Gebrauchsanweisung für Istanbul - Kai Strittmatter - E-Book

Gebrauchsanweisung für Istanbul E-Book

Kai Strittmatter

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit vier Jahren lebt Kai Strittmatter am Bosporus, und noch immer schlägt sein Herz schneller, sobald die Fähre sich der Anlegestelle nähert. Möwen im Schlepptau; Matrosen, die an Bord kupferfarbenen Tee servieren; das Minarett der Blauen Moschee, den Galataturm, die Hagia Sophia und den Topkapipalast vor Augen: Ankunft in Istanbul. Einst Byzanz, dann Konstantinopel, für die Griechen bis heute die Stadt aller Städte. Der Autor erlebt täglich, wie Asien und Europa sich zwischen osmanischer Pracht und modernem Nachtleben vereinen und prügeln. Er lotst uns durchs Verkehrschaos und verrät, wie ein Frauenpicknick im Hamam aussieht. Was es mit Schnauzbartverbot und Hutpflicht auf sich hat. Und warum der richtige Fußballklub eine echte Glaubensfrage ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 301

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kai Strittmatter
Gebrauchsanweisung für Istanbul
Piper München Zürich
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Vollständige eBook-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2010
ISBN 978-3-492-95024-4
Originalausgabe © Piper Verlag GmbH, München 2010
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas
Umschlagabbildung: Dozier Marc/hemis.fr/laif
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Danke Bela Sinan, Leander Kaya, Selcuk – ohne Euch drei hätte es dieses Buch so nie gegeben

Inhalt

Azur

Verwandeln

Lichtblau

Flörten

Schmeicheln

Türkis

Taufen

Indigo

Baumeln

Trinken

Silbern

Auskosten

Suchen & Finden

Eisblau

Verkehren

Schießen

Ultramarin

Umkleiden

Vergessen

Mondblau

Erinnern

Ausharren

Bleigrau

Fliehen

Trotzen

Jadegrün

Atmen

Heimkehren

Sehnen

Himmelblau

Blutsaugen

Sattweinen

Grillen

Purpurrot

Beben

Lapislazuli

Schneiden & Legen

Kinderkriegen

Nachtblau

Bellen & Beißen

Lauschen

Lesen

Schwarz & Weiß

In diesem Buch schreibe ich türkische Wörter so, wie sie in der Türkei geschrieben werden. Ausnahmen sind Wörter, die sich im Deutschen eingebürgert haben, »Raki« zum Beispiel. Für Deutsche ist die Aussprache des Türkischen einfach. Allerdings gibt es ein paar besondere Buchstaben:

c wie »dsch« in »Dschungel«

ç wie »tsch« in »Tschüss«

ğ wird nicht gesprochen, dient als Verlängerung des Vokals wie bei uns das »h« in »Zahn«

ı das »i« ohne Punkt wird gesprochen wie ein fast verschlucktes, dumpfes »e« z.B. im flapsig gesprochenen »kommen«

ş wie »sch« in »Schule«

v wie »w« in »Wasser«

y wie »j« in »Juli«

z stimmhaftes »s« wie in »leise«

Azur

Welch ein Glück, diese Stadt. Trägt ihre Ränder in ihrem Innersten: die Ufer des Bosporus, dessen asiatische und europäische Küste ineinanderpassen wie die gezackten Linien eines gebrochenen Herzens in einem Tattoo.

Verwandeln

Asien. Europa. Haben die Griechen erfunden, das Paar: jenseits der Ägäis, diesseits der Ägäis. Sie selbst saßen auf beiden Flecken, ohne sich groß um die Unterscheidung zu kümmern. Wenigstens solange die Perser stillhielten. Am gemütlichsten ließ sich vom einen Kontinent auf den anderen spucken an dem Flecken, den die Griechen Bosporus nannten, und dessen Anblick den unvorbereiteten Reisenden noch heute mit Wucht trifft.

»Mit einem Schlüssel öffnet und schließt er zwei Welten und zwei Meere.« Der französische Reisende Pierre Gilles, vor fünfhundert Jahren.

»…« Ich, vor fünf Jahren. Sprachlos.

Ich war aus Peking eingeflogen, hatte mir zuvor auf dem Stadtplan angeschaut, wo Büro und Wohnung liegen sollten: in Yeniköy, einem am Bosporus gelegenen Vorort, etwa fünfzehn Kilometer nördlich des Stadtzentrums. Aha, am Wasser, dachte ich. Als ich in der Altstadt auf die Fähre stieg, die mich nach Yeniköy bringen sollte, war ich auf alles vorbereitet: Hafenanlagen, Raffinerien, kilometerlange öl- und teerverschmierte Kaimauern – nach acht Jahren China hätte mich nichts gewundert. Und dann das. Der spätsommerliche Bosporus. Es nahm mir, ungelogen, fast den Atem. Hier sollte ich leben dürfen? Das letzte Mal waren mir vor vielen Jahren in Bangkok so viele Endorphine ins Hirn geschossen: Da hatte ich meinen ersten Löffel grünen Thaicurrys geschluckt, meine Augäpfel rollten nach hinten ins Schwarze, Rote.

Glücksexplosion.

Asien. Europa. Als ich in Istanbul ankam, fielen mir auf: Das Sonnenblumenkernekauen. Die Liebe zum Radau. Die kleine Straße, in der zehn Läden das gleiche Sortiment an Schrauben anboten, einer am anderen, und die am Ende in eine weitere Gasse mündete, in der dann wieder ein Dutzend Läden die gleichen Klobrillen verkauften. Der Gemüseverkäufer, der seine Tomaten zu einer Pyramide arrangiert hatte und die kunstvoll gebundenen Radieschen auf dem Salat tanzen ließ. Der wöchentliche Stromausfall. Die zahlreichen Altmaoisten. Der Gründungsheilige der Republik (hier heißt er Atatürk), dessen in Marmor gemeißelte Weisheiten die Gebetssprüche ersetzt haben.

Holla, dachte ich: Wie in Peking.

