Gefahr - Bob Woodward - E-Book

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Bob Woodward

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Beschreibung

Von Trump zu Biden: Wie geht es weiter in den USA? Watergate-Aufdecker Bob Woodward liefert erschütternde Blicke hinter die Kulissen. Das bleibende Buch über eine große Demokratie in der Krise

Es war einer der gefährlichsten Momente der US-amerikanischen Geschichte: der Übergang von Präsident Trump zu Präsident Biden. Die Bilder vom Sturm auf das Kapitol gingen um die Welt – sie sind das Symbol einer Demokratie in der Krise. Bob Woodward und Robert Costa erläutern ihre Hintergründe so klar wie nie zuvor. Sie haben Interviews geführt, Tagebücher, E-Mails, vertrauliche Telefonate und geheime Regierungsdokumente ausgewertet. Ihr Fazit: Was die USA bis heute durchmachen, ist mehr als eine nationale Unruhe. ,Gefahr‘ ist die erschütternde Reportage über das Ende einer Präsidentschaft und den Beginn einer neuen – das bleibende Buch über die großen Herausforderungen eines Landes, die auch den Rest der Welt noch lange in Atem halten werden.

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Über das Buch

Von Trump zu Biden: Wie geht es weiter in den USA? Watergate-Aufdecker Bob Woodward liefert erschütternde Blicke hinter die Kulissen. Das bleibende Buch über eine große Demokratie in der KriseEs war einer der gefährlichsten Momente der US-amerikanischen Geschichte: der Übergang von Präsident Trump zu Präsident Biden. Die Bilder vom Sturm auf das Kapitol gingen um die Welt — sie sind das Symbol einer Demokratie in der Krise. Bob Woodward und Robert Costa erläutern ihre Hintergründe so klar wie nie zuvor. Sie haben Interviews geführt, Tagebücher, E-Mails, vertrauliche Telefonate und geheime Regierungsdokumente ausgewertet. Ihr Fazit: Was die USA bis heute durchmachen, ist mehr als eine nationale Unruhe. ,Gefahr‹ ist die erschütternde Reportage über das Ende einer Präsidentschaft und den Beginn einer neuen — das bleibende Buch über die großen Herausforderungen eines Landes, die auch den Rest der Welt noch lange in Atem halten werden.

Bob WoodwardRobert Costa

Gefahr

Die amerikanische Demokratie in der Krise

Aus dem Englischen von Karsten Petersen, Hans-Peter Remmler, Heike Schlatterer, Sigrid Schmid, Thomas Stauder

Hanser

Immer für die Eltern:

Alfred E. Woodward und Jane Barnes

Tom und Dillon Costa

Wir haben viel zu tun in diesem Winter der Gefahr.

Präsident Joseph R. Biden jr. in seiner Antrittsrede am 20. Januar 2021 vor dem Kapitol der Vereinigten Staaten von Amerika

Persönliche Vorbemerkung der Autoren

Claire McMullen, 27, eine Anwältin und Autorin aus Australien, arbeitete als Assistentin an diesem Buch mit. Als unsere Mitarbeiterin war sie umfassend in die investigative Berichterstattung und Recherche eingebunden, sie war unser Antrieb, noch gründlicher nachzuforschen, noch mehr Fragen zu stellen und noch präziser zu sein. In jeder Phase war sie fokussiert, ideenreich und hartnäckig, auch in schwierigen Momenten, und sie war immer entschlossen, jeden einzelnen Schritt mit Akribie und Sorgfalt zu erledigen. Claires kreative Hingabe an harte Arbeit geht über bloßes Pflichtbewusstsein weit hinaus.

Sie setzte sich an jedem Tag und zu jeder Stunde für die Sache ein. Bereitwillig ging sie früh am Morgen ans Werk und blieb bis spät in der Nacht, opferte auch zahllose Wochenenden unserer gemeinsamen Arbeit. Sie brachte zudem ihre brillanten Einsichten in Menschenrechtsfragen, Außenpolitik und die menschliche Natur in dieses Projekt ein. Ihre Karriere ist mehr als grenzenlos vielversprechend. Sie ist einfach die Beste.

Wir werden für ihre Freundschaft und Hingabe ewig dankbar sein.

Prolog

Zwei Tage nach dem 6. Januar 2021, dem Tag der gewalttätigen Angriffe auf das Kapitol der Vereinigten Staaten durch Anhänger von Präsident Donald Trump, tätigte General Mark Milley, Chef des Generalstabs der Streitkräfte der USA, um 7:03 Uhr morgens einen dringenden Anruf über eine geheime Leitung bei seinem chinesischen Pendant, General Li Zuocheng, dem Leiter des Generalstabs der Volksbefreiungsarmee.

Milley wusste aus ausführlichen Berichten, dass Li und die chinesische Führung angesichts der Fernsehbilder von dem beispiellosen Angriff auf Amerikas Legislative fassungslos und höchst irritiert waren.

Li bombardierte Milley mit Fragen. War die Supermacht Amerika instabil? Stand sie gar vor dem Kollaps? Was ging da vor? Würde das US-Militär einschreiten?

»Die Dinge mögen im Moment instabil aussehen«, sagte Milley und versuchte, Li zu beschwichtigen, den er seit fünf Jahren kannte. »Aber so ist das eben in der Demokratie, General Li. Wir sind zu 100 Prozent stabil. Alles ist gut. Aber die Demokratie kann mitunter schludrig sein.«

Es dauerte eineinhalb Stunden — die Hälfte davon war dem notwendigen Einsatz von Dolmetschern geschuldet —, um Li einigermaßen zu beruhigen.

Als Milley auflegte, war er überzeugt, dass die Lage sehr ernst war. Li blieb ungewöhnlich aufgewühlt und sah die beiden Nationen am Rand einer Katastrophe.

Die Chinesen waren ohnehin bereits auf höchster Alarmstufe wegen der Absichten der USA. Wie vertrauliche Geheimdienstinformationen belegen, gingen die Chinesen am 30. Oktober, vier Tage vor der Präsidentschaftswahl, davon aus, die USA würden heimlich einen Angriff auf sie vorbereiten. Die Chinesen nahmen an, Trump würde in seiner Verzweiflung eine Krise heraufbeschwören, um sich selbst als Retter hinzustellen und sich mit diesem Schachzug seine Wiederwahl zu sichern.

Milley wusste, dass die Behauptung, Amerika würde einen geheimen Militärschlag gegen China aushecken, unsinnig war. Er hatte auch damals General Li über die gleiche Geheimleitung angerufen, um beruhigend auf die Chinesen einzuwirken. Er betonte die langjährigen Beziehungen der Staaten und versicherte, die USA würden keinesfalls einen Angriff planen. Zu der Zeit ging er davon aus, General Li, der die Botschaft an Chinas Präsidenten Xi Jinping weiterleiten sollte, erfolgreich beschwichtigt zu haben.

Nun jedoch, zwei Monate später, am 8. Januar, waren Chinas Befürchtungen durch den Aufstand ganz offenkundig nur noch angeheizt worden.

»Wir verstehen die Chinesen nicht«, erzählte Milley seinem Führungsstab, »und die Chinesen verstehen uns nicht.« Das war an sich schon gefährlich genug. Aber das war noch nicht alles.

Milley hatte aus nächster Nähe miterlebt, wie impulsiv und unberechenbar Trump war. Nicht besser wurde die Sache durch Milleys inzwischen gewachsene Gewissheit, dass Trump im Nachgang der Wahlen geistig spürbar abgebaut hatte. Inzwischen führte sich Trump nahezu irrsinnig auf, er schrie seine Beamten an und konstruierte seine eigene, alternative Realität mit endlosen Verschwörungen im Zusammenhang mit den Wahlen.

Die Szenen eines brüllenden Trump im Oval Office erinnerten an Full Metal Jacket, den Film aus dem Jahr 1987, in dem ein Unteroffizier der Marines seine Rekruten auf übelste Weise mit entmenschlichenden Obszönitäten traktiert.1

»Man weiß nie genau, wo der Triggerpunkt eines Präsidenten liegt«, sagte Milley seinem Führungsstab. Wann würde die Verbindung aus bestimmten Ereignissen und Druck von verschiedenen Seiten einen Präsidenten veranlassen, militärisches Eingreifen anzuordnen?

Dass der Präsident zugleich militärischer Oberbefehlshaber des Landes ist, bedeutet eine gewaltige Machtkonzentration in einer Hand. Die Verfassung gibt dem Präsidenten damit die Entscheidungsgewalt, die Streitkräfte nach Gutdünken im Alleingang einzusetzen.

Milley ging davon aus, dass Trump zwar keinen Krieg wollte, aber zweifellos willens war, Militärschläge durchzuführen, wie im Iran, in Somalia, Jemen und Syrien bereits geschehen.

»Ich erinnerte ihn immer wieder daran«, sagte Milley, »dass wir uns, je nachdem, wo und gegen wen ein solcher Schlag geführt wird, in einem Krieg wiederfinden könnten.«

Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die heimischen Nachwehen des Aufstands am Kapitol richtete, erkannte Milley insgeheim, dass die USA in eine neue Periode mit außergewöhnlichen Risiken auf internationaler Ebene geraten waren. Es war just die Art von hochsensiblem Szenario, in dem ein Unfall oder eine Fehlinterpretation katastrophal eskalieren konnte.

Alles entwickelte sich schnell und abseits der öffentlichen Wahrnehmung, und in mancher Hinsicht hatte das Ganze Ähnlichkeit mit den Spannungen während der Kuba-Krise im Oktober 1962, als die USA und die Sowjetunion wegen des Disputs über die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba nur haarscharf an einem Krieg vorbeischrammten.

