Gebrauchsanweisung für Vietnam, Laos und Kambodscha - Benjamin Prüfer - E-Book

Gebrauchsanweisung für Vietnam, Laos und Kambodscha E-Book

Benjamin Prüfer

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Beschreibung

Zarte Frauen mit Kegelhüten und Mönche in safranfarbenen Roben; am Straßenrand weiße Rinder und duftende Garküchen; bizarre Felsformationen und die berühmtesten Tempel der Welt: Südostasien bezaubert. Der Autor erzählt, wie er von Laoten ein ganz neues Zeitgefühl lernte. Wie in Vietnam chinesisches und französisches Erbe, kommunistischer und wirtschaftlicher Ehrgeiz lässig harmonieren. Vom Leben in Kambodscha mit Legenden, Bettlern und hungrigen Hausgeistern. Vom Mekong als Lebensader, 40-stündigen Busfahrten über Serpentinen und dem täglichen Mopedirrsinn in Phnom Penh. Er geht in Saigon auf die Suche nach Graham Greene, verrät, warum die Regenzeit viel besser ist als ihr Ruf und was das Lächeln der Asiaten wirklich bedeutet.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Alle Zitate aus »The Quiet American« (»Der stille Amerikaner«) sind der Ausgabe von Penguin Classics entnommen.
Das Zitat von David Halberstam stammt aus »Edward Lansdales’s Cold War« von Jonathan Nashel, University of Massachusetts Press.
»Vietnam. A Traveler’s Literary Companion«, aus dem aus den Kurzgeschichten von Nguyen Huy Thiep und Pham Thi Hoai zitiert wird, ist erschienen bei Whereabout Press.
Deutsche Übersetzungen von Benjamin Prüfer.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
3. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95356-6
© Piper Verlag GmbH, München 2011
Redaktion: Matthias Teiting, Duisburg
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Umschlagkonzept: Büro Hamburg
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Umschlagabbildung: Hugh Sitton / Corbis (Angkor)
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Karte

Eine Reisewarnung

Falls Sie eine Reise nach Laos, Kambodscha und Vietnam planen – jene Region, die man einst unter dem viel spannender klingenden Namen Indochina zusammenfasste –, möchte ich an dieser Stelle eine Warnung aussprechen: Sie werden immer zu spät kommen. So geht es zumindest mir. Wo ich auch hinreise, um authentische Kulturen kennenzulernen, romantische Landschaften zu sehen, kurz: um ein Tim-und-Struppi-Abenteuer zu erleben – immer komme ich zu spät. Wenn ich ankomme, dann ist da eine zwielichtige Bar, und am Tresen sitzt ein raubeiniger Amerikaner oder Australier, der angeblich vor langer, langer Zeit, gerade als die Region »wieder offen« geworden war, mit den ersten Hilfsorganisationen nach Indochina gekommen ist. Und der sagt dann: »Was? Authentische Kulturen? Romantische Landschaften? Ach ja, bis vor Kurzem war Indochina noch authentisch und romantisch – also, bis kurz bevor DU hier aufgeschlagen bist, du mit deinem lächerlichen Reiseführer in der Hand. Tja, und dann hat es sich plötzlich in diese chaotische Touristenhölle verwandelt, die du jetzt erlebst. Sorry, dude! Noch ein Beerlao?« So geht es mir jedes Mal.

Ich will Ihnen davon erzählen, wie ich das letzte Mal zu spät gekommen bin. Es war ein Trip, den ich schon lange gemacht haben wollte: Mein Plan war, mit einem sogenannten Slowboat, einem der hölzernen Frachtkähne, die zu Passagierfähren umgebaut wurden, von Chiang Kong, einer kleinen thailändischen Stadt am Ufer des Mekong, nach Luang Prabang in Laos hinunterzufahren. Ich hatte viele begeisterte Reiseberichte über diese Tour gelesen und erwartete, durch eine »Geo«-Fotoreportage zu gleiten: Wasserbüffel am Flussufer, Morgennebel über dem Fluss …

Doch als ich dann tatsächlich im Boot saß, war meine Enttäuschung groß.

Offensichtlich war ich nicht der Einzige, der diese Idee gehabt hatte. Die Holzbänke waren voll besetzt mit Touristen. Ich musste die Flip-Flops einziehen. Durch die Reihen lief ein vielleicht 12-jähriger Junge mit einem rosa Plastikeiskühler voller Bier, Wodka- und Red-Bull-Flaschen. Er zeigte den Reisenden, wie sie sich Wodka-Red-Bull mixen konnten, indem sie zuerst den Energy-Drink halb leer tranken und die Dose dann mit Wodka auffüllten. Am Bug hatte sich eine Gruppe von Briten niedergelassen, die offensichtlich schon einiges von dem Bier getrunken hatte. Ein junger Mann mit blondem Pferdeschwanz zupfte an seiner Gitarre, ein zweiter mit Dreadlocks begleitete ihn auf einer Bongo. Dann war da noch Lars aus Holland, der das Gesprächsthema in seiner Reisegruppe war, weil er in der letzten Nacht ein thailändisches Mädchen mit aufs Zimmer genommen hatte und daher jetzt den Spitznamen »Boom-Boom« trug. Am Heck saß eine Gruppe Israelis, die mir etwas zu häufig versicherten, dass sie auf ihrer Reise »viele coole und sehr nette Deutsche« kennengelernt hätten. Dazwischen, wie Statisten, einige schüchterne Einheimische.

Ich hätte es mir denken können: Chiang Kong ist der Einfallspunkt für Touristen auf ihrer Reise durch Indochina. Die klassische Tour führt sie mit dem Boot nach Luang Prabang. Dort gucken sie sich Pagoden an und reisen, ausgerüstet mit weichen Slippern, die sie auf dem Nachtmarkt in Luang Prabang gekauft haben, nach Vang Vieng zum Tubing. Das ist eine kleine, lärmende Stadt inmitten eines von zerklüfteten Bergen umgebenen Tals, die ausschließlich aus Bars und Gästehäusern zu bestehen scheint. Die Hauptattraktion ist das besagte Tubing: Man lässt sich im aufgeblasenen Schlauch eines Autoreifens einen kleinen Fluss hinabtreiben, wobei man eine Reihe von Bretterbuden am Ufer passieren muss, in denen giggelnde einheimische Kinder mit rosa Plastikkühlern warten. Ein halber Liter Bier kostet umgerechnet 80 Cent, ein 1,5-Liter-Eimer Wodka-Red-Bull zwei Euro, ein halber Liter Cocktail 1,50 Euro, und lao lao, Reisschnaps, ist kostenlos. Dann in die Hauptstadt Vientane und danach zurück ins sichere Thailand.

