Gefährliche Aussicht - Julie Dubois - E-Book
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Gefährliche Aussicht E-Book

Julie Dubois

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Beschreibung

Die zauberhafte Atmosphäre des Périgord, köstliche Kulinarik und ein neuer raffinierter Kriminalfall mit Kommissarin Marie Mercier

Ein vermögendes Paar aus Paris hat ein altes Anwesen oberhalb von Saint-André-du-Périgord gekauft. Nun wird fleißig restauriert, und die Vorfreude auf ein Leben inmitten idyllischer Natur ist groß. Doch dann erreicht Kommissarin Marie Mercier die Nachricht, dass die Eigentümerin des frisch erworbenen Domizils dort vom Dach in die Tiefe gestürzt sei. Wirklich nur ein Unfall? Anscheinend gibt es im Dorf teils heftige Ressentiments gegen »die reichen Neuen aus Paris«, und Marie sieht sich mit widersprüchlichen Zeugenaussagen konfrontiert. Und das, wo ihre Großtante Léonie gerade dringend ihre Hilfe benötigt - bei einem Festtagsmenü voller Geheimnisse ...

Im malerischen Périgord, dem Feinschmeckerparadies Frankreichs, löst die charmante deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier ihren fünften Fall.

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Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Julie Dubois

Gefährliche Aussicht

Ein Périgord-Krimi

Inhalt

Widmung

Zitat

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Hat es dir gefallen?

Für Léon und César – so liebenswürdig und fröhlich, so präsent

»La vérité est comme le soleil. Elle fait tout voir et ne se laisse pas regarder.«»Die Wahrheit ist wie die Sonne. Sie erhellt alles und lässt sich nicht betrachten.«

Victor Hugo, »Tas de pierres«

Prolog

Das letzte Geräusch war das nervöse Summen der Fliegen: Bzzzzz. Bzzzz. Bzzzz. Woher kommt eigentlich das Sprichwort »On n’attrape pas des mouches avec le vinaigre«? Und warum gerade jetzt diese Frage? Als ob das noch irgendeine Bedeutung hätte. Warum sollte einen so etwas noch interessieren, wenn man bald tot sein würde?

Jenen Satz hatte der Großvater oft zur Großmutter gesagt, weil sie im Gegensatz zu ihm immer so aufbrausend gewesen war. »Mit Essig fängt man keine Fliegen« – sondern eher mit Süßem, zum Beispiel mit Honig. Das sollte wohl heißen, dass der sanfte Weg oft der bessere war. Nun ja, allzu weit hatte Grand-Père es mit dieser Lebensweisheit nicht gebracht. Ein Leben lang geschuftet und nie etwas an den Füßen gehabt. Und warum jetzt ausgerechnet an den Alten mit der kleinen Nickelbrille auf der großen Nase denken?

Vielleicht war das ja der Anfang des berühmten letzten weißen Tunnels vor dem endgültigen Verlöschen aller Lichter: der Beginn des Rückblicks, von dem viele glaubten, dass die eindrücklichsten Ereignisse des eigenen Lebens noch einmal an einem vorüberziehen würden. Ein sehr langes Leben war es ja nicht gewesen. Nicht wie das von Grand-Père, der immerhin vierundneunzig Jahre alt geworden und sanft in seinem Bett entschlafen war.

Es war ein viel zu schöner Tag, um zu sterben. Außerdem gab es noch so viel zu tun! Aber das würden jetzt andere machen müssen. Die Sonne wärmte den Rücken. Ein wohliges Gefühl, wie Streicheleinheiten. Noch einmal etwas im Leben genießen …

Doch plötzlich wurde es kalt, sehr kalt – und dann schwarz.

Kapitel 1

Saint-André-du-Périgord, Sonntag, 11.Juni

 

Die Sonne stand schon hoch, obwohl es erst kurz vor acht Uhr in der Früh war, und das Thermometer zeigte angenehme zweiundzwanzig Grad an. Kommissarin Marie Mercier verließ zusammen mit ihrem Mischlingshund César das Haus und wurde sogleich vom Duft der zartrosa Kletterrosen begrüßt, die ihre Haustür umrankten. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und genoss die samtige Wärme dieses Sommermorgens, dann ordnete sie die Blumen in der runden Vase auf dem massiven Holztisch vor dem Haus. Flüchtig streichelte sie den Kater Gaston, der tief schlafend zusammengerollt auf der Holzbank lag, bevor sie mit federnden Schritten über den gepflasterten Hof des Familienanwesens lief. Sie teilte ihn sich mit ihrer Großtante Léonie und dem ehemaligen Knecht Georges, die in den anderen beiden Häusern lebten. Als sie mit César das Hoftor erreichte, warf sie noch einen letzten Blick auf die großen Tontöpfe, die sie im März mit Orangenblumen bepflanzt hatte. Jetzt standen die Sträucher in voller Blüte und verströmten einen orangenähnlichen Duft, wie sie zufrieden feststellte.

Marie verließ den Hof durch die kleine, in dem schweren Holztor eingefasste Tür, schloss sie hinter sich zu und ging die Gasse hinunter zur Hauptstraße von Saint-André. Die meisten Fensterläden an den ockerfarbenen Fassaden der benachbarten Häuser waren geschlossen. Offensichtlich lagen die meisten Bewohner des Dreihundertseelendorfs noch in den Federn. Das galt auch für Michel. Als sie vorhin aufgestanden war, hatte er ihr zärtlich über den Rücken gestrichen, sich dann genüsslich umgedreht und weitergeschlafen.

Doch Marie war ein Morgenmensch. Sobald sie die Augen aufschlug, war sie wach und voller Energie. Heute war sie nach dem Duschen in ein leichtes hellblaues Leinenkleid geschlüpft und trug dazu passende blau-weiß gestreifte Espadrilles. Sie hatte ihre dunklen Locken nur rasch durchgebürstet und war dann mit wehendem Haar losgezogen.

Sie warf César, der an ihrer Seite trottete, einen Blick zu. Die Enttäuschung darüber, dass sie nicht gleich zu einem langen Spaziergang durch die Felder aufbrachen, war ihm förmlich anzusehen. Marie staunte immer wieder, wie ausdrucksstark diese Hundeaugen sein konnten.

»Tut mir leid, César, aber es ist Wochenende, und Michel ist da, deshalb besorge ich jetzt erst mal was fürs Frühstück«, erklärte sie ihm.

Die beiden führten eine Wochenendbeziehung. Wenn Michel Leblanc konnte, was bei ihm als Leiter des Drogendezernats in Bordeaux selten genug vorkam, schlief er gern aus – daher war sie die Frühstücksbotin.

César und sie liefen am Bürgermeisteramt und an der Grundschule vorbei und erreichten die Epicerie. Der Tante-Emma-Laden war täglich ab sieben Uhr morgens geöffnet, und dort gab es vorzügliche Croissants, Pains au chocolat und Pains aux raisins. Besonders die Rosinenschnecken schmeckten himmlisch, wie Marie fand, die bei einem flüchtigen Blick auf die Schaufensterauslage einen wahren Heißhunger verspürte.

Bevor sie eintrat, sagte sie »couché«, und César legte sich brav hin.

Im Laden stellte sie überrascht fest, dass sich dort am frühen Sonntagmorgen schon viel Kundschaft eingefunden hatte.

»Bonjour, tout le monde«, rief sie fröhlich in die Runde.

Offenbar waren es ausschließlich Dorfbewohner, was Marie nicht verwunderte, denn die Touristen im Ort ließen für gewöhnlich den Tag gemütlich angehen.

»Salut, Marie«, antworteten mehrere Kundinnen, die gerade noch angeregt miteinander gesprochen hatten.

Den niedergedrückt klingenden Stimmen zufolge musste etwas Schlimmes passiert sein. Marie blickte zu Odile, der Ladenbesitzerin, die mit betroffener Miene hinter ihrer Theke stand.

Marie wusste, dass derzeit viel über Odile getratscht wurde. Sie hatte sich vor Kurzem nach zwanzig Jahren Ehe von ihrem Mann getrennt und ihre Liebesbeziehung zum Bäcker aus dem Nachbarort öffentlich gemacht. Mit ebenjenem, der ihr die köstlichen Backwaren lieferte. Und sicherlich hatte sie deswegen auch einige despektierliche Bemerkungen von Dorfbewohnern zu hören bekommen. Aber konnte das der Grund für ihre Betroffenheit und die traurigen Gesichter der Kunden sein?

