Ganz normale Organisationen - Stefan Kühl - E-Book

Ganz normale Organisationen E-Book

Stefan Kühl

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Beschreibung

Warum waren während der Zeit des Nationalsozialismus so viele Deutsche bereit, sich an der Vernichtung der europäischen Juden aktiv zu beteiligen? Stefan Kühl behauptet: Es war die Einbindung in Organisationen des NS-Staats, die diese Menschen dazu gebracht hat, sich an Deportationen und Massenerschießungen zu beteiligen – und zwar unabhängig von den ganz unterschiedlichen Motiven, die sie ursprünglich zum Eintritt in diese Organisationen bewogen haben. Kühl belegt diese These unter Einbeziehung der einschlägigen geschichtswissenschaftlichen und sozialpsychologischen Forschung, aber mit dem theoretischen Instrumentarium der Soziologie. Er zeigt damit auch, was diese wissenschaftliche Disziplin mit Blick auf das Thema zu leisten vermag.

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Warum waren während der Zeit des Nationalsozialismus so viele Deutsche bereit, sich an der Vernichtung der europäischen Juden zu beteiligen? Stefan Kühl behauptet: Es war die Einbindung in Organisationen des NS-Staats, die diese Menschen dazu brachte, sich an Deportationen und Massenerschießungen zu beteiligen – und zwar über eine große Vielfalt von Motiven wie Überzeugung, Zwang, Kameradschaft oder Geld hinweg. Aus soziologischer Perspektive sind Organisationen der Zentralpunkt, von dem aus die Befunde der geschichtswissenschaftlichen und sozialpsychologischen Holocaustforschung interpretiert werden müssen.

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld.

Stefan Kühl

Ganz normale Organisationen

Zur Soziologie des Holocaust

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2130.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Stefan Kühl 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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eISBN 978-3-518-73878-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

1. Jenseits der »ganz normalen Männer« und »ganz normalen Deutschen«

1.1. Das Versagen der einfachen Antworten

1.2. Von der Motivsuche zur Motivdarstellung

1.3. Zur Motivation von Organisationsmitgliedern

2. Zweckidentifikation

2.1. Die Ausbildung einer antisemitischen Konsensfiktion

2.2. Die Funktion von weltanschaulichen Schulungen bei der Absicherung einer antisemitischen Konsensfiktion

2.3. Von der »teilnahmslosen Akzeptanz« zur »aktiven Teilnahme«

3. Zwang

3.1. Zwangsrekrutierung und die Verhinderung des Exits

3.2. Das Vermeiden der Mitgliedschaftsfrage in Zwangsorganisationen

3.3. Die Grenzen der Freiräume

3.4. Die Freiheit im Zwang

4. Kameradschaft

4.1. Der Druck der Kameradschaft und die Ausbildung informaler Normen

4.2. Ebenen der Ausbildung von Kameradschaft

4.3. Wie werden kameradschaftliche Normen durchgesetzt?

4.4. Die Mobilisierung von Kameradschaft durch das Einräumen von Freiheit

5. Geld

5.1. Die Funktion der regulären Entlohnung der Bataillonsangehörigen

5.2. Die legalisierte Bereicherung an der Enteignung der jüdischen Bevölkerung

5.3. Bereicherung jenseits der offiziellen Entlohnungs- und Belohnungsformen

5.4. Die Funktionalität der Unterschlagung

6. Handlungsattraktivität

6.1. Tötungshemmungen und organisationale Strategien zu ihrer Überwindung

6.2. Zur Produktion von Motiven: Die Entmenschlichung der Opfer

6.3. Zu einer Organisationskultur der Brutalität

7. Generalisierung von Motiven

7.1. Die unterschiedlichen Darstellungsmöglichkeiten von persönlichem Engagement

7.2. Das Management der Selbstdarstellung

7.3. Die Trennung von Zwecken und Motiven

8. Von Tötern zu Tätern

8.1. Zur Legalisierung staatlicher Gewaltanwendung

8.2. Gewaltanwendungen in den Grauzonen der Legalität

8.3. Die Umstellung der Rechtsauffassung im Nationalsozialismus

8.4. Das Erleichtern des Tötens durch dessen Legalisierung

9. Normalität und Anomalität von Organisationen

9.1. Jenseits der Vorstellung von »anormalen Organisationen«

9.2. Die Ausweitung von Indifferenzzonen in Organisationen

9.3. Organisationen begreifen – Schlussfolgerungen

Anhang: Zum soziologischen Zugang und zur empirischen Basis

Archive

Literaturverzeichnis

Sachregister

7Einleitung

Angesichts des Grauens des Holocaust ist das Bedürfnis nach einfachen Antworten nachvollziehbar. Es hätte etwas Erleichterndes, wenn man die Ghettoliquidierungen, die Massenerschießungen und die Vergasungen in den Vernichtungslagern dadurch erklären könnte, dass die Täter von Adolf Hitler verführt wurden, dass sie einem besonders brutalen Menschenschlag angehörten oder dass sie sämtlich eliminatorische Antisemiten waren, die aufgrund eines in der deutschen Kultur tief verwurzelten Hasses gegen Juden quasi zwangsläufig zu »Hitlers willigen Vollstreckern« wurden.

Eine solche Personalisierung weist die Verantwortung einigen wenigen zu und hat dadurch für alle anderen eine entlastende Funktion. Personalisierung heißt, dass Personen anhand einer spezifischen biologischen, medizinischen oder kulturellen Prägung identifiziert und als pathologisch, kriminell oder absonderlich markiert werden. Die diesen Personen zugeschriebenen Handlungen werden damit zugleich von allen anderen, die sich durch die entsprechenden Merkmale nicht angesprochen fühlen, »wegpersonalisiert«. Es sind dann – so die auf den ersten Blick beruhigende Erklärung – fanatische Nazis, krankhafte Sadisten oder besonders engagierte eliminatorische Antisemiten gewesen, die den Genozid zu verantworten haben. Wenn man sich selbst nicht zu einer dieser Gruppen zählt, kann man sich beruhigt zurücklehnen und sich in dem Glauben wiegen, dass man selbst ganz anders gehandelt hätte.[1]

Eine solche Personalisierung der Verantwortung stößt aber schnell an ihre Grenzen. Zweifellos wurde der Nationalsozialismus von einem großen Teil der deutschen Bevölkerung begrüßt, zweifellos gab es in den Polizeitruppen und den Konzentrationslagern Personen, die ihren Job als Möglichkeit sahen, einen tiefsitzenden Sadismus auszuleben, und zweifellos gab es unter den überzeugten Antisemiten in Deutschland manche, die auch eine »Ausrottung« der jüdischen Bevölkerung aktiv propagierten. Aber das Überra8schende ist, dass an den Massentötungen viele Personen beteiligt waren, an denen weder vor Beginn noch nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein solch mörderisches Verhalten oder eine entsprechende Gesinnung nicht beobachtet wurde.

Im Mittelpunkt dieses Buches steht eine Frage, die zu den umstrittensten der Holocaustforschung gehört: weswegen »ganz normale Männer« und in einer Reihe von Fällen auch »ganz normale Frauen« bereit waren, Hunderte, ja manchmal Tausende von Männern, Frauen und Kindern zu demütigen, zu quälen und zu töten.[2] Ich möchte in diesem Buch eine dezidiert soziologische Antwort auf diese Frage geben, indem ich vorhandene Einsichten aus der geschichtswissenschaftlichen, politikwissenschaftlichen, philosophischen und sozialpsychologischen Forschung aufnehme und mithilfe der systemtheoretischen Soziologie zu einem umfassenden Erklärungsansatz zusammenführe.[3]

Die Herausforderung besteht darin, eine soziologisch informier9te Analyse so zu präsentieren, dass sie an die breite Diskussion über den Holocaust anschlussfähig ist. Denn gerade in der systemtheoretischen Soziologie werden häufig so abstrakte Beschreibungen verwendet, dass sich andere Disziplinen, etwa die Geschichtswissenschaft, die Politikwissenschaft, die Philosophie oder die Psychologie, aus nachvollziehbaren Gründen durch sie nicht mehr irritieren, geschweige denn anregen lassen. Wenn man als Soziologe zur Erklärung des Holocaust mit Konzepten wie binäre Codierung, autopoietische Reproduktion oder selbstreferenzielle Schließung hantiert, mag man sich zwar in der eigenen auf diese Theorie spezialisierten soziologischen Subsubgruppe als ambitionierter Theoretiker profilieren, Wissenschaftler anderer Disziplinen hingegen werden solche in ihren Ohren unnötig kompliziert klingenden Erklärungsansätze mit guten Gründen einfach ignorieren.[4]

Die Leserinnen und Leser dieses Buches können jedoch beruhigt sein. In diesem Buch wird nicht nur auf die für Nichtsoziologen häufig abschreckend wirkende Darstellung systemtheoretischer Grundlagen verzichtet, sondern darüber hinaus werden die soziologischen Überlegungen an einem konkreten Beispiel illustriert: dem Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101, derjenigen »Tötungseinheit« des NS-Staates also, die bisher in der Wissenschaft am ausführlichsten untersucht worden ist.[5] Gerade weil zu diesem 10Polizeibataillon scheinbar alles gesagt ist und gerade weil dieses Bataillon so kontrovers diskutiert wurde, sollen die Stärken eines soziologischen Erklärungsansatzes in Ergänzung und häufig auch im Kontrast zu bereits existierenden Erklärungsmustern der Holocaustforschung deutlich gemacht werden.

Jenseits der Kontroverse zwischen »ganz normalen Männern« und »ganz normalen Deutschen«

Das Reserve-Polizeibataillon 101 zieht in der Forschung deswegen so viel Aufmerksamkeit auf sich, weil dessen Angehörige in einem auffälligen Maße »normal« waren. Bei den in Hamburg ausgehobenen Polizisten handelte es sich überwiegend um Familienväter, die zivilen Berufen wie Hafenarbeiter, Friseur, Handwerker oder Kaufmann nachgegangen waren, bevor sie als Polizeireservisten nach Polen verlegt wurden. Nur die wenigsten der etwas über 500 Bataillonsangehörigen hatten sich vor ihrem Einsatz in Polen als engagierte Nationalsozialisten oder SS-Männer hervorgetan.[6]

11Die kontrovers geführte Debatte über dieses Polizeibataillon dreht sich um die Frage, in welchem spezifischen Sinne diese Männer »normal« waren.[7] Waren es – so die Zusammenfassung der bisherigen Debatte in einer einzigen Frage ‒ »ganz normale Männer« oder »ganz normale Deutsche«? Den unbedarften Leser mag dieser Gegensatz überraschen, weil es naheliegt, dass es sich in der Zeit von 1933 bis 1945 bei Hamburger Polizisten mehrheitlich, wenn nicht sogar ausschließlich sowohl um »Männer« als auch um »Deutsche« gehandelt hat. Die Betonung des einen oder des anderen Wortes macht in der Debatte jedoch den grundlegenden Unterschied aus.