Unter den Reisenden war auch ein Deutscher – wir erkannten uns mit der leichten Unbehaglichkeit, mit der sich deutsche Touristen auf Reisen begegnen. Schließlich ist dies das endgültige Ende der Illusion eines exotischen Abenteuers – die Anwesenheit eines anderen deutschen Touristen. Er sagte, er studiere Sensorik an der FH Karlsruhe, und blickte etwas säuerlich drein. In jenem thailändischen Gästehaus, in dem er das Ticket für die Bootsfahrt gekauft hatte, hätten sie ihm ein Foto von einem Schiff mit komfortablen Polstersesseln gezeigt, wie in einem Reisebus. Und da saßen wir, auf einem hölzernen Kahn mit groben Bänken.

Die Briten hatten die ersten Biere geleert und wurden laut. Zwei Kerle rauften sich im Spaß und rollten über die Holzbänke, T-Shirts rutschten hoch und zeigten verschwitzte weiße Bäuche und glühenden Sonnenbrand.

»Sind nicht alle Klischees wahr – zumindest ein bisschen?«, sagte ich mit Blick auf die Briten.

»Ja, furchtbar«, sagte der Deutsche. »Da gibt es nur eines, um das zu ertragen: mitsaufen! Soll ich dir was zu trinken mitbringen?«

Am Ufer standen schwere Maschinen. In Chiang Kong wird mit dem Bau einer Brücke über den Mekong begonnen. Eines Tages sollen asphaltierte Schnellstraßen bis nach China führen. Mit Wehmut erinnerte ich mich daran, wie ich vor acht Jahren das erste Mal in Laos angekommen bin. Damals gab es keine Baumaschinen, keine Schnellstraßen, kaum Tourismus. Man konnte nur über lehmige Pisten durch den Dschungel reisen, in Pick-ups, die regelmäßig einer Gruppe Elefanten hinterherschleichen mussten, die gerade auf dem Weg zur Arbeit war. Ich tauschte Zigaretten mit einheimischen Jägern, die mit selbst gebastelten Musketen Vögel jagten, und rauchte in abgelegenen Dörfern Opium mit den Bauern. Schlief in den Pagoden und lauschte den einfachen Weisheiten der buddhistischen Mönche. Ich fand ein Land, in dem arme, aber glückliche Menschen lebten. Geschützt durch Buddhismus und eine fürsorgliche Diktatur vor den teuflischen Verlockungen der westlichen Welt. Ein Laos, das für immer verschwunden ist. Ach! Indochina ist nicht mehr Indochina.

Stopp!

Halt!

Schnitt!

Sie haben mir das eben nicht abgenommen, oder?

Und wenn Sie mir bis hierhin das nostalgische Geschwafel doch geglaubt haben, dann würde ich Ihnen jetzt gern einen günstigen Gebrauchtwagen verkaufen. Ich warne Sie: Wann immer ein Reisender in diese Region gekommen ist, stets hat er das Gefühl vermittelt bekommen, er habe das »wahre Indochina« gerade verpasst. So war es immer: Als in den Sechzigerjahren die ersten amerikanischen Touristen kamen, beklagten sich die französischen Plantagenbesitzer, dass Indochina nicht mehr Indochina sei. Als die Kommunisten kamen, beklagten sich die Amerikaner, dass Indochina nun für immer verloren sei. Als die Backpacker kamen, beklagte sich so gut wie jeder, dass es mit Indochina den Bach runtergehe. Die Wahrheit ist: Es gab nie ein »wahres Indochina«. Es war nie das entrückte Paradies, zu dem es in unzähligen Reiseberichten stilisiert wurde. Indochina ist romantisch und authentisch – aber vielleicht nicht auf die Art, die Sie erwarten.

Während dieser Slowboat-Reise habe ich das wahre Indochina doch noch gefunden. Plötzlich sah ich am Ufer eine Herde Wasserbüffel. Das Dach einer Pagode funkelte. In der Ferne verschwanden die Berggipfel in den tiefhängenden Wolken. Da war sie, meine »Geo«-Fotoreportage. Sogar die Briten verstummten und genossen den Anblick. Indochina bleibt eben Indochina.

So. Könnte ich jetzt einen Wodka-Red-Bull haben?

Magic Bus

Im Folgenden werde ich Ihnen eine völlig richtungsfreie Geschichte über eine Reise in einem laotischen Bus erzählen. »Aha«, werden Sie vielleicht mit einer hochgezogenen Augenbraue sagen. »Und was ist die These? Die Aussage? Der Zweck? Warum soll ich fünfzehn Minuten meiner wertvollen Zeit für die Lektüre opfern?«

Einen Moment bitte. Jetzt mal gaaaaaaanz langsam. Mit dieser Einstellung werden Sie in Indochina nicht glücklich werden. Lehnen Sie sich zurück, und gießen Sie sich noch eine Tasse grünen Tee ein. Ich geben zu: Eigentlich hatte ich als Journalist gelernt, die Zeit des Lesers nicht zu verschwenden und so schnell wie möglich zum Wichtigsten zu kommen. Aber irgendwo in Laos ist mir jenes europäische Zeitgefühl abhandengekommen. Genauer gesagt auf einer Busfahrt. Und von der will ich berichten.