Milley, 62 und ein ehemaliger Eishockeyspieler an der Universität Princeton, stämmig und kerzengerade mit seinen 1,75 m, wusste nicht, was China als Nächstes vorhatte. Sehr wohl wusste er aber aus 39 Jahren Erfahrung in der Army und nach vielen blutigen Kampfeinsätzen, dass ein Gegner dann am gefährlichsten war, wenn er Angst hatte und glaubte, er könnte angegriffen werden.

Wenn ein Widersacher wie China das jemals wollte, sagte er, »dann konnten sie sich zu etwas entschließen, was wir als ›Erstschlagsvorteil‹ oder auch schlicht ›Pearl Harbor‹ bezeichnen, und zu einem Präventivschlag greifen.«

Die Chinesen investierten gerade massiv in die Expansion ihres Militärs und rüsteten sich de facto zum Supermachtstatus hoch.2

Nur 16 Monate zuvor hatte Präsident Xi, der mächtigste chinesische Führer seit Mao Zedong, anlässlich einer eindrucksvollen Militärparade auf dem Tiananmen-Platz in Peking gesagt, es gebe »keine Kraft, die das Voranschreiten des chinesischen Volkes und der chinesischen Nation aufhalten kann«.3 Die Chinesen enthüllten bei der Gelegenheit auch ihre neueste »bahnbrechende« Waffe, eine Überschallrakete mit fünffacher Schallgeschwindigkeit.4

Milley erzählte leitenden Mitarbeitern, »es gibt Möglichkeiten im Cyberspace oder im Weltraum, einer großen und komplexen Industriegesellschaft wie den USA wirklich erheblichen Schaden zuzufügen, und dies auch noch sehr, sehr schnell mittels extrem leistungsstarker Werkzeuge, die bereits existieren. China ist dabei, all diese Möglichkeiten aufzubauen.«

China exerzierte auch auf aggressive Weise Kriegsspiele und schickte täglich Militärflugzeuge in Richtung Taiwan, den unabhängigen Staat vor der Küste Chinas, den China als Teil seines Landes betrachtet und den die USA zu beschützen gelobt hatten.5 Im Jahr zuvor hatte General Li angekündigt, China würde Taiwan »entschlossen zerschmettern«, falls nötig.6 Alleine schon Taiwan war nicht weniger als ein Pulverfass.

Im Südchinesischen Meer war China auf dem Vormarsch wie nie zuvor, installierte Militärbasen auf künstlichen Inseln und stellte sich, aggressiv und unter Inkaufnahme bisweilen haarsträubender Risiken, Schiffen der US-Marine auf wichtigen Welthandelsrouten entgegen.7

Die anstehenden Manöver der U. S. Navy unter dem Motto »Freedom of Navigation« in der Region um Taiwan und im Südchinesischen Meer sowie eine Übung von Bombern der U. S. Air Force beunruhigten Milley zutiefst.

Derartige simulierte Attacken stellten Kriegssituationen so realistisch wie möglich nach und waren nicht selten machohafte, provozierende Unterfangen, bei denen US-Marineschiffe absichtlich mit hoher Geschwindigkeit gegen Chinas Ansprüche auf international anerkannte maritime Territorien angingen.

Wutentbrannt versuchten chinesische Kapitäne mehrfach, die US-Schiffe vom Kurs abzudrängen, indem sie sie mit geringem Abstand verfolgten oder frontal auf sie zusteuerten. Schon aufgrund der Größe der Schiffe waren rasche Wendemanöver grundsätzlich mit Gefahren verbunden — Unfälle, die eine katastrophale Kettenreaktion auslösen konnten, waren geradezu vorprogrammiert.

Der Vorsitzende des Generalstabs ist der hochrangigste Offizier der Streitkräfte und der führende militärische Berater des Präsidenten. Kraft Gesetzes hat dieser Generalstabschef eine Rolle der Aufsicht und Beratung inne. Er ist zwar nicht Teil der militärischen Befehlskette, in der Praxis ist der Posten jedoch mit sehr viel Macht und Einfluss verbunden. Einige von Milleys Vorgängern waren große Symbolfiguren der US-Militärgeschichte — Omar Bradley, Maxwell Taylor und Colin Powell sind prominente Namen.

Kurz nach dem Gespräch mit General Li am 8. Januar rief Milley Admiral Philip Davidson, den Leiter des Indo-Pazifik-Kommandos der USA, das China im Auge behält, auf einer abhörsicheren Leitung an.

Phil, sagte Milley und erinnerte ihn zuerst einmal daran, dass er in seiner Funktion als Chef des Generalstabs keine Befehlsgewalt habe. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie zu tun haben. Aber vielleicht sollten Sie diese Übungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt überdenken. Angesichts dessen, was in den USA gerade los ist, könnte das von den Chinesen als Provokation verstanden werden.«

Davidson ordnete unverzüglich eine Verschiebung der Übung an.

Die geplanten Manöver erinnerten potenziell an eine ähnliche Begebenheit in den 1980er-Jahren, als die Führer der damaligen Sowjetunion glaubten, die USA und das Vereinigte Königreich planten einen atomaren Präventivschlag. Ein NATO-Militärmanöver mit Namen ABLE ARCHER verstärkte diesen Verdacht der Sowjets noch zusätzlich.8 Der spätere CIA-Direktor und Verteidigungsminister Robert Gates sagte, »das Erschreckendste an ABLE ARCHER war, dass wir möglicherweise am Rande eines Atomkriegs standen.«9

Genau diese heikle Situation bereitete Milley Sorgen. Er befand sich quasi genau an diesem Rand.

Die Beziehung zu China war die bei Weitem sensibelste und gefährlichste in der amerikanischen Außenpolitik. Aber aus den Erkenntnissen der US-Geheimdienste ging hervor, dass der Aufruhr vom 6. Januar nicht nur China in helle Aufregung versetzt hatte. Auch Russland und der Iran sowie weitere Nationen schalteten auf höchste Alarmstufe und behielten das US-Militär und die politischen Geschehnisse in den USA genauestens im Auge.

»Die halbe Welt war verflucht nervös«, sagte Milley. Viele Länder intensivierten ihr militärisches Operationstempo und die Nutzung von Spionagesatelliten. Die Chinesen ließen bereits ihre Spionage- und Aufklärungssatelliten Ausschau halten, ob sich in den USA irgendetwas Ungewöhnliches oder Unberechenbares abspielte oder ob die Supermacht irgendwelche militärischen Operationen vorbereitete.

Milley war jetzt von morgens bis abends in höchster Alarmbereitschaft. Er behielt den Weltraum, Vorgänge im Cyberspace, abgefeuerte Raketen, Militärbewegungen zu Wasser, zu Land und in der Luft sowie Geheimdienstoperationen im Blick. Er hatte abgeschirmte Telefonleitungen in nahezu jedem Raum von Quarters 6, der Residenz des Vorsitzenden in der Joint Base Myer-Henderson Hall, Virginia, über die er sofort eine Verbindung mit dem War Room im Pentagon, dem Weißen Haus oder mit Kommandeuren der kämpfenden Truppen auf dem gesamten Globus herstellen konnte.

Milley sagte den Befehlshabern von Army, Navy, Air Force und Marines — dem Generalstab —, sie müssten alles »rund um die Uhr« im Auge behalten.

Er rief Paul Nakasone an, den Direktor der National Security Agency (NSA), und berichtete von seinem Telefonat mit Li. Die NSA ist für die Überwachung der weltweiten Kommunikation zuständig.

»Sperrt Augen und Ohren auf«, sagte Milley, »beobachtet und scannt weiter.« Konzentriert euch besonders auf China, aber achtet auch darauf, dass die Russen nicht versuchen, »die Situation mit einer opportunistischen Aktion zu ihrem Vorteil auszuschlachten«.

»Wir haben unsere Kommunikationswege im Blick«, versicherte ihm Nakasone.

Milley rief CIA-Direktorin Gina Haspel an und ließ ihr ein Protokoll des Telefonats mit Li zukommen.

»Beobachten Sie aggressiv alles, in alle Richtungen«, sagte Milley zu Haspel. »Im Moment müssen wir leider mit absolut allem rechnen. Ich will einfach nur irgendwie bis zum Mittag des 20. Januar durchkommen« — die Stunde der Amtseinführung von Joe Biden als Präsident.

Was auch immer geschah, Milley überwachte die Mobilisierung der nationalen Sicherheitskräfte Amerikas, ohne dass die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger und der Rest der Welt etwas davon ahnten.

Milley hatte General Li getäuscht mit seiner Behauptung, die Vereinigten Staaten seien »zu 100 Prozent stabil« und der Aufstand des 6. Januar sei bloß ein Beispiel für eine etwas »schludrige« Demokratie.

Ganz im Gegenteil: Milley hielt den 6. Januar für eine geplante, koordinierte, synchronisierte Attacke mitten ins Herz der amerikanischen Demokratie, darauf angelegt, die Regierung zu stürzen, um die verfassungsgemäße Bestätigung einer legitimen, von Joe Biden gewonnenen Wahl zu verhindern.

Es war in der Tat ein Putschversuch und nichts Geringeres als »Verrat«, sagte er, und Trump könnte noch immer auf etwas aus sein, was Milley als »Reichstagsmoment« bezeichnete.101933 hatte Adolf Hitler die absolute Macht für sich selbst und die NSDAP inmitten von Straßenterror und Reichstagsbrand zementiert.

Milley konnte nicht ausschließen, dass der Angriff vom 6. Januar, so unerwartet und chaotisch er war, eine Generalprobe für etwas viel Größeres gewesen sein könnte, zumal Trump öffentlich wie im privaten Kreis an seinem Glauben festhielt, die Wahl sei zugunsten Bidens verfälscht und der Wahlsieg ihm, Trump, gestohlen worden.

Milley war fokussiert auf den von der Verfassung vorgesehenen Countdown: noch zwölf Tage Trump als Präsident. Er war fest entschlossen, alles zu tun, um eine friedliche Machtübergabe zu gewährleisten.

