Gefangene der Wildnis 2: Diana - Gabriele Ketterl - E-Book

Gefangene der Wildnis 2: Diana E-Book

Gabriele Ketterl

5,0

Beschreibung

Louisa Kedlestons kleine Schwester Diana ist endlich in Sicherheit. In der Abgeschiedenheit der Wälder erholt sie sich von den schrecklichen Erlebnissen in Chicago. Schnell findet die junge Frau sich in der Wildnis zurecht. Als dann auch noch ein lang ersehntes Wunder geschieht und Diana mit ihrer wahren Liebe vereint wird, kann es für sie gar nicht mehr schöner werden. Doch während die Familie sich in den Wäldern in Sicherheit wiegt, schmiedet Frank Kedleston seine eigenen Pläne. Er will seine Töchter zurückholen und die Lästermäuler in Chicago zum Schweigen bringen. Als Elisabeth, die Mutter der Mädchen, durch Zufall mitanhören muss, dass er dabei sowohl den Tod der Lakota als auch den seiner eigenen Töchter in Kauf nehmen will, muss sie handeln. Ausgerechnet Maroque, der verruchte Franzose und Bordellbesitzer wird ihr engster Verbündeter. Ein verzweifelter Wettlauf um das Leben von Louisa, Diana und den Lakota beginnt. Weitere Romane von Gabriele Ketterl: Gefangene der Wildnis - Band 1 Highlands mit Hindernissen Wenn die Träume laufen lernen 1: IBIZA Wenn die Träume laufen lernen 2: LANZAROTE

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Gefangeneder Wildnis 2

Historischer Liebesroman

Gabriele Ketterl

© 2018 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Umschlaggestaltung: Traumstoff Buchdesign | Traumstoff.at

© Olena Zaskochenko und Jozef Klopacka shutterstock.com

Lektorat: Simona Turini | Lektorat Turini

Korrektorat: Seegras

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-348-7

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für die Lakotaund all die anderen Stämmeder großen Nationen derNative Americans

«The Great Spirit is in all things: he is in the air that we breathe. The Great Spirit is our father, but the earth is our mother. She nourishes us; that which we put into the ground she returns to us …”

Big Thunder, Wabanaki Algonquin, late 19th century

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 25

Epilog

1.

Er drehte sich nicht um, kein einziges Mal, obwohl er wusste, dass der alte Mann ihm nachblickte. Sicherlich stand der ruhig und hoch aufgerichtet, die langsam müde werdenden Augen mit der Hand beschattend, auf dem Deck des Schoners im Hafen von New Orleans. Es war nicht leicht, ihn hier hinter sich zu lassen. Es gab in seinem Leben nicht viele Menschen, die ihm wichtig waren, Menschen, die sein Leben bereicherten. Der alte Matrose war einer davon.

Miguel aber musste nach vorne sehen, nicht zurück. Denn seit kurzer Zeit wusste er, dass es vielleicht doch so etwas wie Wunder gab. Gut, daran zu glauben war verrückt, mindestens ebenso verrückt, wie das, was er hier gerade tat. Sein Plan grenzte an Wahnsinn und doch, sein bisheriges Leben hatte etwas Gutes: Er hatte nichts zu verlieren.

Great Lakes Region, Anfang November

Die Wintersonne fiel schräg durch das kleine Fensterchen, das Maroque, der ebenso verrückte wie fürsorgliche Franzose, mühsam für sie in das Dach des Blockhauses eingebaut hatte. Die vorwitzigen Strahlen kitzelten sie an der Nase. Diana setzte sich ein wenig mühsam auf und streckte die steifen Arme und Beine. Noch immer verkrampfte sie sich in den langen Nächten, noch immer suchten dunkle Träume sie heim. Es war besser geworden in den letzten Tagen, aber sie waren noch da. Natürlich waren sie das nach der doch erst kurzen Zeit. Allerdings gelang es ihr nach dem Erwachen schnell, sie zu verdrängen. Ihr neues Leben erschien ihr wie ein Wunder. Ein Wunder, das ihre Schwester Louisa, deren Gefährte Jacques, dessen Bruder Sunk’Pala und vor allem der Vater der beiden, Wanbli Waste, ihr schenkten.

