Chinas neue Macht - Kai Strittmatter - E-Book

Chinas neue Macht E-Book

Kai Strittmatter

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Beschreibung

China ist wieder Weltmacht. Ohne China geht nichts, ob wir es wollen oder nicht. Aber China ist vielen immer noch fremd. Seine wirtschaftliche Macht ist unbestritten, seine politische Agenda oft undurchsichtig. Unter Xi Jinping, dem mächtigsten Staats- und Parteichef seit Mao, erfindet sich der autoritäre Staat neu, in offener Konkurrenz zum Westen, und baut mit Big Data und künstlicher Intelligenz den perfekten Überwachungsstaat. Chinas neue geostrategische Ambitionen, aber auch seine Wirtschaftspraktiken führen zu Spannungen; seine schroffen Reaktionen zu Reizthemen wie Taiwan, Hongkong oder Xinjiang lösen regelmäßig Eklats aus. Dieses Buch gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen zu Chinas Politik, Geschichte, Kultur und Wirtschaft.

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Inhalt

Cover & Impressum

Einleitung

1. Warum sehen die Chinesen eigentlich alle gleich aus?

2. Wer sind die Chinesen?

3. Wie alt ist China?

4. Wie chinesisch ist China?

5. Wieso kommt China auch Chinesen oft spanisch vor?

6. Kann man als Ausländer China verstehen?

7. Sind die Chinesen religiös?

8. Was ist Falun Gong?

9. Was geschah 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens?

10. Wissen die Chinesen heute noch, was am 4. Juni 1989 geschah?

11. Wie links ist China?

12. Wie rechts ist China?

13. Was ist eigentlich aus der Ein-Kind-Politik geworden?

14. Was ist das Soziale Bonitätssystem?

15. Ist die KP bald allsehend und allwissend?

16. Wie finden Chinas Bürger die neue Hightech-Überwachung?

17. Darf man China eine Diktatur nennen?

18. Ist Xi Jinping der neue Mao Zedong?

19. Was ist der »chinesische Traum«?

20. Warum will China Fußballweltmeister werden?

21. Was macht Hongkong zu Hongkong?

22. Was geschieht in der Uiguren-Region Xinjiang?

23. Sind Chinesen nicht geschaffen für die Demokratie?

24. Gehört Taiwan zu China?

25. Sind Privatunternehmen in China dasselbe wie bei uns?

26. Was war noch einmal die klassische Seidenstraße?

27. Was ist die Neue Seidenstraße?

28. Will China die Welt erobern?

29. Müssen wir China fürchten?

30. Was können wir angesichts Chinas wachsender Stärke tun?

31. Müssen wir bald alle Chinesisch lernen?

32. Kann man die Töne im Chinesischen überhaupt lernen?

33. Welche chinesischen Wörter sollten wir unbedingt ins Deutsche übernehmen?

Literatur

Einleitung

Als ich vor mehr als drei Jahrzehnten begann, Chinesisch zu studieren, da galt: Wenn einer über China sprach, dann sprach er über China. Als ich vor mehr als zwei Jahrzehnten nach Peking zog, um dort als Korrespondent zu arbeiten, da galt: Wenn einer über China schrieb, dann schrieb er über China.

Heute ist das anders. Heute gilt: Wer über China spricht, der spricht immer auch über uns. Wer über China schreibt, der schreibt immer auch über uns. China ist an uns herangerückt, China sitzt in unserer Mitte, China schickt sich an, über unsere Zukunft mitzubestimmen.

Wichtig also, dass wir genau hinschauen: Was ist das eigentlich heute für ein Land?

Ist es das Land, das in der Kombination von Autokratie und Wirtschaftswunder eine Zauberformel gefunden hat? Verfechter dieser These deuten zum Beispiel auf den in Rekordzeit entstandenen neuen Riesenflughafen in Peking, stellen dem das Flughafendesaster in Berlin gegenüber und leiten daraus eine angeblich sagenhafte Effizienz des chinesischen Systems ab. Sie preisen es als das Modell, das uns zögerliche Demokratien im neuen Wettbewerb der Systeme schlagen und die Welt dominieren wird.