Und dann wieder: Wolken! Ganze Türme, ein Himmel von solcher Tiefe, wie ich ihn acht Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. In Peking gibt es keine Wolken. Am Hang, unweit von unserer Wohnung, Haselnusssträucher. Im Sommer wilde Erdbeeren am Wegesrand, im Herbst aufgeplatzte Kastanien, im Winter ein halber Meter Schnee auf der Straße und in der Fußgängerzone geröstete Maroni. Osterzopf in der Bäckerei. Kirchenglocken am Sonntag. Sibirische Tiefdruckgebiete, die kalten Regen bringen. Und immer wieder: Wolken am Himmel! Oft war mir, als sei ich schon wieder zu Hause in Deutschland, so vertraut mutete mich vieles an.

Wer von der Altstadt kommend über eine der beiden Bosporusbrücken fährt, den empfängt am anderen Ende ein Schild: »Willkommen in Asien«. Aber dann entdeckt man, dass die Stadt in asiatischen Vierteln wie Kadıköy und Moda europäischer aussieht als vielerorts auf der europäischen Seite und dass gerade die in Europa liegende Altstadt jener Teil Istanbuls ist, der für viele Besucher orientalisch anmutet. Eine Warnung ist das: Diese Stadt bläst die Klischees zu Staub, und zwar so gründlich, dass man einem jeden Deutschen unverzüglich eine Woche Zwangsurlaub verordnen möchte. Aus Istanbul lässt sich nicht schlau werden. Istanbul verstört. Istanbul beglückt. Gerade das Chaotische, Halbfertige bringt den Ort zum Vibrieren. »Hier öffnen sich deine Poren«, meint unser Freund Erdoğan: »Das ist, als ob du in den Hamam gehst, ins Dampfbad, und abgeschrubbt wirst. Danach kommst du raus, und deine Haut atmet wieder.«

Mit dieser Stadt, sagt die Schriftstellerin Perihan Mağden, sei es wie mit ihren Straßenkötern. »Du wirfst nur einen Blick auf sie, und es ist um dich geschehen.« Abseits des Bosporus ist Istanbul nicht gestriegelt und herausgeputzt. Istanbul ist schorfig und vielerorts heruntergekommen. Einen großen Bogen möchte man da machen um so einen Bastard. Istanbul, der Moloch. Der Ort, der sich so lange einen feuchten Kehricht um den Rest des Landes geschert hat, dass der Rest eines Tages sagte: Dann kommen wir halt zu dir. Und jetzt sitzt die halbe Türkei in der Stadt und auf der Stadt und wartet auf ihr Glück und bekommt doch oft nur ein Leben zugedacht, so bitter wie der starke türkische Tee.

Als ich zum ersten Mal nach Beyoğlu in die Fußgängerzone ging, stand ich da mit offenem Mund und dachte, ich sei wieder in Schanghai. Und dann las ich nach, und siehe da: dreizehn, vierzehn, fünfzehn, siebzehn Millionen leben hier, so genau weiß das keiner. Eine der ältesten Städte der Erde. Eine der jüngsten Städte der Erde. Die größte Metropole Europas. Das größte Dorf Europas.

Oder muss das jetzt heißen: Asiens?

Man sagt ja gerne, Moskau sei nicht Russland, Peking sei nicht China und New York sei nicht Amerika. Und das stimmt. Mit Istanbul aber ist das anders. Istanbul ist die Türkei. Istanbul ist eine Miniatur des Landes. Fast jeder vierte Türke wohnt hier. Praktisch jede türkische Stadt und jedes anatolische Dorf hat eine Filiale in Istanbul. Es wohnen hier mehr Sivaser als in Sivas, mehr Giresuner als in Giresun, mehr Ardahaner als in Ardahan, und die größte kurdische Stadt des Landes ist Istanbul sowieso. Oft prägen die einzelnen Landsmannschaften ganze Stadtviertel. Bei uns hinterm Berg haben sich die Zuwanderer aus Samsun niedergelassen, in ihrem »Samsun-Vereinslokal« treffen sich die Männer, trinken Tee, holen Rat. Die Leute aus Mardin findet man im Altstadtviertel Fatih, die aus Sivas in Gaziosmanpaşa. Sie alle sind erst im letzten halben Jahrhundert hierhergekommen. Und sie kommen noch immer. Stadtteile wie das einst griechisch-armenische Kleinbürgerviertel Tarlabaşı, vom schicken Beyoğlu nur durch eine Straße getrennt, sind heute Auffangbecken für immer neue Wellen bettelarmer Zuwanderer aus dem Südosten. Und manchmal bringen die auch ihre Schafe mit und lassen sie auf den Straßen grasen. Wer möchte ihnen die Flucht aus der Heimat verdenken? Wenn das Geld und die Fabriken nicht nach Anatolien kommen, wandert Anatolien halt zu den Fabriken. Offiziell leben in Istanbul heute zwölfeinhalb Millionen Menschen. Jeder weiß, dass es in Wirklichkeit viel mehr sind – aber selbst von den amtlich Registrierten ist nicht einmal jeder Zweite in Istanbul geboren.

Und dann wieder ist Istanbul diesem Land weit voraus. Mehr als die Hälfte aller türkischen Exporte werden heute im Großraum Istanbul hergestellt. Auf einer Liste der Beraterfirma PricewaterhouseCoopers hängt die Wirtschaft der Stadt von hundertsiebenundzwanzig Staaten weltweit ab, darunter Bulgarien und Litauen. Istanbul ist also nicht nur der Spiegel des Landes. Die Stadt ist auch seine Lokomotive. Sie zieht die Wirtschaft nach vorne, mit einem Tempo, bei dem Europa schwindlig wird. Und sie schleppt das Volk in die Moderne. Istanbul verwandelt. Die ihm Anvertrauten. Sich selbst. Die Zahlen sind beeindruckend; gesund ist die Konzentration auf diesen Ort nicht. Das Land ist aus der Balance. »Der Wohlstand hier hat einen Preis«, sagt Cengiz Aktar von der Wirtschafts- und Verwaltungsfakultät der Bahçeşehir-Universität. »Und der Preis ist der Ruin Istanbuls.« Eine Megastadt längst. Frisst sich ohne Planung nach Asien wie nach Europa hinein, betoniert und versiegelt den einen wie den anderen Kontinent. Grün gibt es kaum, öffentlichen Raum jenseits von Straße und Parkplatz ebenso wenig, das Wasser reicht schon lange nicht mehr und die Arbeit auch nicht. »Schauen Sie sich die Lebensqualität an«, sagt Cengiz Aktar: »Ich wette, da zählen wir zu den miserabelsten Städten der Welt. Wir haben ein Lumpenproletariat. Unzählige Menschen, die kaum etwas verdienen, sich mit lausigen Jobs über Wasser halten, ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung.« Um genau zu sein, sahen die Unternehmensberater der Firma Mercer Istanbul in puncto Lebensqualität zuletzt auf Platz 121. Hinter São Paulo und Bangkok. Hinter Peking.