Der Herbst war beinahe vorüber, die Nächte hier oben in den Wäldern wurden bereits empfindlich kalt. Diana krabbelte unter der Decke und dem warmen Fell, das Wanbli Waste ihr für ihr Lager mitgebracht hatte, hervor und tapste auf bloßen Füßen zu dem Fensterchen. Draußen war der Morgen angebrochen und die Sonne tat ihr Möglichstes, um den Tag ein wenig zu erwärmen. Sie selbst fror jedoch, es war eine Kälte, die aus ihrem Inneren kam, eine Kälte, die sich nicht so einfach mit Fellen oder Decken besiegen ließ. Wann immer in den Nächten die Träume kamen, klebte ihr Nachthemd schweißnass an ihrem Körper. Bisher gelang es ihr, diesen Umstand vor Louisa und Jacques zu verbergen und sie hoffte, dass es auch weiterhin gelingen würde. Sie wollte nicht, dass ihre große Schwester, die sich sowieso schon viel zu viel um sie sorgte, noch mehr beunruhigt wurde.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, wann immer sie an Louisa dachte und oft auch, wenn sie die Ältere beobachtete. Diana war so unglaublich stolz auf Louisa, auf das, was in der Zeit hier in der Wildnis aus ihr geworden war. Die kapriziöse, anspruchsvolle und an ihren Mitmenschen nicht immer gerecht handelnde herrschaftliche Dame war ein für alle Mal verschwunden. Dafür stand eine strahlend schöne Frau in einer kleinen, verrauchten Küche, buk Brot und Kuchen, kochte Kaffee, nahm Fische aus und verwandelte sie in ein köstliches Abendessen.

Seit sie denken konnte, war Diana ihrer Schwester in Liebe verbunden gewesen, diese neue Louisa aber betete sie regelrecht an. Damit war sie allerdings nicht alleine. Jacques, der große, stolze Lakotakrieger, der Louisa mit so viel Einfühlungsvermögen und unendlich viel Geduld zurück ins Leben geholt hatte, liebte ihre Schwester ebenfalls aus ganzem Herzen. Louisa erwiderte diese Liebe so offen und so herzlich, dass es ihr in unbeobachteten Momenten nicht selten die Tränen in die Augen trieb. Die drei Lakota waren dafür verantwortlich, dass ihr ein neues Leben und eine neue Schwester samt Familie geschenkt worden waren.

Während sie in die warmen Lederstiefel schlüpfte, die ihr Sunk’Pala vor wenigen Tagen wortlos neben das Bett gestellt hatte, erschien vor ihren Augen ein Bild aus Zeiten, an die sie eigentlich nicht mehr denken wollte. Der herrische Vater und die sanfte, ebenso wie sie langsam verzweifelnde Mutter. Und die Reichen und Mächtigen Chicagos, die ihr Vater stets um sich versammelte. Nicht einmal ein Jahr war nötig gewesen, um Frank Kedleston hier in Amerika zu einem der einflussreichsten Geschäftsleute werden zu lassen. Auch wenn alle dachten, sie würde es nicht verstehen: Diana verstand nur zu gut. Nie wieder wollte ihr Vater die Schmach erdulden müssen, mittellos dazustehen, nachdem zuvor schon einmal der Bankrott der Familie durch seine eigenen, falschen Entscheidungen verursacht worden war. Waren seine Handlungen in England noch als annähernd fair und gerecht zu bezeichnen gewesen, so war er nun zu einem rücksichtslosen und absolut gnadenlosen Menschen geworden. Sein ursprüngliches Ziel, seiner Familie eine lebenswerte und gesicherte Zukunft in diesem jungen Land bieten zu können, war längst der Gier nach Macht und den lockenden Reichtümern gewichen, die das aufstrebende Amerika in Aussicht stellte. Diana vermochte es nicht in Worte zu fassen, wie dankbar sie dafür war, diesem Teufelskreis aus Macht, Geld, Einflussnahme und Tyrannei entkommen zu sein. Sie zog ihr Schultertuch fest um sich und stieg leise die Holztreppe, die von ihrer gemütlichen Dachkammer in den Wohnraum führte, nach unten. Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit: Geschafft, sie war tatsächlich vor allen anderen wach. Dass der Franzose, der gerade wieder zu Besuch bei ihnen weilte, noch schlief, war kein Wunder. Maroque, der in Chicago erfolgreich ein großes Bordell betrieb, liebte es, lange zu schlafen.