»Was ist passiert?«, fragte Marie geradeheraus.

»Ein Unfall!«, antwortete eine Stimme, die Marie sofort wiedererkannte.

Es war Rose, ihre Nachbarin und zugleich Léonies beste Freundin. Sogleich zwängte sich die alte Dame an ein paar Kundinnen vorbei, um an Maries Seite zu treten.

Seltsam. Normalerweise verließ Rose nicht so früh das Haus. Um diese Zeit wuselte sie lieber im Morgenmantel und mit Gießkanne und Gartenschere bewehrt zwischen ihren prächtigen Blumenbeeten herum.

Marie beschlich ein ungutes Gefühl. Wenn Rose bereits so früh ein Ausgehkleid in dem für sie obligatorischen Rosaton angezogen hatte und sich hier unter die Leute mischte, musste es einen triftigen Grund geben, der ihre legendäre Neugier geweckt hatte.

»Die Pariserin – du kennst sie, Patricia Batteau – die hatte einen Unfall! Sie liegt im Krankenhaus von Sarlat, die Arme.« Bekümmert, aber auch ein wenig erwartungsvoll schaute Rose sie an. Sie ließ sich gern Fragen stellen, um dann mit ihrem Wissen glänzen zu können.

Marie runzelte die Stirn.

»Ist sie schwer verletzt?«

»Das wissen wir nicht. Aber sie musste ins Krankenhaus. So viel steht fest.«

»Hoffentlich ist es nichts Ernstes«, überlegte Marie laut, denn die Verunglückte war im siebten Monat schwanger.

Eigentlich hieß Patricia mit Nachnamen Paré. Sie war vor einem knappen Jahr mit ihrem Lebensgefährten Christian Batteau von Paris nach Saint-André gezogen, und obwohl die beiden nicht verheiratet waren, nannte man sie im Dorf der Einfachheit halber »die Batteaus« oder »die aus Paris«. Ihre Sehnsucht nach einem Neuanfang fernab der Großstadt hatte sie nach langer Suche schließlich in die sanften Täler des Périgord geführt. In Saint-André hatten sie ein prächtiges Anwesen auf einem der Hügel oberhalb des Dorfes gekauft. Das Wohngebäude selbst lag versteckt hinter Bäumen, sodass es von der Hauptstraße aus nur im Herbst und Winter zu sehen war. Es war ein frei stehender, abgelegener Landsitz – eine Chartreuse, wie so etwas im Südwesten Frankreichs genannt wurde, was eine Verweltlichung des ursprünglichen Begriffs für eine Niederlassung des Kartäuserordens darstellte.

Das lang gestreckte, imposante Bauwerk oberhalb von Saint-André stammte aus dem 18.Jahrhundert und war mehr als nur renovierungsbedürftig, denn vor dem Erwerb durch das Paar hatte es viele Jahre lang leer gestanden und war zusehends verfallen. Die Sanierungskosten durften wohl ins Uferlose gehen. Doch »die aus Paris« hatten sich augenscheinlich in das Anwesen verliebt und sich mit unbändiger Energie und großem Ehrgeiz ans Werk gemacht. Finanzielle Mittel waren offensichtlich vorhanden, und die Sanierung sowie Renovierung gingen bemerkenswert schnell voran, wie man regelmäßig auf Instagram verfolgen konnte.

Christian Batteau, ein erfolgreicher Fotograf und Besitzer einer Werbeagentur, postete regelmäßig eindrucksvolle Bilder von den Instandsetzungsarbeiten, die er mit informativen, teils auch emotionalen Kommentaren versah. Man erkannte daran, dass er ein echter Kommunikationsprofi war. So war eine informative und spannende Dokumentation der bisherigen Sanierungsfortschritte entstanden, die Marie in den letzten Wochen gern angeklickt hatte. Derzeit wurde die Bedachung vollkommen erneuert. Der Dachstuhl war im Laufe dieser Woche fertig geworden, wie Patricia Marie vor zwei Tagen berichtet hatte.

Die beiden Frauen waren sich zum ersten Mal vor ein paar Wochen zufällig an dem Ufer der Vézère begegnet, als ihre Hunde zusammen in den Fluss gesprungen waren. Patricia hatte einen jungen Golden Retriever, der es wie César liebte, in Gewässern umherzuspringen, egal, zu welcher Jahreszeit. Während die beiden Hunde herumtollten, waren die Frauen ins Gespräch gekommen und hatten sich danach noch zwei, drei Mal an derselben Stelle getroffen.

Patricia war, wie sie Marie gegenüber erwähnt hatte, als Dokumentarfilmerin durch die ganze Welt gereist. Sie war eine offene, spontane und warmherzige Frau Anfang vierzig. Marie hatte Patricia gleich gemocht, und die Nachricht von ihrem Unfall bedrückte sie sehr.

»Weiß jemand, was passiert ist?«, erkundigte sie sich.

»Die ist wohl ausgerutscht.« Erneut war es Rose, die etwas zu berichten wusste. »Irgendeine Abdeckplane muss sich gelöst haben. Jedenfalls hat das der Batteau einem von den Sanitätern gesagt. Und der ist ein Großneffe von mir und hat es mir erzählt.« Es war nicht zu überhören, wie stolz Rose war, hier vor Publikum mit konkreten Informationen zu dem traurigen Vorfall aufwarten zu können. Damit war dann auch geklärt, warum sie sich schon so früh auf den Weg zur Epicerie begeben hatte.

Allerdings halfen diese Informationen Marie kaum weiter. Sie konnte sich kein wirkliches Bild von dem Unfall machen, zumal sie noch nie oben in der Chartreuse gewesen war. Dafür kannte sie die Batteaus zu wenig.

»Und hat dein Großneffe etwas über das Baby gesagt?«, erkundigte sich eine Kundin besorgt bei Rose.

»Nein«, gab diese zu.

»Dazu ist er auch nicht befugt, denn als Sanitäter unterliegt er der Schweigepflicht!«, stellte Marie klar. »Wann ist der Unfall passiert?«

»Gestern am späten Nachmittag, so gegen sechs«, antwortete Rose. »Die Sirene des Krankenwagens hat durch das ganze Tal gehallt. Wahrscheinlich warst du da nicht im Dorf, sonst hättest du es gehört.«

»Ja, ich war erst spät wieder zu Hause.«

Marie war am Freitagabend direkt vom Kommissariat in Périgueux, wo sie die Mordkommission leitete, zu Michel nach Bordeaux gefahren, wo sie auch einen Großteil des Samstags mit ihm verbracht hatte. Schon lange hatten sie sich dort eine der spektakulären Ausstellungen in den Bassins des Lumières anschauen wollen, eine ehemalige U-Boot-Basis im Hafenviertel, die man in ein gigantisches Zentrum für digitale Kunst verwandelt hatte. Gemälde und Skulpturen großer Meister der Kunstgeschichte wurden von unzähligen Videoprojektoren und digitalen Bildern auf verschiedene Oberflächen und auf das Wasser riesiger Becken projiziert – untermalt von Musik. Nach diesem beeindruckenden Erlebnis waren sie dann spontan an die Atlantikküste nach Arcachon gefahren und hatten in einem Restaurant direkt am Strand eine riesige Meeresfrüchteplatte vertilgt. Diesen ganz besonderen Samstag, der nur ihnen allein gehörte, was selten genug vorkam, hatten sie nach dem Schlemmen mit einem langen Abendspaziergang am Meer abgerundet. Und so waren sie erst kurz vor Mitternacht in Saint-André eingetroffen.

Marie überlegte, wie sie auf die bestürzende Nachricht reagieren sollte. Sie kannte Christian Batteau kaum. Das letzte Mal, als sie Patricia an der Vézère getroffen hatte, war er zwar auch dabei gewesen, sie hatten aber kaum ein Wort miteinander gewechselt, da Marie nach wenigen Minuten einen Notruf aus dem Präsidium erhalten hatte und sofort ins Büro geeilt war. Weil sie nicht ausgerechnet an einem Sonntag vorbeischauen wollte, beschloss sie nun, später eine private Nachricht auf Christian Batteaus Instagram-Account zu hinterlassen und sich nach Patricias Zustand zu erkundigen.

»Na ja, das musste ja irgendwann so kommen, dass da ein Unglück auf dem Gelände passiert«, unterbrach eine männliche Stimme Maries Gedankengang.

