türen aufzubrechen.«

Cranston hielt es nicht länger aus, nahm rasch einen Schluck Rotwein aus seinem Weinschlauch. Dann bot er ihn Athelstan an, aber der schüttelte nur den Kopf.

»Nun, und da brechen wir eben ein. Master Philip klettert Master James auf die Schultern. Mit einem Messer hebelt er die Läden auf. Dahinter ist eins von diesen kleinen Bogenfenstern. Er zerbricht die Scheibe und drückt den Griff hoch.«

»Da bist du sicher?« unterbrach Athelstan.

»Natürlich«, sagte Flaxwith. »Du könntest es dir selbst ansehen; das Holz ist gebrochen, die Sprossen verschrammt. Ja, es sieht aus, als wäre es jahrelang nicht geöffnet worden. Master Stablegate klettert jedenfalls hinein. Dann entriegelt er die Haustür, schließt das Schloß auf, und wir betreten das Haus.«

»Und wie war es da?« wollte Cranston wissen.

»Dunkel wie die Nacht. Es roch muffig. Keine Kerzen, kein Fackellicht.« Flaxwiths Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Still wie in einem Grab, Sir John – das war es.« »Weiter!« raunzte Cranston.

»Nun, alle Zimmer waren leer. Genau wie dieses hier.« Athelstan fuhr aus seinen Gedanken auf und schaute sich um. Er dachte an den Vers aus dem Evangelium: Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Drayton, einer der größten Geldverleiher der Stadt, mußte zugleich ein Geizhals gewesen sein. Die schäbige Kammer wies nur wenige Möbelstücke auf, und die Binsen auf dem Boden sahen aus, als wären sie seit Jahren nicht erneuert worden. Die Wände waren schmierig, die weiße Farbe war fleckig und blätterte ab. Und Athelstan war sicher, daß er irgendwo im Korridor Ratten hatte quieken hören.

»Erzähle ich zu schnell?« fragte Flaxwith.

Cranston lächelte nur.

»Wir gingen zum Kontor«, plauderte der Büttel weiter. »Wir klopften und klopften, daß es Tote hätte aufwecken mögen. Aber es kam kein Laut.«

»In den Kammern oben habt ihr nachgeschaut?« fragte Athelstan.

»O ja, da war nichts. Deshalb wußten wir, daß Master Drayton in seinem Kontor sein mußte. Nun habt Ihr ja die Tür gesehen, Sir John: schweres Eichenholz, stählerne Angeln, außen mit Nägeln beschlagen. Inzwischen bekam ich es mit der Angst. Ich lief auf die Straße hinaus und gab vier Mistsammlern einen Penny, damit sie hereinkamen. Im Garten fanden wir einen Hackklotz, und damit rammten wir die Tür ein.«

»Das wäre doch unmöglich«, bemerkte Athelstan, »wenn die Tür so schwer ist, wie du sagst.«

»Da hast du recht, Pater«, sagte Flaxwith. »Aber einer der Mistsammler hatte als Soldat in Frankreich gedient und dort auch Türen eingeschlagen. Er meinte, wir sollten uns auf die Angeln konzentrieren, und das taten wir. Schlugen sie richtig aus der Wand, und da gab die Tür nach. Drinnen fanden wir Drayton auf dem Boden. Wir haben den Leichnam nicht angerührt. Er hat einen Armbrustbolzen in der Brust, und das Silber ist weg.«

»Wieviel Silber?«

»Nach dem Rechnungsbuch mindestens fünftausend gute Pfund Sterling.«

Cranston pfiff durch die Zähne. »Du lieber Gott – und was habt ihr sonst noch herausgefunden?«

»Die beiden Schreiber, Stablegate und Flinstead, hatten das Haus am Abend zuvor zur Vesper verlassen, wie sie es immer taten. Wenn sie gegangen waren, pflegte Master Drayton die Türen zu verschließen und zu verriegeln. Das war überall bekannt, Sir John, er ließ niemanden hinein, und niemand kam je heraus.«

Athelstan stand auf und spielte mit dem Holzkreuz, das an einer Schnur um seinen Hals hing.