Louisa und Jacques jedoch waren sonst so gut wie immer vor ihr auf den Beinen. Sehr zufrieden entfachte sie ein Feuer im Kamin und trug einen der brennenden Späne zum Ofen in der Küche, wo sie einige dünne Holzscheite entzündete und so das Feuer zum Bereiten des Frühstücks in Gang brachte. Sehr gut, das wäre schon einmal gelungen. Schmunzelnd dachte sie an ihre ersten Versuche, nach denen Jacques sie nicht selten zunächst zum Brunnen geschickt hatte, um sich den Ruß aus dem Gesicht und von diversen anderen Körperteilen zu waschen.

Jetzt stellte sie Wasser für Kaffee auf den Herd, deckte den Tisch, schnitt das von Louisa frisch gebackene Brot in Scheiben und holte den von Jacques geräucherten Bärenschinken und die beiden Tontöpfe mit Ahornhonig und Beerenmus. Nachdenklich betrachtete sie ihr Werk. Da fehlte doch noch etwas. Leise öffnete sie die Haustür. Kühle, aber angenehme Luft strömte ihr entgegen. Vor dem riesigen dunklen Schatten, der, kaum dass sie auch nur einen Fuß nach draußen setzte, an ihr hochsprang und sie mit feuchter Schnauze begrüßte, fürchtete sie sich nicht mehr.

»Tatanka, wirst du das wohl bleiben lassen? Wir wollen sie doch noch nicht aufwecken.« Liebevoll kraulte sie den schwarzen Wolfshybriden hinter den aufmerksam aufgestellten Ohren.

Dass er ihr, sobald sie auf den Waldrand neben dem Blockhaus zulief, nicht von der Seite wich, war Diana schon gewöhnt und es war gut so. Die Gegenwart des gigantischen Tieres beruhigte sie, bot ihr Geborgenheit und das gute Gefühl von absoluter Sicherheit.

Die Luft war klar und es war so still, dass man das Rauschen der Bäume hören konnte. Ein paar wenige wilde Herbstblumen fanden sich noch an den Waldrändern und auf den Lichtungen und davon pflückte Diana nun einige. Auf dem Rückweg vergaß sie nicht, Arrow, den beeindruckenden Hengst und Sandy, die sanfte Stute zu streicheln. Sandys Tochter Tanka war zu einem lebendigen, bildhübschen Fohlen geworden und streckte nun neugierig ihre weichen Nüstern in Dianas Haare. Sie lachte leise und lehnte eine winzige Weile ihre Wange an das warme Fell Tankas.

»Guten Morgen, meine Schöne. Ich hoffe, ihr alle habt gut geschlafen?«

Jacques ließ die Pferde derzeit noch über Nacht im Freien. So lange wie möglich sollten sie die Freiheit genießen können, ehe es im Winter zurück in die Enge des Stalles ging. Indianerponys waren widerstandsfähig und zäh, das wusste Diana mittlerweile. Vor allem, da Sunk’Pala sie schon des Öfteren mit einem verglichen hatte. Die Neckereien des grimmigen Kriegers taten ihr unendlich gut und amüsierten sie. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, sie aus diesem grauenhaften Haus zu holen. Ihr eigener Vater war sich nicht zu schade gewesen, die jüngste Tochter in ein Sanatorium für Geisteskranke zu stecken.

Sie war nicht geisteskrank, keineswegs. Sie hatte nur die Grausamkeit des Vaters nicht mehr ertragen, etwas, das dieser niemals würde begreifen können. Ab und an befürchtete Diana, ihr Vater habe seine Menschlichkeit abgelegt, ein Umstand, der sie zutiefst erschreckte.

Arrows Schnauben riss sie aus ihren Gedanken und es gelang ihr gerade noch, ihre frisch gepflückten Blumen vor Tankas Maul in Sicherheit zu bringen.

»Nichts da, du frisst brav dein Heu, meine mühsam erkämpfte Tischdekoration lässt du schön in Ruhe.«

Lachend drückte sie dem sichtlich enttäuschten Fohlen einen Kuss auf die helle Blesse und machte sich auf den Weg zurück ins Haus. »Bonjour, ma belle. Comment vas-tu?«

»Danke, Maroque, es geht mir gut.« Sie strahlte den Franzosen erfreut an.

Der schien sich da nicht so sicher zu sein. Während er sich mit allen zehn Fingern durch die verwuschelte, widerspenstige Lockenmähne kämmte, musterte er sie nachdenklich. »Du bist noch immer viel zu blass. Mon Dieu, du lebst mitten in der Natur, du müsstest endlich mehr Farbe im Gesicht haben.«

Diana neigte den Kopf leicht zur Seite und runzelte die Stirn. »Maroque, so lange bin ich nun auch noch nicht hier und du darfst bei der Gesichtsfarbe nicht immer von dir ausgehen. Das schaffe ich beim besten Willen nicht.«

»Du bist ganz schön frech geworden, meine Kleine. Aber gut so, raus damit. So mag ich das.« Lachend schloss er sie in die Arme und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf die Haare.