Sie brauchte einen Moment, um sie zuzuordnen. Den alten Mann mit dem überdimensionierten weißen Schnäuzer und der runden Metallbrille, der sich spontan geäußert hatte, kannte sie nur vom Sehen. Er war der ehemalige Schuster von Saint-André, der sich schon vor langer Zeit zur Ruhe gesetzt hatte. Ein begnadeter Handwerker, aber ein ewiger Griesgram, wie Léonie ihr mal erzählt hatte.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Marie und schaute ihn auffordernd an.

»Na ja, was mussten die Pariser auch auf Teufel komm raus die Chartreuse kaufen! Das hat doch nur jede Menge Ärger gebracht.«

Das stimmte nur zum Teil. Die Sanierung des alten Gebäudes störte eigentlich niemanden, ganz im Gegenteil. Aber wegen der dazugehörigen Ländereien gab es Probleme. Das weitläufige Gelände war vom Nachbarbauern Romain Saurel und seiner Frau Isabelle viele Jahre lang einfach als Weidefläche für ihr Vieh genutzt worden, weil die damaligen Eigentümer weder auf dem Landgut gelebt noch sich darum gekümmert hatten. Vorher waren die Saurels gezwungen gewesen, auf der anderen Seite des Dorfes zwei Grundstücke zu verkaufen, um Kredite abzuzahlen, und diese Flächen hatten ihnen danach gefehlt. Also hatten sie ihre Kühe auch auf dem Grundstück, das nun den Batteaus gehörte, weiden lassen und in den Scheunen diverse Maschinen und Material gelagert. Und damit war das Land nach ihrem Dafürhalten in ihren Besitz übergegangen. Die früheren Eigentümer, eine verfeindete Erbengemeinschaft, hatten sich daran nicht gestört. Sie waren wohl allzu sehr mit ihren internen Streitereien beschäftigt gewesen.

Doch mit dem Verkauf des Anwesens an das Paar aus Paris hatte sich die Situation grundlegend geändert. Die beiden hatten gleich darauf bestanden, dass Weidetiere, Maschinen und Materialien von ihrem Grundstück entfernt wurden, worüber die Saurels äußerst verärgert gewesen waren.

Patricia Paré, die diesen unglücklichen Beginn ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen bedauerte, hatte es Marie so erklärt: »Prinzipiell hätten wir ja nichts dagegen, dass die Saurels ihre Kühe bei uns weiden lassen, aber diese Leute wurden richtig aggressiv, als wir das Thema angesprochen haben. Tut mir leid, aber da macht schon auch der Ton die Musik. Außerdem besagt das französische Gewohnheitsrecht, dass Ländereien von anderen ohne Zeitlimit weiter genutzt werden können, wenn der Besitzer sie einmal zur Verfügung gestellt hat. Werden also nicht von Anfang an klare Verhältnisse geschaffen, lässt sich das so einfach nicht mehr rückgängig machen. Das Gesetz soll die Bauern schützen, und das ist ja auch in Ordnung. Abgesehen davon haben wir vor, das Land später mal für eine Safranplantage zu nutzen.«

Da Marie die Hintergründe dieses Streits kannte, fühlte sie sich jetzt in der Epicerie genötigt, Patricia gegen die ungerechtfertigten Vorwürfe zu verteidigen. »Wieso sollen die Batteaus für den Ärger verantwortlich sein? Sie haben doch das Anwesen gekauft und daher alles Recht der Welt, Einspruch zu erheben, wenn andere sich auf ihrem Grund und Boden breitmachen.«

»Aber die Saurels sind doch von hier! Und außerdem … Die aus Paris haben nicht einmal vor der Polizei Halt gemacht. So eine Unverschämtheit!«, empörte sich der alte Mann.

Auch das entsprach nicht den Tatsachen, wie Marie wusste. Die Wahrheit war ihr in ihrer Dienststelle über mehrere Ecken zu Ohren gekommen. Die Saurels hatten sich zunächst geweigert, einzusehen, dass sie im Unrecht waren. Der Bürgermeister von Saint-André hatte sich genötigt gefühlt, das Bauernpaar zur Rede zu stellen, und die Polizei erst gerufen, nachdem sich sämtliche Vermittlungsversuche als vergeblich erwiesen hatten. Und so mussten die zwei Unbelehrbaren die illegal genutzten Ländereien schlussendlich doch räumen. Für sie bedeutete das nicht nur eine Umorganisation ihres landwirtschaftlichen Betriebes, sondern auch einen herben Gesichtsverlust. Und Letzteres war wohl das größere Übel. In ihrer Wut hatten die Saurels fast das halbe Dorf gegen die Batteaus aufgehetzt.

So hatten sich tatsächlich zwei Lager gebildet: Auf der einen Seite standen diejenigen, die dem Bauernpaar mehr oder weniger recht gaben und die Neuankömmlinge im besten Fall mit Misstrauen betrachteten – und auf der anderen jene, die Saurels Verhalten nicht in Ordnung fanden und es generell begrüßten, dass ihre Gemeinde neue Anwohner anzog. Letztere waren nicht nur ein positiver Wirtschaftsfaktor, sondern trugen auch Wesentliches zum Gemeinschaftsleben im Ort bei. So verfügte Saint-André im Unterschied zu vielen Nachbardörfern mit nur wenigen Hundert Bewohnern noch über eine Grundschule, einen Lebensmittelladen, eine Post und ein Restaurant. Das war heutzutage in einer ländlichen Gegend keine Selbstverständlichkeit mehr, und Saint-André hatte daher nicht nur zur Ferienzeit, sondern ganzjährig ein reges Gemeindeleben. Ein weiterer Bevölkerungszuwachs würde entscheidend dazu beitragen, dass es so bliebe.

Marie ärgerte sich über die Falschaussage des ehemaligen Schusters – und nicht nur darüber.

»Nicht die Batteaus haben die Polizei gerufen«, stellte sie mit empörter Stimme klar. »Und überhaupt – was hat das mit dem Unfall der armen Frau zu tun?«

»Na ja, die Fremden können sich mit ihrem Geld einfach alles aneignen, und wir, wir müssen sehen, wo wir bleiben«, entgegnete der ehemalige Schuster ausweichend. »Bald werden wir uns hier nicht mehr zu Hause fühlen«, setzte er noch hinzu.

Jetzt reichte es Marie. Dieser alte Dorftrottel war nicht in der Lage, auch nur ein einziges sachliches Argument vorzubringen, und obendrein voller Vorurteile gegenüber Leuten, deren Vorfahren nicht aus der Region stammten.

Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihn in scharfem Ton zu fragen: »Und für Sie rechtfertigt das, dass sich jemand bei einem üblen Sturz verletzt – als angemessene Strafe sozusagen?«

Der Mann verstummte, und auch kein anderer sagte etwas zu dem Thema.

Marie allerdings war so in Rage, dass sie einfach an den Verkaufstresen trat und Odile ansprach, obwohl sie noch gar nicht an der Reihe war. »Ich hätte gern zwei Pains aux raisins, zwei Croissants und ein Baguette.«

Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich vorgedrängelt hatte, aber sie entschuldigte sich nicht. Sie wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich nach Hause, um nicht noch weitere abstruse Streitgespräche ertragen zu müssen.

»Das macht sechs Euro fünfzig«, sagte Odile, als sie die Papiertüte mit den Backwaren und das Baguette auf den Tresen legte.

Marie zahlte, nahm ihre Einkäufe und verabschiedete sich mit einem knappen »Salut.«

Sie wusste, dass es weitere Diskussionen über die Batteaus geben würde, sobald sich die Tür hinter ihr schloss. Und auch über sie. Denn im Dorf hatte sie einen besonderen Status – zum einen, weil sie Kriminalkommissarin war und damit per se für Recht und Ordnung stand, zum anderen wegen ihrer persönlichen Geschichte. Die Merciers lebten zwar schon seit vielen Generationen in Saint-André, aber Marie selbst war in Paris aufgewachsen und hatte dort den größten Teil ihres Lebens verbracht. Erst vor vier Jahren war sie von der Kriminalpolizei in Paris zum Kommissariat in Périgueux gewechselt und in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter in Saint-André gezogen. Für manche Dorfbewohner war sie damit für immer als »eine aus Paris« abgestempelt und gehörte für den einen oder anderen vermutlich auch zu den unerwünschten Neuankömmlingen. Dazu kam noch, dass ihr Vater Deutscher war, sodass manche sie noch nicht einmal für eine echte Französin hielten.