»So, Master Flaxwith.« Er lächelte den Büttel an. »Nach allem, was du sagst, haben wir hier einen Mann, der sich in seinem Kontor einschloß, niemals hinausging und niemanden hereinließ. Am Morgen sind Türen und Fenster verriegelt und verrammelt. Das Kontor ist verschlossen und gesichert, aber drinnen liegt unser Geldverleiher tot, und sein Silber ist fort.«

»Mit einem Wort: ja.«

»Und es gibt keine geheimen Eingänge, Korridore, Hintertürchen?«

»Nicht einen, Pater. Du hast das Haus gesehen; es ist aus Stein. Nur wenige Häuser hier in der Gegend sind es. Deshalb hat Drayton es gekauft.«

»Und das Kontor?«

»Sieh es dir selbst an, Pater«, erwiderte Flaxwith. »Es ist eine viereckige Kammer aus Stein. Die Decke ist Gipsputz, aber sie ist unversehrt, und die Wände sind aus schierem Stein, genau wie der Boden. Wenn Drayton frische Luft haben wollte, machte er einfach die Tür auf. Pater, ich kenne mich aus mit Einbrechern. Die gehen so schnell durch ein Fenster wie ein Pfaffe ins Bordell …« Er unterbrach sich. »Ich meine, wie ein Frettchen ins Loch. Aber in dieses Kontor einzubrechen, dafür würde ein Dieb Stunden brauchen.«

»Dann wollen wir es uns mal ansehen.«

Flaxwith erhob sich und führte sie hinaus. Cranston packte Athelstan am Arm. »Bruder, fühlst du dich wohl?«

»Natürlich, Sir John. Ein bißchen schläfrig. Ich …«

»Du hast letzte Nacht nicht geschlafen, nicht wahr?« sagte Cranston vorwurfsvoll. »Hast wieder auf deinem Kirchturm gehockt und die verdammten Sterne studiert, stimmt’s?«

Athelstan lächelte verlegen. »Ja, Sir John.«

»Es steckt doch nichts anderes dahinter, oder?« fragte Cranston. »Ich meine, Pater Prior hat dir doch nicht geschrieben, daß er dich deiner Pflichten in St. Erconwald entheben und dich in die Hallen von Oxford schicken will?«

Athelstan ergriff Sir Johns mächtige, dicke Pranke und drückte sie. »Sir John, der Pater Prior hat mich vor einem Monat gefragt, ob mir eine solche Versetzung gefallen würde, und ich habe gesagt, ich möchte es nicht.«

Cranston verbarg seine Erleichterung. Er liebte seine Frau, Lady Maude, seine kleinen Zwillinge, die er »Kerlchen« nannte, und seine beiden Hunde Gog und Magog, vor allem aber diesen sanftmütigen Ordensbruder mit dem scharfen Verstand und dem trockenen Humor. Cranston hatte viele Jahre lang als Soldat wie auch als Coroner gedient. Dabei hatte er so manchen Mann kennengelernt, aber, wie er Lady Maude erklärte, »die Zahl meiner Freunde kann ich an einer Hand abzählen und habe immer noch genügend Finger frei, um den Regenten mit einer ungehörigen Geste zu begrüßen. Athelstan ist mein Freund.« Cranston schaute den Ordensbruder wehmütig an.

»Du gehst nicht nach Oxford, nicht wahr, Bruder?«

»Nein, Sir John. Ich gehe ins Kontor.« Athelstan sah sich in der kargen Kammer um. »Dies ist ein tückischer Mordfall, Sir John, aber warum seid Ihr hier?« Und nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Warum seid Ihr so beunruhigt deswegen?«

»Drayton bewahrte sein Geld für gewöhnlich bei den Italienern auf«, sagte Cranston. »Bei Frescobaldi und den Gebrüdern Bardi in der Leadenhall Street. Aber das meiste hat er dort abgehoben, um es unserem hochedlen Regenten John von Gaunt, dem Herzog von Lancaster, zu geben: ein Darlehen über fünftausend Pfund in Silber.« Athelstan seufzte.

»Du siehst, Bruder, Gaunt interessiert es einen Dreck, ob Drayton im Himmel oder in der Hölle ist. Er will das Silber, zumal da Drayton keine Erben hat und er es deshalb nicht zurückzahlen muß. Und er will, daß der Dieb gefaßt wird. Und wie du weißt, mein guter Mönch …«

»Ordensbruder, Sir John.«

»Wie du weißt, mein guter Ordensbruder, kommt niemand, der unseren Regenten ärgert, ungeschoren davon.« Cranston unterbrach sich, als er Flaxwith rufen hörte. »Wir gehen jetzt lieber, Bruder.«

Sie gingen hinaus in den schmutzigen und düsteren Korridor. Hier roch es nach Talg, gekochtem Öl und anderen unappetitlichen Dingen.