Unerwartet betrat Milleys Stabsoffizier das Büro und reichte ihm eine handschriftliche Notiz: »Sprecherin Pelosi möchte ASAP mit Ihnen reden. Thema: Nachfolge. 25. Verfassungszusatz.« Nancy Pelosi, Demokratin aus Kalifornien und die Sprecherin des Repräsentantenhauses, würde im Fall der Fälle nach dem Vizepräsidenten die Nachfolge des Präsidenten antreten und erhielt detaillierte Briefings zu Befehlsgewalt und Kontrolle über das Atomwaffenarsenal der USA. Die Veteranin mit 34 Dienstjahren im Repräsentantenhaus war in allen Fragen, die mit nationaler Sicherheit, Militär und Geheimdiensten zu tun hatten, bestens informiert.

Milley nahm Pelosis Anruf auf seinem persönlichen Mobiltelefon entgegen, eine nicht speziell abgeschirmte Leitung, und schaltete den Lautsprecher ein, damit seine Berater mithören konnten.

Das Folgende ist eine Mitschrift des Telefonats, die den Autoren vorliegt.

»Welche Sicherheitsvorkehrungen sind vorhanden«, fragte Pelosi, »um zu verhindern, dass ein instabiler Präsident feindselige militärische Aktivitäten auslöst oder sich Zugang zu den Startcodes verschafft und einen Atomschlag befiehlt? Diese Situation mit einem geistig verwirrten Präsidenten ist extrem gefährlich. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um das amerikanische Volk vor seinem extremen Anschlag auf unser Land und unsere Demokratie zu schützen.«

Pelosi sagte, sie würde Milley in seiner Funktion als hochrangigen Offizier anrufen, weil Christopher Miller, kurz zuvor von Trump als amtierender Verteidigungsminister installiert, noch nicht vom Senat bestätigt worden war.

»Ich kann Ihnen versichern, dass wir eine Menge Kontrollinstanzen im System haben«, sagte Milley. »Und ich kann Ihnen garantieren, darauf können Sie sich verlassen, dass wir, dass die nuklearen Auslöser sicher sind und wir nicht — wir werden nicht zulassen, dass irgendetwas Verrücktes, Ungesetzliches, Unmoralisches oder Unethisches geschieht.«

»Und wie wollen Sie das anstellen? Wollen Sie ihm den Football oder was auch immer wegnehmen?«, fragte sie.

Sie wusste natürlich, dass mit dem Football der Aktenkoffer gemeint war, den ein hoher Offizier zum Präsidenten brachte und der die versiegelten Authentifizierungscodes enthielt, die für den Einsatz von Atomwaffen benötigt wurden, sowie ein sogenanntes »Schwarzes Buch«, in dem Angriffsoptionen und mögliche Ziele aufgelistet sind.

»Nun«, antwortete Milley, »es sind bestimmte Prozeduren festgelegt. Es gibt Startcodes und Prozeduren, die erforderlich sind, um das zu machen. Und ich kann Ihnen versichern, als Vorsitzender des Generalstabs kann ich Ihnen versichern, dass das nicht passieren wird.«

»Wenn Sie nun gewisse Bedenken hätten, dass es doch passieren könnte, wie würden Sie vorgehen?«

»Wenn ich auch nur eine Nanosekunde glauben würde, dass — ich habe keine unmittelbare Entscheidungsbefugnis«, sagte er, »aber ich habe viele Möglichkeiten, schlimme Dinge zu verhindern, in meiner eigenen kleinen …«

Pelosi unterbrach ihn, »Das amerikanische Volk braucht eine gewisse Zusicherung von Ihnen in dieser Sache, General. Was können Sie öffentlich darüber sagen?«

»Ich kann das nicht, offen gesagt, Madam Speaker. Öffentlich sollte ich mich, glaube ich, im Moment besser nicht äußern. Ich glaube, dass alles, was ich als Individuum sagen würde, auf zehn verschiedene Arten fehlinterpretiert würde.«

»Nun, sehen wir es mal objektiv und sprechen nicht von einem bestimmten Präsidenten«, sagte Pelosi. »Angesichts all der Macht, über die der Präsident verfügt — ich wiederhole mich —, wo sind da die Sicherheitsvorkehrungen?«

»Die Sicherheitsvorkehrungen sind die Prozeduren, die wir festgelegt haben«, sagte er, »sie verlangen eine Authentifizierung, eine Zertifizierung, und alle Instruktionen müssen von einer kompetenten Autorität kommen, und sie müssen gesetzeskonform sein. Und jeder Einsatz von Atomwaffen muss logisch begründet sein. Nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, überhaupt der Einsatz von Gewalt. Ich kann Ihnen versichern, wir haben stabile Systeme einsatzbereit. Es gibt nicht den Hauch einer Chance für diesen Präsidenten, oder für irgendeinen Präsidenten, Atomwaffen auf ungesetzliche, unmoralische, unethische Weise einzusetzen, ohne angemessene Zertifizierung durch …«

»Und Sie haben gesagt, nicht bloß Atomwaffen, sondern Gewalt grundsätzlich?«, hakte sie nach.

»Absolut«, sagte Milley. »Viele Menschen sind besorgt, und mit vollem Recht besorgt, über einen möglichen Zwischenfall in, sagen wir, im Iran. Ich behalte das im Auge und sehe sehr genau hin. Die Dinge im Ausland sind rund um die Uhr unter Beobachtung. Und daheim in den USA ist es nicht anders, Dinge wie Ausnahmezustand oder Kriegsrecht, der Insurrection Act, der den Umgang mit einem Aufstand regelt.«

»Das ist einer dieser Momente, Madam Speaker, da müssen Sie mir einfach vertrauen. Ich garantiere es Ihnen. Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich kann nichts davon öffentlich verlauten lassen, weil ich nicht die Befugnis habe, und es würde in 50 verschiedene Richtungen falsch gedeutet werden, aber ich kann Ihnen versichern, dass das Militär der Vereinigten Staaten felsenfest steht und dass wir nichts Ungesetzliches oder Unmoralisches oder Unethisches mit dem Einsatz von Gewalt tun werden. Das werden wir nicht tun.«

Pelosi hielt dagegen. »Aber er hat gerade erst etwas Ungesetzliches und Unmoralisches und Unethisches getan, und niemand hat ihn aufgehalten. Niemand. Niemand im Weißen Haus. Das Ganze ist so eskaliert, wie es eskaliert ist, weil es die Absicht des Präsidenten war. Der Präsident hat dazu angestachelt, und niemand im Weißen Haus hat etwas dagegen getan. Niemand im Weißen Haus ist ihm in den Arm gefallen und hat ihn aufgehalten.«

»Ich kann Ihnen da nicht widersprechen«, antwortete Milley.

»Sie sagen also, Sie sorgen dafür, dass es nicht passiert?«, fragte die Sprecherin. »Es ist doch bereits passiert. Ein Anschlag auf unsere Demokratie ist geschehen, und niemand sagte ihm, das können Sie nicht machen. Niemand.«

»Nun, Madam Speaker, das Abschießen von Atomwaffen und das Anstiften zu einem Aufruhr …«

»Ich kenne den Unterschied, vielen Dank auch. Was ich sagen will, ist, dass, wenn Sie ihn nicht einmal an einem Anschlag auf das Kapitol hindern konnten, wer weiß, was er noch alles anstellt? Und gibt es da irgendeinen Verantwortlichen im Weißen Haus, der etwas anderes getan hat, als ihm wegen dieser Sache in seinen fetten Arsch zu kriechen?«

Sie redete weiter. »Gibt es irgendeinen Grund anzunehmen, dass jemand, irgendeine Stimme der Vernunft, eingreift und ihm in den Arm fällt? Was das angeht, wir sind sehr, sehr stark getroffen von dieser Sache. Das ist kein Unfall. Das ist nichts, wo man sagen kann, na schön, jetzt wo es passiert ist, sollten wir doch lieber nach vorne schauen. Machen wir einfach weiter. So funktioniert das nicht. Das ist eine tiefgreifende Sache, die er da gemacht hat. Er hat die Mitarbeiter traumatisiert. Er hat das Kapitol angegriffen und das alles. Und er darf damit nicht ungestraft davonkommen. Er darf nicht die Macht bekommen, noch mehr Unheil anzurichten.«

Pelosi erwähnte Präsident Richard Nixon, der wegen des Watergate-Skandals 1974 zum Rücktritt gezwungen worden war.