Während Marie mit César nach Hause ging, atmete sie mehrmals tief durch und richtete den Blick auf den strahlend blauen Himmel. Die Temperaturen stiegen langsam, es würde ein warmer Tag werden. Unterwegs begegnete sie niemandem, und das war ihr ganz recht. Das Gespräch in der Epicerie ging ihr nicht aus dem Kopf. Einerseits ärgerte sie sich noch immer über den alten Schuster, andererseits hoffte sie, dass die verunglückte Mutter und ihr ungeborenes Kind wohlauf waren. Wie sie es sich vorgenommen hatte, nahm sie ihr Handy und hinterließ Christian Batteau eine Nachricht auf seinem Instagram-Account. Er war nicht online. Wahrscheinlich hielt er sich im Krankenhaus bei seiner Lebenspartnerin auf – vorausgesetzt, sie war noch dort.

Als Marie mit César das Tor zu ihrem Hof erreichte, blieb sie kurz stehen und beschloss, die Gedanken an Patricia erst einmal beiseitezuschieben. Im Moment würde sie ohnehin nicht mehr darüber erfahren. Außerdem musste sie sich innerlich auf das einstellen, was für heute noch alles anstand. Denn ihre Großtante Léonie hatte sie gebeten, sie bei der Vorbereitung eines besonderen Abendessens für die Familie tatkräftig zu unterstützen. Wobei mit »Familie« vier Personen gemeint waren. Marie hatte – ebenso wie Léonie und Georges – keine Kinder, ihre Mutter lebte in Nizza, ihr Vater in Köln, und Michels erwachsener Sohn war auf hoher See irgendwo am anderen Ende der Welt.

Den Anlass für die feierliche Zusammenkunft hatte Léonie ihr nicht mitgeteilt. Marie wusste lediglich, dass Michel und sie dabei sein mussten und dass es ein Feinschmeckermenü geben würde. Und das sollte bei Léonie, die für ihre besonderen Kochkünste bekannt war, etwas heißen.

Aber erst einmal hatte Marie etwas anderes im Sinn. Sie wollte Michel mit einem Frühstück im Bett wecken. Das liebte er. Und sie auch! Wenn sie daran dachte, wie er sich vorhin nackt, sein sehniger Körper leicht gebräunt, im Bett gerekelt hatte, überkam sie sofort große Lust, sich vor dem Frühstück noch einmal zu ihm zu legen. Dass sie an diesem Vormittag nicht mehr viel Zeit füreinander hatten, würden sie einfach ignorieren.

Kapitel 2

Saint-André-du-Périgord, Sonntag, 11.Juni

 

Léonie stand allein in ihrer großen Wohnküche, stellte nachdenklich ihre Kaffeetasse in die Spüle und rieb sich die Hände an ihrer geblümten Schürze trocken. Entgegen ihren Gewohnheiten hatte sie nicht gefrühstückt. Sie hatte einfach keinen Hunger. Vielleicht, weil sich heute ohnehin alles ums Essen drehen würde. Sie schaute aus dem Fenster und ließ ihren Blick über den Garten schweifen. Im Gemüsegarten gedieh alles prächtig und wurde von der Morgensonne angestrahlt. An den Tomatenpflanzen hatten sich schon Früchte gebildet, die allerdings noch klein und grün waren. Wenn das Wetter weiter mitspielte, würde es eine gute Ernte geben, auch bei den Bohnen. Möhren und Steckrüben waren reif und schmeckten dieses Jahr besonders süß, wie Léonie bereits festgestellt hatte.

Plötzlich durchquerte Gaston das ruhige Bild. Mit seinem rötlichen Fell war der Kater auf der grünen Wiese nicht zu übersehen. In seinem Maul trug er etwas, das einen langen, dünnen Schwanz hatte. Mal wieder eine Maus. Léonie mochte keine Mäuse, trotzdem tat es ihr immer leid, wenn Gaston eine beim Jagen erwischte.

Sie wandte sich ab und ging zu dem großen Tisch aus Eichenholz, der in der Mitte des Raumes stand. Dort lag ein DIN-A4-Blatt, auf dem sie mit Bleistift die verschiedenen Speisen für das Menü am heutigen Abend aufgelistet hatte.

Georges hatte sich ein ganz besonderes Essen gewünscht, weil er »etwas verkünden wolle«. Seit über sechzig Jahren lebte er mit den Merciers auf dem Hof, dem er seine ganze Arbeitskraft gewidmet hatte. Er war der Mann, den Léonie liebte und der sie liebte, auch wenn ihre Eltern eine Verbindung seinerzeit kategorisch abgelehnt hatten, denn Georges war nur der Knecht gewesen und damit nicht standesgemäß. Sie hatten sich damals dem Familienveto gebeugt und das Beste daraus gemacht. Andere Zeiten, andere Sitten. Heute mussten sie sich nicht mehr verstecken und niemandem etwas erklären. Trotzdem lebten sie immer noch in zwei verschiedenen Häusern auf dem Hof. Das nannte man wohl die Macht der Gewohnheit.

Léonie hatte sich sofort bereit erklärt, Georges’ Wunsch nachzukommen. Sie war glücklich, ihm eine Freude machen zu können. Gleichzeitig verspürte sie aber auch eine gewisse Besorgnis. Sich von anderen etwas zu wünschen und ihnen etwas verkünden zu wollen – das war so gar nicht Georges’ Art. Er bat fast nie um etwas und zeichnete sich vor allem durch Bescheidenheit aus.

Es sei denn, es ging um seine Hängebauchschweine Augustine und Joseph, denen er im Laufe der letzten Jahre zunehmend Aufmerksamkeit und Zuneigung geschenkt hatte. Wenn es nach ihm ginge, würde sich das ganze Leben hier auf dem Hof um diese zwei zentnerschweren Tiere drehen. Hatte sein Menüwunsch etwas mit ihnen zu tun? Das konnte sie sich bei aller Skurrilität, die der sonst so bodenständige Georges im Umgang mit den beiden an den Tag legte, nicht vorstellen. Außerdem wirkte er seit Tagen auffallend nervös und hatte, was sie besonders beunruhigte, seinen legendären Appetit verloren. Hoffentlich war er nicht krank und wollte eine Art Abschied zelebrieren! In ihrem Alter musste man ja mit allem rechnen, auch wenn sie beide bislang noch gut in Form waren. Sie klopfte auf den Holztisch – ein bisschen Aberglaube konnte nicht schaden. Dennoch, Georges ging langsam auf die achtzig zu, und sie selbst war schon dreiundachtzig. Sie seufzte und blickte ein wenig melancholisch zur Seite.

Genau in diesem Moment sah sie Georges im Türrahmen auftauchen, still und schweigsam wie eh und je. Er hielt einen Besen in der Hand.

»Und, bist du durch?«, fragte sie ihn lächelnd.

»War heute etwas gründlicher als gewöhnlich«, verkündete er knapp.

Jeden Morgen kehrte Georges den Hof, den sie sich mit Marie teilten. Dabei ging er immer nach demselben Ritual vor. Er fing vor seinem Häuschen an, das neben dem Gemüsegarten stand, fegte methodisch an dem Gehege der Schweine und an deren Stall vorbei, bewegte sich dann langsam auf das Gebäude zu, in dem Marie wohnte. Von dort arbeitete er sich zum Eingangstor vor, wandte sich dann um und nahm das Areal ins Visier, das seit jeher Léonies Reich war. Natürlich kehrte er besonders sorgfältig um die Blumenbeete herum und entfernte dabei die verwelkten Blumen und das Unkraut. Georges war ein gewissenhafter Mann mit einem ausgeprägten Sinn für Ordnung. Er liebte den Hof, der seit Anfang des 19.Jahrhunderts im Besitz der Merciers war.

»Magst du einen Kaffee?«, fragte sie.

»Wenn du meinst«, antwortete er knapp und strich sich eine rebellische Strähne seines weißen Haares aus der Stirn.

Stumm stellte er den Besen vor der Tür ab, betrat die Küche und kam zu ihr.

Léonie hatte das Gefühl, dass er mehr als sonst in seiner viel zu großen, unförmigen Cordhose und dem verwaschenen Holzfällerhemd verschwand. Seine Alltagskleidung ließ ihn noch schmaler erscheinen, als er ohnehin war.

»Hast du was gegessen?« Besorgt schaute sie zu ihm hoch, da er sie um gut zwanzig Zentimeter überragte.

»Keinen Hunger.«

Léonies Herz zog sich zusammen. »Aber heute Abend wirst du schon richtig essen, oder?«

»Klar!«

Das war eine gute Neuigkeit. Erleichtert reichte sie ihm das Blatt Papier mit dem Menü.