Als er sie losließ, fiel sein Blick auf den gedeckten Tisch. »Wie lange bist du denn schon wach, Diana? Du hast ja schon alles fertig. Der Duft von Kaffee hat mich geweckt.«

Sie zuckte ein wenig unsicher die Achseln. »Ich bin seit Sonnenaufgang wach. Die Sonne hat mich geweckt.«

Sie hätte wissen müssen, dass sie ihm nichts vormachen konnte. »Die Sonne? Kleines, sie sind also noch da, diese bösen Träume? Ich sehe an deiner Miene, dass ich recht habe. Du kannst dich nicht verstellen, in deinem hübschen Gesicht kann man lesen wie in einem offenen Buch.«

Diana füllte an der Wasserschüssel einen kleinen Tonkrug und stellte die Blumen hinein. »Es ist bereits viel besser geworden. Ich kann die Erinnerung einfach nicht ausschalten. Das schaffe ich nicht, noch nicht. Aber ich arbeite daran und ich fühle, dass ich Erfolg habe.« Ihre Stimme klang nicht ganz so sicher, wie sie es sich gewünscht hätte.

»Komm her, ma chérie.« Der große Franzose nahm sie kurzerhand fest in die Arme. »Du bist endgültig in Sicherheit.« Er drückte sie an sich, dann ließ er sie los und warf einen erwartungsvollen Blick in Richtung Herd. »Wie war das doch gleich wieder? Sprachen wir nicht von Frühstück?«

Louisa erwachte von den leisen Stimmen im Wohnraum und reckte sich genüsslich. Neben ihr schlief Jacques noch den Schlaf der Gerechten. Die letzten drei Tage waren für ihn und Maroque sehr anstrengend gewesen. Zum wiederholten Male bauten sie nun das Haus größer aus. Der Anbau, der durch eine Tür mit dem Haupthaus verbunden werden sollte, war zwar nicht unbedingt notwendig, aber doch sinnvoll. So wie letzte Nacht, als Maroque bereits dort geschlafen hatte. Zwar enthielt das neue Zimmer bis jetzt nur eine schmale, unbequeme Pritsche und ein Fell, das Diana hatte auslegen wollen, um das Ganze etwas wohnlicher zu gestalten, aber die Wände waren solide und dick und ließen keinen Windhauch ein.

Der neu gewonnene Raum war immerhin gut drei Meter breit und zweieinhalb Meter lang, genug also, um ihn schön herrichten und sinnvoll nutzen zu können. Eine winzige Feuerstelle genügte, um ihn zu heizen, und so war er ein Gewinn für die beständig größer werdende Familie.

Es war so schön, ihre kleine Schwester wieder in der Nähe zu haben und zu wissen, dass sie nun unter ihrem und dem Schutz der Lakota stand. Allerdings würde Diana sicherlich vorerst nicht aus ihrer Dachkammer in das neue Zimmer umziehen. Noch fühlte sie sich in der Nähe ihrer großen Schwester und ganz besonders in der von Jacques behütet und beschützt. Die ersten Nächte nach Dianas Rettung hatte sie in ihren Armen geschlafen, was angesichts der bösen Träume, die sie plagten, auch notwendig gewesen war. Inzwischen war sie etwas kräftiger, sicherer und, was Louisa am meisten freute, sie fand ihren Humor wieder.

Sie streckte sich ein letztes Mal, sorgsam darauf bedacht, Jacques noch nicht zu wecken, rollte sich leise aus dem Bett, schlüpfte in eine lange, weiche Wolljacke und öffnete behutsam die Tür. Der Anblick, der sich ihr bot, war himmlisch. Maroque und ihre Schwester standen nebeneinander am Herd und während Diana sorgsam Kaffee in eine große Kanne goss, bereitete der Franzose appetitlich duftende Rühreier zu. Maroque war barfuß und trug nur seine schwarze Lederhose und ein offenes Hemd, was ihm zusammen mit den langen schwarzen Locken ein leicht verruchtes Aussehen verlieh.