Oder ist es der Staat, dessen wahre Natur sich einmal mehr beim Ausbruch des Corona-Virus in der Stadt Wuhan offenbarte? Beherrscht von einer Kommunistischen Partei, die sich auszeichnet durch maßlose Kontrollsucht und Geheimniskrämerei. Ein Regime, das sich im Angesicht von Krisen reflexhaft erst einmal aufs Vertuschen verlegt und so gerade im kritischen Anfangsstadium die Ausbreitung der Seuche selbst noch beförderte. Ein System also, das schnell zum Risiko werden kann für sich selbst, für sein Volk, aber auch für die Welt?

China verwirrt. Die Kommunistische Partei (KP) hat den »Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten erfunden«, das ist der mit den vielen Milliardären, dafür ohne Sozialisten. Nennt sich kommunistisch, diese Partei, und herrscht doch über ein Land, in dem die Ungleichheit mittlerweile weit größer ist als in den USA. Dieses Land hat eines der größten Wirtschaftswunder der jüngeren Geschichte vollbracht und ist doch gerade dabei, sich vor unseren Augen wieder in einen totalitären Staat zu verwandeln. Da entsteht eine digitale Diktatur, die die Welt so noch nicht gesehen hat und auf die sie doch vorbereitet sein muss.

Dazu soll dieser Band beitragen.

1. Warum sehen die Chinesen eigentlich alle gleich aus?

Tun sie gar nicht. Auch wenn westliche Medien immer wieder einen Bericht über die Schauspielerin Zhang Ziyi mit einem Foto von Fan Bingbing illustrieren und umgekehrt.

Gegenfrage: Warum eigentlich sehen die Europäer alle gleich aus? Im Ernst: Genau die Frage bekam ich einige Male zu hören während meiner Zeit in China. Und war dann ähnlich perplex, wie die Chinesen es sind, wenn man sie mit unserer Wahrnehmung konfrontiert.

Das Spannende ist, dass diese Wahrnehmung erst einmal nicht in Rassismus oder Faulheit wurzelt, sondern tatsächlich eine wissenschaftlich erforschte Basis hat. Und dass die hier wirksamen Mechanismen für sämtliche Rassen und Völker dieser Erde gelten.

Forscher ergründen das Phänomen schon seit über hundert Jahren, sie haben ihm den Namen Other-Race-Effect oder Cross-Race-Effect gegeben, für das sich in der Wissenschaft leider bislang keine deutsche Entsprechung eingebürgert hat. Es beschreibt die Tatsache, dass Mitglieder aller Rassen und Volksgruppen erst einmal Schwierigkeiten dabei haben, die Mitglieder anderer Volksgruppen als Individuen mit voneinander verschiedenen Merkmalen wahrzunehmen. Dabei ist diese Schwierigkeit nicht angeboren, sondern bildet sich erst heraus in dem Maße, in dem wir mehr oder weniger exklusiv unter Mitmenschen unserer eigenen Gruppe aufwachsen und dem Anblick andersartiger Gesichtszüge nicht ausgesetzt sind. Eine Studie von 2007 fand heraus, dass drei Monate alte Babys offenbar noch in der Lage sind, verschiedene weiße, afrikanische oder chinesische Gesichter als jeweils individuell verschiedene Gesichter wahrzunehmen. Im Alter von neun Monaten dann erkannten sie unterschiedliche Gesichtszüge nur mehr bei Angehörigen ihrer eigenen Rasse.

Die gute Nachricht: Sowenig wie diese Blindheit angeboren ist, so wenig muss man sie auf alle Ewigkeit mit sich herumtragen. Wenn ein Deutscher längere Zeit in China oder aber ein Chinese längere Zeit in Deutschland lebt, dann trainiert er automatisch sein Unterscheidungsvermögen. Lehrreich an all den Studien ist vielleicht diese Erkenntnis: Was unsere Sinne unserem Gehirn melden, ist nicht unbedingt ein korrektes Abbild der Wirklichkeit – ein gesundes Misstrauen gegenüber der eigenen (ersten) Wahrnehmung ist grundsätzlich nicht das Schlechteste.