»Flaxwith sagt, der Nachttopf oben war voller Kot«, flüsterte Cranston. »Drayton war ebenso schmutzig wie niederträchtig.«

An der Treppe wartete Flaxwith mit einer Fackel. »Sir John, was ist denn mit Samson?« fragte der Büttel flehentlich.

»Zum Teufel mit ihm!« erwiderte Cranston. »Henry, dein Köter wird ewig leben, und das ist mehr, als ich von mir selbst sagen kann, falls wir dieses Silber nicht wieder herschaffen.«

Flaxwith zuckte die Achseln und führte sie die schmalen Steinstufen hinunter. Unten lehnte die mächtige Tür, die er beschrieben hatte, an der Wand. Flaxwith führte sie ins Kontor und steckte die Fackel in einen Halter.

Athelstan starrte den Leichnam an, der ausgestreckt auf dem Steinboden lag. Eine Blutlache hatte sich in Rinnsalen durch die Spalten zwischen den Steinplatten ausgebreitet. Athelstan hockte sich nieder und betrachtete mitleidig Draytons hageres Gesicht: Die Augen waren im Tode geschlossen, und der blutverkrustete Mund hing offen. Er betastete den Hals; die Haut dort war kalt und klamm. Athelstan schloß die Augen und betete, daß Christus in Seiner unendlichen Barmherzigkeit Erbarmen mit diesem Mann haben möge, der hier unter seiner Würde gelebt hatte und gestorben war wie ein Hund. Er drehte den Toten um. Drayton war mit einem schäbigen Wams und einer engen Kniehose bekleidet. Die verschlissenen Stiefel sahen an den spindeldürren Beinen ziemlich erbärmlich aus, und er trug keine Kette am Hals und keine Ringe an den Fingern. Athelstan fragte sich, welche Freude dieser Mann wohl im Leben gefunden haben mochte.

»War er Junggeselle?« fragte er.

»Er war einmal verheiratet«, antwortete Flaxwith. »Aber vor vielen Jahren, nach dem Vertrag von Bretigny und dem Frieden mit Frankreich, ging ihm seine Frau auf und davon. Wer kann es ihr verdenken? Und andere Verwandte hatte er nicht.«

Athelstan untersuchte die Wunde, die der Armbrustbolzen geschlagen hatte. Der Bolzen war tief in Draytons dürre, schmale Brust eingedrungen. Er lehnte sich zurück und studierte den Blutfleck, der den Boden ein Stück weit entfernt bei der Tür bedeckte. Dann raffte er seine Kutte hoch und kroch über die Steinplatten.

»Was ist los, Bruder?«

Athelstan deutete zur Tür. »Das Blut beginnt mindestens einen Fuß weit von dort entfernt. Drayton muß also dort gefallen sein.« Er drehte sich um und zeigte zur gegenüberliegenden Wand. »Wir haben hier demnach einen Sterbenden, und die Tür ist verschlossen und verriegelt, ja?«

Flaxwith nickte.

»Da drüben« – Athelstan streckte den Finger aus – »ist Draytons Schreibpult, wo er all seine Geschäfte besorgte. Wo er saß und die Reichtümer bestaunte, die er angehäuft hatte.«

»Ja«, sagte Cranston leise. »Aber er versuchte nicht, zur Tür oder zu seinem Schreibpult zu gelangen, sondern zur gegenüberliegenden Wand. Warum?«

Er ging hinüber, zog seinen Dolch und klopfte damit an die weißgekalkten Steine. »Hört sich doch ganz solide an, finde ich«, erklärte er. »Hörst du, Athelstan?«

Er klopfte weiter an die Wand, oben und unten, und man hörte immer nur einen dumpfen Klang. »Ein Geheimgang ist da nicht«, stellte er fest und steckte den Dolch wieder ein.