Schon als ich den Bus zum ersten Mal sah, hatte ich kein gutes Gefühl. Aber das war nicht weiter verwunderlich. Denn man hat nie ein gutes Gefühl, wenn man einen laotischen Bus sieht. Es war ein blau-weißes Fahrzeug, das aussah, wie man sich einen Schulbus auf dem Dorf vorstellt – abgesehen davon, dass Schulbusse nicht bis zur Höhe der Fenster mit rotem Schlamm verkrustet sind. Wir standen auf einem Sandplatz außerhalb der Stadt Huay Xai, und der eigentliche Zeitpunkt der Abfahrt war schon verstrichen. Der Gang zwischen den Sitzen war mit einem Motorroller, einigen Gasflaschen und unzähligen Reissäcken gefüllt. Neben mich setzte sich eine junge Frau mit einem schlafenden Baby auf dem Arm. Eine alte Frau, die offensichtlich einem der Bergvölker entstammte, aß mit großen Bissen ein Stück Wassermelone und lächelte mich mit schwarzen Zähnen und von Melonensaft rot gefärbten Lippen an. Ein Blick auf die Armbanduhr: Ich wartete jetzt seit etwa eineinhalb Stunden, dass der Bus losfahren würde. Mutlos sah ich der Aussicht entgegen, etwa acht Stunden auf diesem Plastiksitz verbringen zu müssen, über den Highway Nr. 3 schaukelnd, während mein Kopf im Takt der Schlaglöcher vor und zurück wippen würde.

Wie mutlos wäre ich gewesen, wenn ich die tatsächliche Dauer der Reise erahnt hätte?

Man nennt Laos das Land der Millionen Elefanten. Doch offen gesagt, ich bezweifele sehr, dass es tatsächlich so viele sind. Für mich ist Laos das Land der Millionen Buspannen. Und das ist keine Übertreibung.

Der Busfahrer hupte kurz als Zeichen für die Abfahrt. Ich streckte meine Füße auf einem Reissack aus. Über die Windschutzscheibe zog sich ein Sprung, der aussah wie der Finger einer Hand. Der Bus hatte sechs Gänge, aber nur drei davon schienen zu funktionieren, und das Stöhnen und Wimmern des Getriebes gehörte die Fahrt über zu den ständigen Hintergrundgeräuschen. Genau wie das Würgen der Fahrgäste. Südostasiatischen Frauen wird in Bussen grundsätzlich schlecht, während die Männer und westlichen Frauen davon völlig unbeeindruckt sind – ich bin nicht sexistisch, lediglich objektiv. Warum das so ist, weiß ich nicht, es ist eines der asiatischen Rätsel, die ich in diesem Leben nicht mehr lösen werde. Daher gehören viele kleine schwarze Plastiktüten zur Grundausstattung jedes Busses – genau wie die AK-47, die der Fahrer in unserem Fall neben sich unter einer gestrickten Decke versteckt hielt.

Die Bezeichnung Highway für die Straße Nummer 3 ist ein Euphemismus. Sie ist wenig mehr als ein schmales Band aus roter Erde, das sich in Schlangenlinien an den Hängen entlangwindet. Wir fuhren durch einige namenlose Orte, Häuser aus Bambus, die mit getrockneten Palmenblättern gedeckt waren, dazwischen Menschen, Ziegen, Kühe sowie Hühner und Vögel, die wie hungrige Truthähne aussahen. Die flache Landschaft wurde gebirgig. Die Luft roch nach Rauch, und ein großer Teil der Hänge links und rechts der Straße war versengt – wahrscheinlich gerodet und in Brand gesetzt, um Platz für neue Felder zu schaffen. Die rostbraune Erde, aufgewirbelt durch die Reifen des Busses, bedeckte meine Haut und drang in meine Nase und meinen Mund. Die meiste Zeit waren wir allein auf der Straße, hin und wieder kam uns ein mit Baumstämmen beladener Lastwagen entgegen. Der Wald reichte bis zum Horizont. Ich blickte ungeduldig aus dem Fenster, stets zur nächsten Biegung der Straße, und hoffte einen Ort oder eine Kreuzung zu sehen, anhand derer ich hätte erkennen können, wie weit wir waren. Aber stets war da nur Wald und hinter der nächsten Biegung noch mehr Wald.

Ein Blick auf die Uhr. Musste der Bus so langsam dahinkriechen? Ich hatte nicht ewig Zeit. Nach den Völkern der Bergdörfer im Norden wollte ich noch die Tempel von Luang Prabang sehen, die Pötte in der Plain of Jars, ich wollte zum Tubing in Vang Vien – Zeit und Geld musste optimal eingesetzt, durch sorgfältige Planung das Bestmögliche aus drei Wochen Urlaub herausgeholt werden. Wie entsetzlich ist die Panik des Touristen, wenn er nach der erste Reisewoche feststellt, dass er bereits ein Drittel seines bezahlten Urlaubs – jene raren Wochen im Jahr, in denen man noch einmal ganz verwegen ein Abenteuer erleben darf – vor allem in Flughäfen, Reisebüros, Bahnhöfen und Bussen verbracht hat und die Speicherkarte der Digitalkamera noch nicht einmal halb mit Bildern gefüllt ist. Wann fängt der eigentliche Urlaub an? Hinter der nächsten Biegung kamen nur noch mehr rostrote Straße und Wald.

Ich musste irgendwann eingeschlafen sein und wurde davon geweckt, dass jemand an meiner Schulter rüttelte. Der Bus stand. Ein Soldat in einem verwaschenen Khakihemd und mit einer Baseballmütze auf dem Kopf. Eine blank gewetzte Kalaschnikow baumelte an seiner Schulter. Ich blickte kurz um mich, draußen standen noch weitere Soldaten, sie trugen Ponchos aus zerknitterter Plastikfolie zum Schutz vor dem Regen, der mittlerweile eingesetzt hatte. Eine Straßenkontrolle. Der Soldat hielt die Hand auf und blickt mich an. Wollte er Geld? Ich suchte mit der Hand bereits nach meinem Geldbeutel, als ein junger Mann ein paar Reihen vor mir hektisch »No!« rief. »No – Passport!«, sagte er lächelnd. Ich holte meinen Pass hervor, aber der Soldat warf noch nicht mal einen Blick hinein. Ich war offensichtlich nicht das, wonach sie suchten. Stattdessen griff der Soldat nach einem groben Leinensack auf dem Boden. Mir blieb fast das Herz stehen, als er dessen Inhalt hervorzog: ein totes Pelztier mit halb offen stehenden Augen. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Kreatur das war. »Fuchs-Waschbär-Ratte« beschreibt es am besten. Einer der Fahrgäste stand empört auf und fing einen Streit mit dem Soldaten an. Der Soldat wiederum gestikulierte mit dem Pelztier in der Hand, wobei dessen nach nassem Hund riechender Schweif mir ständig durchs Gesicht wischte. Der junge Mann lächelte mich an: »Das ist alles ganz normal«, sollte das wohl heißen. Nachdem der Soldat mit dem Tier verschwunden war, setzte sich der Bus wieder in Bewegung. Der Regen hatte die Straße aufgeweicht, wir fuhren nun deutlich langsamer. Ich blickte auf die Uhr: Sechs Stunden waren wir bereits unterwegs.