»Nixon hat viel weniger Schlimmes angerichtet, und die Republikaner sagten ihm trotzdem, ›Sie müssen gehen‹. Seine Verfehlungen spielen in einer ganz anderen Liga. ›Sie müssen gehen.‹ Die Republikaner ermöglichen dieses Verhalten doch erst, und ich frage mich einfach, ob da im Weißen Haus noch irgendjemand bei Sinnen ist? Ob irgendjemand da ist, der ihm sagt, das geht zu weit? Gestern brachten sie dieses verlogene — dieses, äh — Video mit, in dem er sagt, er habe nichts damit zu tun, weil sie wissen, dass sie in Schwierigkeiten sind. Das ist übel, aber wer weiß, was er anstellen könnte. Er ist wahnsinnig. Sie wissen, dass er wahnsinnig ist. Und er ist nicht erst seit gestern wahnsinnig. Also sagen Sie nicht, Sie wissen nicht, wie es um seinen Geisteszustand bestellt ist. Er ist wahnsinnig, und was er gestern gemacht hat, ist nur ein weiterer Beweis für seinen Wahnsinn. Aber wie auch immer, ich weiß zu schätzen, was Sie gesagt haben.«

»Madam Speaker«, sagte Milley. »Ich stimme Ihnen in jedem Punkt zu.«

»Was kann ich meinen Kolleginnen und Kollegen sagen, die Antworten verlangen, die wissen wollen, was geschieht, um ihn davon abzuhalten, irgendwelche wie auch immer gearteten feindseligen Aktionen zu initiieren, und auch, ihm diese riesige Macht aus der Hand zu nehmen? Und die einzige Möglichkeit, das zu tun, besteht darin, ihn loszuwerden, weil niemand da ist, der den Mut hat, ihn an der Stürmung des Kapitols zu hindern und daran, einen Aufstand anzuzetteln. Und da ist er nun, der Präsident der Vereinigten Staaten, mittendrin. Und Sie haben meine Frage beantwortet. Vielen Dank, General. Ich danke Ihnen.«

Pelosi hielt einen Moment inne und fragte: »Ist dieser Dummkopf im Verteidigungsministerium, der amtierende Minister, hat er irgendeine Macht, was das angeht? Lohnt es sich, auch nur eine Sekunde mit ihm zu telefonieren?«

»Ich stimme allem, was Sie gesagt haben, zu 100 Prozent zu«, antwortete Milley. »Das eine, was ich Ihnen garantieren kann, ist, dass ich als Vorsitzender des Generalstabs, ich möchte, dass Sie das wissen — ich möchte, dass Sie in Ihrem tiefsten Inneren wissen, ich kann Ihnen zu 110 Prozent garantieren, dass das Militär, der Einsatz militärischer Gewalt, ob es Atomwaffen sind oder irgendein Schlag in einem anderen Land, wir werden nichts Ungesetzliches oder Verrücktes anstellen. Wir werden nicht …«

»Nun«, fragte Pelosi, »was meinen Sie mit ungesetzlich oder verrückt? Ungesetzlich nach wessen Urteil darüber, was ungesetzlich ist? Er hat es bereits getan, und niemand hat etwas dagegen unternommen.«

»Also, ich rede vom Einsatz des US-Militärs«, sagte Milley. »Ich rede davon, dass wir einen Schlag führen, einen Militärschlag. US-Militärgewalt im eigenen Land und/oder international.«

»Ich kann nicht behaupten, dass mich das beruhigt«, sagte sie, »aber ich werde sagen, dass ich Sie danach gefragt habe — nur damit Sie das wissen. Weil …«11

»Ich kann Ihnen mein Wort geben«, sagte Milley. »Das Beste, was ich tun kann, ist Ihnen mein Wort zu geben, und ich werde zu verhindern wissen, dass dergleichen beim Militär der Vereinigten Staaten geschieht.«

»Nun«, sagte sie, »ich hoffe, Sie können sich auch in dieser irrsinnigen Schlangengrube namens Oval Office durchsetzen, und auch gegen die ganze verrückte Familie. Man sollte eigentlich annehmen, es hätte inzwischen jemand eingreifen müssen. Die Republikaner haben Blut an den Händen, und jedem, der ihm ermöglicht, das zu tun, was er tut, klebt das Blut an den Händen, und jeder von ihnen ist schuldig an den traumatischen Auswirkungen auf unser Land.

Und unsere jungen Leute, die idealistisch sind und die hier arbeiten, ich sage Ihnen, diese Leute auf beiden Seiten des Repräsentantenhauses wurden in extremer Weise traumatisiert, weil dieser Mann komplett wahnsinnig ist, und jeder weiß das, und niemand unternimmt etwas deswegen. Wir werden also weiter auf den 25. Verfassungszusatz drängen und darauf, dass irgendwelche führenden Leute bei den Republikanern sich dafür einsetzen, den Präsidenten auszutauschen. Aber es ist ein Armutszeugnis für unser Land, dass wir von einem Diktator gekapert wurden, der mit Gewalt gegen ein anderes Organ der Regierung vorgegangen ist. Und er sitzt noch immer da. Er hätte in Haft genommen werden müssen. Er hätte unverzüglich verhaftet werden müssen. Er hat einen Staatsstreich gegen uns verübt, um selbst im Amt bleiben zu können. Es muss eine Möglichkeit geben, ihn abzusetzen. Aber wie auch immer, es ist sinnlos, damit Ihre Zeit zu verschwenden. Ich sehe das ein. Vielen Dank, General. Ich danke Ihnen.«

»Madam Speaker, Sie haben mein Wort. Ich kenne das System, und wir sind okay. Nur der Präsident kann den Einsatz von Atomwaffen befehlen. Aber er trifft diese Entscheidung nicht alleine. Eine Person kann den Einsatz befehlen, aber es braucht mehrere Leute, um den Einsatz wirklich auszulösen. Vielen Dank, Madam Speaker.«

Milley war klar, dass Pelosi durchaus recht hatte. Ihre schweren Bedenken waren allesamt wohlbegründet. Seit dem Beginn des nuklearen Zeitalters waren die Prozeduren, Techniken, selbst die Mittel und die Ausrüstung zur Kontrolle eines möglichen Einsatzes von Atomwaffen analysiert, diskutiert und mitunter auch verändert worden.

Milley sagte oft, dass der Einsatz von Atomwaffen »gesetzeskonform« sein muss und das Militär dafür ein strenges Prozedere vorsieht.

Aber kein System war idiotensicher, ganz gleich wie fein abgestimmt und eingeübt es sein mochte. Die Kontrolle von Nuklearwaffen lag auch in der Hand von Menschen, und Menschen machten nun einmal Fehler, auch er selbst. Praktisch gesehen war es unwahrscheinlich, dass ein Team aus Anwälten oder Offizieren des Militärs in der Lage wäre, einen Präsidenten aufzuhalten, wenn er entschlossen war, sie einzusetzen.

Der ehemalige Verteidigungsminister William J. Perry sagte seit Jahren, dass der Präsident die alleinige Kontrolle über den Einsatz der amerikanischen Atomwaffen hat.12

In einem Anfang 2021 veröffentlichten Artikel schrieb Perry: »Sobald ein Präsident im Amt ist, erlangt er die absolute Verfügungsgewalt, einen Atomkrieg zu beginnen. Innerhalb von Minuten kann Trump Hunderte Atomwaffen auf den Weg schicken, oder auch nur eine. Er muss dafür keine zweite Meinung einholen.«13

Nun, mit Pelosis bohrenden Nachfragen und den deutlichen Alarmsignalen aus China, wollte Milley einen Weg finden, diese zweite Meinung ins System einzubinden, wenn nicht sogar verbindlich vorzuschreiben.

Er entwickelte dazu die Formulierung »der absolut dunkelste Moment einer theoretischen Möglichkeit«.

Das war ebenso nuanciert wie real. Es gab die dunkle und theoretische Möglichkeit, dass Präsident Trump völlig durchdreht und eine Militäraktion oder den Einsatz von Atomwaffen befiehlt, ohne sich an das vorgeschriebene Prozedere zu halten.

Milley war sich nicht absolut sicher, ob das Militär Trump unter Kontrolle halten oder ihm vertrauen könnte. Milley betrachtete es als seine Pflicht als hochrangiger Offizier, das Undenkbare zu denken und wirklich alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen, ohne Ausnahme.

Er sah sich als heimlichen Historiker und besaß eine Privatbibliothek mit mehreren Tausend Büchern.

»Den Schlesinger machen«, das würde er tun müssen, um Trump im Zaum zu halten und eine möglichst straffe Kontrolle über die Kommunikationskanäle des Militärs und die Befehlsbefugnis zu behalten.

Das spielte auf einen Erlass des früheren Verteidigungsministers James Schlesinger an hochrangige Militärs im August 1974 an. Schlesinger hatte verfügt, die Offiziere sollten Befehle, die direkt von Präsident Nixon — dieser stand vor einem Amtsenthebungsverfahren — oder aus dem Weißen Haus kamen, nur nach Rücksprache mit Schlesinger und seinem JCS-Vorsitzenden, General George Brown, befolgen.

Zwei Wochen nach Nixons Rücktritt wegen des Watergate-Skandals brachte die New York Times die Story unter dem Titel: »Das Pentagon hatte in Nixons letzten Tagen im Amt die Zügel fest in der Hand.«14

Schlesinger und General Brown fürchteten, Nixon könnte die Befehlskette umgehen und eigenmächtig Kontakt zu Offizieren oder einer militärischen Einheit aufnehmen, um einen Militärschlag anzuordnen, was möglicherweise das Land und die ganze Welt in Gefahr gebracht hätte. Das Risiko wollten sie einfach nicht eingehen.

Milley sah alarmierende Parallelen zwischen Nixon und Trump. 1974 war Nixon zunehmend irrational geworden und immer mehr isoliert. Er trank stark, und in seiner Verzweiflung betete er fortwährend mit dem damaligen Außenminister Henry Kissinger.15

Milley entschied sich zum Handeln. Er bestellte unverzüglich hohe Offiziere des National Military Command Center (NMCC) ein. Das ist der »War Room« im Pentagon, der zur Kommunikation von Notfallbefehlen durch die National Command Authority — den Präsidenten oder dessen Nachfolger — dient, in denen militärisches Handeln oder der Einsatz von Atomwaffen angeordnet wird.

Das NMCC ist Teil des Generalstabs und täglich rund um die Uhr besetzt. Fünf Teams, an deren Spitze jeweils ein Ein-Sterne-General oder Admiral stehen muss, wechseln sich im Schichtbetrieb ab.

Zügig versammelten sich ein Ein-Sterne-General und mehrere Oberste, allesamt hohe Offiziere im NMCC, in Milleys Büro. Für die meisten war es der erste Besuch im Büro des Stabschefs. Die meisten wirkten nervös und verunsichert wegen dieser Einbestellung.

Ohne einen Grund zu nennen, sagte Milley, er wolle die Prozeduren und Verfahren für den Start von Atomraketen durchgehen. Nur der Präsident konnte den Befehl dazu erteilen, sagte er.