»Vielleicht war Drayton von Sinnen?« erwog Flaxwith. »

Es beweist nur eins«, sagte Athelstan. »Die Tür muß immer noch verschlossen und verriegelt gewesen sein, denn sonst wäre der ärmste dorthin gekrochen.« Er stand auf und wischte sich die Hände an dem schwarzen Umhang über seiner weißen Kutte ab. Dann schaute er sich noch einmal in der Kammer um. »Du hast recht, Master Flaxwith: eine viereckige Kammer aus reinem Stein und Gipsputz.«

Athelstan ging umher. An einer Wand standen der Zähltisch und ein Stuhl mit einem Kissen. Auf dem Tisch fanden sich eine Waage, Pergamentstücke, Federkiele, ein Tintenhorn und eine Schatulle mit zerbrochener Schließe. Athelstan untersuchte die Schließe und kam zu dem Schluß, daß sie seit Jahren in diesem Zustand sein mußte. In der Schatulle lagen nur Wachsstreifen und weitere Federkiele. Der Rest des Raumes war kahl und trostlos.

»Nicht einmal ein Kruzifix«, flüsterte Athelstan. »Drayton muß eine sehr verschlossene, engstirnige Seele gewesen sein.«

Eine Zeitlang suchten alle drei die viereckige, muffige Kammer ab.

»Nicht einmal eine Ratte könnte hier einbrechen«, befand Cranston schließlich. Er wischte sich über die Stirn und nahm noch einen Schluck aus dem wunderbaren Weinschlauch.

»Es sei denn durch die Tür«, stellte Athelstan fest. »Es wird Zeit, daß wir sie untersuchen.«

Sie nahmen die Fackel aus dem Halter an der Wand und betrachteten eingehend die Tür. Athelstans Neugier wuchs. Das Holz war mindestens neun Zoll dick, und die Angeln waren aus Stahl. An den drei Riegeln und zwei Schlössern, in denen die Schlüssel noch steckten, sah er, daß die Tür verschlossen gewesen sein mußte, als sie eingeschlagen worden war. Er begutachtete die metallenen Beschlagnägel. An der Außenseite waren sie kegelförmig, und innen waren sie mit einer Mutter im Holz verschraubt. Die einzige Öffnung war ein kleines Gitter hoch oben in der Tür, etwa sechs Zoll breit und sechs Zoll hoch. Er bewegte die Holzklappe, die es bedeckte.

»War diese Klappe offen oder zu?«

»Das weiß ich nicht genau«, sagte Flaxwith. »Jetzt hängt sie herunter. Aber vielleicht wurde sie durch die Gewalt, die wir anwenden mußten, gelöst?«

Athelstan betrachtete das kleine Gitter. Es war breit genug, um durchzuschauen, aber die Stäbe standen so eng, daß es schwierig gewesen wäre, auch nur einen Dolch hindurchzuschieben, von einem Armbrustbolzen ganz zu schweigen. Athelstan wandte sich wieder den dicken Eisennägeln zu und begann, an jedem einzelnen zu rütteln.

»Was machst du da?« fragte Cranston neugierig.

»Ich will sehen, ob welche locker sind«, sagte Athelstan.

»Sie sind mit Schrauben an der Tür befestigt.«

»Das habe ich selbst schon getan«, sagte Flaxwith triumphierend. »Pater, da ist kein Nagel locker.«

»Und wenn«, warf Cranston ein, »wäre er doch sicher herausgefallen, als Master Flaxwith und seine Kameraden gegen die Tür hämmerten?«

Widerstrebend stimmte Athelstan zu und kratzte sich am Kopf. »Das Problem bleibt also bestehen«, sagte er und ging zurück ins Kontor. »Master Drayton dürfte sein Silber hier bei sich gehabt haben, ja?«

Cranston nickte.

»Das begreife ich nicht«, sagte Athelstan. »Der Mörder mußte unseren Geldverleiher töten, das Geld an sich nehmen und fliehen. Nicht wahr? Unter gewöhnlichen Umständen hätte die Tür offenbleiben müssen, aber Drayton liegt drinnen, und die Tür ist verschlossen und verriegelt. Wenn die Räuber also zuschlugen und das Silber dann aus dem Raum schafften, warum ist dann die Tür verschlossen?«

»Und wenn sie verschlossen ist«, vollendete Cranston, »wie sind dann die Räuber überhaupt hineingekommen, wie konnten sie Drayton ermorden, sein Silber stehlen, wieder hinausgelangen und die Tür von innen verschlossen und verriegelt hinterlassen?«

»Genau, Sir John. Ein perfektes Rätsel.«

»Mehr noch«, fügte Flaxwith hinzu, »sie haben nicht nur das Silber gestohlen, sondern auch alle losen Münzen. Außerdem, behaupten Draytons Schreiber, fehlen zwei silberne Kerzenhalter und ein goldener Anhänger.«

Athelstan setzte sich auf den Stuhl und starrte den Toten an.