Mit der Betonung des Wortes »Männer« wird herausgestellt, dass im Prinzip jede männliche Person zur Tötung der Juden imstande gewesen wäre, wenn sie sich nur in der gleichen Situation 12wie die Angehörigen des Polizeibataillons befunden hätte. Damit diese »ganz normalen Männer« zu »Mördern« werden konnten, bedurfte es – so besonders Christopher Browning – einer Reihe von Bedingungen: Einer »Brutalisierung in Kriegszeiten«, eines ausgeprägten »Rassismus«, eines »arbeitsteiligen Vorgehens verbunden mit wachsender Routine«, eines gerade in der Führungsschicht dominierenden »Karrierismus«, »blindem Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit« sowie einer »ideologischen Indoktrinierung und Anpassung«. Dazu kamen eine »ausgeprägte Korpsmentalität«, »ein erheblicher Gruppendruck« sowie »Alkoholexzesse, verbunden mit einer immer weiter fortschreitenden Abstumpfung gegenüber Gewalttaten jeder Form«.[8] Hinter diesem Bündel aus handlungsleitenden Faktoren steckt letztlich ein moderater strukturalistischer Ansatz, der auf die eher begrenzten Handlungsmöglichkeiten einzelner Personen im Zwangsapparat des NS-Staates verweist.[9]

Mit der Betonung des Wortes »Deutscher« wird nicht ausgeschlossen, dass Brutalisierung, Gruppendruck oder Autoritätsgläubigkeit eine Rolle gespielt haben. Gerade bei den nichtdeutschen Beteiligten am Holocaust – zum Beispiel den in den besetzten Gebieten rekrutierten Hilfstruppen aus nichtjüdischen Ukrainern, Polen, Letten, Litauern oder Esten ‒ seien, so das Argument, solche Faktoren wichtig gewesen, und auch bei den deutschen Polizisten, SS-Angehörigen und Wehrmachtssoldaten könnten diese Aspekte nicht komplett ignoriert werden. Diese Faktoren seien aber für das Verhalten der Deutschen bestenfalls zweitrangig gewesen. Die »ganz normalen Deutschen« seien – so besonders Daniel Goldhagen – aufgrund eines lange schon vorherrschenden und auf Ver13nichtung zielenden Antisemitismus zu dem Schluss gekommen, »dass die Juden sterben sollten«. »Die Täter« hätten sich an ihren eigenen, kulturell tief verankerten »Überzeugungen und moralischen Vorstellungen« orientiert und die Massenvernichtung der Juden deshalb für gerechtfertigt gehalten. Diese Erklärung ist letztlich die radikale Variante eines voluntaristischen Ansatzes in der Holocaustforschung, der auf den eigenen Antrieb der Täter verweist. Die Deutschen, so die Kurzformel, »wollten nicht Nein« zum Holocaust sagen, ja, sie wollten sogar zu großen Teilen Ja zur Ermordung der europäischen Juden sagen.[10]

Aus einer soziologischen Perspektive sind beide Erklärungsansätze unbefriedigend. Der voluntaristische Ansatz, das Verhalten über einen tiefsitzenden eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen zu erklären, geht von einer simplen Übereinstimmung zwischen den Zwecken der Polizei – »Vernichtung der europäischen Juden« – und den Motiven der Organisationsmitglieder – »eliminatorischer Antisemitismus« ‒ aus.[11] Diese Erklärung versagt 14aber spätestens dann, wenn es um die Beteiligung von nichtdeutschen Hilfskräften – den »Fußvölkern der Vernichtung« – geht.[12] Demgegenüber hat der auf die Vielzahl von Faktoren verweisende strukturalistische Ansatz zwar den Vorteil, dass man sich mit einem Strauß von Erklärungen letztlich nicht irren kann. Aber das ist auch der Nachteil. Die unterschiedlichen Motive werden in einer biederen Faktorenforschung aneinandergereiht.[13] Die verschiedenen Aspekte werden weder begründet, gewichtet noch – und das wiegt schwerer – zueinander in Beziehung gesetzt. Man nimmt an, dass eine antisemitische Grundeinstellung, kriegsbedingte Brutalisierung, Karriereorientierung, Autoritätsgläubigkeit, Korpsmentalität und Gruppendruck eine Rolle gespielt haben, aber wie das alles miteinander zusammenhängt, bleibt unklar.[14]

15In der Geschichtswissenschaft hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, dass die Kontroverse »ganz normale Männer« versus »ganz normale Deutsche« nicht das Material für eine große Debatte hatte. Goldhagens monokausale Erklärung eines »eliminatorischen Antisemitismus« sei, so der Tenor, theoretisch und empirisch zu schwachbrüstig gewesen, um ausreichend Unterstützung von anderen Wissenschaftlern zu mobilisieren.[15] Das »Goldhagen-16Phänomen« – oder sollte man sagen: die »Goldhagen-Tragik«? – bestand darin, dass nur wenige Historiker es als gerechtfertigt empfanden, über dessen These ausführlich zu diskutieren, ihnen aber eine solche Diskussion aufgrund des »fantastischen öffentlichen Erfolgs« und der »zustimmenden Rezeption durch einige bekannte Intellektuelle« wie beispielsweise Jürgen Habermas aufgezwungen wurde.[16] Aber letztlich scheinen jene Historiker richtig gelegen zu haben, die prophezeiten, dass man sich in der Holocaust-Forschung nicht an Goldhagens Buch orientieren werde.[17] Die wissenschaftliche Debatte war beendet, bevor sie überhaupt ernsthaft begonnen hatte. Aber die grundlegende Frage, weswegen Hunderttausende von Männern und Frauen sich bereitwillig an der Durchführung des Holocaust beteiligt haben, ist immer noch nicht geklärt.

Ansätze einer soziologischen Erklärung des Holocaust

In der Analyse des Holocaust müssen zwei grundlegende Fragen auseinandergehalten werden. Die erste setzt sich damit auseinander, wie es zur Entscheidung – präziser: den Entscheidungen – gekommen ist, die europäischen Juden systematisch zu töten. Gab es eine zentrale Entscheidung – einen Masterplan – der NS-Führung, 17der mit Kriegsbeginn schrittweise umgesetzt wurde, oder muss der Holocaust eher auf konkurrierende Initiativen von NS-Behörden in Berlin, besonders aber in den besetzten Gebieten Osteuropas zurückgeführt werden?[18] Die zweite Frage lautet, wie die »ganz normalen Deutschen«, die »ganz normalen Männer« dazu gebracht wurden, die Ghettoräumungen, Massenerschießungen und Deportationen in die Vernichtungslager durchzuführen, nachdem der Holocaust beschlossene Sache war. Um mit Herbert A. Simon zu sprechen, geht es in der ersten Frage um das programmierende Entscheiden für einen Genozid; bei der zweiten um das programmierte Entscheiden, mit dem ein Genozid in einer Vielzahl von Einzelentscheidungen umgesetzt wurde.[19] Selbstverständlich hängen die beiden Fragen miteinander zusammen. Programmentscheidungen der Spitzen einer Organisation werden nur wirkmächtig, wenn sie auch operativ durchgesetzt werden. Und bereits beim Treffen von Programmentscheidungen wird die Möglichkeit zur Durchsetzung 18mit einbezogen. Analytisch kann man die beiden Fragen jedoch voneinander trennen.[20]

In diesem Buch geht es mir um die zweite Frage, also darum, wie »ganz normale Männer«, »ganz normale Deutsche« dazu kamen, Zehntausende von Juden zu töten.[21] Eine durch die Systemtheorie inspirierte soziologische Analyse kann dabei nicht beanspruchen, dass die Erklärungen für das Handeln »ganz normaler Männer« beziehungsweise »ganz normaler Deutscher« grundlegend neu sind, im Gegenteil: Aus der geschichtswissenschaftlichen, politikwissenschaftlichen, philosophischen und sozialpsychologischen Forschung liegt eine Reihe von überzeugenden Erklärungsansätzen zu einzelnen Aspekten vor, etwa zur Rolle des Antisemitismus, des Gruppendrucks, der Bereicherungsmöglichkeiten, der Zwangsmechanismen oder der Brutalisierung. Diese Ansätze können jedoch aus einer soziologischen Perspektive systematisch miteinander in 19Beziehung gesetzt werden und dadurch jeweils in ihrer Bedeutung für das Verhalten der ganz normalen Männer im Holocaust spezifiziert werden.