Als ich das nächste Mal auf die Uhr blickte – eine halbe Stunde später – passierte es: Der Bus bewegte sich seitwärts und neigte sich ein Stück, ich musste mich mit den Händen abfangen, um nicht mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe zu knallen. Der Fahrer ging vom Gas und riss brutal am Schalthebel. Nachdem das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war, ließ er die Kupplung kommen, aber der Bus schüttelte sich nur wie ein müdes Pferd. Ich blickte ratlos umher, um in den Gesichtern der anderen einen Hinweis darauf zu entdecken, was vor sich ging. Meine Mitreisenden sahen sich aber nur wissend an. Dann hörte ich durch das Rasseln des Motors hindurch das hohe Geheule durchdrehender Reifen – wir steckten fest. Die laotischen Fahrgäste verließen ohne Aufforderung des Fahrers den Bus, als würde es sich um ein einstudiertes Ritual handeln. Draußen bildete sich ein Halbkreis: Eines der Hinterräder war in einer schlammigen Rinne versackt, die Achse lag auf der Fahrbahn auf, das ganze Fahrzeug hatte sich beunruhigend zur Seite geneigt.

Der Fahrer verschwand unter dem Bus und legte Ketten um die Reifen, ähnlich den Schneeketten, die wir in Deutschland verwenden. Dann kletterte er wieder in den Bus und gab Gas: Der klebrige Schlamm haftete an den Ketten, und im Nu drehten die Räder wieder durch. Der Motor erstarb mit einem obszönen Geräusch. Ein Blick auf die Uhr: Es war drei Uhr nachmittags, seit acht Stunden waren wir jetzt unterwegs, und in drei bis vier Stunden würde es dunkel werden. Mir fiel auf, wie kühl es inzwischen war – Pullis und lange Hosen hatte ich in meinem Rucksack auf dem Dach des Busses gelassen. Meine Mitreisenden begannen sich auf der schlammigen Straße einzurichten. Sie brachen kleine, noch grüne Zweige von den Ästen der uns umgebenden Bäume, schichteten sie zu ärmlichen Häufchen auf und brachten diese zum Brennen, indem sie Plastikflaschen anzündeten und das brennende Plastik auf das Holz tropfen ließen. Dann hockten sie sich im Kreis um dieses Feuer, auf ihren Hacken sitzend, und rauchten Zigaretten und plauderten.

Ich lief mit verschränkten Armen auf und ab, in Ermangelung eines Gesprächspartners, mit dem ich über die Unfähigkeit des Busfahrers hätte lästern können. Schließlich war doch er der Schuldige! Das ist die Logik des Bahncardbesitzers: Schuldige suchen, lamentieren, reklamieren. Ich hoffte, dass meine demonstrativ zur Schau gestellte schlechte Laune den Fahrer antreiben würde. Aber er konnte mich ohnehin nicht sehen. Er hatte eine Klappe an der Seite des Busses geöffnet, in der er einige Werkzeuge, einen öligen Plastikeimer voller Schrauben und eine Sammlung aus Holzscheiten verstaut hielt, und er wog jetzt einige dieser Holzstücke in der Hand, wie ein Chirurg, der für einen komplizierten Schnitt ein passendes Skalpell sucht. Mit dem ausgewählten Scheit verschwand er dann unter dem Fahrzeug. Ich blickte auf die Uhr: In etwa einer Stunde würde es dunkel werden. Ich war nicht unbedingt erpicht darauf, die schlammigen Serpentinen in der Nacht entlangzufahren.

Dann plötzliche Erleichterung. Der Fahrer kletterte wieder in den Bus und drückte auf die Hupe, als Zeichen, dass alle wieder einsteigen sollten. Der Motor brummte vielversprechend, die Fahrgäste kletterten euphorisch schnatternd über die Reissäcke im Gang zu ihren Sitzplätzen. Und tatsächlich: Wir bewegten uns! Leider nicht sehr weit. Nach etwa fünfhundert Metern war ein knirschendes Geräusch zu hören: Die hintere Achse fraß sich wieder in die Erde. Alle verließen den Bus, hockten sich wieder hin und machten Feuerchen. Der Fahrer öffnete eine Abdeckung im Gang zwischen den Sitzreihen, die zu den Eingeweiden des Busses führte, und blickte mit gerunzelter Stirn hinein. Das Getriebe, das sich die ganze Fahrt über schon beklagt hatte! Langsam wurde mir klar, dass ich der Einzige im Bus war, der sich der Illusion hingab, an diesem Tag noch ein Bett zu sehen. Der Busfahrer hupte noch einmal, aber diesmal stiegen die Fahrgäste ohne Euphorie ein. Sie wussten: Es war, um in dem Bus zu übernachten.

Meine Ungeduld verwandelte sich in Verzweiflung. Es gab keine Toilette weit und breit. Etwa zehn Stunden zuvor hatte ich zuletzt etwas gegessen, eine Nudelsuppe mit etwas Hühnerfleisch. Meine Wasserflasche war leer. Ich betrachtete meine Mitreisenden, die völlig anders als ich auf die Situation reagierten. Es gab weder Klagen noch Beschwerden, noch Verzweiflung. Sie fügten sich einfach mit einem Lächeln in das, was das Schicksal für sie bereithielt. Sie machten es sich so bequem wie möglich, tauschten Zigaretten und hielten sich mit ein paar Scherzen gegenseitig bei Laune. Sonderbar.

Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein. Denn ich träumte. Zuerst spürte ich ein leichtes Kribbeln im Hinterkopf. Dann träumte ich, dass sich irgendetwas im Inneren meines Kopfes löste. Ich sah mich plötzlich selbst, wie sich meine Muskeln versteiften und mein ganzer Körper anfing zu zittern, sodass ich auf die Reissäcke fiel und meine Augen sich ins Weiße verdrehten. Dann öffnete sich mein Mund, und heraus kletterte ein insektenartiges Wesen, das bis dahin mein Gehirn fest in seinen Krallen gehabt hatte. Seine Augen waren Digitalanzeigen, seine Beine waren Uhrzeiger, und es schimpfte wie ein rostiger Wecker, als es im Unterholz des Waldes verschwand. Das also war mein europäisches Zeitgefühl gewesen. Nachdem es mich verlassen hatte, spürte ich eine große innere Ruhe. Es gab keine Pläne, keine Task-Listen und keine Deadlines mehr. Wichtig war nur noch der Moment.

Während der restlichen Reise habe ich kein einziges Mal mehr auf meine Uhr geblickt. Offen gesagt, ich weiß gar nicht, wo sie ist, ich habe sie verloren. Ich würde Ihnen jetzt gern erzählen, wie am Ende alles gut wurde und ich an meinem Ziel ankam. Aber leider war mein völlig humorloser Verlag der Ansicht, dass das Buch irgendwann mal fertig werden müsste. Außerdem habe ich jetzt schon ganz schön lange getippt. Was wollte ich gerade schreiben? Egal. Ich werde mich erst mal in die Hängematte legen und etwas schlechtes Gras rauchen. Und vielleicht später weiterschreiben. Oder auch nie.

Opium

Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Wenn Sie dieses Buch bis hierhin gelesen haben, konnten Sie sich bestimmt nicht des Eindrucks erwehren, dass ich hin und wieder mal … nun ja, wie soll ich es ausdrücken? Sie wissen schon. Dass ich hin und wieder mal einen durchlasse … also … ähm … einen baue … einen aufrolle … um nicht zu sagen: einen rauche.

Meine Güte, nennen wir das Kind doch einfach beim Namen: dass ich Marihuana konsumiere. Weiß doch jeder, dass wir Europäer in Südostasien ständig Drogen nehmen, dass unsere Gehirne vierundzwanzig Stunden pro Tag vernebelt sind von »Khmer Rouge« und »Thai Super Skunk«.

Ich gebe sogar hin und wieder ein bisschen damit an. Am liebsten in E-Mail-Korrespondenzen, in denen ich als Journalist meine Artikel über Indochina an Zeitungsredakteure nach Deutschland schicke. Dann schreibe ich gern Sachen wie zum Beispiel: »Hier angehängt ist der Text – fertig! Ich lege mich jetzt in die Hängematte und roll mir eine Tüte ;-) Gruß, Benjamin.«

Dann denke ich mir: »Hihihi … Der arme Bionaden-Spießer sitzt jetzt in seinem Büro unter Neonlicht vor einer depressiven Zimmerpflanze und trinkt seinen Filterkaffee. Und wenn er nach Hause kommt, wird er von seiner Frau angeschnauzt, weil er sein Kind zu spät von der Kita abgeholt hat. Und wenn sie sich am Abend die Wiederholung des Tatorts ansehen, dann denkt er an mich in der Hängematte, wie ich meinen aufregenden Hemingway-Graham-Greene-Hippie-Kriegsreporter-Lifestyle pflege.«

Tja, jetzt mein Geständnis: Ich nehme gar keine Drogen. Kein bisschen. Ich würde ja gern. Alle meine Freunde, die heute in Deutschland als Produzenten oder Führungskräfte bei Versicherungen arbeiten, rollen sich weltmännisch und subversiv einen Joint, sobald sie von der Arbeit nach Hause kommen. Und ich sitze hier sozusagen an der Quelle – und die härteste Droge, die ich nehme, ist Dosenbier. Das konsumiere ich allerdings reichlich. Denn ich genieße es sehr, in einem Land zu leben, in dem es kein Dosenpfand gibt und in dem jede Form von Political Correctness völlig unbekannt ist.

Ehrlich gesagt: Die angenehmen Seiten von Marihuana für mich zu entdecken ist eines der Lebensprojekte, das ich in dieser Inkarnation nicht mehr zum Abschluss bringen werde – genauso wenig wie mein Vorhaben, eine Kampfsportart zu erlernen. In meinen Jugendtagen wusste ich zwar, was sich gehört, und habe pflichtbewusst Drogen genommen. Aber die Erinnerungen daran verbinde ich vor allem mit Übelkeit und Kopfschmerzen. Außerdem habe ich gar keine Zeit mehr für Drogen. Ich muss ja ständig meine Tochter zur Schule bringen und wieder abholen.

Ich hatte allerdings eine Drogenerfahrung, an die ich mich gern erinnere. Es war im Jahr 2003, während meiner ersten Asienreise: Auf einer Wanderung durch den Norden von Laos übernachtete ich in einem kleinen Dorf des Bergstammes der Akha in der Nähe von Muang Sing. Als ich mein Nachtlager in einer der strohgedeckten Stelzenhütten herrichten wollte, fragte mich ein Mann, ob ich nicht mit einigen Dorfbewohnern zusammen Opium rauchen wollte. Er hatte vom Tabak gelb gefärbte Fingernägel, ein Lächeln voller Zahnlücken und eine Haut, die runzelig und faltig wie zerknittertes Butterbrotpapier war und sich über den Rippen seines nackten Brustkorbes spannte. Wir schulterten ein paar Bastmatten und liefen aus dem Dorf in den Wald hinein, »wegen den Soldaten«, wie die Einheimischen sagten. Dann breiteten sie die Matten an einem Berghang zu einem Lager um eine kleine, aus Dosenblech geschweißte Öllampe aus. Über uns hing ein grandioser Sternenhimmel, Glühwürmchen schwebten zwischen den Bäumen.