»Wie?« murmelte er. »Drinnen oder draußen?«

»Was meinst du damit?« Cranston nahm noch einen Schluck aus seinem Weinschlauch.

»Nun, ich kann verstehen, daß sie Drayton umbringen und das Silber stehlen, aber wie sind sie hinein- und wieder herausgekommen? Diese Tür ist besser als eine Wand aus Stahl. Sie hat keine Lücken, keine Spalten. Wenn sie sich der Tür genähert hätten, so hätte Drayton die Klappe geschlossen. Hinter dem Gitter war er sicher. Er hätte sich geweigert, die Tür zu öffnen. Nun könnte ich es verstehen, wenn ein Mann wie Drayton einen Schreiber oder einen Freund hereinließe.« Er sah Flaxwith an. »Du bist sicher, daß der Schlüssel im Schloß steckte und die Riegel vorgeschoben waren?«

»Es ist das erste, was ich überprüft habe«, antwortete der Büttel und trat von einem Fuß auf den anderen. »Oh, bitte, Sir John, kann ich jetzt zu meinem Hund gehen? Samson bekommt Sehnsucht, wenn er von mir getrennt wird.«

»Dann geh schon zu deinem verdammten Vieh!« zischte Cranston. »Ich lasse auch schön grüßen.«

Flaxwith rannte fast, als er die Kammer verließ.

»Wir haben noch ein Problem«, fuhr Athelstan fort. »Wie ist der Mörder ins Haus und wieder hinausgekommen, ohne eine Tür oder ein Fenster aufzubrechen?«

»Verflucht rätselhaft!« knurrte Cranston.

»Sind die Schreiber noch hier?« fragte Athelstan.

»O ja, Bruder. Sie warten oben.«

Sie verließen die Kammer und gingen hinauf zu den beiden. Athelstan empfand augenblicklich Abneigung gegen Master Philip Stablegate und seinen Kollegen James Flinstead. Oh, sie waren durchaus freundlich. Als Athelstan und Cranston eintraten, erhoben sie sich höflich. Sie waren von angenehmer Erscheinung, das Haar sauber geschnitten, die Gesichter glattrasiert und gewaschen. Sie waren nüchtern gekleidet und trugen dunkle Hemden und enge Hosen. Der blonde Stablegate hatte ein freundliches, stets zum Lächeln bereites Gesicht. Flinstead war dunkler und ziemlich düster. Gleichwohl fühlte Athelstan sich abgestoßen. Verschlagene Männer, dachte er, voller Hohn. Beide Schreiber gaben sich wenig Mühe, ihre Erheiterung über den in ihren Augen so drolligen Coroner zu verhehlen.

Cranston winkte ihnen, Platz zu nehmen, und dann half er Athelstan, eine recht abgenutzte Bank heranzuziehen, um sich ihnen gegenüberzusetzen. Athelstan stellte die Tasche mit dem Schreibzeug zwischen seine Füße und wartete geduldig, während Sir John noch einen Schluck aus dem wunderbaren Weinschlauch nahm. Der Coroner schloß die Augen und rülpste behaglich. Stablegate senkte den Kopf und kicherte. Cranston, der recht wacklig auf der Bank saß, drückte den Stopfen in den Schlauch. Er mußte den Spott mitbekommen haben.

»Ihr seid Master Draytons Schreiber?« begann er schroff. »Ihr habt ihn als letzte lebend gesehen?«

»Wir sind kurz vor der Vesper gegangen«, sagte Flinstead.

»Erzählt mir, was sich zugetragen hat«, sagte Athelstan.

»Das gleiche wie immer«, antwortete Flinstead spitz. »Du bist…?«

»Bruder Athelstan, Pfarrer von St. Erconwald in Southward«

»Und mein Secretarius«, dröhnte Cranston.

»Hast du uns im Verdacht, dieses Verbrechen begangen zu haben?«

»Warum sollte ich?« erwiderte Athelstan.

Flinstead wußte anscheinend nicht, was er darauf sagen sollte.