Aber dann stellte er klar, dass er, der Vorsitzende des Generalstabs, unmittelbar involviert werden müsse. Die gegenwärtige Prozedur sah eine Telefonkonferenz in einem geschützten Netzwerk vor, an der der Verteidigungsminister, der JCS-Vorsitzende und Juristen teilnahmen.

»Wenn Sie Anrufe bekommen«, sagte Milley, »egal von wem, wir haben hier einen Prozess, ein festes Prozedere. Was auch immer Ihnen gesagt wird, halten Sie sich an die vorgegebene Prozedur. Halten Sie sich an den Prozess. Und ich bin ein Teil dieser Prozedur. Sie müssen sicherstellen, dass die richtigen Leute im Netzwerk eingebunden sind.«

Und falls es noch irgendwelche Zweifel gab, worauf er damit hatte hinweisen wollen, ergänzte er: »Stellen Sie sicher, dass ich in dieses Netzwerk eingebunden bin.«

»Vergessen Sie das nicht. Vergessen Sie das auf keinen Fall.« Er sagte, seine Ansagen gälten für jede Form von militärischer Handlung, nicht nur den Einsatz von Atomwaffen. Er musste in jedem Fall eingebunden sein.

Zusammenfassend meinte er, »die strikten Prozeduren sind explizit dazu da, versehentliche Irrtümer und Unfälle zu vermeiden, oder böswillige, unbeabsichtigte, ungesetzliche, unmoralische, unethische Handlungen, die das Starten der gefährlichsten Waffensysteme der Welt auslösen.«

Das war sein »Schlesinger«, vor den versammelten NMCC-Offizieren vermied er allerdings diesen Begriff.

Stellen Sie sicher, dass jeder, der in jeder einzelnen Schicht Dienst tut, diese Übersicht bekommt, sagte er.

»Sie sind 24/7 vor Ort, jeden Tag, rund um die Uhr.« Die Überwachungsteams probten die Prozedur mehrmals täglich.

Bei jedem Zweifel, jeder Unregelmäßigkeit, rufen Sie zuerst mich direkt und unverzüglich an. Ergreifen Sie vorher keinerlei Maßnahmen.

Er zeigte mit dem Finger auf sich selbst.

Dann drehte er eine Runde durch den Raum und bat jeden Offizier um Bestätigung, dass er diese Anweisungen verstanden hatte, und sah jedem einzelnen dabei in die Augen.

»Verstanden?«, fragte Milley.

»Ja, Sir.«

»Verstanden?«, fragte er den nächsten.

»Ja, Sir.«

»Verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Verstanden?«

»Ja, Sir.«

Milley betrachtete es als Eid.

Plötzlich, gegen 12:03 Uhr mittags, bemerkte Milley, wie der Nachrichtenticker am Fernseher in seinem Büro auf CNN wechselte — der Ton war ausgeschaltet:

PELOSIBESPRACH MIT GENERALSTABSCHEF, WIE DAS »AUSLÖSEN MILITÄRISCHER FEINDSELIGKEITEN« ODER DER »BEFEHL EINES ATOMSCHLAGS« DURCH TRUMP ZU VERHINDERN SEI.16

»Was zum Teufel ist das?«, fragte ein Offizier.

Milley hörte sich die Meldung auf CNN an und erkannte rasch, dass Pelosi nicht enthüllt hatte, was er zu ihr gesagt hatte — sie hatte nur den Teil an die Presse weitergegeben, den sie ihm selbst mitgeteilt hatte. Sie erwähnte auch nicht ihren Verweis auf Nixon. Was sie öffentlich kundgetan hatte, war jedenfalls in Inhalt und Umfang so weit korrekt. Konnte Trump, fragte sich Milley, in diesen letzten Tagen als Präsident tatsächlich die amerikanische Demokratie und die gesamte Weltordnung untergraben, die seit dem Zweiten Weltkrieg so sorgfältig aufgebaut worden war?

Milley würde einen instabilen Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der seiner Ansicht nach eine auf Verrat hinauslaufende Verletzung seines Amtseids begangen hatte, um das Militär in unangemessener Weise einzusetzen, keinesfalls dulden.

Der Rückgriff auf Schlesinger, 47 Jahre nach Nixon, war notwendig gewesen, eine kluge Vorsichtsmaßnahme, sorgfältig austariert, da war sich Milley sicher.

Stellte das eine Unterwanderung der Macht des Präsidenten dar? Manche könnten der Ansicht sein, Milley hätte seine Kompetenzen überschritten und übermäßig viel Macht für sich selbst reklamiert.

Aber sein Handeln war, davon war er überzeugt, eine Vorsichtsmaßnahme nach bestem Wissen und Gewissen, die sicherstellen sollte, dass es nicht zu einem historischen Bruch in der Weltordnung kam, zu keinem versehentlichen Krieg mit China oder anderen und zu keinem Einsatz von Atomwaffen.

Eins

Fast vier Jahre zuvor, am Wochenende des 12. August 2017, war Joe Biden in seinem Strandhaus in Rehoboth, Delaware, beschäftigt und bekam dabei Szenen von Präsident Trump im Fernsehen mit. Der Präsident insistierte, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen marschierenden White Supremacists und Gegendemonstranten in Charlottesville, Virginia, die Schuld beider Seiten seien.

Trump sprach vor vier US-Fahnen in seinem Golfclub in New Jersey und verkündete, es habe »auf vielen Seiten Hass, Selbstgerechtigkeit und Gewalt gegeben, auf vielen Seiten«.1

Erbost griff Biden zum Telefon und rief »Mike D.« an, Mike Donilon, seinen engsten politischen Vertrauten, der mit seinen 59 Jahren aussah und auftrat wie ein Pfarrer aus der Nachbarschaft — graues Haar, buschige Augenbrauen, Brille und gedämpfte Stimme.2

Wie Biden war Donilon in einer irisch-katholischen Familie aufgewachsen. Seine Mutter war eine lokale Gewerkschaftsfunktionärin in South Providence, Rhode Island, sein Vater war der Chef der dortigen Schulbehörde.3 Im Laufe von vier Jahrzehnten war Donilon zu Bidens engstem Vertrauten geworden, zu einer Mischung aus den beiden wichtigsten Beratern John F. Kennedys: dessen strategisch denkendem jüngeren Bruder Robert F. Kennedy sowie seinem Redenschreiber Theodore Sorensen.

Donilon ging hinaus auf die Veranda hinter seinem Haus in Alexandria, Virginia, weil sein Mobiltelefon im Haus selbst einen schlechten Empfang hatte.

In den TV-Nachrichten wurden laufend verstörende Szenen von weißen Nationalisten gezeigt. Viele von ihnen trugen brennende Fackeln und skandierten »Juden werden uns nicht ersetzen« sowie die Nazi-Parole »Blut und Boden«. Am Abend der »Unite the Right«-Protestdemonstration marschierten sie streitlustig auf den Campus der University of Virginia und protestierten gegen die Entfernung einer überlebensgroßen Statue von Robert E. Lee, einem General der Südstaaten-Armee im Sezessionskrieg.

Als am 12. August die Zusammenstöße weitergingen, wurde Heather Heyer, eine 32-jährige Gegendemonstrantin, getötet. Ein selbst erklärter Antisemit in der Innenstadt hatte seinen Dodge Challenger in einen Demonstrationszug gesteuert, dessen Teilnehmer Plakate mit Aufschriften wie »Love«, »Solidarity« und »Black Lives Matter« hochhielten.4

»Dazu muss ich etwas sagen«, sagte Biden zu Donilon. »Das hier ist etwas anderes. Es ist dunkler. Es ist gefährlicher. Das hier ist eine wirklich fundamentale Bedrohung für unser Land.«

Donilon konnte an Bidens Stimme hören, wie beunruhigt er war. Biden war häufig emotional berührt und wurde dann weitschweifig, aber zu den Ereignissen in Charlottesville redete er endlos weiter, sogar noch länger als sonst.

»Dieser historische Moment ist deswegen von einer neuen Qualität, weil die Amerikaner aufstehen und die Werte des Landes und die Verfassung verteidigen müssen, da sie keinen Präsidenten haben, der das tun wird.«

Biden hatte in seinem ganzen Leben noch nie so etwas erlebt wie Trumps Reaktion auf Charlottesville. Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte Menschen, die sich Hassparolen entgegenstellten, moralisch auf die gleiche Stufe gestellt wie jene, die Hass verbreiteten — ein sicherer Hafen für White Supremacists und Nazis, die bereit waren, öffentlich aufzutreten.

»Beispiellos«, sagte Biden, eines seiner Lieblingswörter. »Trump haucht den finstersten und niedrigsten Instinkten des Landes neues Leben ein.«

»Sie haben sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihre Gesichter zu maskieren!«, rief Biden. »Und zwar, weil sie glaubten, sie hätten den Präsidenten der Vereinigten Staaten auf ihrer Seite.«

Er werde nicht tatenlos zusehen. Er fragte Donilon, ob er ihm helfen könne, etwas zu entwerfen — einen Artikel, einen Gastkommentar, eine Rede?

Zu diesem Zeitpunkt war Biden — 74 Jahre alt und 1,83 Meter groß — seit sieben Monaten aus dem Amt geschieden, nachdem er acht Jahre lang als Vizepräsident gedient hatte. Im Laufe der Jahre war sein Haar schlohweiß geworden, seine Gesichtshaut gegerbt. Biden hatte versucht, sich an die traditionelle Regel für ein Mitglied der Vorgängerregierung zu halten: jeden öffentlichen Kommentar zum Verhalten des neuen Präsidenten zu unterlassen, bis er fest im Sattel saß. Doch jetzt, so sagte er zu Donilon, galt diese Regel nicht mehr.