Ein perfektes Ambiente für die Piratenprinzessin, denn langsam kam in Diana wieder die einst so fröhliche, wagemutige »Schwarze Diana« zum Vorschein, die nichts lieber tun wollte, als mit den Freibeutern über die sieben Weltmeere zu segeln. Schmunzelnd pirschte Louisa sich an die beiden in ihr Tun versunkenen Menschen heran. »Guten Morgen. Störe ich oder darf ich bleiben?«

2.

Du bist dir dessen bewusst, dass die Kleine noch lange nicht über den Berg ist? Sie ist eine begnadete Schauspielerin. Wir müssen achtsam sein, sie darf weder sich selbst noch uns belügen.« Maroque musterte Louisa besorgt.

Die nickte mit ernster Miene. »Ich weiß, Maroque, aber alles, was ich tun kann, ist Geduld zu zeigen und für sie da zu sein, wann immer sie mich braucht.«

»Ich hätte da noch eine andere Idee. Jacques’ Vater hat ihr schon in den ersten Tagen sehr geholfen. Ich bin mir dessen gewiss, dass er ihr guttun würde.«

»Das ist sicher wahr. Vielleicht finden wir ja eine Möglichkeit, bald wieder ins Dorf der Lakota zu reiten. Ich möchte Wanbli Waste nicht über Gebühr mit unseren Problemen belasten.«

Ungehalten schüttelte der Franzose den Kopf. »Das ist Unfug, Louisa, er liebt dich und die Kleine, als wärt ihr seine eigenen Töchter.« Er hielt schmunzelnd inne. »Was bei den beiden ausgesprochen starrsinnigen Kerlen, die er da in die Welt gesetzt hat, nicht weiter verwunderlich erscheint. Sanfte, liebenswerte Mädchen bieten da doch einen kleinen Ausgleich.«

Louisa konnte das in ihr aufsteigende Lachen nicht mehr unterdrücken. »Sanft und liebenswert? Danke, Maroque, das ist charmant, sehr charmant. Aber dennoch eine Lüge und das weißt du.«

Sein Gesicht zeigte keine Regung, als er antwortete. »Ich sprach von Diana.«

»Das nun wiederum war nicht liebenswürdig.«

»Aber ehrlich.« Der Franzose konnte außerordentlich schnell sein, wenn es darum ging, das Weite zu suchen.

Louisa wusste, dass er recht hatte. Diana litt noch immer, versteckte ihren Schmerz hinter einem Lächeln, um niemandem zur Last zu fallen. Zwar wurde es zunehmend besser, nachdem die dunklen Tage in Chicago nun doch schon ein klein wenig zurücklagen, aber der Schatten über ihrer Seele war keineswegs verschwunden. Wenn jemand der kleinen Schwester dies nachfühlen konnte, dann sie selbst.

Als Maroque mit einer Handvoll getrockneter Beeren neben ihr auftauchte, erschrak sie nur kurz. Das plötzliche Erscheinen von Menschen löste schon lange keine Panik mehr in ihr aus. Schon gar nicht, wenn das Friedensangebot aus köstlichen, süßen Blaubeeren bestand.

»Dein Sirup ist köstlich, mach doch neuen, ehe der alte zur Neige geht.« Lächelnd streckte Maroque ihr die Köstlichkeit entgegen.

In gespielter Entrüstung runzelte sie die Stirn. »Fürchtest du um dein persönliches Wohlergehen am morgendlichen Frühstückstisch? Hast du Angst, deine Pfannkuchen ohne Beerensirup und Ahornhonig verspeisen zu müssen?«

»Ich wusste doch, dass du gut im Schlussfolgern bist.« Der Franzose hob lauschend die Hand. »Hörst du das? Die Wälder sprechen mit uns.«

Schweigend hob Louisa den Kopf und blickte nach oben in das Blätterdach, in dem sich Laub- und Nadelbäume mischten. Seit einer Stunde schon spazierte sie mit Maroque durch die Wälder, an deren Schönheit sie sich nicht sattsehen konnte. Jetzt wurden die bunten Blätter weniger, aber noch vor Kurzem war es einfach traumhaft schön gewesen. Noch niemals zuvor hatte sie eine solche Farbenvielfalt gesehen, noch nie so viele Rottöne, vermischt mit Gold, Gelb und Kupfer, nebeneinander erlebt. Der Herbst war hier in den Wäldern weitab von Chicago überwältigend. Die Luft roch nach den Gräsern und Kräutern, die wild und in sattem Grün wuchsen, die Flüsse waren glasklar und voller Fische. Die Natur wartete mit einer Vielfalt auf, die sie nie zuvor erlebt hatte. Wobei sie sich durchaus darüber im Klaren war, dass sie England damit bitter unrecht tat. Auch dort waren die einzelnen Jahreszeiten von ganz eigener Schönheit geprägt. Abgesehen von dem vielen Regen war vor allem Devonshire wunderschön gewesen.