Dass ausgerechnet ein soziologischer – und darüber hinausgehend auch noch ein systemtheoretischer – Zugang weitere Klarheit in einer zentralen Frage der Holocaustforschung schaffen soll, mag überraschen. Schließlich wurde gerade in der Debatte über das Reserve-Polizeibataillon 101 das Wort »Soziologe« vorrangig als Schimpfwort verwendet, um die jeweils andere Seite zu diskreditieren. So beklagten die Vertreter eines voluntaristischen Ansatzes à la Goldhagen, dass ihre Kritiker mit ihren »soziologistischen Zugängen« die Verantwortung der Polizeibeamten an Massenerschießungen verschleierten.[22] Und umgekehrt unterstellten Goldhagens Kritiker diesem, dass sein Blick durch Soziologismen getrübt sei. So warf beispielsweise Mariam Niroumand Goldhagen vor, eine Art »Pulp Fiction mit soziologischem Tarncode« zu produzieren. Und Paul Johnson beklagte Goldhagens »Sociobabble« – »Soziologengeschwafel« –, mit dem er sich letztlich der Mühe einer genauen Analyse entzöge.[23] Die Ironie bei der Sache: Keiner der so Kritisier20ten war Soziologe, keiner arbeitete systematisch mit soziologischen Theorien, und keiner verwendete einen auch nur rudimentär abgesicherten soziologischen Begriffsapparat.[24]

Die Soziologen – und das darf man nicht übersehen – haben sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, dass sich »soziologisch« in der Holocaustforschung als Schimpfwort etablieren konnte, weil sie selbst, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine eigenen Beiträge zu den Debatten über den Holocaust geliefert hatten.[25] Schon in der von Hannah Arendt mit ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem ausgelösten Kontroverse über die »Banalität des Bösen« hielten sich die Soziologen auffällig zurück. Im Historikerstreit – der Debatte über die Singularität des Holocaust – spielte mit Jürgen Habermas zwar ein Soziologe eine zentrale Rolle. Seine Einwürfe zeigten aber, dass er sich eher als ein an der Zukunft der Bundesrepublik Deutschland interessierter Intellektueller denn als Soziologe an der Debatte beteiligt hatte.[26] Und auch die Diskussion darüber, wie ganz normale deutsche Männer zu Massenmördern werden konnten, wurde von Historikern, Politikwissenschaftlern, Philosophen, Anthropologen, Theologen und Sozialpsychologen geführt, jedoch so gut wie nicht von Soziologen.[27] Die Soziologie 21hat in den Debatten über den Holocaust – so Zygmunt Bauman zusammenfassend ‒ über Jahrzehnte den Eindruck vermittelt, sich kollektiv im Verschließen der Augen zu üben.[28]

Für die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin ist es sicherlich notwendig systematisch herauszuarbeiten, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg zu dieser weitgehenden Ignorierung des Nationalsozialismus in soziologischen Analysen gekommen ist.[29] Zentraler 22als diese soziologischen Selbstbespiegelungen ist meines Erachtens jedoch, in Auseinandersetzung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen anhand konkreter Forschungsfragen herauszuarbeiten, welche neuen Einsichten sich aus einer soziologischen Perspektive gewinnen lassen. Mit meiner in diesem Buch vorgestellten These von den »ganz normalen Organisationen« will ich zeigen, wie sich soziologisch die Frage nach dem Verhalten der »ganz normalen Männer«, der »ganz normalen Deutschen« im Holocaust erklären lässt.

Die Durchführung des Holocaust mittels staatlicher Gewaltorganisationen

Ausgangspunkt meiner These von den »ganz normalen Organisationen« ist die Beobachtung, dass mehr als 99 Prozent aller Tötungen von Juden durch Mitglieder staatlicher Gewaltorganisationen durchgeführt wurden.[30] Als staatliche Gewaltorganisationen werden Organisationen wie Armeen, Milizen und Polizeien verstanden, die Gewalt androhen und einsetzen, um staatliche Entscheidungen durchzusetzen. Sie unterscheiden sich von nichtstaatlichen Gewaltorganisationen wie Schlägertrupps, Terrororganisationen oder marodierenden Söldnergruppen dadurch, dass sie ihre Handlungen mit der Durchsetzung von staatlich legitimierten Ansprüchen begründen können.[31]

23Sicherlich gab es während der NS-Zeit vielfältige nichtstaatlich organisierte Formen von Gewalt gegen Juden. Man denke nur an die Gewaltakte während der Boykotte von jüdischen Geschäften kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933, an die Zurschaustellung jüdischer und nichtjüdischer Bürger wegen vermeintlicher »Rassenschande« und an die Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnungen während der Novemberpogrome im Jahr 1938. Dabei existierte – und dies ist bisher wenig beforscht worden ‒ eine nicht zu unterschätzende Kontinuitätslinie von Übergriffen antisemitischer Gruppierungen gegen Juden in der Weimarer Republik zu den häufig staatlich geduldeten oder auch staatlich unterstützten Gewalttätigkeiten nichtstaatlicher NS-Organisationen während der NS-Zeit.[32]

24Die Massenexekutionen von Juden und die Deportationen in die Vernichtungslager wurden – und diese Differenz ist zentral ‒ aber nicht als private Initiative von antisemitischen Interessenorganisationen betrieben. Sie waren vielmehr Teil eines staatlichen Programms zur Vernichtung der europäischen Juden.[33] Die »ganz normalen Männer« und die »ganz normalen Frauen« fingen in dem Moment an, sich an Tötungen von Juden zu beteiligen, als sie als Mitglied einer staatlichen Organisation aufgefordert wurden, ihren Beitrag zum Vernichtungsprogramm zu leisten. Und fast alle von ihnen hörten damit genau in dem Moment wieder auf, als sie diese Tötungsorganisationen verließen. Jedenfalls setzten – soweit wir wissen – die wenigsten ehemaligen Ordnungspolizisten, SD-Mitarbeiter oder Wehrmachtssoldaten nach ihrem Ausscheiden die Erschießung von religiösen oder ethnischen Minderheiten als Privatinitiative fort.

Nun ist die pure Erkenntnis, dass der Holocaust ein sich maßgeblich auf staatliche Organisationen stützendes Tötungsprogramm war, alles andere als originell. Schließlich ist auf den ersten Blick klar, dass der überwiegende Teil der Juden nicht im Rahmen von »unorganisierten« wilden antisemitischen Pogromen getötet wurde, sondern von Mitgliedern staatlicher Gewaltorganisationen im Zuge der Durchsetzung der NS-Politik.[34] So hat etwa Raul Hil25berg, dessen Gesamtdarstellung der Vernichtung der europäischen Juden immer noch als zentrale Referenz der Holocaustforschung gelten kann, in großer Detailgenauigkeit nachgewiesen, wie die Juden von staatlichen Meldestellen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten erfasst, von der Reichsbahn gen Osten transportiert, in den Ghettos von Polizeibataillonen drangsaliert und von SS- und Polizeieinheiten oder nichtdeutschen Hilfskräften im Zuge von Massenerschießungen oder in Vernichtungslagern getötet wurden.[35]

Jenseits des Bildes von Organisationen als Maschinen

Mit Blick auf die organisatorische Rahmung wurde aber bisher – gerade von den wenigen Soziologen, die sich in die Diskussion über den Holocaust einzumischen suchen – mit einem fast karikaturhaften, letztlich auf Max Weber zurückgehenden Verständnis von Organisationen gearbeitet.[36] Beeindruckt von Webers Beschreibung 26des maschinenartigen »bürokratischen Mechanismus« mit seiner »Präzision«, »Schnelligkeit«, »Eindeutigkeit«, »Aktenkundigkeit«, »Kontinuierlichkeit«, »Diskretion«, »Einheitlichkeit«, »straffen Unterordnung«, »Ersparnissen an Reibungen« wird der Holocaust in letzter Konsequenz damit erklärt, dass sich die Nutzung der »bürokratischen Mechanismen« zur massenweisen Tötung von Personen anbot. Beim Holocaust seien, so die Lesart, Vorstellungen von »optimaler Nutzung von Ressourcen«, von »gewissenhafter und fachmännischer Vorgehensweise« umgesetzt worden. Die Arbeitsteilung habe dazu geführt, dass die Schreibtischtäter die Opfer nur noch als »entpersonalisierte«, »endlose Zahlenkolonnen« wahrgenommen hätten.[37]

Dieses maschinenhafte Verständnis von Organisationen ist in eine Erklärung eingebettet, die den Holocaust als ein Phänomen der Moderne versteht.[38] Erst die Aufklärung, so die Position, habe 27in einer »tödlichen Verbindung« aus berechnendem Kalkül und bürokratischem Apparat die »Monster der Moderne« hervorgebracht. Der Holocaust mit seinem über Organisationen umgesetzten Streben nach Perfektion sei, so Zygmunt Bauman, ein »Code der Moderne« gewesen, ein »legitimer Bewohner im Haus der Moderne«. Zielvorstellung der Moderne sei eine »bessere«, »effizientere« und »schönere« Welt, und der Massenmord an den Juden sei ein Versuch gewesen, diese Vorstellung durchzusetzen.[39]

Letztlich wird mit einem Organisationsverständnis gearbeitet, mit dem schon Hannah Arendt in ihrer Charakterstudie Adolf Eichmanns grandios gescheitert ist. Mit einem an Max Weber angelehnten Organisationsverständnis kann der Holocaust nur als »bürokratisch geplanter«, »industriell durchgeführter« »Verwal28tungsmassenmord« verstanden werden.[40] Er wird, wie von Martin Heidegger kurz nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert, vorrangig als die »Fabrikation von Leichen«, als »unauffälliges Liquidieren von Hunderttausenden« betrachtet.[41] Der Holocaust kommt dann, wie zum Beispiel bei Wolfgang Sofsky, als eine in »Todesfabriken« durchgeführte »spurenlose Vernichtung von Menschen in großer Zahl« daher. Die »Todesfabrik« erscheint als ein »nahezu reibungslos funktionierender Apparat«, in dem mit »hoher Kapazität und Geschwindigkeit« Menschen ermordet wurden – und das, obwohl wir schon aus soziologischen Studien über Auto- und Flugzeugfabriken wissen, dass »reibungslos funktionierende Apparate« eine reine Fiktion des Managements sind.[42] Als Synonym für den Holocaust kann in dieser Perspektive dann auch nur »Auschwitz« stehen und eben nicht die häufig improvisierten Massenerschießungen, die teilweise chaotisch ablaufenden Ghettoliquidierungen oder die durch Planungsprobleme gekennzeichneten ersten 29Massentötungen in den Vernichtungslagern Belżec, Sobibór oder Treblinka.[43]

Mit ihrer auf einem simplifizierten Verständnis von Organisationen basierenden Beschreibung haben sich die Holocaustforscher offensichtlich alle Probleme eingehandelt, die schon die an Max Weber orientierte Organisationsforschung gekennzeichnet hatte: Überbetonung der an Zwecken ausgerichteten Rationalität von Organisationen, die Missachtung der Tatsache, dass Organisationen häufig mit sich widersprechenden Zielen ausgestattet sind, die Unterschätzung der Widersprüche in der Orientierung des Handelns von Personen, die Ignorierung der »von unten« kommenden Initiativkraft oder die Vernachlässigung der Bedeutung der »Unterwachung der Vorgesetzten«, aufgrund deren die Untergebenen die Entscheidungen des Spitzenpersonals maßgeblich vorbereiten.[44]