Und dann wieder sitzt man vor einer solchen Statistik, schaut aus dem Fenster und denkt sich: Was für ein Quatsch. Hinter Peking? Vor diesem Fenster liegt der Bosporus, von dem leichte Nebelschwaden die Hänge hochfliehen, das Wasser ein Spiegel an diesem Morgen, im besten Moment tauchen die Gedanken dort ein, ohne eine Spur zu hinterlassen. Für mich war der Umzug von Peking nach Istanbul eine Offenbarung. Natürlich gehöre ich zu den Glücklichen. Zu denen mit Arbeit. Mit Geld. Die sich das leisten können: den Bosporus vorm Fenster. Schau auf die Karte. In der großen Türkei ist Istanbul nur ein Klecks. Und in der Metropole von heute ist das alte Istanbul nur mehr ein Klecks. Aber was für einer. Der Fleck, den allein die Alteingesessenen als ihr Istanbul anzuerkennen bereit sind. Der schönste Fleck auf der Karte. Noch auf einer Weltkarte täte man sich schwer, einen schöneren zu finden. Die Stadt mag von Wucherungen entstellt sein, aber sie hat ihr Herz nicht verloren. Und sie wird es nie verlieren. Denn Istanbul, die Ewige, ist auch nur zu Gast am Bosporus. Und solange der Bosporus noch Wasser trägt, so lange muss einem nicht bange sein um diese Stadt.

Hier ist ein Leuchten.

Lichtblau

Das schönste Wort der Welt ist ein türkisches: Yakamoz. Findet die Berliner Zeitschrift »Kulturaustausch«. Yakamoz hat einen Wettbewerb der Zeitschrift gewonnen. Den zweiten Platz belegte das Wort Hulu (chinesisch für: »schnarchen«). Weil ich gerne das Lob der türkischen Sprache singe, finde ich, die Berliner haben keine schlechte Entscheidung getroffen, wenn sie auch, was das Siegerwort betrifft, knapp danebenlagen. Die Juroren erklären in ihrer Begründung, sie seien dem Charme von Yakamoz verfallen, weil es die »Widerspiegelung des Mondenscheines im Wasser« bedeute. Das aber ist nicht ganz richtig.

Den Mondschein und sein Spiegelbild im Wasser bezeichnet im Türkischen nämlich das Wort Mehtap. Ein Wort, dem ebenso der Sieg gebührt hätte, brachte es doch so schöne Begriffspaare hervor wie die »Ausfahrt unter dem Mondschein« (mehtaba çıkmak), gemeint sind jene nächtlichen Bosporusfahrten auf den kleinen Hauskähnen, mit denen die Istanbuler Gesellschaft einst bei Wein und Gesang das Leben feierte. Dennoch würde ich nicht behaupten wollen, Mehtap sei um den Sieg betrogen worden. Die Jury hat nämlich in einem Akt gesegneter Verirrung mit Yakamoz ein Wort bedacht, das in der Vorstellung nacht- und meeresverliebter Türken tatsächlich noch größeren Zauber herbeiruft als der Mondenspiegel: Yakamoz beschreibt das Phänomen des Meeresleuchtens. Wenn des Nachts das Meer mit einem Mal zu leuchten beginnt, mal milchig weiß, mal grün, mal blau. Weil dieses Licht erzeugt wird, ohne dass dabei Wärme entsteht, spricht die Wissenschaft von Lumineszenz, vom kalten Leuchten, was dem Effekt zumindest in den trunkenen Augen nächtlich Badender nicht ganz gerecht wird. »Yakamoz«, schwärmt mein Freund Sinan, »das ist, wenn du eintauchst ins Wasser und wieder auftauchst, und dein ganzer Körper ist gehüllt in Licht … nun stell dir vor: eine Frau an deiner Seite, und auch ihre Haut schimmert.« Lichtwesen beide.

Wie so vieles andere auch haben sich die Türken dieses Wort bei den Griechen geborgt: Yakamoz geht zurück auf das altgriechische giakamos. Das griechische Ahnwort aber, und so gelangen wir auf verschlungenen Wegen zur Rehabilitierung der deutschen Juroren, benennt tatsächlich den Widerschein des Mondenscheins im Wasser.

Über das Meeresleuchten sagen die Wissenschaftler, es seien Kleinstlebewesen, die dieses Licht ausstrahlen, Abermilliarden Mikroalgen, die auf Berührung reagieren. Sollen wir also diesen Dinoflagellaten danken für das schönste Wort der Welt? Oder doch lieber Jim Knopf und der wilden Dreizehn? Das Meeresleuchten war nämlich schon einmal kaputt, da hat Jim Knopf es repariert, am Großen Gurumusch-Magnetfelsen war das, aber das wissen die Zuschauer der Augsburger Puppenkiste ohnehin. Sonst säßen die Meerjungfrau Sursulapitschi und ihr Vater, der Meerkönig Lormoral, bis heute ohne Licht in ihrem Palast am Ozeangrund. Und wir Nachgeborenen wüssten nichts vom Wunder der zweiten Haut, wenn einer ins Nachtmeer taucht, und nichts vom Leuchten im wassergetränkten Sand, wenn der Fuß des Strandgängers über ihn streicht.