Ab und an plagte sie fast schon das schlechte Gewissen, da sie, ganz im Gegensatz zu ihren ersten Tagen in dieser neuen Welt, kaum mehr einen Gedanken an die alte Heimat verschwendete. Nur selten dachte sie an die geliebte Tante, die sicher noch immer in London lebte, und an Kedleston House, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte und mit dem sie zahllose herrliche Erlebnisse verband. Ihr Leben war jetzt hier, in den Wäldern hinter den Großen Seen, den Wäldern, in die sich die eigentlichen Herren dieses schönen Landes immer mehr zurückzogen. Von den Weißen aus ihren angestammten Jagdgründen vertrieben, zerstreuten sich die Stämme, auf der Suche nach einer Möglichkeit, in Frieden weiterleben zu können.

»Woran denkst du gerade?«

Louisa zuckte die Schultern. »An alles und nichts, an mein altes Leben, an mein neues Leben und an all das, was mich zu der gemacht hat, die ich heute bin.«

Sie spürte, wie Maroque ihr mitfühlend über den Rücken strich. »Auf einiges davon hättest du besser verzichten sollen, ma chérie.«

Vehement verneinte sie daraufhin. »Keineswegs. Sonst wäre ich noch immer das starrsinnige, unbelehrbare Wesen, das anderen das Leben schwermacht.«

»Wäre?«

»Maroque?«

»Ja, Louisa?«

»Lauf!«

Natürlich war er mit seinen langen Beinen schneller als sie und erreichte das Blockhaus vor ihr. Mit entspannt wirkendem Blick saß er, die Beine nachlässig von sich gestreckt, auf der massiven Holzbank, die Jacques aus einem dicken Baumstamm gefertigt und vor dem Haus aufgestellt hatte.

»Also wirklich, Louisa, ich warte hier seit Stunden. Wo bleibst du denn so lange?«

»Eine freche Lüge, ich höre deine schweren Atemzüge und dein Herz schon, seit ich den Waldrand hinter mir gelassen habe.« Prustend ließ sie sich neben ihn auf die Bank fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Ihr Blick fiel auf den Pferch für die Pferde. Tanka vergnügte sich mit einem Büschel Heu, das sie sich aus dem Sack geklaut hatte, der am Stall hing, Sandy und Arrow waren noch nicht wieder hier. Das bedeutete, dass auch Jacques und Diana noch am Fluss waren, um zu fischen. Ihre kleine Schwester liebte die Ruhe dort und Jacques wusste das. Behutsam führte er Diana wieder an ein normales, ausgeglichenes Leben heran. Sie genoss es sichtlich, selbst wenn dieses neue Leben ab und an doch recht hart war. Er war ein exzellenter Zuhörer. Wenn jemand das wusste, dann war sie das und sie wusste auch um die nahezu magische Fähigkeit ihres Gefährten, Wunden zu heilen, die niemand sehen konnte.

»Was gedenkst du zu unternehmen? Du kannst doch nicht zulassen, dass deine beiden Töchter wie die Wilden leben, abseits jeglicher Zivilisation?« Franks Bruder blickte fassungslos zu ihm auf.

Seit etwa einer Stunde wanderte Frank Kedleston nun schon unruhig, wie von bösen Geistern getrieben, durch den riesigen, höchst edel möblierten Raum. Das Büro seines Bruders war zwar ausgesprochen eindrucksvoll, aber sein eigenes stand dem nicht mehr in vielen Dingen nach. Er könnte zufrieden sein, mit sich und mit seinem Erfolg. Und doch: Frank war wütend. Immer wieder kamen in den letzten Tagen, sowohl aus der Familie wie auch aus dem erlesenen Freundeskreis, die Fragen nach dem Verbleib seiner beiden Töchter.