30Dieses unterkomplexe Bild der am Holocaust beteiligten Organisationen, in denen bis fast zur Spitze der Organisation das gesamte Personal lediglich als Rädchen in der Maschinerie erscheint, machte es leicht, solche auf Organisationen verweisenden Erklärungsansätze zurückzuweisen. Die Personen erschienen, so die berechtigte Kritik, in diesem Konzept nur als »marionettenhafte Protagonisten«, als »Schachfiguren«, als »seelenlose Technokraten«. Es werde, so die Kritik, der Eindruck vermittelt, als habe man es nur mit »gehorsamen und willenlosen Exekutoren einer Weltanschauung«, mit »gefühllosen Befehlsautomaten« oder mit »leidenschaftslosen Schreibtischtätern« zu tun. Die »moralischen Triebkräfte der Täter« würden nivelliert. Und damit werde letztlich auch verneint, »dass sie ihren Taten auch zustimmten«. Es werde, so die Kritik, davon ausgegangen, »dass sie unter dem Druck äußerer Kräfte standen, die sie zwangen, so zu handeln, wie sie es taten«.[45]

31In der Holocaustforschung wurde – ohne dass dies von den meisten Kontrahenten ver- oder auch nur bemerkt wurde – eine Kontroverse über Organisationen nachvollzogen, die in allgemeiner Form schon einmal Jahrzehnte zuvor geführt wurde. Als Psychologen, Betriebswirte und Soziologen am Ende des 19. Jahrhunderts anfingen, sich für das Phänomen der Organisation zu interessieren, dominierte ein Bild, in dem Personen lediglich im Hinblick auf ihre Passung in ein maschinenartig gedachtes Gebilde interessierten. Man müsse – so die damals vorherrschende strukturalistische Annahme ‒ lediglich ein möglichst effizientes Netz von Regeln und Anweisungsketten schaffen und dann für jeden Punkt in diesem Netz die am besten geeigneten Personen identifizieren und sie durch attraktive Entlohnung auf diese Position locken.[46] Als kritische Reaktion auf diese Abwertung von Personal zu einer reinen »Erfüllungsfunktion« in einer mehr oder minder rationalen Organisation entstand die von einem voluntaristischen Menschenbild geprägte Vorstellung, dass der Faktor Personal zentral für ein Verständnis von Organisationen ist. Man ging von der soziologisch naiven Vorstellung aus, dass Organisationen aus Menschen bestehen und dementsprechend ihr Erfolg oder Misserfolg ausschließlich von der Zusammensetzung des Personals abhing.[47] Das Ergebnis war eine wenig fruchtbare Gegenüberstellung zwischen auf der einen Seite jenen Forschern, die aufgrund ihres maschi32nenartigen Verständnisses von Organisationen die Bedeutung des eingesetzten Personals gering schätzten, und auf der anderen Seite von Forschern, die organisatorische Phänomene allein über die Motivation der in diesen Organisationen wirkenden Personen zu erklären suchten. Dabei tendierten die Vertreter der ersten Position dazu – so die Kritik Niklas Luhmanns –, die Bedeutung der Personen in Organisationen zu unterschätzen, während die der zweiten Position die Bedeutung tendenziell überschätzten.[48]

Weder Strukturalismus noch Voluntarismus

Der hier vorgestellte soziologische Ansatz der »ganz normalen Organisationen« hat – und dieser Punkt kann nicht genug betont werden – weder etwas mit dem unterkomplexen Bild von Organisationen als Maschinen zu tun, noch verfällt er in eine rein voluntaristische Erklärung für das Verhalten von Personen in Organisationen. Es ist eine Stärke der systemtheoretischen Soziologie, dass sie eben nicht, wie häufig angenommen wird, einen an Strukturen orientierten Ansatz einem an Personen orientierten Ansatz entgegenstellt. Vielmehr – und das ist der Clou – begreift sie Personen als Strukturmerkmale von sozialen Systemen wie etwa Organisationen, Kleingruppen, Protestbewegungen oder Familien. Selbst soziologischen Laien leuchtet unmittelbar ein, dass Erwartungssicherheit in Kleingruppen, Protestbewegungen, Familien, aber eben auch in Organisationen nicht nur über die Orientierung an Rollen hergestellt wird, sondern gerade auch durch das Wissen über das unterschiedliche Handeln von Personen.[49]

Die systemtheoretisch informierte Organisationssoziologie kann mit dieser Perspektive einen Beitrag zur Überwindung des Gegensatzes zwischen dem »strukturalistischen Ansatz« und dem »volun33taristischen Ansatz« in der Holocaustforschung anbieten.[50] Das Verhalten der Angehörigen der Ordnungs- und Sicherheitspolizei wird dabei nicht – wie noch von Hannah Arendt – einfach nur als Verhalten im Rahmen einer sehr genau spezifizierten formalen Mitgliedschaftsrolle verstanden, sondern es kann vielmehr erklärt werden, weswegen sie die Tötung von Juden initiativ betrieben haben, weswegen sie aktiv an der Verfeinerung zur Deportation und Tötung mitgewirkt haben, weswegen sie Erschießungen häufig auch im Grenzbereich des von der Organisation Geduldeten vorgenommen haben und vielfach auch lustvoll Grausamkeiten ausgeübt haben.[51]

Die ganz normalen deutschen Männer haben, so werde ich zeigen, erst im Rahmen von Organisationsmitgliedschaften die Bereitschaft entwickelt, einem in vielen Fällen vorhandenen latenten Antisemitismus auch eine konkrete Beteiligung an Deportationen, 34Ghettoräumungen und Massenerschießungen folgen zu lassen (Kapitel 1). Das bedeutet aber eben nicht – und hier liegt die entscheidende Abgrenzung zu Erklärungsansätzen in der Tradition von Hannah Arendt –, dass die Organisationsmitglieder wie Rädchen in einer Maschine funktionierten. Im Gegenteil: Nicht alle eingesetzten Polizisten mögen sich mit dem Zweck der Vernichtung der europäischen Juden identifiziert haben, aber auch diejenigen, die die antisemitischen Schulungen bloß über sich ergehen ließen, trugen dazu bei, dass die Tötung von Juden als eine polizeiliche Aufgabe betrachtet wurde, die eben zu bewältigen ist (Kapitel 2). Auch die Polizisten, die erklärten, sich nicht an der Tötung der Juden beteiligen zu können und sich somit den Anforderungen der Zwangsorganisation entzogen, taten dies – durch Verweis auf die eigene Schwäche, auf Krankheit oder auf ihr Gewissen – so, dass das Tötungsprogramm ungestört weiterlaufen konnte (Kapitel 3). Die Erwartung, sich an den Ghettoräumungen, Deportationen und Erschießungen zu beteiligen, musste häufig nicht über die Hierarchie durchgesetzt werden, sondern war Teil der Erwartungen, die die Kameraden gegenseitig an sich stellten (siehe Kapitel 4). Diese kameradschaftlichen Erwartungen wurden dadurch gestärkt, dass sich bei den Aktionen Möglichkeiten boten, sich entgegen den Regeln der Organisationen an den Juden zu bereichern (Kapitel 5). Das hohe Maß an Brutalität, das häufig über das formal Erlaubte und für den Auftrag funktional Notwendige hinausging, erleichterte dabei den Bataillonsangehörigen die Tötung der Opfer (Kapitel 6). Es waren also gerade die Abweichungen, die Uminterpretationen und die Initiativkraft der Organisationsmitglieder, die die Durchsetzung des Holocaust ermöglichten.[52]

35Eine soziologisch informierte Forschung darf aber nicht bei einer reinen Aufzählung möglicher Motive der Polizeibataillonsangehörigen stehen bleiben. Damit allein würde sie keinen erkennbaren Mehrwert gegenüber der existierenden Forschung liefern. Sie muss vielmehr zeigen, über welchen Mechanismus Personen mit unterschiedlichen Motiven dazu gebracht wurden, sich an den Massentötungen zu beteiligen. Die politischen Überzeugungen, die häufig wechselnden Motive und die Verhaltensnuancen der Organisationsmitglieder sind – das wurde von Hannah Arendt übersehen – keineswegs irrelevant. Jedoch wurde der Holocaust – und hier irrte Daniel Goldhagen – keineswegs nur oder auch nur überwiegend von Personen durchgeführt, deren Überzeugungen mit einem Zweck der Organisation, in diesem Fall: der Vernichtung der europäischen Juden, übereinstimmten. Vielmehr unterschieden sich die Beteiligten deutlich in ihren Motiven, in ihrer Bereitschaft zu und ihrer Reaktion auf Tötungsaktionen. Dass sie trotzdem letztlich einheitlich und effektiv handelten, muss – und das hat Christopher Browning übersehen – von einem zentralen Punkt aus begriffen werden: der Generalisierung von Mitgliedschaftsmotiven in Organisationen (Kapitel 7).

Gewaltanwendung kann in staatlichen Gewaltorganisationen nur dann formal erwartet werden, wenn sie sich im rechtlichen Rahmen bewegt. Für die im Zweiten Weltkrieg eingesetzten Organisationen stellten die Anweisungen, sich an Massenerschießungen von Frauen, Männern und Kindern zu beteiligen, bei den Ghettoräumungen Kranke, Alte und Kleinkinder zu töten und bei den »Judenjagden« aufgegriffene Personen sofort zu töten, Anordnungen dar, bei denen Polizisten nicht sicher sein konnten, ob sie in die damals gültige Legalitätsordnung fielen. Bei den Ghettoräumungen, Deportationen und Erschießungen gestalteten sie ihre Handlungen so, dass sie in einen typischen polizeilichen Erwartungshorizont hineinpassten. Das Verständnis dessen, was als rechtmäßig galt, wurde so durch die Aktionen immer wieder bestätigt (Kapitel 8).

Deutlich hervorgehoben werden muss, dass der Holocaust sich nicht allein über das Verhalten in Organisationen erklären lässt. Aber ohne ein grundlegendes Verständnis von Organisation bleibt jede Erklärung, warum sich »ganz normale Männer«, »ganz normale Deutsche« daran beteiligt haben, unvollständig. Es ist die 36erschreckende Erkenntnis der Holocaustforschung, dass es nicht nötig war, spezielle Programme für die Tötungsaktionen zu entwickeln, spezielle Kommunikationswege zu schaffen oder spezielles Personal für die Tötungen zu rekrutieren, um Organisationsmitglieder zur Teilnahme an einem Genozid zu bewegen. Nicht nur die Mitglieder der staatlichen Gewaltorganisationen waren ganz normale Menschen, sondern auch die Organisationen, über die die Massentötungen geplant und durchgeführt wurden, wiesen die Merkmale ganz normaler Organisationen auf (Kapitel 9).