2. Wer sind die Chinesen?

Das Volk, das wir Chinesen nennen, nennt sich selbst han zu, Volk der Han, und seine Schriftzeichen han zi, Schrift der Han. Der letzten Volkszählung zufolge machen die Han knapp 92 Prozent der Bevölkerung von heute ungefähr 1,4 Milliarden Menschen aus. Es ist also die größte Volksgruppe der Welt. Die verbliebenen 8 Prozent teilen sich Minderheiten wie Tibeter, Uiguren, Mongolen, Mandschus, Hui-Muslime und fünfzig weitere offiziell anerkannte Ethnien.

Erste Zeugnisse chinesischer Kultur finden sich in der Shang-Dynastie, die vor mehr als dreitausend Jahren die Lössplateaus am Gelben Fluss besiedelte. Aber erst im Jahr 221 v. Chr. gelang es dem Qin-Kaiser Shi Huangdi, ein Reich mit einheitlicher Sprache und Verwaltung zu schaffen. Dieser erste Kaiser gilt den Chinesen bis heute als grausamer Tyrann, auch währte seine Dynastie nur kurz. Unser Wort »China« geht auf den Dynastienamen Qin zurück. Ausgesprochen wird Qin ein wenig so, als gehe ein »ts« einem »ch« (wie in »ich«) voraus, also: »ts-ch-in«. Das aber bedeutet für die in Deutschland gerne leidenschaftlich geführte Debatte, ob man nun korrekterweise »Kina« oder »Schina« oder aber ein weiches »China« sagt, am Ende ein Unentschieden: Keiner von uns spricht es wirklich richtig aus, also haben wir alle in gleichem Maße recht. Oder vielmehr unrecht.

Die Chinesen selbst zogen es vor, sich nach dem Herrscherhaus zu benennen, das die Qin ablöste, nämlich nach der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.). Der erste Kaiser dieser Dynastie, der in der Folklore verewigte Liu Bang, begann seine Herrschaft als Regionalfürst in einer Gegend am Han-Fluss, nach dem seine Dynastie schließlich benannt wurde. Die Han-Dynastie war ein erstes Beispiel für erfolgreiche Expansion und imperiale Macht chinesischer Kaiserreiche, mit einer Ausstrahlung weit in andere Regionen Ost- und Südostasiens hinein, wahrscheinlich wählte das chinesische Volk deshalb den prestigeträchtigen Namen für sich selbst. Interessanterweise zogen und ziehen viele Südchinesen (Kantonesen oder Hakka etwa) den Namen einer anderen prächtigen Dynastie als Selbstbezeichnung vor: Sie nennen sich nicht han ren, sondern tang ren, Menschen der Tang-Dynastie; in vielen Chinatowns rund um die Welt findet man deshalb eine tang ren jie, eine Straße der Tang-Menschen. Der oft gehörte Begriff zhong guo ren, Menschen des Reiches der Mitte, bezeichnet keine Ethnie, sondern alle Bürger Chinas.

Die oft suggerierte ethnische Einheit der Han ist allerdings Fiktion, auch die Han sind Produkt eines Völkergemischs. Nach mehr als zwei Jahrtausenden von Kriegen, Kolonialisierungen und Invasionen tragen sie selbst längst Gene mongolischer, tibetischer, koreanischer oder turkstämmiger Völker – Völker, die die chinesische Kultur bereicherten, aber selbst oft schnell sinisiert wurden. Die kulturelle Vielfalt innerhalb der Han wird noch heute an den regionalen Dialekten sichtbar, die eigentlich eigene Sprachen sind und nur die Schrift gemeinsam haben.