Die von Louisa inszenierte Befreiungsaktion ihrer jüngeren Schwester war zu einer Flutwelle geworden, die er gerade noch hatte eindämmen können. Seit jenem Abend versuchte er alles, um endlich den Mantel des Vergessens über die damaligen Geschehnisse zu breiten. Leider misslang dies fortwährend, insbesondere, da vor allem sein älterer Bruder der Meinung war, er müsse die Mädchen zurück in die ‚Zivilisation‘ holen. Dazu verspürte er allerdings so gar keine Lust. Gut, das, was er als Exempel an Louisa hatte statuieren wollen, war gründlich schiefgegangen. Sein Plan, dass das Mädchen höchstens eine Stunde, nachdem er sie bei Schnee und Kälte auf die Straße gejagt hatte, reumütig und endlich einsichtig zurückkehren würde, war nicht aufgegangen. Stattdessen tauchte sie viele Monate später, selbst fast zu einer Wilden geworden, an der Seite von Indianern wieder auf, um ihn vor allen bloßzustellen.

Selbst wenn er, tief in seinem Herzen, froh darüber war, sein Kind lebendig zu wissen, so musste er doch sehr schnell feststellen, dass sie und ihr Starrsinn unverändert geblieben waren. Die Zeit in der Wildnis war ihr offenbar gut bekommen, denn ihr Selbstbewusstsein war gewachsen. Geläutert jedoch war sie keinesfalls. Nun auch noch Diana in den Fängen dieser Wilden zu wissen und andauernd die neugierigen Fragen zu ihrem Verbleib beantworten zu müssen, zerrte an seinen Nerven.

»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Einen Suchtrupp zusammenstellen und sie gegen ihren Willen wieder hierher holen? Damit alles von Neuem beginnt? Denkst du wirklich, dass Louisa uns nicht allen die Hölle heißmachen würde? Natürlich bin ich wütend, dass ich mich in meinem eigenen Heim von diesen dunklen Gestalten bedrohen lassen musste. Vergiss aber bitte nicht, dass sich auch meine Frau gegen mich stellte.«

Marcus Kedleston schüttelte missbilligend sein kahles Haupt. »Du lässt dich von den Weibern unterdrücken? Frank, was ist denn nur los mit dir? Ich erkenne dich kaum wieder. Sobald du die Mädchen wieder unter deinem Dach hast, kannst du ihnen beibringen, wie sich junge Damen zu benehmen haben. Es ist unerträglich, welchen Schaden dir diese beiden ungezogenen Wesen zufügen. Sie besudeln deinen Ruf als Familienoberhaupt und machen dich vor der Gesellschaft lächerlich. So versteh das doch endlich, Frank: Du hast keine Wahl, du musst etwas unternehmen.« Freudlos lächelnd drehte Marcus das Glas mit dem teuren französischen Cognac in den Händen. »Und wenn dabei die Indianer draufgingen, wäre das eine durchaus akzeptable Lösung für alle.«

Frank setzte sich schwer atmend in einen der wuchtigen Ledersessel. »Ich muss darüber nachdenken. Mir darf – nur angenommen, ich täte es tatsächlich – kein Fehler unterlaufen. Wie du schon sagst, falls ich etwas unternehme, dann darf es keinen Grund mehr für die beiden geben, jemals wieder in diese vermaledeiten Wälder zurückzukehren.«

3.

Na warte, ich bekomme dich noch klein. So schnell gebe ich nicht auf.« Mit hochrotem Kopf sprang Diana hinter der großen Forelle her, die ihr zum wiederholten Male aus den Händen gerutscht war.

Während Jacques und Maroque sich auf der Bank sitzend vor Lachen krümmten, warf Louisa ihnen nur einen tadelnden Blick zu. »Hört auf der Stelle auf, euch lustig zu machen. Aller Anfang ist schwer. Es ist ja nicht so, dass diese schleimigen Tierchen sich freiwillig zum Ausnehmen öffnen.«

»Wer weiß, vielleicht fehlen euch einfach die guten Gründe, um sie zu überzeugen?« Maroque schaffte es gerade noch, dem nassen Lappen, den Louisa nach ihm warf auszuweichen. »Frauen! Kaum gehen ihnen die Argumente aus, schon greifen sie zu Gewalt.«

»Sei achtsam, du großspuriger Franzose, sonst könnte dieser Tag übel für dich enden.« Louisa hatte ihre liebe Mühe, Haltung zu bewahren.

»Es ist schön, dass ihr euch auf meine Kosten so hervorragend amüsiert. Aber darf ich darauf hinweisen, dass es um euer aller Abendessen finster bestellt sein könnte, wenn ich keinen Erfolg habe?« Diana stand, heftig atmend, aber den Fisch nun gut im Griff wieder neben dem Brunnen.