Die Zumutungen einer Soziologie des Holocaust

Für Soziologen ist dieses Buch insofern eine Zumutung, als schon der Zugang zum Thema ungewöhnlich ist. Die Frage, wie »ganz normale Männer«, »ganz normale Deutsche« dazu kamen, Zehntausende von Juden zu töten, scheint sich bei der Beschäftigung mit dem Holocaust aufzudrängen. Für die an sozialen Strukturen interessierte Soziologie in der Tradition von Émile Durkheim ist ein solcher Zugang über die Motivation von Personen aber eher ungewöhnlich.[53] Wenn sich Soziologen überhaupt in die Diskussion über den Holocaust einmischten, dann siedelten sie – wie beispielsweise Theodor W. Adorno oder Norbert Elias – ihre Erklärungsansätze auf der Ebene einer abstrakten Gesellschaftstheorie an oder sie untersuchten am Beispiel des Holocaust die verschiedenen Reaktionsmuster von Nationalstaaten auf den Nationalsozialismus oder verglichen den Holocaust mit anderen Genoziden.[54]37Den Blick stärker auf die Herstellung von Tötungsbereitschaft und damit auf die alltägliche Umsetzung der Tötungsprogramme zu lenken, mag da eher überraschend wirken.[55]

Verschärft wird die Zumutung noch dadurch, dass in dem Buch nicht das für an Theorie interessierte Soziologen übliche Abstraktionsniveau gewählt wird. »Keine Namen von Orten und Personen« – so lautet die bekannte Forderung Niklas Luhmanns, um den Generalisierungsanspruch von soziologischen Analysen zu markieren. Die Soziologen interessiert im Prinzip nicht der einzelne Krieg und erst recht nicht die einzelne Schlacht, sondern nur die Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte.[56] Nicht der einzelne Genozid ist für die Soziologen interessant, sondern die generalisierende Theorie der Massentötung von Zivilisten aufgrund von zugeschriebenen ethnischen oder religiösen Merkmalen. In diesem Buch werden entgegen diesem soziologischen Grundprinzip Namen genannt – von Orten, an denen Massaker stattgefunden haben, von involvierten Organisationseinheiten des NS-Staates und 38von Personen, die im Rahmen dieser Organisationseinheiten an den Massakern beteiligt waren.[57]

Auch wenn ich mit diesem Buch nicht den Anspruch erhebe, die Geschichte des Hamburger Polizeibataillons umfassend darzustellen, so wird doch jedes Kapitel mit teilweise auf neuen Quellen basierenden Schilderungen über diese Organisationseinheit eingeleitet, die Thesen der einzelnen Kapitel mit Verweisen auf sie illustriert, die da, wo es sinnvoll ist, mit solchen auf andere Organisationseinheiten des NS-Staates kontrastiert oder ergänzt werden. Die Veranschaulichung meiner Überlegungen anhand dieses gut erforschten Beispiels soll es den Leserinnen und Lesern dabei nicht nur ermöglichen, die Plausibilität meiner Überlegungen an einem konkreten Fall nachzuvollziehen und zu überprüfen, sondern auch meine Thesen zu Ansätzen aus anderen Disziplinen in Beziehung zu setzen. Damit wird der Anspruch an eine soziologische Generalisierung nicht aufgegeben – im Gegenteil: Der Anspruch dieses Buches besteht darin, über diesen Fall allgemeine Einsichten über die organisatorische Einbindung von »ganz normalen Männern« und »ganz normalen Frauen« zu eröffnen.

Für Nichtsoziologen sind die Zumutungen dieses Buches aber vermutlich noch weitaus größer. Als wissenschaftliche Disziplin nähert sich die Soziologie dem Holocaust nicht aus einer moralischen Perspektive. Es erscheint uns heute selbstverständlich, dass etwa die Exekutionen Tausender jüdischer Polen einen Massenmord darstellen, die »Töter« deswegen automatisch auch »Täter« sowohl im moralischen als auch strafrechtlichen Sinne waren und folglich als Massenmörder konsequent zu verfolgen waren und sind.[58] Diese aus heutiger Perspektive so selbstverständlichen Zu39schreibungen von Gewaltanwendungen erschweren es jedoch, die damals herrschenden Legitimitäts- und, präziser noch, Legalitätsordnungen der beteiligten Organisationen zu rekonstruieren. Bei einer soziologischen Analyse ist es nötig, sich so weit wie möglich einer neutralisierenden Wortwahl zu befleißigen. Das bedeutet zum Beispiel: Nur wenn man im ersten Zugriff von Massentötungen und nicht von Massenmorden spricht, kann man darstellen, wie die Massentötungen je nach Perspektive und Zeitpunkt ganz selbstverständlich als Massenmord oder eben nicht als Massenmord erschienen.[59]

Verschärft wird die Zumutung noch dadurch, dass Soziologen typischerweise die Rationalitäten, die Ereignissen zugrunde liegen, rekonstruieren.[60] Nun gibt es in Teilen der Holocaustforschung die Haltung, dass die Deportationen, Massenerschießungen und Tötungen in den Vernichtungslagern nicht zu erklären seien.[61] Damit wird sicherlich ein auch aus soziologischer Perspektive relevanter Aspekt getroffen, nämlich, dass viele Gewaltanwendungen aufgrund der ihnen innewohnenden Konfliktdynamik aus der Perspektive von Rationalitäten oder auch nur Motiven nur unzu40reichend zu verstehen sind.[62] Aber auch wenn man verstärkt die Eigendynamik von Gewaltprozessen ins Auge fasst, ist nicht zu übersehen, dass die Beteiligten an solchen Prozessen sich selbst und anderen permanent Rationalitäten zuschreiben.[63] Soziologisch betrachtet – und das macht die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin für viele Nichtsoziologen so suspekt – gibt es jedoch deswegen keinen systematischen Grund, weswegen der Holocaust nicht genauso rekonstruiert werden kann wie die Entwicklung der Atomkraft, die Ausbildung neuartiger Regime der Fabrikarbeit oder die Genese universaler Menschenrechte.

Weiter verschärft wird diese Zumutung dadurch, dass bei der Frage, wie »ganz normale Männer«, »ganz normale Deutsche« dazu gebracht wurden, sich am Holocaust zu beteiligen, nicht die Opfer im Fokus der Betrachtung stehen. Das steht in Kontrast zu einer lauter werdenden Forderung, den Holocaust nicht aus der Perspektive auf die (oder gar aus der Perspektive der) Täter, sondern aus der auf die (oder besser noch der) jüdischen Opfer zu erklären oder wenigsten zu erzählen.[64] Dies mag mit der auch vereinzelt in der 41Gewaltsoziologie zu hörenden Forderung kompatibel sein, durch »dichte Beschreibungen« die »Qual der Opfer« sichtbar zu machen.[65] Für eine soziologische Herangehensweise ist die mit moralischen Argumenten geführte Debatte, ob eine »Täterperspektive« durch eine »Opferperspektive« ersetzt werden müsse oder ob man statt einer »Tattheorie« eher eine »Leidenstheorie« brauche, jedoch irrelevant.

Ob und in welchem Ausmaß Formen von Gewaltanwendung mit Blick auf die Täter oder auf die Opfer analysiert werden müssen, hängt von dem zu analysierenden Gegenstand ab. Für eine soziologische Analyse von Ghettos, Konzentrationslagern oder auch Vernichtungslagern muss die Perspektive der Opfer einbezogen werden, weil eine solche Analyse – das legen schon die soziologischen Studien von Gefängnissen und Psychiatrien nahe – nur mit dem Blick auf das Zusammenspiel von Angehörigen der staatlichen Gewaltorganisationen und den Bewohnern der Ghettos beziehungsweise den Häftlingen in den KZs oder Vernichtungslagern gewonnen werden kann.[66] Dagegen spielt die Perspektive auf die oder gar der Opfer eine untergeordnete Rolle, wenn wir das Verhalten der Männer des Polizeibataillons 101 verstehen wollen. Dies nicht deswegen, weil man vor dem Leid der Opfer die Augen verschließen will – wer könnte das schon tun –, sondern weil in diesem Fall die Opferperspektive nur wenig dazu beiträgt, das, was geschehen ist, zu erklären.[67] Sicherlich ist es wichtig, sich gerade die 42Gewaltanwendungen bei den Deportationen und Erschießungen als gegenseitig beobachtete Prozesse des »Erleidens« und »Zufügens von Leid« genau zu rekonstruieren. Aber diese Prozesse waren in der Regel so kurz, dass die Bataillonsangehörigen das »Leiden« ihrer konkreten Opfer nur begrenzt mit in ihr Kalkül einbeziehen mussten.

Zur Terminologie einer Soziologie des Holocaust

Zu einer soziologischen Herangehensweise gehört es, möglichst eine eigene Begrifflichkeit zu wählen und mit den während und nach der NS-Zeit genutzten Begriffen vorsichtig umzugehen. Der Sprachgebrauch der Nationalsozialisten war vielfach durch Euphemismen gekennzeichnet.[68] Mit dem Begriff der »Volksgemeinschaft« wollte die NS-Propaganda suggerieren, dass ihre Rassenpolitik vom überwiegenden Teil der Bevölkerung befürwortet wurde. Der Plan, die weit über zehn Millionen Juden Europas zu töten, wurde als »Endlösung« der »Judenfrage« verharmlost. Die 43Transporte in die Vernichtungslager wurden als »Evakuierungen«, »Säuberung« oder »Umsiedlungen«, direkte Erschießungen vor Ort, weil beispielsweise ein Bahntransport in die Vernichtungslager nicht möglich war, als »örtliche Aussiedlung«, »Befriedungsaktionen« oder »Exekutivmaßnahmen« bezeichnet. »Aktionen« nannte man zeitlich befristete Vorhaben, etwa die Tötung geistig Behinderter und psychisch Kranker (»Aktion T4«) oder die Tötung aller Juden im Generalgouvernement (»Aktion Reinhard«).[69] Bei einer wissenschaftlichen Analyse lässt sich die Verwendung solcher von den Nationalsozialisten kultivierten Begrifflichkeiten nicht gänzlich vermeiden. Entsprechende Verwendungsweisen werden jedoch in diesem Buch konsequent in Anführungszeichen gesetzt, um zu markieren, dass es sich um NS-Jargon handelt.