Er nahm den Zettel, kramte seine Lesebrille aus den Untiefen seiner Hosentasche hervor und setzte sie auf. Mit feierlicher Miene ließ er sich auf seinen Stammplatz am Tisch nieder, und sie gesellte sich zu ihm.

Laut las er die erste Speise auf der Menüliste vor: »Feuilleté d’écrevisse avec gelée de Sauternes …«

Das waren Flusskrebse in Blätterteig mit einem Weingelee. Grundlage für Letzteres war ein erlesener, edelsüßer Sauternes aus dem benachbarten Département Gironde. Michel hatte den Weißwein für das Essen gestiftet.

»Das nehmen wir sozusagen als Aperitif-Häppchen«, erklärte Léonie. »Und dazu können wir ein Glas Sauternes trinken. Ich werde bestimmt nicht die ganze Flasche für das Gelee brauchen.«

Georges nickte zufrieden und las weiter.

»Risotto à la truffe … Ah, ah! Mit den Trüffeln, die Augustine gefunden hat.« Darüber freute er sich sichtlich und deutete mit dem knochigen rechten Zeigefinger auf die entsprechende Zeile.

»Évidemment!«, bestätigte Léonie mit einem breiten Lächeln. Es war damit zu rechnen, dass er diese Tatsache heute Abend, wenn sie Trüffelrisotto mit hausgemachter Trüffelbutter aßen, noch mehrmals erwähnen würde. Die Sau war eine hervorragende Trüffelsucherin und Georges’ ganzer Stolz.

»Trou normand à la Vieille Prune«, fuhr er fort. »Das gefällt mir!«

»Das denke ich mir.« Das stark alkoholgetränkte Sorbet – in dem Fall mit Pflaumenbrand, Georges’ Lieblingsschnaps – nahm man bei opulenten Menüs zwischen zwei Hauptspeisen zu sich, um den Appetit wieder anzuregen. Das war zwar heute ein bisschen aus der Mode gekommen, aber Georges war so ziemlich der Letzte, der sich dafür interessierte, was gerade im Trend lag. Das hatten sie gemeinsam. »Tut sicherlich gut nach dem reichhaltigen Risotto«, ergänzte Léonie.

Georges nickte abermals.

»Loup de mer en croute de sel avec ses petits légumes du jardin …«, las er und warf ihr einen überraschten Blick zu. »Das habe ich bei dir noch nie gegessen.«

»Habe ich auch noch nie gemacht – wurde dringend Zeit!«

Dieses Rezept mit Wolfsbarsch, der unter einer dicken Salzkruste gegart wurde, hatte sie schon immer fasziniert. Dazu wollte sie junges Gemüse aus dem Garten mit einer Sauce mousseline servieren. Die schaumige Butter-Eier-Sauce würde sie à la minute zubereiten.

»Soll ich das Gemüse im Garten ernten?«, bot Georges ihr an. Das tat er besonders gern, zumal er dabei seine selbst geflochtenen Weidenkörbe benutzen konnte, auf die er mit Recht stolz war.

»Ja, bitte. Und ich brauche auch reichlich Petersilie und Kerbel.«

Er widmete sich erneut dem Blatt.

»Plateau de fromage?« Jetzt schaute er sie ein wenig skeptisch an. Bestimmt fand er, dass es zu viel war, und damit hatte er nicht unrecht.

»Für Michel«, erklärte sie. Für Maries Freund war die Käseplatte überaus wichtig. Er war der Ansicht, »Käse geht immer«. Und wie sie Georges kannte, würde auch er sich am Ende dazu verführen lassen, etwas von der Platte zu nehmen. Es war schon paradox. Einerseits aß er zurzeit kaum etwas, andererseits hatte er sich ein aufwendiges Mahl gewünscht.

»Soufflé au Grand-Marnier et tuiles aux noix.« Georges strich ihr unbeholfen über die Hand. »Da hast du dir ganz schön was vorgenommen. Merci, Léonie!«

Der gefühlvolle Blick, den er ihr zuwarf, machte sie fast verlegen. Was war bloß los mit ihm? Sie erkannte ihren Georges nicht wieder.

»Das Soufflé für den Nachtisch muss frisch vorbereitet werden«, schwatzte sie drauflos, um ihre Emotionen zu überspielen. »Das mache ich, während ihr noch beim Käse seid. Die Walnusskekse habe ich gestern schon gebacken. Hühnerfond für den Risotto und Blätterteig für die Flusskrebse sind vorbereitet.« Beides hatte sie in den Kühlschrank gestellt.

»Nach diesem Essen werden wir einer nach dem anderen platzen«, sagte Georges und lächelte.

Das Menü hatte also seine volle Anerkennung gefunden, obwohl er eigentlich lieber etwas mit Ente und Foie gras gehabt hätte. Aber nach dem letzten heftigen Ausbruch der Vogelgrippe, die zum wiederholten Mal in der Gegend gewütet hatte, bekam man nur schwerlich Geflügel und erst recht keine Entenstopfleber. Deshalb hatte Léonie sich für Fisch entschieden.

Nun starrte er auf den Zettel, als würde er über irgendetwas nachdenken, das in Verbindung mit diesen Speisen oder ihrer abendlichen Zusammenkunft stehen mochte.

Nach kurzem Zögern entschied sich Léonie, ihm eine Frage zu stellen, die sie in den letzten zwei Tagen bestimmt schon zehn Mal in unterschiedlichen Formulierungen geäußert hatte. »Willst du mir nicht endlich verraten, warum wir dieses Essen veranstalten?«

»Heute Abend erfährst du es«, erwiderte er. Danach rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, als ob er noch etwas sagen wollte, sich aber nicht recht traute.

Léonie wartete geduldig, was sonst so gar nicht ihre Art war, bis er mit der Sprache herausrückte.

»Das Wetter ist so schön … Können wir heute Abend draußen essen?«, fragte er schließlich.

Diese Bitte überraschte Léonie. Georges aß am liebsten im Haus. Draußen war es ihm für gewöhnlich zu kalt oder zu warm. Oder es gab zu viele Fliegen, zu starken Wind, zu grellen Sonnenschein … Irgendetwas störte ihn immer.

»Ich habe Augustine und Joseph versprochen, dass sie auch dabei sein dürfen«, fügte er als Erklärung hinzu.

Großartig! Ich wollte ja schon immer ein Festtagsmenü im Beisein von zwei grunzenden Hängebauchschweinen genießen, schoss es Léonie durch den Kopf, aber sie behielt es für sich. Georges wirkte so angespannt, da wollte sie ihm nicht noch mehr zusetzen.

»Klar. Marie überlässt uns sicherlich den großen Holztisch, der bei ihr vor dem Haus steht.«

Georges atmete hörbar aus. Ihm war wohl ein Stein vom Herzen gefallen, dass die Schweine den Abend zusammen mit der Familie verbringen durften. Was hatte er so Bedeutsames mitzuteilen, dass es auch die Schweine unbedingt mithören mussten?

*

Marie und Michel saßen sich im Bett gegenüber, beide im Schneidersitz. Michel hatte ein T-Shirt sowie Boxershorts übergestreift und sich mit den Fingern ansatzweise gekämmt.

»Du hast gestern beim Strandspaziergang ganz schön Farbe bekommen«, stellte sie fest und strich ihm über den Arm.

»Das geht schnell bei mir. Und wie passt das unrasierte Gesicht dazu?«, fragte er und schob das Kinn vor.

»Sieht gut aus. Rau und wild: ein Seewolf mit goldenem Teint!« Marie schlug einen theatralischen Ton an und griff nach seinem Kinn. Sie zog ihn sanft zu sich und gab ihm einen Kuss.

Sie fand, dass er mit den Jahren immer besser aussah – und entspannter, obwohl er beim Drogendezernat in Bordeaux einen taffen Job hatte. Und den machte er so gut, dass das Innenministerium sogar versucht hatte, ihn abzuwerben. Woher nahm er nur diese Gelassenheit? Vielleicht, weil er das Schlimmste schon erlebt hatte. Seine Frau, die er sehr geliebt hatte, war viel zu früh an einem Herzleiden gestorben.

Lange Zeit war er nicht über ihren Tod hinweggekommen – erst als er Marie kennengelernt und sich dann in sie verliebt hatte, war ihm das gelungen.

Er lächelte sie an, und seine dunklen Augen strahlten Wärme aus. Marie überlief eine Woge des Glücks.