Der Mann ließ sich auf einer Matte nieder und holte einen schwarz-braunen, in die Plastikfolie einer Zigarettenverpackung gewickelten Klumpen hervor. Die Pfeife bestand aus einem einfachen Bambusrohr, der Pfeifenkopf war ein zylinderförmiges Arzneifläschchen aus Glas, in dessen Seite ein winziges Loch gebrannt war. Er zerrieb Aspirintabletten in einem kleinen Porzellanmörser, dann mischte er das Pulver mit der Opiumpaste und etwas Opiumasche, trennte ein Stück von dem Klumpen ab und formte eine Kugel daraus, die nicht viel größer war als ein Stecknadelkopf. Die Kugel drückte er auf das kleine Loch im Pfeifenkopf und erhitzte beides kurz über dem Öllämpchen. Dann setzte er die Pfeife an, wobei er ständig mit der Nadel die Opiumpaste in das kleine Loch stieß. Das Opium wurde vom Sog in das Innere des Pfeifenkopfs gezogen, und das Arzneifläschchen füllte sich mit weißem Rauch, den er mit einem Zug einsog. Dann atmete er gedehnt aus und trieb davon.

Danach war ich dran. Er bereitete die Pfeife für mich vor. Durch meine Lungen trieb ein süßsaurer Geruch, dessen Aroma wie nichts war, was ich kannte. Es war ein Zustand, in dem der Körper träge, aber der Geist wach war. Mir kam es vor, als würde ich in dem warmen Wasser eines Flusses in Richtung Meer treiben. Eine Nacht voller tiefer Erkenntnisse über die Zusammenhänge meines Lebens – die ich leider am nächsten Morgen alle wieder vergessen hatte.

Ich denke gern an diese Nacht zurück. Es ist, als hätte ich dort in Laos für die Dauer eines Atemzugs die Luft des alten Indochinas eingesogen. Als hätte ich den zynischen Kommentaren eines französischen Plantagenbesitzers über den Niedergang der Region gelauscht, während seine katzenäugige Mätresse ihm die Pfeife stopft. Mit Air-America-Piloten in Vientiane eine Opiumhöhle besucht. Im Rausch mit Graham Greene im »Hotel Majestic« in Saigons Rue Catinat über Politik diskutiert.

Natürlich blende ich bei dieser Erinnerung einige Details aus. Zum Beispiel, dass ich nicht in geheimer Mission, sondern mit zwei einheimischen Touristenführern unterwegs war, die für eine Eco-Tourism-Agentur arbeiteten. Und dass die beiden wahrscheinlich jeden Touristen auf diesen Berghang schleppten, da die authentische Opiumerfahrung der Europäer einen kleinen Zuverdienst für sie bedeutete. Und dass ich einen Bauchgurt voller Travellerchecks trug und meine Füße mit Autan eingerieben hatte. Trotzdem: In diesen Stunden war Asien so, wie es sein sollte.

Heute ist es in Laos nicht mehr ganz so einfach, seine Erfahrung mit Opium zu machen. Schon 2002 wurde der Anbau verboten. Drei Jahre später erklärte sich das Land für »Opium-frei«. Das war zwar eine krasse Übertreibung, richtig ist jedoch, dass heute nur noch ein Bruchteil der Menge von Mohnblüten angebaut wird, die damals die Berghänge bedeckte. Bei der Freude über diese Nachricht wird leider oft vergessen, dass der Rückgang des Opiumanbaus vor allem durch die Zwangsumsiedlungen der Bergvölker in die Niederungen des Landes erreicht wurde.

Vor Kurzem saß ich mit einem Freund an der Flusspromenade in Phnom Penh in Kambodscha. Aus einer Laune heraus beschlossen wir, meine traumhafte Opiumerfahrung noch einmal zu wiederholen. Mein Freund ist einer dieser Menschen, die jeden Zweiten in der Stadt zu kennen scheinen. Und so brauchte es nur einige Telefonate und eine halbe Stunde des Wartens, bis wir ein Tütchen mit brauner Paste in den Händen hielten. Ich mischte den Inhalt mit etwas zerstoßenem Aspirin, obwohl ich keine Ahnung hatte, was der Zweck dieser Prozedur sein sollte. Vielleicht, dass man am nächsten Morgen weniger Kopfschmerzen bekam? Eine vernünftige Opiumpfeife hatten wir natürlich nicht. Die Pfeifen, die man auf dem Russenmarkt in Phnom Penh an Touristen verkauft, erwiesen sich als völlig untauglich: Sie waren undicht und zogen Luft an Stellen an, wo sie es eigentlich nicht sollten, oder ihr Lack platzte in der Hitze ab. Wir zerdrückten eine Coladose und bohrten eine kleine Öffnung in die Seite. Dann erhitzten wir die Dose mit dem Opium über einem Feuerzeug und sogen den Rauch über die Trinköffnung ein. Leider fühlten wir uns kein bisschen wie Graham Greenes Erben. Eher wie zwei verzweifelte Crack-Junkies.

»Merkt du was?«, fragte mein Freund.

»Nö«, sagte ich.

Wir warteten noch einen Augenblick, ob vielleicht doch noch ein Opiumtraum einsetzen würde.

Dann kaufte ich uns zwei Dosenbier.

Denguefieber

Ich kann verstehen, dass der alte Mann zuerst misstrauisch war. Ich sah ja auch schlimm aus: zusammengesunken, mit halb geschlossenen, blutunterlaufenen Augen. Das lag am Fieber. Ich saß nur da am Ufer des Mekong und schaute auf das Wasser, das von Laos aus an der thailändischen Grenze entlang bis nach Kambodscha fließt. Die Zeit verstrich, das Wasser strömte den Fluss hinunter, Touristen strömten durch Luang Prabang, die Viren strömten durch mich. Mir war alles egal. Am Morgen war ich aufgewacht, mit schmerzenden Gelenken und glühendem Kopf. Ein Jumbo-Fahrer hatte mich zu einem Krankenhaus außerhalb der Stadt gebracht. Ein Arzt maß Fieber, nahm mir Blut ab, und dann schlief ich einige Stunden auf einer Trage, mit einer Infusion im Arm, bis mir jemand einen Zettel in die Hand drückte: dengue fever. Eine durch Mücken übertragene Viruskrankheit, gegen die es keine Medikamente gibt. Ich hatte eine milde Form davon, nicht schlimmer als eine hartnäckige Grippe, die verbunden ist mit tiefer Antriebslosigkeit.