3. Wie alt ist China?

Alt. Sehr alt. Aber fünftausend Jahre? Unermüdlich wiederholt die KP ihr Mantra von der 5000-jährigen Geschichte Chinas. Noch als ich Student war an der Nordwest-Universität in Xi’an Mitte der 1980er-Jahre, da sprachen alle – Chinas Wissenschaftler, Beamte und auch KP-Funktionäre – von der 3000-jährigen Geschichte des Landes. Das ist jetzt noch keine zweitausend Jahre her. Und auch wenn die Archäologen des Landes seither unermessliche Schätze freigelegt haben, so sind darunter doch keine, die das Alter der chinesischen Zivilisation nachweislich verlängert hätten. Was sich allerdings verändert hat seit meinen Studententagen, ist der nationalistische Furor, den die Partei dem Land verschrieben hat, und ihr Ehrgeiz, den Rest der Welt zu übertrumpfen.

Das Wort für Archäologie im Chinesischen ist kaogu, die Prüfung der Vergangenheit. Aber die erste Dynastie im chinesischen Herzland am Gelben Fluss, die dieser Prüfung standhält, ist die der Shang, die wahrscheinlich um 1600 v. Chr. gegründet wurde. Aus jener Zeit datieren die ersten Zeugnisse der chinesischen Schrift, eingraviert in sogenannte Orakelknochen: Schildkrötenpanzer und Schulterblätter von Ochsen sind das, die von den Schamanen der Shang ins Feuer geworfen und dann entlang der durch die Hitze entstandenen Risse für ihre Prophezeiungen interpretiert wurden. Wenn man die Geschichte einer Zivilisation mit den ersten Zeugnissen ihrer Schrift beginnen lässt, dann kommt man für China also auf gesicherte dreitausendzweihundert Jahre, für die Ursprünge des organisierten Staates bei den Shang kann man wohl noch einmal vierhundert Jahre drauflegen. Alles davor verschwindet im Nebel der Mythen, für die Existenz der angeblich den Shang vorangehenden ersten Dynastie der Xia gibt es bis heute keinerlei Belege. Und was die ersten Hochleistungen politischen und philosophischen Denkens angeht, liegen China, Europa und Indien ungefähr gleichauf: Konfuzius (551–479 v. Chr.) lebte ungefähr zur gleichen Zeit wie in Griechenland Pythagoras und Sokrates und in Indien Siddharta Gautama, der als der historische Buddha bekannt wurde.

Dreitausendzweihundert Jahre aber, das ist für eine Zivilisation schon verdammt alt, auch wenn es ein erstmals politisch geeintes China nicht vor 221 v. Chr. gab. Zumal sich tatsächlich über die Schrift auf den Orakelknochen eine erstaunlich kontinuierliche Linie bis zur Kultur der Jetztzeit ziehen lässt: Einige der Schriftzeichen von damals kann man als Chinesischkundiger noch heute erkennen. Genug Grund, um stolz zu sein, sollte man meinen. Wieso bloß besteht die KP dann seit ein paar Jahren auf der Zahl Fünftausend? Die meisten Beobachter tippen auf Altersneid: Die ersten bekannten Schriftzeugnisse der Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens sind beide älter als die Chinas, nämlich tatsächlich mehr als fünftausend Jahre alt. Und Ägypten gibt es, wenn auch nicht als kontinuierlich existierende Hochkultur, so doch als Staatswesen, zumindest dem Namen nach ebenfalls noch heute. Das China der KP aber möchte sich nicht mehr übertrumpfen lassen, von niemandem.

4. Wie chinesisch ist China?

Chinesen leben, denken, fühlen chinesisch. So wie Deutsche deutsch denken, handeln und fühlen. Klar, oder? Was aber heißt das in unserer sich rasant wandelnden Welt, das »Deutschsein« und das »Chinesischsein«? Was heißt es vor allem im Verhältnis zur eigenen Vergangenheit auf der einen Seite und im Verhältnis zur heutigen Welt auf der anderen? Konkret: Wie viel hat das heutige China noch gemein mit dem China der Kaiserreiche? Und wie sehr ähnelt es mittlerweile der Welt da draußen?