»Ich muss mich dazu äußern«, so Biden. »Ich muss mich klipp und klar äußern.« Er meinte, wenn die Menschen dazu schweigen würden, könne sich das gesellschaftliche Gewebe der Nation auflösen, was zu noch mehr Straßenterror führen würde. Trump attackierte systematisch die Gerichte, die Presse und den Kongress — altbekannte Manöver eines Autokraten, um die Institutionen, die seine Macht einschränken, außer Gefecht zu setzen.

»Okay«, sagte Donilon, »ich muss anfangen zu schreiben.« Der alte Biden zeigte sich wieder so engagiert, als sei er noch im Amt.

Während Donilon sich an die Arbeit machte, setzte Biden an jenem Samstag um 18:18 Uhr einen Tweet ab: »Es gibt nur eine Seite.«5

Der Tweet war typisch für Biden — proklamierend und rechtschaffen. Er entfaltete eine gewisse Wirkung in den sozialen Medien, war aber schwerlich eine Sensation. Ein ehemaliger Vizepräsident war eine verblassende Marke.

Aber Trump ließ nicht locker.6 Auf einer Pressekonferenz im Trump Tower in New York am 15. August sagte er abermals, »beide Seiten haben Schuld« und dass es »auf beiden Seiten hervorragende Leute« gebe.

Biden und Donilon schickten Entwürfe hin und her.

Donilon grübelte, wie er rüberbringen konnte, wie wichtig Biden die Sache war. Wie sollten sie das zum Ausdruck bringen? Sie waren sich darüber einig, dass Biden Alarm schlagen sollte, ohne hysterisch zu klingen. Wie konnte er am besten — um es mit einem Ausdruck zu sagen, den Biden bekanntlich nach der Verabschiedung des Affordable Care Act im Jahr 2010 geflüstert hatte — mit diesem »big fucking deal«, diesem verstörenden amerikanischen Moment umgehen?7

Sie waren auf der Suche nach einem übergeordneten Thema, vielleicht sogar einem Rahmen, der sich auf Bidens katholischen Glauben und seine Spiritualität bezog. Etwas Intuitives mit einem moralischen Element; etwas, das Bidens Optimismus und den Geist der Nation einfing — aber was?

Donilon kam das Wort »Seele« in den Sinn — ein Wort, das niemand mit Trump identifizieren würde. Biden gefiel das Wort sehr gut. Er fand es goldrichtig.

Zwei Wochen später erschien ein Stück von 816 Worten im Atlantic, unter der Überschrift »Wir erleben eine Schlacht um die Seele dieser Nation«.8

»Die verrückten, wütenden Gesichter werden von Fackeln beleuchtet; ihre Sprechchöre reflektieren genau die antisemitische Aggression, die in den 1930er-Jahren in ganz Europa zu beobachten war«, schrieb Biden. »Die Neonazis, Ku-Klux-Klan-Männer und White Supremacists kommen hervor aus ihren dunklen Kammern, von ihren abgelegenen Feldern, aus der Anonymität des Internet und treten ins helle Tageslicht.«

Nach dem Protestmarsch, schrieb er, »begann Amerikas moralisches Gewissen sich zu regen«.

Nachdem der Essay erschienen war, zeigte sich eine neue, wachsende Intensität in Bidens nicht öffentlichen Reden.

»Wer von Ihnen glaubt, dass Demokratie eine Selbstverständlichkeit ist?«, fragte Biden ein Publikum von Konzernmanagern bei einer geschlossenen Veranstaltung am 19. September 2017. »Wenn Sie das tun, sollten Sie noch einmal darüber nachdenken.«

Donilon, auch bekannt als »Mr. Silent«, war ein ungewöhnlich guter Zuhörer. Berater von Biden vergaßen oft, dass Donilon an einer Telefonkonferenz teilnahm, bis Biden fragte: »Mike D., sind Sie da?«

Ja, pflegte Donilon dann zu sagen, ich nehme alles auf und versuche, es zu durchdenken.

Doch sein Schweigen diente einem ganz bestimmten Zweck — Bidens Bestrebungen zu Worten gerinnen zu lassen. Und dieses Mal hatte Donilon das Gefühl, sie seien mit »Seele« auf etwas Machtvolles gestoßen. Beim Redenschreiben gelingt das manchmal — und manchmal gelingt es nicht.

»Die Schlacht um die Seele der Nation« rief keine so starke Resonanz hervor wie John F. Kennedys berühmte Parole, die er bei seiner Amtseinführung ausrief: »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann; frage, was du für dein Land tun kannst!« Doch der Slogan stellt tiefere, grundlegendere Fragen: Was ist dein Land? Was ist unter Trump aus ihm geworden?

Zwei

Die Republikaner standen in jenem Sommer 2017 am Scheideweg. Es gefiel ihnen, in Washington an der Macht zu sein, doch sie waren zunehmend genervt von Trump und seiner Reaktion auf Charlottesville. Einer von ihnen war Paul Ryan, der bei den Präsidentschaftswahlen 2012 als Mitt Romneys Kandidat für die Vizepräsidentschaft fungiert hatte.

Ryan, ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann aus dem Mittleren Westen, war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Trump. Er war ein Fan des extrem anstrengenden »P90X«-Fitnessprogramms, ein sittenstrenger Familienmensch und ein Kapitol-Insider, seit er Anfang 20 war. Er war im Oktober 2015 zum Sprecher des Repräsentantenhauses gewählt worden.

Trumps Persönlichkeit verunsicherte Ryan, der Freunden erzählte, er sei noch nie einem solchen Menschen begegnet.

Im gesamten Wahlkampf 2016 hatte Ryan den Kandidaten der Republikaner unterstützt, obwohl die meisten führenden Mitglieder der Partei bezweifelten, dass dieser die Wahl gewinnen konnte. Doch im Oktober begann Ryans Unterstützung für Trump zu bröckeln, als er öffentlich sagte, Trumps lüsterne, auf Band aufgezeichnete Kommentare über Frauen, die von der Washington Post veröffentlicht worden waren, würden ihn »krank machen«.1

Dass Trump die Wahl gewann, erwischte Ryan auf dem falschen Fuß — jetzt musste er sich mit ihm arrangieren. Ryan war als Sprecher des Repräsentantenhauses an zweiter Stelle in der Nachfolge für das Präsidentenamt, direkt nach Vizepräsident Mike Pence. Er konnte den Kontakt zu Trump unmöglich vermeiden.

Ryan begann, selbst zu recherchieren, wie man am besten mit einem amoralischen und transaktionsorientierten Menschen umgeht. Das erwies sich zunächst als schwierig. Ryan bezeichnete sich selbst gern als einen »policy guy«, einen Befürworter von Regeln, doch seine politische Erfahrung reichte nicht über Social Security und Medicare hinaus in den Bereich der Psychiatrie.2

Dann rief ein wohlhabender New Yorker Arzt und Spender für die Republikanische Partei Ryan an und sagte: »Sie müssen verstehen, was eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist.«

»Eine was?«, fragte Ryan.

Der Arzt schickte Ryan ein Memo und eine E-Mail mit seinen »Überlegungen zu der Frage, wie man am besten mit einer Person mit antisozialer Persönlichkeitsstörung umgeht«. Darüber hinaus schickte er Internet-Links auf etliche wissenschaftliche Artikel in der Fachzeitschrift The New England Journal of Medicine.

Außerdem enthielt das Memo Material aus der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Ausgabe, besser bekannt als »ICD-10«.3 Ryan beschäftigte sich wochenlang mit diesem Material und gelangte zu der Überzeugung, dass Trump von dieser Persönlichkeitsstörung betroffen sei.

Ryans wichtigste Erkenntnis: Du darfst Trump nicht öffentlich demütigen. Durch das Demütigen eines Narzissten beschwört man eine echte Gefahr herauf — er wird wie ein Rasender um sich schlagen, wenn er sich bedroht oder kritisiert fühlt.

Am 9. Dezember 2016 überprüfte Ryan seine Erkenntnisse in der Praxis.4 Er und seine hochrangigsten Berater, darunter auch der angehende Stabschef Jonathan Burks, trafen sich im Trump Tower in Manhattan, um mit dem designierten Präsidenten ein Meeting zur Übergabe der Amtsgeschäfte abzuhalten.

Ryan, Burks und einige andere betraten den glitzernden Lift und sagten nichts. Burks überlegte, ob der Fahrstuhl abgehört werde; Trump wurde nachgesagt, dass er gern heimlich Aufnahmen machte.

Sobald sie im 26. Stock angekommen waren, wurden sie in Trumps Büro geleitet. Burks schloss die Tür und stellte sich davor, damit der Sprecher und der designierte Präsident sich vertraulich unterhalten konnten.

»Nein, die Tür lassen wir offen«, sagte Trump.

»Okay«, antwortete Burks und setzte sich.

Trump rief nach seiner langjährigen Verwaltungsassistentin Rhona Graff.

»Rhona! Rhona! Hol Kaffee, und zwar den guten! Paul Ryan ist hier«, bellte Trump. »Für ihn müssen wir den guten Kaffee holen!«

Ständig kamen Trump-Leute in den Raum und verließen ihn dann wieder: Steve Bannon, der ungekämmte konservative Stratege, der von Breitbart, einer Rechtsaußen- und Anti-Ryan-Website, in Trumps Dunstkreis gewandert war; der angehende Nationale Sicherheitsberater Michael Flynn; Ivanka Trump.

Na ja, so ist es in New York, dachte Burks.

Trump nickte zustimmend, als Ryan mit ernstem Gesichtsausdruck über Steuern und Health Care sprach, blickte dann aber nach unten auf sein Smartphone, das klingelte. Es war Sean Hannity von Fox News. Trump nahm den Anruf an, während Ryan und seine Berater ihm schweigend gegenübersaßen.