Ursprünglich wollte ich nur einen Tag in Luang Prabang bleiben und dann Richtung Süden nach Kambodscha weiterreisen. Aber das ging nun nicht mehr. Ich gab mein Zimmer in einem der Backpacker-Gästehäuser auf und zog in eines der etwas besseren Hotels – mit Klimaanlage und eigenem Badezimmer. Ich plante, die Krankheit auszuschlafen. Doch schon bald flüchtete ich. Das Surren der Klimaanlage, die Wegwerfhausschuhe, die Duschhauben, die Papierbanderole mit der Aufschrift »Desinfected« auf dem Toilettensitz, die weißen Handtücher mit dem Logo des Hotels sowie die eingeschweißten Zahnbürsten schienen mich durch ihre Unpersönlichkeit daran erinnern zu wollen, wie allein ich war. Ich ertrug weder die Einsamkeit des Zimmers noch die frisch geduschten und gut gelaunten Touristen in den Bars. Daher setzte ich mich an den Fluss.

Ich hatte den alten Mann schon eine Weile beobachtet, bevor er mich bemerkte. Er stand auf einem der Felsen aus spitzen Vulkangestein und warf sein Netz aus, ein ums andere Mal, ohne etwas zu fangen. Er wickelte es immer wieder um seinen Ellenbogen, mit der Sorgfalt, mit der man einen Fallschirm zusammenlegt. Dann schleuderte er es mit einer Drehung aus der Hüfte in die Luft über dem Fluss, wo es sich zu einem perfekten Kreis entfaltete, um dann auf der Wasseroberfläche aufzuschlagen und niederzusinken. Er würde sich auf seine Hacken setzen und eine Weile warten und sich vielleicht eine seiner kurzen, selbst gedrehten Zigaretten anzünden. Danach würde er das Netz einholen, wie in Zeitlupe, immer wieder innehaltend, um seine Schwere zu prüfen.

Dann bemerkte er mich, einen Weißen, einen falang. Ich spürte seine Irritation. Es ist nicht so, dass Weiße eine Seltenheit in Luang Prabang wären. Sie strömen zu Hunderttausenden durch den Ort, der selbst nicht mehr als ein paar Zehntausend Einwohner hat. Die Touristen fotografieren die Pagoden und die Mönche in den safranfarbenen Roben, die morgens in einer Reihe durch die Straße laufen und Almosen sammeln. Doch ich war nicht da, wo ich hingehörte: an die Bar des »L’Elephant«, bei einem Yogakurs oder auf den Nachtmarkt, wo ich mir mit buddhistischen Motiven bestickte Lampenschirme oder Seidenkissen hätte kaufen können. Ich saß stattdessen hier unten am Fluss, wo die Frachtkähne und Fischerboote vertäut waren.

Der Mann blickte zu mir herüber und lächelte mich an. Ein neutrales asiatisches Lächeln. Vielleicht hielt er mich ja für einen der Weißen, die dem billigen asiatischen Heroin zum Opfer gefallen waren. Und die irgendwann mit einem von ihrer Botschaft bezahlten Ticket nach Hause geflogen werden. Neben ihm saß ein Mädchen, das jede seiner Bewegungen gespannt verfolgte. Ihre Enttäuschung, wenn das Netz wieder leer war, war nicht zu übersehen.

Die beiden passten nicht zusammen. Er war zu alt, um ihr Vater zu sein. Wenn man in sein Gesicht blickte, mochte man ihn zunächst für gebrechlich halten. Er hatte ein von der Sonne gegerbtes dunkles Antlitz mit weißen Bartstoppeln darin. Aber sein Bizeps war prall wie der eines Kickboxers. Ihre Haut dagegen war hell wie die einer Chinesin, sie trug einen Pferdeschwanz, der von einer rosa Haarklammer zusammengehalten wurde, auch ihr Kleid war rosa. Vielleicht war sie seine Enkelin, das Kind einer Tochter, die den sozialen Aufstieg geschafft hatte – nicht mehr fischen und Reis anbauen, sondern Arbeit in einem klimatisierten Büro? Das Kind setzte sich vor mich hin und blickte mich an, den Kopf auf eine Hand gestützt, ohne Distanz oder Scheu, so wie man ein Tier im Zoo in aller Ruhe betrachtet. Er drehte sich zu uns um. Offenbar war es ihm unangenehm, sie so nah bei mir zu sehen. Wahrscheinlich überlegte er, ob er etwas unternehmen sollte. Dann sprang sie von selbst auf und lief in tänzelnden Sprüngen zu ihm hinüber.

Ich saß noch dort, bis das Licht golden wurde, dann ging ich zurück ins Hotelzimmer. Ich schaltete den Fernseher ein und wählte MTV; mit dem Lärm versuchte ich die Einsamkeit zu vertreiben. Bis das Personal mich schließlich bat, die Lautstärke runterzudrehen.

Ich wachte auf, als es hell zu werden begann. Ich setzte mich wieder an die gleiche Stelle am Fluss. Als ich den Mann und das Mädchen kommen sah, trug er die gleiche Hose wie immer, über die Schulter hatte er das Netz gehängt. Ihre Haare waren wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie trug einen Pullover mit japanischen Superhelden darauf. In ihrer Hand hielt sie einen leeren Farbeimer. Er nickte mir kurz zu, dann schleuderte er sein Netz aus. Sie stellte den Eimer neben mir ab und guckte mich an.

Ich holte meine Digitalkamera aus der Tasche, so ein Ding von Sony, in silbermetallic, das ich eigentlich nicht mag. Denn jedes Mal, wenn ich die Kamera in der Hand halte, gibt sie mir das Gefühl, noch fremder zu sein, als ich in dieser Gegend ohnehin schon bin. Ich wollte allerdings kein Foto machen, sondern nur etwas zum Betrachten in der Hand halten, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, den Mann und das Mädchen zu offensichtlich zu beobachten. Ich tat so, als würde ich mir einige Fotos auf dem Display ansehen.

Plötzlich spürte ich ihre Haare im Nacken. Sie hatte sich hinter mich geschlichen und blickte mir über die Schulter. Ich hielt ihr die Kamera hin. Sie nahm sie und wusste sofort, wo der Auslöser war. Sie fotografierte: den alten Mann. Die Felsen. Eine im Wasser treibende Plastikflasche. Einen hinkenden Hund. Nur mich fotografierte sie nicht. Und sie fotografierte keine Fische.