Die Balkontür ihres Schlafzimmers stand weit offen, und die Sonne tauchte den Raum in einen warmen Goldton. Über den Bluetooth-Lautsprecher hörten die beiden leise FIP, ein werbefreies französisches Hörfunkprogramm, das Musikstücke unterschiedlicher Stilrichtungen bot und zumeist für eine entspannende Atmosphäre sorgte. Gerade lief La symphonie des éclairs von der jungen Sängerin Zaho de Sagazan. Ein verträumtes, melodisches Lied, das man derzeit auf allen Kanälen hörte.

 

Il fait toujours beau au-dessus des nuages

Mais moi si j’étais un oiseau, j’irais danser sous l’orage

Je traverserais les nuages comme le fait la lumière

J’écouterais sous la pluie, la symphonie des éclairs …

 

Über den Wolken ist das Wetter immer schön.

Aber ich, wenn ich ein Vogel wäre, würde unter dem Gewitter tanzen.

Ich würde die Wolken durchqueren, wie es das Licht tut.

Ich würde im Regen der Symphonie der Blitze lauschen.

 

Während sie der Musik zuhörten, aßen und tranken sie gemütlich weiter. Marie hatte auf dem Bett ein altes Laken ausgebreitet und darauf das Frühstück auf einem Tablett serviert. Eine Rose, die sie bei ihrer Rückkehr rasch abgeschnitten hatte, verströmte ihren angenehmen Duft. Neben den Backwaren, die sie vorhin eingekauft hatte, gab es eine Schale mit Kirschen und Himbeeren aus dem Garten und natürlich ausreichend Kaffee. Nach einer Weile begann sie, von ihrem unliebsamen Erlebnis in der Epicerie und Patricia Parés Unfall zu erzählen.

»Vielleicht solltest du dich im Krankenhaus nach ihr erkundigen«, meinte Michel.

»Nein, da ich nicht zur Familie gehöre, würde man mir sowieso nichts sagen, und es gibt auch keinen Anlass, mich als Kommissarin auszuweisen. Außerdem ist davon auszugehen, dass Rose die Sache wie üblich dramatisiert hat.«

Marie meinte das nicht böse, und Michel wusste das. Sie mochte ihre Nachbarin, die im Grunde auch zur Familie gehörte. Rose und Léonie kannten sich seit der Kindheit und tranken seit Jahrzehnten täglich nach dem Mittagessen einen Kaffee miteinander. »Ich versuche später noch mal, Christian Batteau zu erreichen.«

Sie warf einen kurzen Blick aufs Tablett und sah, dass sie fast alles aufgegessen hatten.

»Willst du noch die halbe Rosinenschnecke?«, fragte sie. »Sonst nehme ich die.«

Michel lachte. »Nimm! Die letzte Nacht scheint dich ja ganz schön gefordert zu haben.«

»Genau, ich muss wieder zu Kräften kommen«, rief sie vergnügt, griff nach dem Gebäck und biss genüsslich hinein. »Außerdem darf ich nachher nicht hungrig bei Léonie ankommen. Sie reagiert immer äußerst allergisch, wenn jemand vorab an ihre Kochtöpfe geht.«

»Sie hat sich ganz schön was vorgenommen. Das wird ein wahres Festmahl!«

»Wie? Du weißt schon, was es gibt?« Marie war verdutzt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was heute auf dem Speiseplan stand.

»Klar, ich habe sie vor zwei Tagen angerufen. Wenn ich Wein mitbringe, muss ich über das Menü Bescheid wissen.«

Michel war ein ausgezeichneter Weinkenner und hatte bei den Merciers inzwischen die Rolle eines Sommeliers übernommen. Und da er zudem ein großzügiger Mensch war, verwöhnte er sie immer wieder mit besonders ausgesuchten Weinen.

»Und hat sie dir gesagt, was der Anlass für dieses Familienessen ist?«

»Das weiß sie selbst nicht. Georges hat sie um ein Festessen gebeten, ohne ihr den Grund dafür zu nennen, und ich glaube, das macht ihr Sorgen.«

Marie war nun auch beunruhigt und kniff die Augen zusammen.

»Sehr seltsam. Und Georges hat dir gegenüber auch nichts erwähnt?«, fragte sie, da sie wusste, dass ihr Freund einen besonderen Draht zu dem alten Mann hatte.

»Nein!«, beteuerte Michel. »Ich schwöre.«

Marie betrachtete ihn skeptisch. Vielleicht hatte Georges es ihm im Vertrauen erzählt und um Stillschweigen gebeten. Dann würde Michel sogar ihr nichts verraten. Er war absolut loyal.

»Wenn ich nicht wüsste, dass Augustine sterilisiert und Joseph kastriert ist, würde ich befürchten, dass er uns Familienzuwachs ankündigen will«, sagte sie grinsend.

Michel lachte. »Na ja, vielleicht hat er heimlich eine Schar Hängebauchschweine adoptiert und will sie uns heute Abend vorstellen.«

»Bitte nicht! Obwohl – zutrauen würde ich es ihm. Als würde Joseph nicht schon genug Unfug machen. Ich glaube, dann dreht Léonie durch.«

Und das zu Recht, wie Marie fand, denn das jüngere der beiden Schweine war ständig auf der Suche nach etwas Essbarem und sorgte immer wieder für heikle Situationen, wenn es ihm gelang, aus dem Gehege auszubrechen. Erst letztes Jahr hatte die unstillbare Fressgier von Joseph dazu geführt, dass Rose mit einem Hüftbruch im Krankenhaus gelandet war: Während sie Himbeermarmelade gekocht hatte, war der Eber, angezogen von dem köstlichen Duft, in ihre Küche gestürmt und hatte die Achtzigjährige einfach beiseitegestoßen, um an den Topf zu gelangen. Daraufhin hatte Rose das Gleichgewicht verloren und war zu Boden gestürzt. Ein Albtraum! Aber zum Glück hatte Rose sich gut davon erholt.

»Ich habe mal eine Flasche Champagner kaltgestellt, falls Georges uns etwas verkündet, worauf wir anstoßen können.« Michel lehnte sich auf einem Kissen zurück und lächelte sie jetzt verschmitzt an. »Wann müssen wir eigentlich runter?«

»Um zehn. Eine knappe Stunde haben wir noch.« Marie erwiderte das Lächeln und schaltete geistesgegenwärtig ihr Handy auf lautlos.

»Großartig!« Behutsam hob Michel das Frühstückstablett vom Bett und legte das Laken zur Seite. Dann beugte er sich zu ihr und küsste sie zärtlich. »Die Zeit sollten wir für uns nutzen, meinst du nicht?«

»Kluger Mann«, antwortete sie und erwiderte den Kuss.

 

Kurz nach zehn standen Marie und Michel in Léonies Küche und ließen sich das Menü erklären.

»Wer soll denn das alles essen?«, entfuhr es Marie anschließend, die ihren Ohren nicht traute. Was Léonie da aufgelistet hatte, war durchweg nach ihrem Geschmack – aber das alles an einem einzigen Abend zu servieren hatte etwas von einem Staatsbankett.

»Keine Sorge, das schaffen wir locker!«, antwortete Michel gelassen. Er aß für sein Leben gern und schätzte Léonies Kochkünste sehr.

Ihre Großtante fand die Frage wohl auch überflüssig, denn sie eilte kommentarlos in ihrem geblümten Kittel hin und her, um die Zutaten herbeizuholen.

Marie bewunderte sie. Eigentlich war Léonie die geborene Küchenchefin. Zu einer anderen Zeit geboren und unter anderen Umständen aufgewachsen, wäre das der perfekte Beruf für sie gewesen. Neben ihren unangefochtenen Talenten als Köchin strahlte sie in der Küche Ruhe und auch eine gewisse Strenge aus.

Jetzt war sie ganz auf die Zubereitung des heutigen Festessens konzentriert. Jeder Handgriff saß. Außerdem erklärte sie ihren beiden »Gehilfen«, welche Aufgaben sie übernehmen sollten. Mit ihren stechend blauen Augen hatte sie alles im Blick.

Michel machte sich gleich an die Vorbereitung des Trou normand à la Vieille Prune.

Nach einer Weile schlug Marie ihr Kochbuch auf, das sie mit dem Titel Les recettes de Tante Léonie versehen hatte. Eigentlich war es ein Schulheft. Vor ein paar Jahren hatte sie damit begonnen, sich in einem Heft regelmäßig zu notieren, was sie in Léonies Küche lernte. Und das war viel. So viel, dass sie bald einen Folgeband hatte anlegen müssen. Am heutigen Morgen schrieb sie als Erstes das Rezept der Speise auf, für die Michel zuständig war.