»Ja, ich sitze hier mit Paul zusammen«, sagte Trump ins Telefon. »Ach so, Sie wollen mit ihm sprechen?«

Trump sah Ryan an und stellte den Lautsprecher an. »Sean, Paul kann Sie hören, sprechen Sie«, sagte er dem Fernsehmoderator, und Hannity sprach etwa sieben Minuten lang.

Dieses Muster von sprunghaftem Verhalten setzte sich fort, als Trump Präsident geworden war. Immer wieder traf er irrlichternde Entscheidungen und machte seinem Ärger über eine vermeintliche Kränkung in einem Wutausbruch Luft.

Am 26. April 2017 bekam Ryan mit, dass Trump ankündigen wollte, dass die Vereinigten Staaten das North American Free Trade Agreement (NAFTA, das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko) verlassen würden.5 Ryan sagte Trump, damit riskiere er, sich öffentlich zu blamieren. »Sie werden den Aktienmarkt zum Absturz bringen«, warnte Ryan. Trump überlegte es sich anders.

Zu einem bleibenden Bruch kam es am 15. August 2017. Während Ryan mit seiner Familie auf einem Wanderausflug in Colorado war, sprach ein Mitglied seines achtköpfigen Personenschutzteams ihn an und reichte ihm das Satellitentelefon.

Der Anrufer war ein Berater mit schlechten Nachrichten: Trump sei wieder am Schwadronieren und mache »beide Seiten« für Charlottesville verantwortlich. Die Medien wollten hören, was Ryan dazu zu sagen habe. Er seufzte. Dieses Mal musste er sich öffentlich gegen Trump stellen. Während er abseits des Wanderwegs an einer Bergwand stand, diktierte Ryan ein scharfes Statement, das dann über Twitter veröffentlicht wurde.6

Sobald sein Smartphone wieder Empfang hatte, brummte es. Trump rief an.

»Sie stehen nicht hinter mir!«, brüllte Trump.

Ryan brüllte zurück. »Sind Sie fertig? Darf ich jetzt auch mal was sagen? Sie sind der Präsident der Vereinigten Staaten. Sie haben die moralische Verpflichtung, diese Sache angemessen zu bewerten und nicht zu verkünden, dass beide Seiten moralisch gleichwertig sind.«

»Diese Menschen lieben mich. Sie sind meine Leute«, schoss Trump zurück. »Ich kann nicht den Leuten in den Rücken fallen, die mich unterstützen.«

Ryan sagte, es seien White Supremacists und Nazis in Charlottesville aufmarschiert.

»Na ja, es gibt halt ein paar schlechte Menschen«, so Trump. »Das ist mir schon klar. Ich bin nicht dafür. Ich bin gegen das alles. Aber da sind ein paar von den Leuten, die für mich sind. Einige von ihnen sind gute Menschen.«

Später sprach Ryan mit John Kelly, Trumps Stabschef, einem Viersternegeneral der Marine im Ruhestand. Kelly sagte, Ryan habe mit seinem Tweet das Richtige gemacht.

»Ja, dafür müssen Sie ihm die Leviten lesen«, sagte Kelly. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

Am 21. März 2018 machte Ryan noch eine ermüdende Episode durch, als der Präsident drohte, ein Haushaltsgesetz über 1,3 Billionen Dollar, das in Washington als »Omnibus« bekannt war, per Veto zu blockieren.7 Trump hatte auf Fox News gehört, dass Wirtschaftsexperten die Gesetzesvorlage verrissen hätten. Ein Veto konnte zu einer Haushaltssperre führen. Ryan machte sich auf den Weg ins Weiße Haus.

Trump fing sofort an zu brüllen: Ihm sei der Omnibus zutiefst zuwider und damit würde er sich gegen seine Kernwähler stellen.

»Das ist ein furchtbar schlechter Deal! Wer hat dieses Stück Scheiße unterschrieben?«, fragte Trump. Niemand antwortete.

»Dies ist ein Stück Scheiße, ein beschissener Deal!«, schrie Trump und steigerte sich in einen Wutanfall hinein.

»Die Mauer! Sie ist nicht drin!«

»Sie müssen das unterschreiben, wir haben es gerade beschlossen«, sagte Ryan. »Wir haben das doch schon durchdiskutiert. Darin geht es ums Militär. Um den Wiederaufbau. Um Kriegsveteranen.«

Als Trump sich wieder darüber beklagte, dass er nur 1,6 Milliarden Dollar für die Grenzmauer bekommen sollte, sagte Burks, der Betrag in der Gesetzesvorlage sei genau die Summe, die der Präsident in seinem eigenen Haushaltsentwurf gefordert habe.

»Wer zur Hölle hat das genehmigt?«, fragte Trump.

Niemand sagte etwas.

Als eine Stunde vergangen war, fragte Ryan: »Werden Sie also die Vorlage unterschreiben oder nicht?«

»Also gut, ich werde unterschreiben«, antwortete Trump.

Als sie gingen, sprachen Ryan und Burks kurz mit Marc Short, der seit Jahrzehnten einer der Berater von Pence war und sich bereit erklärt hatte, unter Trump als Director of Legislative Affairs zu dienen.

»Was zur Hölle war das denn?«, fragte Ryan ihn.

»So geht es hier jeden Tag zu«, antwortete Short.

»Mein Gott, das ist ja nicht zu fassen«, sagte Ryan.

Zwei Tage später zögerte ein mürrischer Trump erneut, als der Zeitpunkt gekommen war, das Gesetz formal zu unterzeichnen.

An jenem Morgen hatte Pete Hegseth, ein Veteran, das Gesetz als Paradebeispiel eines »Haushaltssumpfs« bezeichnet.8 Steve Doocy, einer der Moderatoren von Fox & Friends, lamentierte: »Es gibt keine Mauer« in dem Gesetz. Trump verkündete in einem Tweet: »Ich denke über ein Veto nach.«9

Falls Trump die Vorlage nicht bis Mitternacht unterschrieben hatte, würde es zu einer Haushaltssperre kommen.

Ryan rief Jim Mattis an, den damaligen Verteidigungsminister. Der Präsident nannte ihn »Mad Dog«, den verrückten Hund.

»Sie müssen Ihren Hintern herbewegen, sich vor Trump aufbauen und dafür sorgen, dass er dieses Ding unterschreibt«, so Ryan. »Wenn Sie vor ihm stehen, wird er es tun.« Mattis sagte seine Termine ab und verbrachte mehrere Stunden mit Vizepräsident Pence und Short, um Trump dazu zu bewegen, das Gesetz zu unterschreiben. Letzten Endes tat er das dann auch.

Spätestens Anfang 2018 hatte Ryan genug. Eine Steuerreform war vom Kongress verabschiedet und von Trump unterschrieben worden. Ryans drei Kinder drüben in Wisconsin waren noch jung genug, um Zeit mit ihrem Vater zu verbringen. Sein eigener Vater war gestorben, als er noch ein Teenager war.10

Am 11. April 2018 kündigte Ryan an, dass er sich nicht wieder zur Wahl stellen werde.11 Er war 48 Jahre alt. Die politischen Medien zeigten sich erstaunt. Ryan wurde für einen denkbaren Präsidentschaftskandidaten gehalten, oder zumindest für einen Typ wie Bob Dole, der viele Jahre ganz oben in der Führung der Republikanischen Partei mitmischen konnte.

Bald darauf traf sich Ryan mit Mitch McConnell aus Kentucky, dem »Majority Leader«, dem Mehrheitsführer, im Senat. Der Sprecher des Repräsentantenhauses und der Mehrheitsführer des Senats arbeiteten zusammen, um Trump zu managen. Auch McConnell, 76 Jahre alt und bekannt dafür, zurückhaltend und berechnend zu sein, fand Trump grotesk und völlig resistent gegen logische Argumente und Beratung.

Als Ryan das Büro des Mehrheitsführers betrat, befürchtete er, McConnell könnten die Tränen kommen.

»Sie sind ein sehr talentierter Mann«, sagte McConnell. »Wir hatten eine erstklassige Arbeitsbeziehung.« Doch er hatte ein Problem. Er und Ryan waren die beiden Führer der Republikanischen Partei im Kongress, die Trainer auf dem Spielfeld.

Wenn Ryan ging, würde Trump dann völlig außer Rand und Band geraten? Wer sonst würde versuchen, ihn zu bändigen?

»Es gefällt mir überhaupt nicht, zusehen zu müssen, wie Sie das Spielfeld verlassen«, sagte McConnell.

Drei

Joe Bidens erste zwei Kandidaturen für das Präsidentenamt, 1988 und 2008, verliefen desaströs. Die erste wurde zunichtegemacht durch Vorwürfe, er habe Inhalte aus dem britischen Wahlkampf plagiiert,1 die zweite durch aus dem Zusammenhang gerissene, angeblich rassistische Kommentare.

Nach seiner zweiten vermasselten Kandidatur schrieb Biden ein neues Vorwort für die Taschenbuchausgabe seiner 365 Seiten starken Autobiografie Promises to Keep, die er vor der Wahlkampagne veröffentlicht hatte.2 Seine eigenen Worte erzählen die Geschichte eines Mannes, der immer wieder mit erschütternden Dramen des Lebens und der Politik auf präsidentieller Ebene fertigwerden musste, angefangen bei dem schrecklichen Tod seiner ersten Frau Neila und ihrem gemeinsamen Baby, der Tochter Naomi, bei einem Autounfall im Jahr 1972. Damals war er 30 Jahre alt und gerade in den Senat gewählt worden.