Flörten

Ich habe ein neues Lieblingswort. Gürültülü. Flüstern Sie’s mal nach. Wird Ihnen nicht ganz kitzlig um die Mundwinkel? Und jetzt ein wenig lauter. Gürültülü. Sofort wird der ganze Starenschwarm vor Ihrem Küchenfenster fröhlich pfeifend einfallen. Das geht in Ordnung. Gürültülü heißt nämlich »lärmig, krachig, laut«. Aber schön krachig halt. Um ein Haar wäre ich diesem Stimmbandtriller nie begegnet: wäre ich nicht nach Istanbul gezogen und hätte ich nicht angefangen, Türkisch zu lernen.

»Ja, Wahnsinn, du lernst Türkisch«, war die Reaktion vieler meiner Freunde, dahingemurmelt meist in einem Tonfall konsternierten Desinteresses, und da erst fiel mir auf, was der eigentliche Wahnsinn ist: dass ich bis dahin keinen Verwandten, Freund oder Bekannten hatte, der auch nur ein Wort Türkisch spricht. Ich kenne Leute, die sprechen Chinesisch, Koreanisch und Tibetisch. Ich kenne sogar einen, der spricht Dänisch. Aber Türkisch? Nicht einer. Dabei stamme ich aus einem Land, in dem drei Millionen Türken leben: Es wohnen in Deutschland mehr als dreimal so viele türkische Staatsbürger wie italienische und mehr als fünfzehnmal so viele wie spanische. Und doch stürzen sich meine Freunde in Spanisch- und in Griechischkurse, tun dem Italienischen mit ebensolcher Lust Gewalt an wie dem Portugiesischen – würde man ihnen jedoch eine Türkisch-Broschüre auf den Küchentisch legen: Man erntete nicht mehr als ein fassungsloses Grinsen. In meinem Sprachkurs in Istanbul saßen schon ein paar Deutsche, Engländer und Franzosen, wenn ich sie aber fragte, warum sie Türkisch lernten, dann erhielt ich fast ausnahmslos zwei Antworten: Wegen der Arbeit. Wegen meines/meiner Verlobten. Viele schickten dem einen Seufzer hinterher, der von der Größe ihres Liebesopfers künden sollte. Türkisch lernen aus Neugier, zum Vergnügen gar? Fehlanzeige.

Das muss und das wird sich ändern.

Warum? Eigentlich sollte man denken, die guten Gründe lägen auf der Hand zu einer Zeit, da deutsche Magazine zur Verteidigung »unserer Türkei«, also des Teutonengrills an der türkischen Riviera, gegen den Einfall der russischen Horden blasen: Mehr als vier Millionen Deutsche machen mittlerweile jährlich in der Türkei Urlaub, doppelt so viele wie in Griechenland. Und werben unsere Turkologen nicht seit Jahrzehnten so unermüdlich wie unbemerkt mit dem Hinweis, es verschaffe einem die Meisterschaft des Türkischen einen wertvollen Vorsprung beim Erlernen des Uigurischen, des Kipschakischen, ja gar des Gagausischen? Reicht Ihnen nicht? Bitte sehr, diese Gründe fallen mir auf Anhieb ein:

Weil die Türkei in der Türkei ganz anders ist als die in unserem Kopf. Weil die Leute endlich erkennen würden, dass es noch ein, zwei, drei, viele andere Türkeien gibt. Also nicht bloß die der faschistischen Staatsanwälte, welche die besten Köpfe ihres Landes vor Gericht zerren. Und nicht bloß das in einer Zeitkapsel konservierte Ostanatolientum, welches das Türkenbild der meisten Menschen in Zürich, Wien und Berlin bestimmt (die vielen modernen Türken fallen ja leider nicht auf bei uns). Weil nicht nur das amerikanische Magazin »Newsweek« Istanbul für die »coolste Stadt Europas« hält. Weil ein Türke sich den Literatur-Nobelpreis erschrieben hat. Weil das Land die am schnellsten wachsende Wirtschaft des Kontinents hat. Weil die Türkei vielleicht bald mittendrin steht in Europa. Und zwar als dann größtes Volk.

»Weil man den Türken besser zum Freund hat denn zum Feind.« (Ergänzt ein türkischer Freund.)

Hier drei Argumente vom Fachmann. Es spricht: Christoph Neumann, Übersetzer von Orhan Pamuks »Schnee«.

»Du möchtest eine exotische Sprache lernen, sie soll aber doch mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden? Bitteschön: Du hast die Wahl zwischen Albanisch, Baskisch, Maltesisch – und Türkisch.«

»Stell dir vor, du bist ein Marsmensch und landest auf der Erde. Du hast nur achtundvierzig Stunden Zeit, eine Sprache zu lernen. Absolut logisch soll sie sein, und mindestens ein Prozent der Weltbevölkerung soll sie sprechen. Ganz klar: Der Marsmensch wird Türkisch lernen.«

»Es ist die am wenigsten übersetzte ernstzunehmende Literatursprache. Und der türkische Roman kann so komisch sein. Ach, was gibt es da noch für Schätze zu entdecken.«

Schätze. Wer sich auf die Türkei einließe, der würde nicht nur feststellen, dass sie den schönsten Frauen Europas Heimat ist, er würde auch erkennen, dass die Melodie ihrer Sprache zu Unrecht einen schlechten Ruf genießt. Vielmehr fließt das Türkische aus dem Munde einer schönen Lehrerin gleich einem mit Edelsteinen besetzten Band aus Atlas. Und wer es spräche, der könnte diesen Frauen in einem kühnen Augenblick auch Verse wie diese ins Ohr flüstern: Meine schwarze Maulbeere, meine Vliesschwarze, meine Zigeunerin/Was hättest du mir alles noch sein können, meine Einzige/Meine lachende Quitte, mein weinender Granatapfel/Mein Weib, meine Stute, meine Frau. Ein Gedicht des Malers und Lyrikers Bedri Rahmi Eyüboğlu, das dieser vor mehr als fünfzig Jahren weinend seinen Gästen vortrug: Gewidmet war es seiner Geliebten, die mit einer Lungenentzündung darniedergelegen hatte. Der Maler hatte seine Bilder verschleudert, um ihr die teuren Medikamente zu kaufen. Es half nichts, sie starb. Seine Frau derweil, die angetraute, verließ ihn später, dann schrieb sie ihm diese Zeilen: Sie fühle sich, als ob ihr einer ein heißes Bügeleisen ins Blut gedrückt habe.