Wahrscheinlich kann man guten Gewissens argumentieren, dass die Chinesen von heute mindestens so viel mit uns im Westen gemein haben wie mit ihren Vorfahren. Dass das heutige China mindestens so viel dem Westen verdankt wie dem alten China: Kommunismus, Kapitalismus, Entertainment, Musik, Kleidung, Städtebau, Wissenschaft und Technik. Und vieles von dem, was China heute stark von uns unterscheidet – Familien- und Clanstrukturen zum Beispiel –, ist weniger den chinesischen Genen geschuldet als vielmehr der Tatsache, dass das Land eben erst der bäuerlichen Gesellschaft entwachsen ist.

Und so tragen Chinesen heute westliche Kleidung und westliche Frisuren, sie planen ihr Jahr und ihre Woche nach dem gregorianischen Kalender, sie trauen der westlichen Medizin mehr als der chinesischen, viele hören lieber europäische Klassik als Peking-Oper, sie fahren am liebsten deutsche Autos, und statt wie früher von oben nach unten schreiben sie heute von links nach rechts. Meine chinesischen Bekannten in Peking leben heute lieber in Hochhäusern, Apartmentblocks und Villen, wie sie die westliche Architektur erschuf; wild auf einen der letzten verbleibenden alten Siheyuan – das sind die klassischen Hofhäuser in Pekings Hutongs, den Altstadtgassen mit traditionellen Innenhöfen – sind dagegen vor allem europäische Botschaftsangehörige und Expats.

Unterm Strich bleibt: Wir sind uns alle ähnlicher, als viele glauben. Das ist vor allem deshalb relevant, weil die KP einen großen Teil ihrer Propaganda um die Behauptung herum strickt, wonach China ein dermaßen exotisches Land sei, dass sich die westliche Logik daran schlicht die Zähne ausbeiße. Ihr könnt China einfach nicht verstehen, heißt es immer wieder. Und viele Kulturrelativisten fallen darauf herein und plappern die Mär nach, wonach Chinas »nationale Besonderheiten« dringend nach genau jener Spielart von Diktatur verlangten, die die Partei ihr angedeihen ließe. Das aber ist eine Falle, in die man nicht tappen sollte, hier haben sich Chinas Kommunisten einen ganz eigenen Orientalismus ausgedacht, haben der Realität einfach ein exotisch besticktes Mäntelchen umgehängt, unter dem sie sich bequem verstecken.

Bei nüchterner Betrachtung ist das Argument besonders komisch, wurde doch die Ideologie, die Xi Jinping heute wieder mit viel Leidenschaft predigt, wesentlich ersonnen von dem deutschen Philosophen Karl Marx. Westlicher geht nicht. Und wenn er ankündigt, der Welt nun die »chinesische Weisheit« schenken zu wollen, dann meint er nicht Konfuzius, Laozi und die Regeln des Feng-Shui, sondern schlicht die chinaeigene Kombination aus Staatskapitalismus und den Normen und Werten einer leninistischen Diktatur. Das mag als Mixtur heute stark nach »Made in Peking« riechen – die Zutaten allerdings sind praktisch allesamt aus Europa und den USA importiert.

5. Wieso kommt China auch Chinesen oft spanisch vor?

Meine Lieblingsszene im chinesischen Kino ist aus dem Film Still Life aus dem Jahre 2006. Die von Regisseur Jia Zhangke geschaffene Geschichte spielt in einer städtischen Ruinenlandschaft. Gedreht hat Jia am Rande des Jangtse, in den echten Ruinen der Stadt Fengjie, die kurz nach dem Dreh vom Stausee des Drei-Schluchten-Damms verschluckt wurde. Der Film folgt einem Mann und einer Frau, beide auf der Suche nach ihren ehemaligen Partnern. Sie rauchen, sie essen, sie reden, sie schauen, sie gehen, sie rauchen. Und Suche ist hier jede Geste, jedes Wort und jeder Blick. Die postapokalyptisch wirkende Abbruchlandschaft, durch die die Figuren irren, wirkt wie die Szenerie einer dystopischen Graphic Novel. Es ist ein genialer Kunstgriff des Regisseurs, dass sie dem Zuschauer immer präsent ist und doch den Akteuren des Films nicht ein einziges Mal zum Thema wird.