Biden schreibt über seine Kindheit in Scranton, Pennsylvania: Sein Vater Joe senior gab nie auf und beklagte sich nie. »Er hatte keine Zeit für Selbstmitleid.«

»Reiß dich zusammen! Das war seine Maxime, die sich durch mein gesamtes Leben gezogen hat. Du bist auf den Kopf gefallen? Reiß dich zusammen!, pflegte mein Vater zu sagen. Du liegst im Bett und bemitleidest dich selbst? Reiß dich zusammen! Du hast beim Football einen Tritt in den Hintern gekriegt? Reiß dich zusammen! Schlechte Zensuren in der Schule? Reiß dich zusammen! Die Eltern des Mädchens wollen es nicht mit einem katholischen Jungen ausgehen lassen? Reiß dich zusammen!«

»Das kam nicht nur bei Kleinigkeiten, sondern auch bei ernsten Problemen — als die einzige Stimme, die ich noch hören konnte, meine eigene war. Nach der OP werden Sie vielleicht nie wieder sprechen können, Senator? Reiß dich zusammen! Die Zeitungen behaupten, du seist ein Plagiator, Biden? Reiß dich zusammen! Ihre Frau und Tochter — tut mir leid, Joe, es gab nichts mehr, was wir hätten tun können, um sie zu retten? Reiß dich zusammen! Du hast im Jurastudium eine Prüfung vermasselt? Reiß dich zusammen! Rotzfreche Gören machen sich über dich lustig, weil du stotterst, B-b-b-b-b-Biden? Reiß dich zusammen!«3

Bidens gescheiterte Wahlkampagne von 2008 brachte ihm allerdings einen Trostpreis ein: Barack Obama, damals Senator von Illinois, der bald darauf der erste schwarze Präsident der Nation werden würde, wählte ihn als seinen »Running Mate«, den Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Er beauftragte Biden mit wichtigen Aufgaben in Außenpolitik und Verhandlungen zum Staatshaushalt, womit er ihn anscheinend auf einen aussichtsreicheren Versuch vorbereiten wollte, noch einmal für die Präsidentschaft zu kandidieren.4

Doch gegen Ende seiner zweiten Amtszeit ließ Präsident Obama ziemlich deutlich durchblicken, dass Hillary Clinton an der Reihe sei.5 Sie hatte Obama2008 bei der Nominierung des Kandidaten der Demokratischen Partei beinahe geschlagen und dann in seinem Kabinett sehr kompetent als Außenministerin gedient. Er sagte Biden auch ganz direkt, dass sie schwer zu schlagen sein würde.

Biden behielt die Idee im Hinterkopf. Er mochte Obama, sie hatten ein enges Verhältnis. Doch er sagte seinen Beratern, er habe nie das Gefühl gehabt, er müsse Obamas Signalen für eine weitere Kandidatur folgen.

Am Abend des 6. Februar 2015 folgten Bidens jüngster Sohn Hunter Biden und seine damalige Frau Kathleen einer Einladung zum Dinner in Woodwards Privathaus. Woodwards erste Frau Elsa Walsh und Kathleen hatten sich angefreundet, und zwar über die Sidwell Friends School, eine von Quäkern betriebene Privatschule, auf die die Kinder beider Frauen gingen.

Hunters Alkoholismus, seine Drogensucht und finanziellen Probleme würden später Schlagzeilen machen. Doch weder Woodward noch Walsh waren über diese Probleme ausführlich informiert, abgesehen von einer kurzen Meldung im Oktober 2014, dass Hunter, Absolvent der Yale Law School und Lobbyist, nach einem positiven Test auf Kokain aus der U. S. Navy Reserve entlassen worden war.6 Und sie wussten auch nichts von dem bösartigen Hirntumor von Hunters Bruder Beau, den die Familie streng geheim hielt.

Beim Dinner fragte Walsh Hunter, ob sein Vater als Präsident kandidieren werde.

Hunter — 45 Jahre alt, hager, mit pechschwarzem Haar — bejahte die Frage, ohne zu zögern. Sie saßen am Tisch im Esszimmer und unterhielten sich ganz offen. Kathleen erzählte, ihr Schwiegervater habe sie ein paar Tage zuvor angerufen und gesagt, er wolle zum Dinner kommen. Er habe wichtige Neuigkeiten.

Kathleen, die mit Opfern häuslicher Gewalt arbeitete, erzählte, sie habe die Spaghetti von den Tellern zurück in die Schüssel getan, um abzuwarten, bis »Pop« in ihrem nicht weit entfernten Haus eintraf.

Als er da war, erklärte der Vizepräsident, er habe beschlossen zu kandidieren. Hunter und Kathleen schienen begeistert zu sein — dieses Mal konnte möglicherweise endlich Joe Biden an der Reihe sein.

In seinen 2021 erschienenen Erinnerungen Beautiful Things: Meine wahre Geschichte schrieb Hunter Biden: »Beau und ich wussten, dass Dad niemals in den Ruhestand treten würde, wenn er nicht zuerst das Präsidentenamt ausgeübt hätte. Das war der gemeinsame Traum, den wir alle drei teilten.«7 Beau und Hunter, die an jenem Tag im Jahr 1972 ebenfalls im Auto saßen, waren zwar verletzt worden, hatten den Unfall jedoch überlebt.

Woodward und Walsh waren nicht sonderlich überrascht. Die Hoffnung aufs Präsidentenamt lag Biden im Blut — es schien so, als würde er ständig kandidieren.

Als Bidens Berater später von Hunters Behauptung an jenem Februarabend hörten, bestanden sie darauf, seinerzeit nichts von Bidens Entscheidung gewusst zu haben. Häufig sprach Biden über seine aktuellen Überlegungen nur im engsten Kreis, in der Familie.

Einige Monate später, am 30. Mai 2015, starb Beau Biden im Alter von 46 Jahren.8 Er schied aus einem Leben, in dem er für seinen Militärdienst im Irak mit einem Bronze Star ausgezeichnet worden war und zwei Amtszeiten als Attorney General von Delaware gedient hatte.9

Joe Biden war am Boden zerstört.

»Dies wird für mich persönlich eine sehr schwere Zeit werden«, sagte Biden zu Steve Ricchetti, der beinahe drei Jahre lang sein Stabschef gewesen war, ein weiteres wichtiges Mitglied von Bidens politischer Seilschaft.

»Die einzige Art, wie ich das durchstehen kann«, so Biden, »und wir als Familie, ist, dass ihr immer dafür sorgen müsst, dass ich arbeite und beschäftigt bin.«

Ricchetti — wie Donilon war er grauhaarig, bekam allmählich eine Glatze und hatte eine Abneigung dagegen, im Fernsehen zu erscheinen oder öffentliche Statements abzugeben — hielt große Stücke auf Biden. Er mochte dessen Resilienz, seine Großzügigkeit und Freundlichkeit. Wenn Biden sagte, er müsse arbeiten, dann wusste Ricchetti, wie er den Vizepräsidenten beschäftigt halten konnte — durch Termine und Action.

Später sinnierte Ricchetti gegenüber anderen, das würde »manchmal fast grausam klingen«.

Aber beschäftigt zu bleiben bedeutete auch, noch einmal über eine Präsidentschaftskandidatur nachzudenken.

Biden bat Donilon, ehrlich zu beurteilen, ob noch genug Zeit bleibe, um eine Kampagne auf die Beine zu stellen und die Wahl zu gewinnen.

In dem Meeting am 20. Oktober 2015, als endgültig entschieden wurde, ob Biden kandidieren würde oder nicht, äußerte Donilon die Vermutung, dass Hillary Clinton angreifbar sei, wenn sie gegen Biden in einer allgemeinen Wahl antrat, und sogar in der parteiinternen Wahl zur Kandidatin der Demokratischen Partei.

Donilon erinnerte sich gegenüber anderen: »Ich habe mich nie davon abbringen lassen, dass ich davon überzeugt war, er könne kandidieren und die Wahl gewinnen.«

Doch als Donilon sich Biden ansah, konnte er sehen, wie schwer die Bürde von Beaus Tod auf ihm lastete — der Verlust eines zweiten Kindes und eines dritten Familienmitglieds. Biden war von Gram gebeugt, zeigte nicht mehr sein gewohntes lockeres Lächeln, sondern biss die Zähne zusammen.

»Ich glaube, Sie sollten es bleiben lassen«, sagte Donilon ihm schließlich.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass Donilon ihm von einer Kandidatur abgeraten hatte. Biden fasste es als den guten Rat eines Freundes auf, und Donilon ging mit Instruktionen, ein Statement zu formulieren.

Am nächsten Tag stand Biden im Rose Garden des Weißen Hauses, mit Präsident Obama an seiner Seite, und verkündete, dass er nicht für das Präsidentenamt kandidieren werde.10

Vier

Biden begann, etwas völlig Ungewohntem entgegenzusehen: einem Leben außerhalb eines Amtes. Doch andere waren skeptisch. »Ein Fisch wird schwimmen, ein Vogel wird fliegen, und Biden wird kandidieren«, sagte ein Freund Bidens einmal.

Biden sagte zu Ricchetti: »Ich will nur erreichen, dass ich weiterhin das tun kann, was ich schon immer getan habe. Wie kann ich auch in Zukunft an den Dingen arbeiten, an denen ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe, den Dingen, die mir am wichtigsten sind?«

Biden und Ricchetti skizzierten die Grundpfeiler seines zukünftigen Lebens: die Biden Foundation, die Biden Cancer Initiative (»Biden-Krebsinitiative«), das Penn Biden Center for Diplomacy and Global Engagement an der University of Pennsylvania und das Biden Institute an der University of Delaware.

»Hillary wird die Wahl gewinnen, und wir werden einen Weg finden, um einen Beitrag zu leisten«, sagte Biden.

Ein Jahr später, am 8. November 2016, versammelte Biden seine wichtigsten Berater im Naval Observatory, der Residenz des Vizepräsidenten, um die Entwicklung der Wahlergebnisse zu beobachten.

Der Abend fing gut an, nämlich mit Hochrechnungen, die einen Sieg Clintons erwarten ließen. Bidens Frau Jill entspannte sich und zog sich mit einem Buch und einem Glas Wein nach oben zurück.

Jill und Joe Biden sind seit 1977 verheiratet.1