Vielleicht sollten Sie Türkisch aber ganz einfach deshalb lernen: weil es Spaß macht. Allein die vielen Ös und Üs mit denen Sie Ihre Mitspieler in Zukunft in die Scrabble-Hölle buchstabieren. Freunde des gespitzten Umlautmundes werden sich hier fühlen wie im Schlaraffenland und dürfen zudem jeden Morgen zum Weckruf des türkischen Hahns erwachen: »Ü-ürü-üüü!« Oder die Speisekarte: Auf der steht nicht einfach: »Gefüllte Aubergine«, auf der steht: »Der Imam ist in Ohnmacht gefallen.« Die Türken streiten sich bis heute, ob der gute Mann so entsetzt war ob der Menge teuren Olivenöls oder ob es ihm so gut geschmeckt hat. (Überhaupt wäre noch zu klären, ob von religiöser Namenspatronage so ohne weiteres Rückschlüsse auf die Qualität eines Gerichtes zu ziehen sind: In Chinas vegetarischen Lokalen servieren sie eine Gemüseplatte, die heißt »Der Buddha springt über die Mauer«. Dabei schmeckt sie wirklich nicht schlecht.) Und erst die türkischen Zeitungen, allein sie sind hundertfacher Lohn: Da sprudelt einem tagein, tagaus so viel Wunderliches und Bizarres auf den Frühstückstisch, dass der Verdacht nicht fernliegt, türkische Satirezeitschriften wie »Penguen« und »LeMan« hätten sich der Tagespresse wegen darauf verständigt, durchgehend in Cartoon-Form zu erscheinen – man würde den Unterschied sonst kaum merken.

Es gibt im Türkischen viele Wörter, die auch ohne Umlaut auf Anhieb Freude machen. Zum Beispiel Şakamaka. Gesprochen wird das »Schakamaka« und heißt dem Lexikon zufolge: »Scherz beiseite!«, ganz entgegen seiner gefühlten Bedeutung. Oder Haşhaş. Spricht sich »Haschhasch« und heißt, genau, »Mohn«. Oder das Vasistas. Sprechen Sie das mal laut aus. Was das ist, das Wasistdas? Ein schmales, oberhalb des normalen Fensters eingelassenes Klappfenster. Ein aus dem Französischen eingeschlepptes Lehnwort übrigens. Überhaupt sind all die eingetürkten Franzosenwörter (ein Wörterbuch zählt gut fünftausend von ihnen) ein zuverlässiger Quell guter Laune. Die Türken schreiben – sürpriz, sürpriz (das »z« wird wie ein »s« ausgesprochen) – das Französische viel einfacher als die Franzosen. Hier in Istanbul fahren Sie gemeinsam mit Ihrem Kuzen im Asansör hinauf zum Kuaför und hinterher bitten Sie im Café den Garson um ein paar Milföy mit Frambuaz. Das geht, seltener, auch mit deutschen Lehnwörtern, Warum die Türken allerdings ausgerechnet unsere Wörter Aysberg, Haymatloz und Marş! (Ausrufezeichen wird mitgesprochen) eingebürgert haben, ist mir nicht klar. Warum die Geschöpfe des Istanbuler Nachtlebens zum Flört einladen, schon eher.

Nicht verschwiegen sei, dass das Erlernen des Türkischen gemeinhin Mongolen und Japanern leichter fällt als dem gewöhnlichen Mitteleuropäer, hat es seine Wurzeln doch im Altaigebirge, da, wo sich heute die Mongolei, China und Russland reiben. Türkischsprechende verweisen gerne darauf, wie stringent und logisch die Sprache aufgebaut sei. »Die Struktur des Türkischen – das hat was. Das hat Eleganz«, sagt Pamuk-Übersetzer Chrisoph Neumann und sinnt dem Gesagten mit einem liebevollen Blick in die Ferne hinterher: »Das ist wirklich mal was ganz anderes.« Mal was ganz anderes, stimmt. Auch wenn es dem Anfänger manchmal so scheint, als habe sich die Sprache ihre Logik auch dadurch erkämpft, indem sie jede Ausnahme flugs zu einer neuen Regel erklärte. Ich habe auch schon mal Chinesisch gelernt, und ich finde: Das Türkische ist ein weit härterer Brocken als das Chinesische.

Das Türkische ist dem Indogermanen ein fremdes Tier. Es zu zähmen heißt, sich eine neue Welt anzueignen. Eine Welt, die für das Wort »Ehre« gleich vier Begriffe kennt, aber auch für das »Herz« noch zwei (also doppelt so viele wie das Deutsche). Es gibt im Türkischen eine eigene Vergangenheitsform für Dinge, die man nicht selbst gesehen oder bewusst erlebt hat, eine Vergangenheit aus zweiter Hand gewissermaßen. Die Form ist vor allem dann nicht ohne Reiz, wenn man sie auf sich selbst anwendet: »Da soll ich ganz schön betrunken gewesen sein …« Es verleiht dem eigenen Tun eine oft nicht unwillkommene Unschärfe und ist eine höchst praktische Form für Menschen oder Völker, die sich gerne von ihrem Tun in der Vergangenheit distanzieren. Eine ähnlich praktische grammatikalische Form existiert auch für die Gegenwart, nämlich die geniş zaman, die »breite Zeit«, die tatsächlich von einer solchen Weite und Absorptionskraft ist, dass sie unabhängig von der wahren Absicht des Sprechenden praktisch jeder Hoffnung und jeder Vermutung der Zuhörenden Raum lässt. Es ist eine Sonderform des Präsens, die interessanterweise gleichzeitig benutzt wird, um einerseits Allgemeingültiges und Immerwährendes, als auch um andererseits Mögliches und Wahrscheinliches auszudrücken. Politiker benutzen dieses Nagel-mich-nicht-fest-Türkisch besonders gern: Es erlaubt ihnen, zu oszillieren zwischen dem Möglichen und dem Wahren. Es ist die rhetorische Form der Heisenbergschen Unschärfe: Mal ist das Wort ein Teilchen, mal eine Welle, die Wahrheit liegt allein im Auge des Betrachters. Die Welt des Gesagten und die Welt des Gemeinten berühren einander dabei oft kaum. Auf diese Weise kann sich ein im Zentrum eines Sturmes stehender Türke problemlos aus dem Sturm herausreden. Die Welt geht unter? Hauptsache, wir verlieren nicht die gute Laune.