Ich setzte mich an den Strand und baute aus dem nassen grauen Sand eine glockenförmige Stupa. Sie machte ein Foto und lief sofort zu dem Mann, um es ihm zu zeigen. Als Nächstes formte ich aus dem Sand ein grimmiges Krokodil mit schwarzen Augen aus Tamarindkernen. Plötzlich hörten wir das Flattern von Flossen. Der Alte hatte das Netz eingeholt und nun zappelten kleine Welse auf den Felsen und schlängelten sich auf der Suche nach Wasser geschickt über den Boden. Der Eimer! Sie hatte vergessen, ihm den Eimer bereitzustellen. Ich brachte ihm schnell das Gefäß und half ihm, die Fische aufzusammeln, bevor sie ihren Weg zurück ins Wasser gefunden hätten. Sie fotografierte alles.

Nachdem die Fische am Grund des Eimers lagen, zeigte uns das Mädchen die Fotos. Keiner von den beiden sprach auch nur ein Wort Englisch. Er gab mir einen Fisch in einer Plastiktüte, in der vorher fettiges Gebäck gewesen war. Der Mann war so weitsichtig, mir einen Wels zu geben, der bereits tot war. Ich wusste nicht, wie ich mich bedanken sollte, und schüttele ihm daher linkisch die Hand; er schien die Botschaft zu verstehen. Ich versuchte, den Fisch mit großer Beiläufigkeit in der Hand zu halten, so als bekäme ich ständig tote Welse geschenkt.

Auf dem Weg zurück ins Hotel betrachtete ich das Tier. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dem Fisch anfangen sollte, und trotzdem war ich stolz: Mein persönlicher Fang des Tages! Mein erster laotischer Fisch! Zurück in meinem Hotelzimmer legte ich ihn in die Minibar, zwischen die Schokoladenriegel und Softdrinks. Ich nahm eine Gute-Nacht-Tablette, schaltete den Fernseher ein und hoffte, dass vielleicht die vorhersehbare Handlung eines amerikanischen Spielfilms mich in den Fieberschlaf begleiten würde. Das Hotelzimmer fühlte sich nicht mehr ganz so verlassen an.

Armut

Als sie mich fragte, ob sie sich neben mich setzen dürfe, sagte ich ja, aber eigentlich meinte ich nein. Verdammte Political Correctness. Sie hatte ein Gesicht, dem man ansah, dass es mal schön gewesen sein musste. Ihre Schneidezähne fehlten. Die Haut war runzelig und mit Moskitostichen übersät. Sie trug einen ausgeleierten Pullover, der vor langer Zeit wohl gelb gewesen war, den jedoch die Nächte auf dem verschmutzten Asphalt der Straße grau gefärbt hatten. Es war mir unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Wahrscheinlich war sie jünger als ich, vielleicht gerade mal Mitte zwanzig. Sie roch. Wir befanden uns auf der Terrasse eines Gästehauses in Vientiane, wohin ich nach meinem Aufenthalt in Luang Prabang weitergereist war. Ich blieb hier einige Tage, setzte mich immer in den gleichen Korbsessel mit Blick auf den Mekong und schrieb, bis der Nachmittagsregen einsetzte.

An Schreiben war jetzt erst mal nicht mehr zu denken. Sie setzte sich neben mich, beide Handflächen zwischen die Oberschenkel geklemmt, und lächelte mich an, bis sie sich an ihre Zahnlücke erinnerte. Sie musste sich in einem unbeobachteten Augenblick an der Rezeption des Gästehauses vorbeigeschlichen haben. Ich fragte mich, was sie von mir wollte. Offen gesagt, ich erwartete, dass sie versuchen würde, mich dazu zu überreden, mit ihr auf ein Zimmer zu gehen. Dann verwarf ich den Gedanken wieder. Sie war zu verlebt und zu dreckig, um eine Prostituierte zu sein.

»Can I have Ice Coffee?«, fragte sie schüchtern. Ich nickte, sie rief eine Bedienung, die ihr mit nicht zu übersehender Abneigung einen Eiskaffee brachte. Danach saß sie nur neben mir, sagte nichts und nuckelte am Strohhalm. Über dem Fluss zog ein Flugzeug vorbei, wahrscheinlich ein Passagierjet voller Touristen, die gerade von den Tempeln von Luang Prabang zurückkehrten. Sie sah ihm verträumt nach, dann drehte sie den Kopf zu mir, deutete mit einer flüchtigen Bewegung des Zeigefingers auf das Flugzeug, das in der Ferne verschwand, und lächelte wieder. Das hieß wohl: »Da säße ich auch gern drin.«

Es gelang mir nicht länger, mich auf mein Laptop zu konzentrieren. Sie ahnte meine Ratlosigkeit. »I want talk only«, sagte sie. »Nobody talk with me.« Dann, nach einer weiteren Minute des Schweigens, sagte sie es noch mal: »Thank you for talking to me!« Sie machte eine kleine Verbeugung, bei der sie die Hände vor dem Körper aneinanderlegte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Dass es niemanden gab, der mit ihr reden wollte, war bestimmt keine Übertreibung. Ich wollte mich ja selbst lieber meinem Laptop zuwenden als ihr.

»Do you want money?«, fragte ich. »No, I don’t want money«, sagte sie. »No money. Make only problems. I just want to be friend. Thank you.«

Ich konnte nicht glauben, dass sie sich unerlaubt in Gästehäuser schlich, nur um dort Freundschaften zu schließen. Wir unterhielten uns etwas auf Englisch. Tolstoi sagt, dass jede unglückliche Familie auf ihre besondere Weise unglücklich sei, aber das konnte ich wieder einmal nicht bestätigen: Es war eine Geschichte, wie ich sie schon oft gehört hatte: zerstörte Ehe, die Eltern getrennt, der Vater Alkoholiker, Geschwister, von denen einige den Absprung aus der Armut geschafft und den Kontakt zur Familie abgebrochen hatten und andere in der Prostitution oder im Knast gelandet waren. Es war immer der gleiche Alltag zwischen Kartenspielen im Hinterhof, Fernsehen und Drogen, prügelnden Ehemännern, Abtreibungen mit Drahtstücken. Sie habe auch als Prostituierte gearbeitet, aber das gehe jetzt nicht mehr, sagte sie mit einem Lächeln, als wolle sie sich für ihr Aussehen entschuldigen.

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