Fast schon gegen Ende des bis dahin nüchternen Films zündet im Hintergrund eines der Häuser Raketentriebwerke und hebt gen Weltraum ab. Einfach so, ohne jede Vorwarnung. Und ohne dass auch nur einer der Protagonisten den Blick hinwenden würde, ohne dass zu diesem Zeitpunkt der Zuschauer noch schockiert wäre. Da steigt halt ein Haus in den Himmel, na und? China halt. Es wundert einen eben nichts mehr an diesem Ort, in diesem Land, für das die Schwerkraft außer Kraft gesetzt scheint.

Und wenn auch uns in diesen weltweit stürmischen Zeiten hin und wieder das Gefühl beschleicht, im falschen Leben aufgewacht zu sein, in einem Paralleluniversum, weil das alles gar nicht wahr sein kann, was da an Nachrichten auf uns einstürmt, weil es zu absurd ist, zu fantastisch, weil es allem widerspricht, was uns Logik und Erfahrung und gesunder Menschenverstand unser Leben lang lehrten – dann: Willkommen in einer Welt, die Chinesen nur allzu vertraut ist.

Ich habe bald zwei Jahrzehnte gelebt in diesem Land, in dem ein Schriftsteller (Mo Yan) den Nobelpreis bekommen hat, dessen Werk die Kritiker »halluzinatorischen Realismus« bescheinigen. Dabei bedeutet Halluzinieren in China oft nichts anderes als: genau hinsehen. In der einen Ecke Chinas (in Dalian) springt über Nacht Schloss Neuschwanstein aus dem Boden, bloß fünfmal so groß wie bei Füssen, in der anderen (in Hebei) sägt sich ein Bauer selbst sein krankes Bein ab, weil er nicht das Geld für den Arzt hat. Hier regiert eine Partei, die es den Drehbuchautoren des Landes verbietet, Zeitreisen in ihre Spielfilme zu schreiben, »aus Respekt vor der Geschichte«. Gleichzeitig befiehlt diese Partei, atheistisch bis in die Knochen, dem Dalai Lama die Wiedergeburt, und zwar auf chinesischem Territorium. Diese Partei huldigt seit ein paar Jahren wieder Marx und Mao wie seit Jahrzehnten nicht und macht gleichzeitig Peking zur Milliardärshauptstadt der Welt.

Ein Land ist das, das manchen Schriftsteller in die Kapitulation treibt, und nicht allein wegen der Zensur: Das Leben in China, sagt der Autor Murong Xuecun, fühle sich so an, als sei man Zuschauer eines Stückes in einem gewaltigen Theater, »in dem die Geschichten so absurd und so unglaublich sind, dass kein Schriftsteller sie sich je ausdenken könnte«. Und der Schriftsteller Ning Ken meinte einmal, in China sei »die Realität selbst eine Fabel«. Es ist eine Realität, in der die Schwerkraft nicht gilt, in der nicht nur die Dinge, sondern auch die Worte auf dem Kopf stehen.

Lange schien mir das ein Alleinstellungsmerkmal Chinas und anderer Autokratien zu sein. Aber seit sich die Welt einen bösen Scherz namens Donald Trump zum mächtigsten Mann erkoren hat, ist das Fantastische, das Surreale bald allgegenwärtig. Wenn Sie das nächste Mal halluzinieren, nicht vergessen: Wahrscheinlich haben Sie nur genau hingesehen. Und denken Sie an die Chinesen, die ihr ganzes Leben in einem solchen Spiegelkabinett verbringen.

Ende der Leseprobe