Außerdem wickeln wir uns hier fleißig endlose Suffixketten um die Bäuche und verstricken und verstolpern uns heillos darin. Es wachsen in der Türkei nämlich auch an sich harmlosen Wörtern lange Schwänze aus immer noch neuen Endungen – und leider wedeln dann im Türkischen tatsächlich die Schwänze mit den Wörtern und nicht selten auch mit den Studenten derselben.

So geschah es der geliebten Frau an meiner Seite in der dritten Schulwoche. Es war Spätsommer, wir schliefen in einem Zimmer, in dem es von Mücken wimmelte, sie musste sich die ganze Nacht kratzen – und hatte dann in dämmrigem Halbschlaf diesen Traum: Aus dem Ellbogen, aus dem Knie und aus dem großen Zeh – überall dort, wo besonders giftige Tierchen zugebissen hatten – wuchsen ihr türkische Endungen, lange, wuchernde Suffixschlangen. Voller Schrecken bemerkte sie, dass es die falschen Endungen waren: Am großen Zeh dockten nur noch Us an, aber keine Is mehr. Am geschwollenen Knie hingegen hingen lauter Endungen mit »i« und wollten die Üs nicht hinlassen. Als ich sie aufweckte, erzählte sie mir atemlos, sie habe gerade verzweifelt die Is dort weggekratzt. Denn die Üs, die brauchen wir doch: für Gürültülü.

Schmeicheln

Die Türken sind eine große Familie, sie trauen einander also oft nicht über den Weg. Gleichzeitig haben sie ein großes Bedürfnis, auch Fremden gegenüber ein Stück jener Intimität zu schaffen wie sie unter Verwandten üblich ist. Das gelingt über die Anrede. Die Zauberwörter sind Abi, älterer Bruder, und Abla, ältere Schwester, keine Anrede wird häufiger benutzt. Dabei sollte man als junge Frau nicht beleidigt sein, wenn die alte Gemüseverkäuferin einen mit »Abla! Abla!«-Rufen herwinkt: Abi oder Abla nennen einen eben nicht nur Jüngere, sondern grundsätzlich alle, die etwas von einem wollen, vor allem die Straßenverkäufer. Mittlerweile gilt es selbst unter Studentinnen als cool, einander wie die Jungs Abi zu rufen. Ältere Frauen und Männer, denen man sich respektvoll, aber auch freundlich nähern will, nennt man »Tante« (teyze) oder »Onkel« (amca).

Baba, Vater,war früher die Anrede für die Heiligen und Weisen des mystischen Islam, heute ist der Baba ein gutmütiger Patriarch, am besten verkörpert durch Orhan Baba, das ist Orhan Gencebay, der Pate der Arabeskmusik. Ein anderer bekannter Baba in seinem Kielwasser war der Sänger Müslüm Gürses, ein wimmernder Macho, dessen Musik den Fans so unter die Haut ging, dass sie sich reihenweise Brust und Arme mit dem Rasiermesser aufschlitzten (zu den nicht ungefährlichen Nebenwirkungen der Arabeskmusik auf labilere Seelen vgl. das Kapitel »Sattweinen«). Ein weiteres türkisches Wort für Vater ist Ata, was auch »Ahne« heißt, mittlerweile aber reserviert ist für einen einzigen Mann: für den tapferen Mustafa Kemal, der sich nach vollbrachter Gründung der Republik mit Nachnamen Atatürk, »Vater der Türken«, nennen durfte. Familienname wäre in diesem Falle das falsche Wort: Gesetz Nr. 2587 von 1934 bestimmte, dass dieser Name einzig ihm vorbehalten bleibt und nicht einmal auf seine zahlreichen Adoptivkinder übergehen durfte, die nach seinem Tod fast alle in der Anonymität verschwanden. (Bekannteste Adoptivtochter ist bis heute Sabiha Gökcen, die erste Kampfpilotin der Türkei. Nach ihr ist der Flughafen im asiatischen Teil Istanbuls benannt. Ihren Nachnamen, der auf dem Wort »Himmel« (gök) aufbaut, hat ihr Atatürk gegeben.) Übervater Atatürk revanchierte sich bei seinem Volk, indem er seine Untergebenen und Bürger fortan nur noch als Cocuklar ansprach, als »Kinder« (»Sag, Kind, was kann ich tun?«), eine Angewohnheit, die man heute noch bei manchen hohen Offizieren in der türkischen Armee findet, auch wenn unter ihnen das schneidig und oft mit drohendem Unterton einher kommende Arkadaşlar! (»Freunde!«) verbreiteter ist.