»Bitte«, sagte Athelstan, »beantwortet doch meine Frage. Was hat sich gestern abend zugetragen?«

»Wir haben den Tag wie gewöhnlich beendet«, antwortete Stablegate. »Wir waren in unserer Schreibstube, einer kleinen Kammer, kaum mehr als ein Dachstübchen, weiter unten am Gang. Master Drayton kam wie immer herauf, um uns hinauszubringen. Und bevor du fragst, Bruder: Nein, er hat uns nicht vertraut. Er hat niemandem vertraut. Wir gingen also auf die Straße hinaus. Master Drayton wünschte uns gute Nacht, mißmutig wie immer. Dann schlug er die Tür zu, und wir hörten, wie die Riegel vorgeschoben und die Schlüssel umgedreht wurden.«

»Und dann?«

»Wie immer gingen wir ins ›Tanzende Schweins eine Schenke in der St. Martin’s Lane bei den Shambles.«

»Und danach?«

»Als wir das Nachtläuten von St. Mary Le Bow hörten, gingen wir nach Hause in die Grubb Street, beim Cripplegate. Wir teilen uns dort eine Kammer.«

»Mistress Aldous, unsere Wirtin, wird bestätigen, daß wir ziemlich erschöpft nach Hause kamen. Wir schliefen bis zum Morgen, standen auf und kamen her.«

»Und?« drängte Athelstan.

»Es war das gleiche wie jeden Morgen, Pater. Wir klopften, wir läuteten. Master Drayton kam dann immer den Gang heruntergeschlurft und ließ uns herein.«

»Aber heute morgen war es anders?«

»Ja, Pater. Wir haben geklopft und geläutet, daß es Tote hätte wecken müssen.« Er lächelte schmal. »Dann kam Flaxwith. Den Rest weißt du.«

»Was weiß ich denn?« fragte Athelstan scharf.

»Nun, wir versuchten, die Fensterläden zu öffnen. Vorder-und Hintertür waren verschlossen und verriegelt wie immer.«

»Und da seid ihr eingebrochen?«

»Ja«, sagte Stablegate. »Ich bin auf James’ Schultern geklettert.«

Er klopfte an den Griff seines Dolches. »Den habe ich durch einen Spalt im Laden geschoben, um den Riegel hochzuheben.«

Sir John war dabei, einzuschlafen; sein Kopf kippte nach vorn, und sein Mund klappte auf. Stablegate grinste hinter vorgehaltener Hand.

»In diesem Fall …«, begann Athelstan mit lauter Stimme und stand auf.

Sir John schrak hoch und kam ebenfalls schwankend auf die Beine. Blinzelnd und breitbeinig stand er da und atmete geräuschvoll durch die Nase. Er sah, daß die beiden Schreiber lachten, und Athelstan schloß die Augen.

»Ihr findet mich komisch, meine Herren?« Cranstons Hand legte sich auf den Dolch in seinem Gürtel. Er trat einen Schritt nach vorn. Sein weißer Bart sträubte sich, und seine wilden blauen Augen quollen aus den Höhlen. »Ihr findet den alten Jack komisch? Weil meine Kerlchen mich schon vor dem Morgengrauen geweckt haben? Und weil der alte Jack ein paar Schluck Wein zu sich genommen hat? Aber ich will euch sagen«, fuhr er fort und atmete Weindunst in die plötzlich ganz ängstlich blickenden Gesichter. »Der alte Jack ist nicht so vertrottelt, wie er aussieht. ›Jack sei hurtig, Jack sei flink.‹ Als der Dichter das schrieb, dachte er an den alten Jack Cranston.« Er hob einen Zeigefinger. »Ihr sagt, ihr wohnt bei Mistress Aldous in der Grubb Street bei Cripplegate?«

»Ja«, antwortete Flinstead, ganz überrascht, daß Sir John, der scheinbar geschlafen hatte, trotzdem zugehört hatte.

»Ich kenne Mistress Aldous«, fuhr Cranston fort. »Fünfmal ist sie schon vor meinem Gericht erschienen, wegen Kuppelei, und weil sie ein Freudenhaus führte, einen Dirnenstall.«

»Jetzt ist da aber keiner«, gab Stablegate zurück.

»Nur ihr zwei hübschen Knaben und Mistress Aldous, wie?«

»Jawohl.«

»Jawohl, Sir John.«

»Jawohl, Sir John.«

»Laßt euch eins sagen«, warnte der Coroner bedrohlich.