Zweitens muss man sich darüber im Klaren sein, dass es sich bei der Bezeichnung von Personen als Juden oder Nichtjuden nicht immer um Selbstbeschreibungen, sondern in einer Reihe von Fällen um Fremdbeschreibungen durch die Nationalsozialisten handelte. Es waren die Nürnberger Rassengesetze, über die die Nationalsozialisten bestimmten, dass »drei Großelternteile jüdischer Abstammung« eine Person zu einem »Volljuden« machten, auch wenn die Person selbst gar nicht mehr dem jüdischen Glauben anhing. Bei einer Zugehörigkeit zu einer jüdischen Religionsgemeinschaft reichten hingegen bereits zwei Großeltern aus, um 44zum »Volljuden« oder zur »Volljüdin« erklärt zu werden. Die Nationalsozialisten entwickelten eine eigene Art von Arithmetik, in der Personen nicht nur als »Volljuden«, sondern auch als »Halbjuden«, »Dreivierteljuden«, »Fünfachteljuden« oder auch als »Zweiunddreißigsteljuden« bezeichnet wurden.[70] Weil sich die Vernichtungspolitik des NS-Staates an der selbst generierten Bestimmung von Juden orientiert hat, wird in diesem Buch deren Benennung übernommen. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass von den Nationalsozialisten nicht wenige Personen als Juden ghettoisiert, deportiert und getötet wurden, die sich selbst nicht als Juden beschrieben hätten.[71]

Drittens existierte eine teilweise auch in der Forschungsliteratur übernommene Gegenüberstellung einer als Nation bestimmten Gruppe von »Deutschen«, »Ukrainern« oder »Polen« einerseits und einer religiös – häufig auch ethnisch – definierten Gruppe von Juden andererseits. Der Gegensatz zwischen dem »Deutschen«, dem »Polnischen« oder »dem Ukrainischen« zu »dem Jüdischen« war Bestandteil einer antisemitischen Grundhaltung, die sich schon im 19. Jahrhundert etabliert hatte, dann aber von den Nationalsozialisten zur Staatsideologie erklärt wurde. Für Angehörige des jüdischen Glaubens, die im Ersten Weltkrieg auf der Seite des Deutschen Reichs gekämpft hatten, war es geradezu eine Ohrfeige, als von den Nationalsozialisten eine Differenz zwischen einer nationalen und einer religiösen Identität konstruiert wurde. Diese Differenz gewann aber durch die permanente Wiederholung ein so hohes Maß an Plausibilität, dass sie auch nach 1945 noch den Sprachgebrauch 45prägte.[72] »Juden« waren aber – genauso wie die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften – seit der Bildung der Nationalstaaten immer auch »Polen«, »Rumänen«, »Litauer«, »Esten«, Letten« oder »Deutsche«. Auch wenn es immer wieder Selbst- und Fremdbeschreibungen gegeben hat, mit denen versucht wurde, diesen Konnex zu lösen, so wurden die Juden jedoch erst durch die Politik der Nationalsozialisten systematisch nationaler Zuschreibungen beraubt. Um den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten zu kontrastieren müsste eigentlich immer von jüdischen Polen oder jüdischen Deutschen und nichtjüdischen Polen und nichtjüdischen Deutschen die Rede sein. Diese analytisch präzisere Verwendung mag bei der Beschreibung von den »nichtjüdischen Deutschen«, die für die Ghettoisierungen, Deportationen und Tötungen der Juden verantwortlich waren, noch funktionieren, sie gestaltet sich aber schon bei der Spezifikation von »jüdischen Deutschen«, »jüdischen Ungarn« oder »jüdischen Polen« schwierig. Zwar waren die Opfer des Polizeibataillons 101 vorrangig jüdische Polen, aber wegen der von den Nationalsozialisten nach Beginn des Zweiten 46Weltkrieges initiierten Bevölkerungsverschiebungen fanden sich in den Ghettos des Generalgouvernements Juden aus den verschiedensten Teilen Europas. In diesem Buch werde ich deshalb auch trotz der Ungenauigkeit aus sprachlichen Vereinfachungsgründen gelegentlich von den »Juden« in Abgrenzung zu den »Polen« oder den »Deutschen« sprechen, an möglichst vielen Stellen aber die genauere Unterscheidung zwischen »nichtjüdischen Deutschen« und »jüdischen Deutschen« oder »nichtjüdischen Polen« und »jüdischen Polen« verwenden.[73]

471. Jenseits der »ganz normalen Männer« und »ganz normalen Deutschen«

Ich bezweifle, ob in tausend Jahren die Menschen Hitler, Auschwitz, Majdanek und Treblinka besser verstehen werden als wir heute. Werden sie eine bessere historische Perspektive haben? Im Gegenteil. Die Nachwelt wird es vielleicht sogar noch weniger als wir verstehen. Wer kann die Motive und Interessen hinter den Ungeheuerlichkeiten von Auschwitz analysieren? […] Wir sind mit einem gewaltigen und unheilvollen Geheimnis über den menschlichen Charakter konfrontiert, der die Menschheit für immer ratlos lassen und in Angst versetzen wird.

Isaac Deutscher[1]

Das Dorf Józefów im Süden des polnischen Distrikts Lublin ist in den letzten Jahren zu einem der Symbole für den Holocaust geworden. Anders als bei den Vernichtungslagern Belżec, Sobibór, Treblinka oder Auschwitz-Birkenau liegt die Bedeutung von Józefów nicht so sehr in der Dimension der Vernichtung und in der Perfidie eines arbeitsteilig geplanten und durchgeführten Genozids. Józefów ist vielmehr zum Symbol dafür geworden, wie problemlos »ganz normale Männer« – in diesem Fall die älteren Reservepolizisten, die aus Hamburg in das von den Deutschen besetzte Generalgouvernement verlegt wurden – dafür eingesetzt werden konnten, jüdische Männer, Frauen und Kinder aus kurzer Distanz zu erschießen.

Die Opfer des Massakers in Józefów waren zum einen die Juden, die seit längerer Zeit in dem Dorf ansässig waren und denen es nicht gelang, nach der Besetzung Polens durch die deutschen Truppen 1939 über die Grenze in die Sowjetunion zu fliehen, und zum anderen jene Juden, die im März 1941 im Rahmen der Umsiedlungspläne des NS-Staates aus dem sogenannten Warthegau nach Józefów deportiert worden waren. Das NS-Regime hatte sich ent48schieden, einen großen Teil des besetzten Polens – darunter auch den im Warthegau zusammengefassten Norden – in das Deutsche Reich einzugliedern und die dort lebenden jüdischen und nichtjüdischen Polen in das unter deutscher Verwaltung stehende Generalgouvernement abzuschieben. Mit den aus Konin im Warthegau deportierten Juden lebten bis zu dem Massaker durch die Angehörigen des Hamburger Polizeibataillons ungefähr 2000 Juden in Józefów. Damit stellten die jüdischen Polen – auch nach der Flucht einiger von ihnen über die polnisch-sowjetrussische Grenze 1939 – gut die Hälfte der Dorfbevölkerung.[2]

Mit Heinrich Himmlers Auftrag an den SS- und Polizeiführer des Distrikt Lublin, Odilo Globocnik, Maßnahmen zu ergreifen, um die Juden im besetzten Polen zu töten, gerieten auch die jüdischen Polen in Józefów ins Visier der deutschen Besatzer. Schon ab Mai 1942 gab es in Józefów immer wieder Verhaftungen und Erschießungen, an denen die lokalen im Distrikt stationierten deutschen Schutzpolizisten, Gestapo-Beamten und Bahnpolizisten beteiligt waren.[3] Im Juli 1942 gab Globocnik über seinen Stab die Anweisung an das Polizeibataillon 101, die Juden aus Józefów vor Ort zu erschießen oder – soweit sie für Arbeiten der NS-Administration zu gebrauchen seien – in Arbeitslagern zu konzentrieren.

Obwohl die Einsatzbefehle sowie die offiziellen Berichte über das Massaker bei Kriegsende vernichtet wurden, herrscht über den Ablauf des Massakers aufgrund der Ermittlungsarbeit der Hamburger Staatsanwaltschaft in den 1960er Jahren weitgehend Klarheit.[4]49Am Abend des 12. Juli 1942 rief der Führer des Bataillons, Major Wilhelm Trapp, seine Offiziere zusammen und erklärte ihnen, dass das Bataillon die Aufgabe habe, Józefów »von Juden zu säubern«. Bei »der Aktion« sollten die »arbeitsfähigen männlichen und weiblichen Juden aussortiert und in ein Arbeitslager gebracht werden« und der »Rest der Juden« – also Kranke, Alte und Kinder – »an Ort und Stelle erschossen werden«. Die Truppen wurden kurz nach Mitternacht geweckt, das Bataillon rückte mit allen verfügbaren Kräften ‒ 500 Mann ‒ nach Józefów aus und traf dort zwischen 4.00 Uhr und 5.00 Uhr morgens auf Mannschaftswagen ein.

An dem Treffpunkt vor dem Dorf rief der Bataillonskommandeur die Mannschaften zusammen und erklärte ihnen die Einsatzaufgabe: Das Dorf sei zu umstellen, die Juden mit Waffengewalt aus ihren Häusern zu holen und auf einen Sammelplatz am Markt zu bringen. Nachdem insbesondere die arbeitsfähigen Männer ausgesondert worden seien, sollten alle anderen in einem nahe gelegenen Wald erschossen werden. Wenn die Durchsuchungstrupps bei der Räumung der Häuser auf transportunfähige Personen wie Greise, Kranke, Kleinstkinder und Säuglinge oder Personen, die sich der Aussiedlung widersetzten, träfen, seien diese an Ort und Stelle zu töten.