Überhaupt, die Nachnamen. Sie gibt es erst seit dem Jahr 1934, auch so ein Geschenk Atatürks an sein Volk, und wie die anderen eines ohne Umtauschoption. Das Gesetz über die Familiennamen vom 21. Juni 1934 befahl den Türken, die bislang mit ihrem Vornamen gut ausgekommen waren, sich als Eintrittspass in die Moderne einen Familiennamen zuzulegen. Manche nannten sich nach dem Vater, deshalb die vielen Namen die auf die Silbe -oğlu (Sohn) enden: Kahvecioğlu (Sohn des Kaffeemachers) oder Sarıibrahimoğlu (Sohn des blonden Ibrahim). Gern genommen wurden männlich und kriegerisch klingende Namen wie Ateş (Feuer) oder Cengiz (Dschingis, von Dschingis Khan) – die Türken halten sich seit jeher für das Brudervolk der Mongolen, mit denen gemeinsam sie aus Zentralasien auszogen. Zur Kämpfernatur passen auch Çelik (Stahl), Demir (Eisen) oder für die ganz Eifrigen Özdemir (echtes Eisen). Aber auch sensiblere Naturen kamen zu ihrem Recht, durften sich fortan nach der Rose (Gül), dem Mond (Ay) oder den Sternen (Yıldız) benennen. Anderen wollte gar nichts einfallen oder zumindest nichts, was bei der Obrigkeit auf Gefallen stieß, bei denen übernahm der Gemeindesekretär oder der Ortspolizist die Auswahl, höchstwahrscheinlich ist das der Ursprung von Namen wie Deli (Der Verrückte), Kızmaz (Der sich nie ärgert) oder Balyemez (Der keinen Honig mag). Zudem sind die beamteten Täufer verantwortlich dafür, dass heute erstaunlich viele Kurden Nachnamen wie Türk (Türke), Öztürk (Echter Türke) oder Türksever (Der die Türken liebt) tragen. Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD in Ankara war zuletzt Öztürk Türkdoğan. Das heißt »Echter Türke, als Türke geboren«. Natürlich ist der Mann Kurde. Überhaupt gab der Zeitgeist Namen mit Türk Vorfahrt: Der eine wollte als »starker« (Güçlütürk), der andere als »fröhlicher Türke« (Şentürk) bekannt sein.

Aber nicht nur der kurdische Volksteil, auch der Rest der Türkei ist bis heute noch nicht so recht warm geworden mit seinen Nachnamen. Im alltäglichen Umgang werden sie praktisch nicht benutzt. Man bleibt bis heute, wie unter Verwandten üblich, bei den Vornamen. Um dennoch Fremden gegenüber etwas Distanz zu wahren, fügt man an den Vornamen die Anrede »Herr« (Bey) oder »Frau« (Hanım) an: Man begrüßt sich also als »Herr Ahmet« (Ahmet Bey) oder »Frau Ayşe« (Ayşe Hanım). Und ich bin die letzten Jahre gemeinhin als »Herr Kai« angesprochen worden. Die Familiennamen benutzt man nur in sehr formellem Rahmen, wenn man Fremden einen Brief schreibt etwa, dann setzt man vor den Namen noch ein höfliches »Verehrter …«, auf Türkisch Sayın. Aber Vorsicht: Dieses harmlos klingende Wort bringt in der Türkei regelmäßig Leute vor Gericht – dann nämlich, wenn man ihm den Familienamen Öcalan beigesellt: Dem Anführer der kurdischen PKK-Rebellen, Abdullah Öcalan, die Ehre zu erweisen ist in der Türkei noch immer eine Straftat. Und als Ende 2009 in der Türkei mal wieder eine kurdische Partei vom Verfassungsgericht verboten wurde, da war es eine der in der Anklageschrift aufgeführten Indizien für die angebliche Gewaltbereitschaft dieser Partei, dass mehrere ihrer Politiker den Herrn Öcalan öffentlich als »verehrten Herrn Öcalan« bezeichnet hatten. (Öcalan heißt auf Deutsch übrigens »Rächer«.)

Gegenüber Leuten, denen man auf der Straße begegnet, muss man sich nicht mit dem schon erwähnten Abi begnügen. Gerne gehört werden auch Usta (Meister!), Şef (Chef !) oder Şefim (Mein Chef !). Wer sich einen echten Hauch von Unterwürfigkeit verleihen möchte, kann es auch mit Müdürüm versuchen: »Mein Direktor!«, aber dazu sollte der Angesprochene mindestens Krawatte tragen und der Sprecher über jeden Ironieverdacht erhaben sein. Hodscha (Lehrer oder Geistlicher) nennt man jemanden, dem man höhere Bildung unterstellt oder dem man zumindest das Gefühl vermitteln möchte, er strahle eine solche aus. Vor allem junge Halbstarke kommen nicht durch den Tag ohne das Wort Lan. Das kann so viel wie »Alter!« oder »Mann!« bedeuten und durchaus anerkennend und lobend ausgesprochen werden. Lan kann aber auch einfach nur »Depp!« heißen, wie in: »Pack deine Mutter und hau ab, du Depp!« (Das Urheberrecht für diesen Satz liegt beim Premierminister, der so vor laufenden Kameras einen Bauern abkanzelte, welcher seine Politik kritisiert hatte. Ansonsten bevorzugt der Premier im Umgang mit den ihm Anvertrauten die Possessivform: »Mein Gouverneur!, Mein Bürgermeister!, Mein Landsmann !…« etc.) In Kombination mit einem weiteren Substantiv wird Lan zum einfachen »He!«, zum Beispiel Lan Optik (»He, Brillenschlange!«) oder Lan Hıyar (»He, du Gurke!«).

Junge Frauen jonglieren lieber mit Koseworten. Beliebt sind »Meine Seele« (Canım), »Mein Geist« (Ruhum), »Meine Liebe« (Aşkım), »Mein Leben« (Hayatım) oder »Mein Einziger« (Bir tanem) und natürlich, wie nicht anders zu erwarten in diesem zuckerverrückten Land: »Mein Zuckerchen, mein Bonbon« (Şekerim).