»Du hast also die getrockneten Pflaumen halbiert, sie drei Minuten im Zucker- und Zimtsirup sieden lassen, dann die Zimtstangen und den Sternanis entfernt und die Pflaumen mit der übrigen Flüssigkeit püriert und gesiebt. Richtig?«, fragte sie ihn, nachdem sie die ersten Zeilen zu Papier gebracht hatte.

»Ja«, antwortete Léonie an seiner Stelle und gab ihm sogleich weitere Anweisungen. »Jetzt stellen Sie das Mus ins Tiefkühlfach. Da wir keine Eismaschine haben, müssen Sie diese Mischung stündlich herausnehmen und mit dem Schneebesen verquirlen, damit das Sorbet eine gleichmäßige Konsistenz bekommt. So hat es meine Mutter schon gemacht. Dafür braucht man keinen modernen Schnickschnack.«

»Wird gemacht, Chef«, sagte Michel in leicht ironischem Ton.

»Und wann kommt die Vieille Prune zum Einsatz?«, wollte Marie wissen und hielt ihren Stift hoch.

»Kurz vor dem Servieren. Dann wird der Pflaumenbrand über die Sorbetkugeln gegossen, die jeweils in einer Schale angerichtet werden. Sorbet und Schalen müssen eiskalt sein, deshalb sollten wir sie früh genug ins Tiefkühlfach legen. Sonst schmilzt das Sorbet zu schnell bei den Temperaturen, die wir heute noch erleben werden.«

Marie nahm die Flasche Vieille Prune in die Hand, die auf dem Tisch stand, und schaute auf das Etikett. »Zweiundvierzig Prozent Alkohol! Gut, dass nach dem Abendessen keiner mehr Auto fahren muss.«

»Regt den Appetit an«, betonte Michel sichtlich begeistert, während er das Mus in das Tiefkühlfach stellte. Er kochte gern und obendrein auch noch sehr gut. Als echter Périgourdiner – er war im nördlichen Teil des Département Dordogne aufgewachsen – bevorzugte er solide Hausmannskost.

Léonie kümmerte sich derweil um die Vorbereitung der Flusskrebse im Blätterteig.

»Voilà, der Fischsud ist so weit«, verkündete sie nach einer Weile. »Wenn die Krebse gekocht sind und diese wunderbare dunkelrote Farbe angenommen haben, was eine Sache von wenigen Minuten ist – damit sie nicht trocken werden –, können wir uns um das Gelée de Sauternes kümmern, Marie.«

»Bin dabei«, versicherte ihr Marie.

»Aber erst musst du ans Telefon.« Michel zeigte auf ihr Handy, das sie am anderen Ende des Tisches abgelegt hatte.

Es blinkte. Sie hatte vergessen, den Klingelton wieder einzuschalten.

»Ah, vielleicht ist es Christian Batteau, der sich auf meine Nachricht hin meldet.«

Marie schaute aufs Display. Nein, es war Richard Martin, ihr engster Mitarbeiter im Kommissariat von Périgueux.

*

Richard Martin saß mit seiner Lebensgefährtin Sophie und der gemeinsamen fünfzehn Monate alten Tochter Elodie im Auto. Sie waren auf dem Weg zu Sophies Familie auf dem Bauernhof im Vézère-Tal, wo sie zum sonntäglichen Mittagessen erwartet wurden.

Wenn der Verkehr es erlaubte, blickte Richard ein ums andere Mal auf das neue Outfit von Mutter und Tochter. Die beiden trugen lila Latzhosen mit Blumenmuster aus dem gleichen leichten Stoff. Sophie hatte vor Kurzem auf ihrem Speicher eine verstaubte alte Nähmaschine gefunden und daraufhin das Schneidern für sich entdeckt. Sobald sie etwas Zeit hatte, stellte sie ihre farbenfrohen Kreationen her. Sie hatte angeboten, auch Richard eine lilafarbene Latzhose zu nähen, aber er hatte dankend abgelehnt. Daraufhin hatte sie behauptet, so etwas wäre aktuell wieder in Mode. Aber das entsprach nun wirklich nicht seinem Kleidungsstil, auch wenn er Sophie zuliebe inzwischen einige modische Zugeständnisse gemacht hatte. Außerdem würde so eine Hose seinen Bauchansatz betonen, und darauf konnte er verzichten.

Plötzlich rief ihn ein Kollege aus dem Präsidium auf dem Handy an, und er nahm das Telefonat über die Fernsprechanlage entgegen.

»Oh, oh …«, entfuhr es Sophie spontan. In den zwei Jahren, in denen sie nun ein Paar waren, hatte sie schon oft erleben müssen, dass ihre Freizeitpläne von seinen beruflichen Verpflichtungen durchkreuzt wurden. Zum Glück hatte sie solche abrupten Änderungen in ihrem Lebensalltag immer gelassen hingenommen. Sie besaß die wunderbare Gabe, sich nicht über widrige Umstände zu beklagen, die sie ohnehin nicht ändern konnte.

Der Kollege musste allerdings den Grund seines Anrufs mehrmals wiederholen, weil Elodie plötzlich zu schreien begann. Solange sie keinen Hunger hatte, war die Kleine das friedlichste und sonnigste Kind der Welt. Aber wehe, ihr Magen knurrte!

Am Ende des Telefonats hielt Richard am Straßenrand an, um sich ein paar Ziffern zu notieren, und Sophie versorgte Elodie mit Keksen und Wasser. Augenblicklich hörte ihre Tochter mit dem Schreien auf. Dann nahm er sein Smartphone in die Hand und rief seine Chefin an. Er wollte nicht über die Freisprechanlage des Autos telefonieren, denn Elodie brabbelte auch gern mal recht laut dazwischen.

Marie grüßte ihn herzlich, obwohl sie davon ausgehen konnte, dass sein Anruf an einem Sonntag beruflich bedingt war.

»Bonjour, Marie. Gerade hat sich ein Kollege aus dem Präsidium gemeldet. Eigentlich wollte er mit Ihnen reden, ist aber immer wieder auf Ihrer Mailbox gelandet. Also hat er mich angerufen. Eine Patientin aus dem Krankenhaus von Sarlat will mit Ihnen sprechen. Es scheint dringend zu sein.«

»Patricia Paré«, sagte seine Chefin, wie aus der Pistole geschossen.

Der Name sagte ihm nichts. War das eine Bekannte von Marie?

»Nein, es war eine Madame Cordier. Sie hat im Präsidium angerufen und muss ziemlich aufgeregt gewesen sein. Ich simse Ihnen gleich die Telefonnummer.«

Im Hintergrund waren Küchengeräusche zu hören. Wahrscheinlich wurde bei den Merciers gerade das Sonntagsessen vorbereitet. Richard wusste, dass Marie wie er ein Familienmensch war. Er schätzte ihren Freund Michel Leblanc sehr, der vor der Versetzung nach Bordeaux viele Jahre sein Chef in Périgueux gewesen war. Wie Maries Alltagsleben aussah, wenn sie nicht arbeiten musste, war ihm jedoch nicht bekannt, denn sie war immer sehr diskret in privaten Angelegenheiten.

»Ja, machen Sie das bitte«, rief Marie ihn ins Hier und Jetzt zurück.

»Haben Sie eine Ahnung, worum es gehen könnte?«

»Nein. Ich weiß nur, dass eine Bekannte aus dem Dorf gestern gestürzt und ins Krankenhaus von Sarlat eingeliefert worden ist. Eine Madame Cordier kenne ich allerdings nicht.« Sie klang ratlos.

»Was meinen Sie – werden Sie mich brauchen?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Ich denke nicht. Ich rufe die Frau gleich an.«

»Na ja, wenn doch, bin ich nicht weit von Ihnen weg. Wir sind unterwegs nach Auberoches.«

Dort lag der Hof von Sophies Familie – keine zehn Kilometer von Saint-André entfernt, dem Zuhause seiner Chefin.