Entsprechend dieser Anweisung wurden die greifbaren jüdischen Bewohner Józefóws auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Aus dieser Gruppe wurden ungefähr hundert vorrangig männliche Handwerker aussortiert und in Begleitung eines Zuges des Bataillons nach Lublin geschickt. Von den auf dem Marktplatz verbliebenen Juden wurden jeweils immer dreißig bis vierzig auf einem Mannschaftswagen des Bataillons in den Wald gefahren. Dann führte ein Polizist jeden Einzelnen dieser Juden in das Dickicht des Waldes, zwang ihn, sich mit dem Gesicht auf die Erde zu legen, und richtete ihn mit einem Genickschuss hin. Unterführer 50und Sanitäter gingen, so die Schilderung in einem Vermerk der Staatsanwaltschaft, an »den Reihen der Opfer entlang« und gaben den noch lebenden Juden »sogenannte Gnadenschüsse«. Auf diese Weise zog sich die Exekution der 1300 bis 1500 Juden über mehr als zwölf Stunden bis in den späten Nachmittag hin.[5]

Dieser ersten Massenerschießung in Józefów, an der fast das ganze Bataillon beteiligt war, folgte eine Vielzahl weiterer Erschießungen, zum Beispiel in Łomazy, Serokomla, Talczyn oder Łuków. Sie wurden in der Regel nicht durch das ganze Bataillon, sondern durch einzelne Kompanien oder Züge des Bataillons durchgeführt.[6] Weil die Durchführung solcher Massenexekutionen vom NS-Regime als belastend für die Polizisten eingeschätzt wurde, ordnete der Kommandostab des SS- und Polizeiführers in Lublin an, dass die jüdischen Bewohner des Distrikts möglichst in die Vernichtungslager Treblinka, Sobibór oder Belżec zu deportieren und dort zu vergasen seien.[7]

Diese durch die Polizeibataillone mithilfe lokaler Polizeieinheiten durchgeführten Deportationen liefen – so die Rekonstruktion 51der Staatsanwaltschaft in Hamburg – fast immer nach demselben Schema ab. »Zunächst wurde die jüdische Siedlung durch Angehörige der Schutzpolizei, der Gendarmerie oder fremdvölkischer Hilfswilligen-Einheiten umstellt. Sodann wurde den Juden befohlen, die Häuser zu verlassen und sich zu bestimmten Sammelplätzen zu begeben. Nunmehr wurden die Häuser durch Kommandos der Sicherheitspolizei oder der Schutzpolizei nach zurückgebliebenen Personen durchsucht. Die aufgefundenen Personen, insbesondere gehunfähige Menschen, nämlich Greise, Kleinstkinder und Kranke, wurden an Ort und Stelle erschossen.« Nachdem noch arbeitsfähige Menschen herausgesucht worden waren, wurden alle anderen Personen zu einer Bahnstation getrieben. Wer bei den häufig kilometerlangen Märschen zu den Bahnstationen vor Erschöpfung zusammenbrach, wurde von den Angehörigen des Polizeibataillons erschossen und dann am Straßenrand liegen gelassen. Die deutsche Ordnungspolizei pferchte die Juden häufig so in die Güterwagen, »dass die Türen kaum noch geschlossen werden konnten, und transportierte sie in oft tagelangen Fahrten ohne Wasser und Verpflegung zur Vergasung in eines der Vernichtungslager«. »Wegen der Überfüllung der Transporte kam« – so die Rekonstruktion durch die Staatsanwaltschaft – bereits während der Fahrt in die Vernichtungslager ein großer Teil der Insassen ums Leben.[8]

Über zwei Jahre war das Polizeibataillon 101 immer wieder an Ghettoräumungen, Deportationen und Massenerschießungen beteiligt. Bei einigen Tötungsaktionen war diese Einheit unmittelbar für die Erschießungen zuständig. Bei anderen Einsätzen, etwa bei der »Aktion Erntefest« in den Lagern Majdanek und Poniatowa, bei 52denen im November 1943 über 30000 Juden getötet wurden, war das Polizeibataillon – jedenfalls nach Aussagen von Bataillonsangehörigen – vorrangig mit der Absperrung des Geländes befasst.[9] Manchmal ging es dabei um die Erschießung von Hunderten, häufig Tausenden von Juden, häufig aber – wie bei den von den Polizisten selbst so genannten »Judenjagden« – nur um die Tötung von kleineren, zufällig aufgegriffenen oder durch die polnische Zivilbevölkerung gemeldeten Gruppen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern.[10]

Für den Zeitraum von Juni 1942 bis November 1943, in dem das Reserve-Polizeibataillon im Distrikt Lublin des Generalgouvernements eingesetzt worden war, konnte die Hamburger Staatsanwaltschaft nach dem Zweiten Weltkrieg den Bataillonsangehörigen die direkte Beteiligung an der Tötung von 38000 Juden und die Deportation von 45000 Juden in die Vernichtungslager nachweisen.[11] Im Januar 1942, das heißt vor der Ankunft des Hamburger 53Polizeibataillons 101 im Distrikt, lebten in Lublin schätzungsweise 320000 Juden. Im Januar 1946, vier Jahre später, wurden in der Woiwodschaft Lublin, die aus dem Distrikt Lublin hervorgegangen war, nicht einmal mehr 5000 Juden gezählt.[12] Das Bataillon war maßgeblich an dieser fast vollständigen Auslöschung der polnischen Juden im Distrikt Lublin verantwortlich.

Was hat Polizisten, SS-Männer, Wehrmachtssoldaten oder Angestellte der Zivilverwaltung dazu getrieben, sich an Ghettoliquidierungen, Deportationen in Vernichtungslager und Massenerschießungen zu beteiligen, durch die innerhalb von nur wenigen Jahren sechs Millionen europäische Juden getötet werden 54konnten?[13] Weswegen haben sich auf den ersten und häufig auch auf den zweiten Blick ganz normal erscheinende Menschen an den Gräueltaten beteiligt?[14]

1.1. Das Versagen der einfachen Antworten

Die Frage, was Polizisten, SS-Männer, Wehrmachtssoldaten, aber auch Angehörige der deutschen Zivilverwaltung, Feuerwehrleute oder Leiter örtlicher Sparkassen dazu veranlasst hat, sich an den Ghettoliquidierungen und Massenerschießungen zu beteiligen, beschäftigt die Holocaustforschung seit Jahrzehnten.[15] Das Ham55burger Reserve-Polizeibataillon 101 ist deswegen für die Forschung von besonderem Interesse, weil bei der Erklärung des Verhaltens der Bataillonsangehörigen die üblichen Erklärungsansätze an ihre Grenzen zu stoßen scheinen.

Arbeitsteilung

»Menschen-Vernichtungs-Anlage« – dieser Begriff des ehemaligen Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, hat lange Zeit das Verständnis des Holocaust geprägt. Mit dem Ausdruck »Menschen-Vernichtungs-Anlage« wird genauso wie mit »Todesfabrik« suggeriert, dass bei der Durchführung des Holocaust ein Prinzip moderner Organisationen zum Tragen gekommen sei: die Arbeitsteilung. Damit wird impliziert, dass die Beteiligten am »Fließband der Vernichtung« häufig gar nicht wussten, an welchem Vorhaben sie genau beteiligt waren. Für den Bahnbeamten, der den reibungslosen Transport von Juden nach Belżec, Sobibór oder Treblinka organisierte, für den Polizeibeamten, der an den Räumungen der Ghettos in Warschau, Łódź oder Lublin mitwirkte, war es, wenn man diese Vorgänge unter dem Aspekt der Arbeitsteilung betrachtet, häufig nicht möglich, den eigentlichen Zweck – die Vernichtung aller europäischen Juden – zu erkennen. Zwar hätte es – so die Suggestion ‒ einige Konstrukteure und Betreiber der »Vernichtungsmaschinerie« gegeben. Aber der Großteil der Beteiligten seien lediglich »kleine Rädchen« in dieser Maschinerie gewesen.

56Die Darstellungen über die Einsätze des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 sowohl von überlebenden Juden, von Repräsentanten der polnischen Regierungen als auch von den Polizisten selbst, führen solche Schilderungen von der »Maschinenartigkeit der Vernichtung« ad absurdum.[16] Berichtet wird von Genickschüssen, die aus kürzester Distanz abgegeben wurden, von Gehirnmasse der Exekutierten, die den Schützen ins Gesicht spritzte, von Kindern, die in den Armen ihrer Mütter erschossen wurden, und von schwerverletzten Opfern, die lebendig begraben wurden. Dies hatte mit einer fabrikmäßig organisierten Tötung nichts zu tun, sondern wirkte, so Bernd-A. Rusinek, eher »schinderhaft-handwerklich«. Ein ganz erheblicher Teil der Tötungen wurde von Ordnungskräften in sehr »traditionellen«, fast »archaischen Formen« vorgenommen.[17]

Die Einsätze des Reserve-Polizeibataillons zeigen, wie eng die Konzentration der Juden in Ghettos, die Deportationen in die Vernichtungslager und die Massenerschießungen vor, während und nach den Deportationen miteinander verzahnt waren. Die Ghettoisierung war eine wichtige Voraussetzung für einen effizienten Transport der Juden in die Vernichtungslager. Dort, wo ein Transport in die Vernichtungslager nicht möglich war, weil Bahnhöfe zu weit entfernt waren, Bahnstrecken unterbrochen waren oder nicht ausreichend Waggons verfügbar waren, wurden die jüdischen Frauen, Männer und Kinder in Massenerschießungen exekutiert und anschließend in vorher ausgehobenen Gruben verscharrt.

57Sicherlich – auch die Auflösung der Ghettos, die Deportationen und die Massenerschießungen von Juden wurden arbeitsteilig organisiert. Eine Reihe von Polizisten räumte die Häuser, andere begleiteten die Juden zu den Erschießungen, wiederum andere sorgten für die Absperrung und passten auf, dass niemand floh. Einige Gruppen des Bataillons waren dafür zuständig, den Opfern die Kleider und Wertsachen abzunehmen, andere führten die Erschießungen durch und wiederum andere überwachten das Zuschütten der Gräben.[18]

Solche rudimentären Formen der Arbeitsteilung mögen es den Polizisten erlaubt haben, ihren eigenen Beitrag zu minimieren: Sie konnten sich einreden, dass sie ja lediglich an der Absperrung beteiligt waren oder nur die Lkws gefahren haben und deswegen für die Tötungen nicht verantwortlich wären. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder Angehörige des Polizeibataillons an nahezu intimen Tötungsakten beteiligt war. Der Polizist und sein Opfer standen sich Auge in Auge gegenüber, konnten sich auf dem Weg zu den Gruben miteinander unterhalten, und der Polizist konnte die Angst und Verzweiflung seiner Opfer direkt spüren.