Türkis

Ich weiß nicht, warum mein Herz jedes Mal schneller zu schlagen beginnt, wenn ich an der Iskele stehe, an der Anlegestelle, wenn die Sirene das Kommen der Fähre ankündigt, lange bevor sie um die Kurve gebogen ist, die der Bosporus vor Yeniköy macht: Weil die Bosporusfähren einer anderen Zeit oder weil sie einer anderen Welt angehörten? Sie transportieren einen nicht einfach, sie entführen einen. Käme einer nach Istanbul und hätte nur ein paar Stunden Zeit im Gepäck, ich würde ihn auf einen dieser alten, eisernen Kähne setzen. Die fahren nicht bloß hoch zum Schwarzen Meer, fahren nicht bloß runter nach Istanbul – sie fahren geradwegs Richtung Nirwana. Man treibt, schaut, meditiert und möchte glucksen vor Glück. Abgetretene Planken, einfache Holzbänke, der einzige Schmuck hier sind die Ketten weiß lackierter Eisennieten, die die fleckigen Fenster umrahmen. Schwärme von Möwen ziehen hinter den Booten her wie einst die Dampfwolke, von der diese ihren Namen haben: Vapur nennt man sie noch heute, das kommt vom französischen vapeur, Dampfer. Möwenfüttern ist der Morgensport der Passagiere, die ihnen von der Reling aus Stückchen ihres Sesamkringels zuwerfen. Eifrige Matrosen servieren für ein paar Cent kupferfarbenen Tee in kleinen Tulpengläsern und, wenn sie in Kanlıca auf der asiatischen Seite Nachschub an Bord geholt haben, den berühmten Joghurt des Ortes, nicht ohne ihm zuvor eine ihre Hände weiß bestäubende Haube von Puderzucker aufgesetzt zu haben. Manchmal winken Matrosen vom Turm eines U-Boots herüber. Und wenn man es vor lauter Seligkeit schon kaum mehr aushält, dann schicken die übermütigen Götter noch eine Schule Purzelbäume schlagender Delfine in die Bucht von Tarabya. Als den großen Dichter Nazım Hikmet im bulgarischen Exil sein Sehnen nach Istanbul fast umbrachte, da schrieb er diese Verse:

Nazım streichelt das Vapur,

seine Hände verbrennen.

Die Vapur sind Fluchtpunkte der Sehnsucht, auch jenen, denen der Alltag ein Ort der Verbannung vom Leben ist.

Taufen

Die Poli. Die Stadt. Die Eine. So nennen noch heute wie seit Jahrtausenden viele Griechen Istanbul. Ein Name bezeichnet etwas zu Unterscheidendes. Wenn es aber nichts Vergleichbares gibt auf dem Erdkreis, wozu dann ein Name? Zumal, Istanbul ist hierfür ein gutes Beispiel, die unterschiedlichen Bezeichnungen nachfolgender Generationen manchmal unnötig verwirren. Vier junge Burschen aus Kanada wussten das und traten 1953 an, ein für allemal Klarheit zu schaffen. Sie nannten sich »The Four Lads«, und das Lied hämmerte Allen ein: Es heißt »Istanbul, not Constantinople«.

Istanbul was Constantinople

Now it’s Istanbul, not Constantinople

Been a long time gone, Constantinople

Now it’s Turkish delight on a moonlit night

Istanbul. Einst Konstantinopel. Noch früher Byzantion. Ein dorischer Stamm der Griechen gründete die Stadt, ein ganzes Jahrtausend, bevor der römische Kaiser Konstantin sie zu der Einen machen sollte. Es war eine hellenische Kolonie in Barbarenland, was einerseits festes Mauerwerk erforderte, andererseits aber den Vorteil hatte, dass die im Umland lebenden barbarischen Thrakier einen unerschöpflichen Nachschub an Sklaven boten. Die Byzantiner folgten eigentlich den Regeln Spartas, nicht Athens, und doch erarbeiteten sich vor allem ihre Kaufleute bald einen legendären Ruf als Trunkenbolde. Man huldigte gerne den Göttern des Weins und der Liebe, Dionysos und Aphrodite, und als der Dichter Antiphilus einmal den Geschäftssinn seiner Mitbürger beschreiben wollte, da schrieb er ein Gedicht mit dem Titel »Ein Schiff, erbaut aus den Profiten eines Puffs«.

Even old New York

Was once New Amsterdam

Why they changed it I can’t say

People just liked it better that way

Die Stadt. Man schreibt den 11. Mai 330. Vierzig Tage lang hatten die Feierlichkeiten gewährt. Am letzten Tag ist der Kaiser selbst zugegen, bei der Messe in der Hagia Eirene, der Kirche des Göttlichen Friedens. An diesem Tag, mit dieser Messe wird das Reich dem Gott der Christen geweiht. Rom wird christlich. Und die Stadt Byzantion wird, so verfügt es der Kaiser, Nova Roma Constantinopolitana: das neue Rom, Stadt des Konstantin. Es ist ein Montag, dieser 11. Mai, an dem das neue Reich ins Leben tritt – und mit ihm die Verwirrung der Begriffe, die sich bis heute nicht recht gelegt hat. Denn während der 1123 Jahre und achtzehn Tage, die das Byzantinische Reich überdauert, hat es sich selbst nicht einen einzigen Tag lang so genannt: »byzantinisch«. Dieses Etikett ist eine Erfindung westeuropäischer Historiker, allen voran des Augsburger Bibliothekars und Historikers Hieronymus Wolf, der 1557 eine Quellensammlung oströmischer Texte unter dem Titel »corpus Historiæ Byzantinæ« veröffentlichte und damit eine Mode begründete, die der Zunft nicht wieder auszutreiben war. Wie aber nannten sie sich selbst, unsere Byzantiner? Ganz einfach: Romai, Römer. Obwohl sie fast alle Griechen waren. Ihr Reich aber war das Römische Reich.

So take me back to Constantinople

No, you can’t go back to Constantinople

Been a long time gone, Constantinople

Der Kaiser. Der britische Historiker John Julius Norwich nennt Konstantin »einen ernsthaften Anwärter auf den Platz des einflussreichsten Mannes in der Geschichte – mit Ausnahme von Jesus, Buddha und dem Propheten Mohammed«. Und wenn wir von der Geschichte Europas sprechen, hat er recht. Ohne Konstantin sähe Europa heute anders aus. Der Kaiser traf zwei folgenschwere Entscheidungen. Er machte erstens das Christentum zur Religion des Reiches und damit Europas. Und er gründete Rom ein zweites Mal. Im Osten. Desillusioniert vom alten Rom, das geplagt von Malaria, Barbareneinfällen, Bevölkerungsschwund und geistiger Verkrustung seinem Niedergang entgegendämmerte, trug er Kaisersitz und Macht an die Ufer des Bosporus, näher an die Feindesstämme, die aus Asien gegen Europa anrannten, näher auch an die hellenischen Zentren neuer Gelehrsamkeit.

Ende der Leseprobe