»Danke für den Anruf, Richard. Genießen Sie diesen schönen Tag. Und grüßen Sie bitte Sophie von mir!«

»Salut, Marie!«, rief Sophie vom Beifahrersitz aus. »Demnächst sollten wir uns mal am Wochenende auf einen Kaffee oder zum Essen sehen, vielleicht bei Maman. Sie würde sich bestimmt freuen.«

Marie und Sophie kannten sich seit vielen Jahren. Ihre Familien waren miteinander befreundet, und Marie war die erste Yoga-Schülerin von Sophie gewesen, nachdem diese ihre Ausbildung abgeschlossen hatte.

»Ja, lass uns das gern planen«, erwiderte Marie. »Und grüß deine Mutter von mir.«

»Mach ich. Und wir sehen uns wie immer am Dienstag beim Yoga.«

Mittlerweile hatte Sophie sich als Yoga-Lehrerin etabliert und gab in Périgueux drei gut besuchte Kurse pro Woche. Sie war mit Feuereifer bei der Sache, auch wenn sie von diesen Kursen noch nicht leben konnte. Aber es finanzierte immerhin einen Teil des Lebensunterhalts ihrer kleinen Familie.

Richard beendete das Gespräch und startete den Motor.

»Super! Doch kein Wochenende im Zeichen des Dienstes«, rief Sophie erfreut.

»Ja, noch mal Glück gehabt«, stimmte er ihr zu. Seine Zweifel behielt er für sich.

*

Marie gab Michel ein Zeichen und verließ ohne ein Wort die Küche, um im Hof in Ruhe zu telefonieren.

Sie hörte noch, wie Léonie seufzend sagte: »Oh, nein! Bitte, bitte heute keinen beruflichen Einsatz!«

Marie konnte sie nur zu gut verstehen. Sie selbst würde auch liebend gern darauf verzichten und den Tag mit den beiden in der Küche verbringen, doch die Pflicht ging vor.

»Hallo?«, meldete sich eine sorgenvoll klingende Stimme, nachdem Marie die von Richard Martin gesandte Rufnummer gewählt hatte.

»Bonjour, Madame Cordier. Ich bin Commissaire Marie Mercier. Sie wollten mich sprechen?«

»Ach, endlich! Ich hatte schon Angst, Sie melden sich nicht. Es geht um Madame Paré, die Arme.«

»Sie beide kennen sich, ja?« Marie überfiel ein ungutes Gefühl.

»Wir sind im selben Zimmer im Krankenhaus von Sarlat. Also, wir waren …«

»Wieso? Wo ist Madame Paré jetzt?«

Die Frau räusperte sich.

»Ach, das wissen Sie noch gar nicht?« Die Stimme der Frau stockte. »Sie ist … heute Nacht gestorben.«

Marie war schockiert. Was um alles in der Welt war passiert? Eine tiefe Traurigkeit überkam sie und machte sie sprachlos. Für einen Moment hatte sie die strahlende Patricia vor Augen, die immer wieder sanft mit der Hand über ihren runden Schwangerschaftsbauch strich.

»Madame la Commissaire?«, sagte Madame Cordier schließlich. »Sind Sie noch dran?«

»Ja, natürlich. Aber … warum wollten Sie ausgerechnet mit mir darüber sprechen?« Marie konnte sich keinen Reim auf diesen Anruf machen, und das beunruhigte sie.

»Weil Madame Paré mich darum gebeten hatte. Bevor sie in den OP-Saal gebracht wurde, musste ich ihr schwören, Sie anzurufen, falls sie die OP nicht überlebt.«

»Aber warum?«, fragte Marie irritiert.

»Ich soll Ihnen sagen, dass ihr Sturz vom Dachgeschoss kein Unfall war. Madame Paré wurde hinuntergestoßen.«

Kapitel 3

Saint-André-du-Périgord, Sonntag, 11.Juni

 

Marie stand noch immer wie gelähmt auf dem Hof. Sie musste ein paar Mal tief durchatmen, ehe sie überlegen konnte, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie hatte Madame Cordier aufmerksam zugehört und sich zwischendurch Notizen auf ihrem Handy gemacht. Leider war Patricia, während sie sich ihrer Bettnachbarin anvertraute, das Sprechen zunehmend schwerer gefallen. Obwohl sie sich bemüht hatte, war sie nicht mehr in der Lage gewesen, den Namen des mutmaßlichen Täters zu nennen oder eine Andeutung zu machen, die auf seine Identität hinwies. Aber wenn Patricia tatsächlich mit Absicht heruntergestoßen worden war, handelte es sich um einen Mordfall – und der fiel in Maries Zuständigkeitsbereich.

Sie entschied, als Erstes den Staatsanwalt zu verständigen, der ihren sonntäglichen Anruf glücklicherweise sofort entgegennahm. Sie informierte ihn über den Sachverhalt, und er versprach, eine Autopsie in die Wege zu leiten und mit einer Schweigepflichtenthebung dafür zu sorgen, dass die zuständigen Ärzte Marie Auskunft geben durften.

Danach eilte Marie hinüber zu ihrem Haus. Sie musste sich umziehen, denn ihr Freizeitlook würde in den nächsten Stunden nicht angebracht sein. Sie zog eine hellgraue Leinenhose sowie ein tailliertes, grünblaues T-Shirt mit rundem Ausschnitt an und tauschte ihre Espadrilles gegen Sneaker. Währenddessen erhielt sie eine Nachricht des Staatsanwalts: Mit dem Krankenhaus sei alles geklärt. Der Mann war auf Zack: Er hatte unverzüglich gehandelt.

Also wählte sie die Nummer des Krankenhauses. Nach einigem Hin und Her verband man sie mit dem Arzt, der für Patricia zuständig gewesen war.

»Sie ist bei sich zu Hause aus dem noch offenen Dachfenster gestürzt«, berichtete er. »Dabei hat sie sich den Kopf verletzt, und zwar schwerer, als wir zunächst annehmen mussten.«

Rose hatte nicht übertrieben.

»Nach der Erstversorgung haben wir Madame Paré auf einer Normalstation zur Beobachtung untergebracht«, fuhr er fort. »Sie stand natürlich unter Schock, war aber ansprechbar und wirkte stabil. Wir haben hier begrenzte Kapazitäten, und da wir zeitgleich mehrere Patienten in der Notaufnahme versorgen mussten, haben wir erst mal keine weiteren Untersuchungen bei ihr vorgenommen. Doch dann bemerkte eine der Krankenschwestern, dass bei Madame Paré Bewusstseinsstörungen aufgetreten waren, die auf eine schwerwiegende neurologische Verletzung hindeuteten. Wir haben daher eine Computertomografie des Gehirns durchgeführt. Die Bilder zeigten ein lebensbedrohliches Ödem mit Blutung aus einer der Meningealarterien. Wir wussten, dass sie nicht überleben würde. Daher haben wir sie schnell in den OP gebracht und einen Kaiserschnitt vorgenommen, um wenigstens das Baby zu retten.«

Marie starrte ins Leere. Sie dachte wieder daran, wie sehr Patricia sich auf das Kind gefreut hatte.

»Und wie geht es dem Baby?«, fragte sie dann in möglichst sachlichem Ton.

»Den Umständen entsprechend gut. Es liegt im Brutkasten wie alle Frühgeborenen, und die Vitalfunktionen sind zufriedenstellend.«

Marie fiel es schwer, ihre Gefühle zu sortieren – neben dem Entsetzen über Patricias Tod verspürte sie auch so etwas wie Erleichterung, weil das Kind den furchtbaren Sturz überlebt hatte.

Sie konzentrierte sich wieder auf den eigentlichen Anlass ihres Anrufes.

»Hat Madame Paré noch gesprochen?«

»Sie hat geradezu panisch versucht, etwas mitzuteilen, aber wir konnten sie leider nicht verstehen. Sie schien extrem aufgewühlt und war kaum zu beruhigen, als wir sie für den Eingriff sediert haben.«

Marie konfrontierte ihn mit der Aussage von Patricias Bettnachbarin, Madame Cordier.

Er schien zu überlegen, und es dauerte einen langen Moment, bis er ihr antwortete.

»Ich kenne Madame Cordier sehr gut, da sie aufgrund ihrer chronischen Erkrankung schon mehrfach bei uns war. Sie ist eine ruhige, bodenständige Frau. Was sie Ihnen berichtet hat, wird der Wahrheit entsprechen. Da bin ich mir absolut sicher.«

»Aber war Patricia Paré aufgrund ihrer Bewusstseinsstörung überhaupt noch in der Lage, zwischen realen Ereignissen und eigenen Fantasien zu unterscheiden? Hat sie bei ihrem Gespräch mit Madame Cordier vielleicht nur Wahnvorstellungen wiedergegeben?«