Fanatismus

Eine Standarderklärung für den Holocaust lautet, dass zu einer Vernichtung von Millionen von Menschen nur Überzeugungstäter – nationalsozialistische »Weltanschauungskrieger« ‒ fähig gewesen seien. Nur Personen, die sich voll und ganz mit der nationalsozialistischen Weltanschauung identifizieren konnten, seien in der Lage gewesen, über Stunden, manchmal Tage, die jüdische Bevölkerung in den besetzten Dörfern oder Städten zusammenzutreiben und zu töten. Kurz: Täter des Holocaust können nur diejenigen gewesen sein, die sich mit den von den Nationalsozialisten propagierten Zwecken der Verdrängung, Ghettoisierung und in letzter Konsequenz Vernichtung der Juden identifizieren konnten.[19]

58Diese später auch teilweise in der Holocaustforschung vertretene Sichtweise wurde schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, indem während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse lediglich die Gestapo und die SS, nicht jedoch die Ordnungspolizei, die Kriminalpolizei oder die Wehrmacht als verbrecherische Organisationen eingestuft wurden. Das in der Gestapo und der SS organisierte Personal geriet so, so Edward Crankshaw, zu einer »Art Universal-Sündenbock«, der sich wie ein »künstlicher Nebelschleier« über jede Form konkurrierender Erklärung legte.[20]

Sicherlich – der NS-Führung schwebte vor, die »Polizei mit der SS« zu verschmelzen. Dem NS-Staat ging es, so Werner Best, oberster Theoretiker der Nationalsozialisten zu Fragen der Organisation der Polizei, bei der Ausrichtung der Polizei um eine »›ordensmäßige‹ Durchdringung einer Einrichtung der Volksordnung durch die Träger der nationalsozialistischen Bewegung«. Dieses Ziel sollte dadurch erreicht werden, dass »diejenigen Angehörigen der Polizei, die den Aufnahmebedingungen der SS« entsprachen, »in die SS aufgenommen« werden und dort den »SS-Dienstgrad« erhalten sollten, »der ihrer Stellung in der Polizei« entsprach.[21]

Aber gerade bei den Reserve-Polizisten wurde dieses Ziel während des Zweiten Weltkrieges nur bedingt erreicht. Zwar waren einige Angehörige des Polizeibataillons auch schon vor 1933 in nationalsozialistischen Organisationen aktiv. Der Führer der dritten Kompanie Wolfgang Hoffmann hatte 1930 mit mehreren Mitschülern in seinem Heimatort den »nationalsozialistischen Schülerbund« gegründet, war 1933 in die SS eingetreten und wurde 1937 dann auch Mitglied der NSDAP. Der Zugwachtmeister Rudolf Grüll aus der ersten Kompanie war schon 1930 in Österreich in die Hitler-Jugend eingetreten und wurde zwei Jahre später Mitglied der SS.[22]

59Bei den Angehörigen des Polizeibataillons 101 handelte es sich – im Gegensatz beispielsweise zu großen Teilen der SS-Einsatzgruppen in Polen und in der Sowjetunion ‒ aber eben nicht um eine Auswahl besonders motivierter Nationalsozialisten, sondern die meisten von ihnen waren vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nicht Mitglied einer NS-Organisation gewesen.[23] Während des Krieges waren von den Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 zwar 32,5 Prozent NSDAP-Mitglieder ‒ ein im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung leicht überdurchschnittlicher Anteil an Parteimitgliedern ‒, aber insgesamt waren die Bataillone der Reservepolizisten im Vergleich zu anderen Einheiten der Ordnungs- oder Sicherheitspolizei mit vergleichs60weise wenigen Nationalsozialisten durchdrungen.[24] Auch wenn es übertrieben sein mag, die Hamburger Polizisten im Hinblick auf die zu erfüllende Aufgabe »als Negativauswahl« (Browning) zu bezeichnen, so entsprachen »diese Männer mittleren Alters, die zum Großteil aus der Hamburger Arbeiterschicht stammten«, sicherlich nicht den Idealvorstellungen der NS-Führung.[25]

Sadismus

Als Haupttäter bei der Judenvernichtung werden häufig blutrünstige »Exzesstäter« in Himmlers »schwarzem Reich« identifiziert.[26] Gerade die ersten Berichte von Überlebenden aus den Konzentrationslagern zeichneten ein Bild von sadistischen SS-Männern, die beim Quälen ihrer Opfer ein hohes Maß an Befriedigung zu empfinden schienen. Die SS-Leute wurden – so beispielsweise von Eugen Kogon – als kulturlose »Barbaren«, als »Primitive« charakterisiert, die durch »Ehrgeiz«, »Kastenstolz«, »Drillsadismus« und »Kasernenhofmasochismus« geprägt waren.[27] Dass sie nach Her61zenslust quälen, foltern und demütigen durften, sei, so die Annahme, ein maßgeblicher Antrieb für die Täter gewesen.

Die Zerstörung des anderen sei, so Wolfgang Sofsky, der »Triumpf des Täters«. »Je mehr Schmerz und Verlassenheit das Opfer einschnüre«, desto größer werde »die Welt des Peinigers«. »Indem er den anderen ins Verderben« treibe, entfalte er selbst »seine gesamte destruktive Energie«. »Indem er ihn zuschanden macht, verwirklicht er sich selbst.« Der Täter »wachse über sich hinaus«. »Selbst dem abgestumpftesten Folterknecht, der seine Arbeit mit gelangweilter Brutalität zu verrichten« pflege, fehle es, so Sofsky, »nicht an dieser Lust der Selbstexpansion«. »Während der Schmerz das Opfer in Stücke« reiße, agiere der »Täter ganz aus sich heraus«. »Die Lust an der Bestialität« mache »ihn zu einem vollständigen Menschen«.[28]

Der Verweis auf die Sadisten im Dienst der Nationalsozialisten passte zu frühen Beschreibungen des Holocaust als »Katastrophe«, »Gewaltherrschaft« oder »Barbarei«. Es sei der »Abschaum der Menschheit« gewesen, der in einer Art gewütet, gequält und gefoltert habe, die schon damals für »normale Menschen« nicht nachvollziehbar gewesen sei. Die »Täter« wurden als Kriminelle, Mörder und Schlächter bezeichnet, mit denen die bürgerliche deutsche Gesellschaft nichts gemein zu haben schien.[29]

Der Sadismus der Täter konnte mit einer hohen Identifikation mit der Sache der Nationalsozialisten einhergehen, musste es aber nicht. Beschreibungen von Adolf Eichmann, der im Reichssicherheitshauptamt die Deportation der Juden in die Vernichtungslager organisierte, zeigen das Bild eines fanatischen Nationalsozialisten, 62der von dem Vorhaben der Ausbürgerung, der Ghettoisierung und schließlich der Massentötung der Juden überzeugt war, der aber bei der Teilnahme an den Tötungen eher körperliches Unwohlsein empfunden hat. Der »Vernunftsantisemit« musste nicht auch gleichzeitig ein »Gefühlsantisemit« sein, der beim Herabwürdigen, Quälen und Foltern der von ihm gehassten Minderheit Genugtuung oder gar Lust empfinden musste.[30] Des Weiteren schildern viele Beschreibungen die in den Konzentrationslagern zur Bewachung ihrer Mithäftlinge eingesetzten Kapos als äußerst brutal, ohne dass die sich übermäßig mit der Sache der Nationalsozialisten identifizierten.[31]

In jeder entwickelten oder unterentwickelten Gesellschaft gebe es – so die Erklärung der Vertreter des Sadismus-Ansatzes ‒ einen niedrigen, etwa zwei, drei Prozent der Bevölkerung ausmachenden Anteil an pathologischen Killern und Mördern. Im Normalfall böten sich diesen Sadisten und Schlächtern wenige Möglichkeiten, ihren Bedürfnissen nachzugehen. Der Nationalsozialismus habe aber dann eine »Gelegenheitsstruktur« geschaffen, in der der Sadismus gegenüber der jüdischen Bevölkerung ausgelebt werden konnte.[32] Wenn man von einer männlichen Bevölkerung des Deutschen Reiches von 50 Millionen ausgeht, dann brauchte man lediglich die eine Million Sadisten von der Kette zu lassen, um ausreichend Beteiligte für einen Massenmord zu haben.

Sicherlich: Auch die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 sind häufig mit großer Brutalität vorgegangen. Aufgrund von überlieferten Fotos ist nachgewiesen, dass die Juden bei den Deportationen mit Gewehrkolben und Peitschen geschlagen wurden, ihnen die Bärte abgeschnitten und sie vor den Erschießungen gezwungen wurden, im Schlamm zu robben. Aber es spricht nichts dafür, dass in dem Polizeibataillon 101 eine besondere Auswahl in Bezug auf einen angeborenen oder anerzogenen Sadismus stattgefunden hat. Das Bataillon stellte eher eine letzte Reserve dar, die aus denjenigen Männern rekrutiert wurde, die sich nicht vorher für einen aktiven Einsatz bei der Wehrmacht, der Waffen-SS oder den Bataillonen der Ordnungspolizei gemeldet hatten. Männer, die nach Möglich63keiten gesucht haben, ihre sadistischen Gefühle auszuleben, hätten gerade im NS-Staat schon lange vor 1941 Positionen finden können, in denen sie diesen Neigungen freien Lauf hätten lassen können.

Indoktrination

»Indoktrination« – so lautet eine weitere Erklärung, mit der die Beteiligung großer Teile der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung an der Ausgrenzung ihrer jüdischen Mitbürger erklärt werden sollte. Selbst jemand wie Rudolf Höß erklärte, dass die Führung des NS-Staates »durch eine äußerst wirksame Propaganda und durch einen maßlosen Terror« sich das »ganze Volk gefügig gemacht hat, so daß es bis auf wenige Ausnahmen kritiklos und willenlos auf jedem Weg folgte.«[33]

Diese Erklärung basierte auf einem Selbstbild, das schon von den Nationalsozialisten geprägt wurde. »Diese Jugend« – so die Rede Adolf Hitlers zur Erziehung der Jugend im Deutschen Reich –, »die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren« in die nationalsozialistischen Organisationen hineinkommen, »dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre.« »Und dann« – so Hitler ‒ kämen sie »sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter«. »Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten«, dann kämen »sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen.« »Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassen- und Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.«[34]

Hinter dieser Rede Hitlers steckt ein simples Verständnis von 64