»Lacht nicht über den alten Jack. Ein schrecklicher Mord ist geschehen, und das Silber der Krone wurde gestohlen.«

»Darüber wissen wir nichts.«

»Nein, Bübchen, darüber wißt ihr nichts. Fünftausend Pfund, die für die Schatulle des Regenten bestimmt waren. Jetzt sind sie weg.« Cranston legte jedem eine große Pranke auf die Schulter, daß sie schmerzlich das Gesicht verzogen. »Nun, meine Hübschen, dann wollen wir uns mal dieses verdammte Fenster anschauen.«

Athelstan empfand stille Zufriedenheit über die Art, wie Cranston seine Autorität wiederhergestellt hatte. An der Tür drehte er sich plötzlich um.

»Verzeihung.« Er kam noch einmal zurück. »Ihr wußtet nicht, daß Master Drayton fünftausend Pfund in Silber in seinem Kontor hatte?«

»Er ließ uns nie mit Geld hantieren«, sagte Stablegate.

»Das war eine Regel, von der er niemals abwich. Wir wissen allerdings«, fügte er rasch hinzu, »daß gestern Beauftragte der Bank Frescobaldi im Haus waren, obwohl Master Drayton uns befahl, in unserer Kammer zu bleiben. Er öffnete die Tür selbst. Wir hörten Stimmengemurmel, und dann gingen sie wieder.«

Athelstan nickte. »Und was geschah dann?«

»Wenn die Herren von der Bank Geld gebracht haben«, meinte Stablegate, »dann hat er es, wie ich Master Drayton kenne, Münze für Münze gezählt, eine Quittung ausgeschrieben und das Geld in seinem Kontor verwahrt.«

»Mochtet ihr Master Drayton?« fragte Cranston.

»Nein!« antworteten beide wie aus einem Munde.

»Er war ein höllischer Geizhals«, erklärte Flinstead. »Von früh bis spät ließ er uns schuften. Zum Angelusläuten gab er uns ein bißchen Ale, Brot und Käse, und dann hieß es weiterarbeiten.« Er zupfte an seinem Hemd. »Weihnachten und Ostern bekamen wir neue Kleider, und zu Mittsommer ein Silberstück. Er hat kaum ein Wort mit uns gesprochen, schaute nur hin und wieder bei uns herein, lautlos wie ein Schatten, um sich zu vergewissern, daß wir nicht seine Zeit und sein Geld vergeudeten.«

»Hat er je von Freunden oder Verwandten gesprochen?« »Niemals«, sagte Stablegate. »Einmal habe ich ihn gefragt, ob er verheiratet gewesen sei, und da bekam er einen schrecklichen Wutanfall.«

»Und dann?«

»Brummend lief er die Treppe hinunter. Wir haben unsere Lektion gelernt. Wir haben ihn nie wieder gefragt.«

»Uns blieb ja nichts anderes übrig, als für ihn zu arbeiten«, fügte Flinstead hinzu. »Er hat uns oft daran erinnert, daß London voll von Schreibern sei, die Anstellung suchten. Ein Bettler kann sich’s nicht aussuchen, Pater.«

Athelstan nickte und öffnete die Tür. »Dann, ihr Herren, wollen wir uns das Fenster anschauen.«

Die beiden Schreiber gingen vor ihm hinaus und die Treppe hinunter. Flaxwith wartete unten, streichelte seinen Hund und sprach leise mit ihm. Athelstan glaubte nicht, daß er schon einmal einen häßlicheren Mastiff gesehen hatte. Als sie vorbeikamen, hob der Hund kurz den Kopf und knurrte.

»Aber, aber«, flüsterte Flaxwith. »Du weißt doch, daß Sir John dich liebt.«

»Ich kann das verdammte Vieh nicht ausstehen!« fauchte Cranston. »Schon mindestens dreimal hat er versucht, mir das Bein abzubeißen.«

Die Schreiber führten sie in einen kleinen Saal voller Kram und Gerümpel. Die Holztäfelung war rissig und verstaubt, und es stank nach faulen Binsen. Die Musikergalerie am hinteren Ende bog sich durch, und in den Ecken hingen riesige Spinnweben wie Fahnen. Ratten quiekten protestierend und huschten über den Boden, erbost über die Eindringlinge. Es war dunkel; nur durch die geöffneten Läden eines zerbrochenen Fensters fiel ein wenig Licht herein.