»Das ist eine ernste Drohung, ich denke, wir sollten alle helfen.« Sichtlich erheitert gesellte sich Jacques zu Diana und ihrer Schwester.

Louisa warf ihm einen liebevollen Blick zu und widmete sich dann wieder ihrem eigenen, wenn auch toten, so doch noch immer widerspenstigem Tier.

»Darf ich euch etwas fragen?« Dianas Blick war ein wenig unsicher und huschte nervös zwischen ihr und Jacques hin und her.

»Aber natürlich, frag, kleine Schwester.« Sie sah die Jüngere aufmunternd an und wünschte sich ein paar Sekunden später, sie doch nicht ermutigt zu haben.

»Ich weiß, dass ich jetzt sehr neugierig bin und wenn es unverschämt erscheinen mag, müsst ihr mir nicht antworten. Aber wie sieht eine Hochzeitszeremonie bei den Lakota aus?«

Jacques tunkte grinsend seinen sauberen Fisch in einen Eimer mit eiskaltem Wasser, ehe er ihn auf das große Holzbrett legte, auf dem bereits vier weitere ihrer Zubereitung harten. »Warum, möchtest du heiraten? Und wer ist der Glückliche?«

»Was ist das denn für eine Frage? Du natürlich ... also nicht für mich, für Louisa selbstverständlich.«

»Diana! Das ist nun aber wirklich ein wenig neugierig.« Sie spürte, wie ihre Wangen sich erwärmten, und vermied es, Jacques anzublicken.

Der schien das weit weniger schwer zu nehmen. »Die Zeremonie dauert einen ganzen Tag, ehe der Häuptling die beiden Liebenden einander zuführt und miteinander verbindet.«

Diana nickte zufrieden. »Das klingt gut. Darüber musst du mir unbedingt bald mehr erzählen.«

»Diana!«

Jacques legte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob es sanft an. »Lass sie doch. Ich finde unsere Zeremonien durchaus interessant. Du solltest sie kennenlernen.«

Falls ihre Wangen überhaupt noch dunkler werden konnten, so geschah das sicherlich in diesem Augenblick. Sonst nicht um rasche Antworten verlegen, wandte sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln ab. Was dachte Diana sich dabei, ihn mehr oder weniger aufzufordern, sie nun schnell zu heiraten? Denn nicht anders musste Jacques ihre Worte doch auffassen.

Maroque löste die seltsame Stimmung, indem er Diana aufforderte, mit ihm in den Wald zu gehen, um die nötigen Kräuter für die Fische und das Wildgemüse zu suchen.

Die beiden eilten in Richtung des nahegelegenen Waldrandes, während Louisa sich angestrengt darum bemühte, Jacques nicht ins Gesicht zu sehen.

»Was hast du? Du bist so schweigsam seit Dianas Frage.«

»Das verwundert dich? Schließlich hat sie dich gerade mehr oder weniger aufgefordert, mich bald zu heiraten.«

»Hast du das so verstanden? Ich nicht. Ich deutete ihre Worte als reine, kindliche Neugier.« Täuschte sie sich oder schwang da ein Lächeln in seiner Stimme mit?

»Gib doch zu, dass du zuerst den gleichen Gedanken hattest«, sagte sie.

Er legte die letzte Forelle auf das Brett, goss das schmutzige Wasser aus und wusch sich schweigend die Hände. Sie argwöhnte bereits, dass sie keine Antwort mehr erhalten würde, sah sich aber sehr schnell im Irrtum.

Sich das kalte Wasser von den Händen schüttelnd kam er auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Nun einmal ernsthaft, Louisa, erinnerst du dich an den Tag am See, dort an der Flussmündung? Der Tag, an dem du Maroque das erste Mal gesehen hast?«

Wenn sie nun errötete, dann aus einem ganz anderen Grund. Natürlich erinnerte sie sich an diesen Nachmittag, sie hatten sich in freier Natur und unter blauem Himmel geliebt und Jacques hatte sie am selben Tag gefragt ob ... »Oh!«

»Ah, ich sehe, es fällt dir wieder ein. Ich muss gestehen, würdest du dich nicht an diesen Tag erinnern, dann müsste ich mir so meine Gedanken machen.« Seine Umarmung wurde noch ein wenig fester. »Also weißt du sicher auch noch, dass ich dich gefragt habe, ob du dir ein Leben hier draußen vorstellen könntest und das als meine Frau.«

Ihre Antwort klang unweigerlich ein wenig zerknirscht. »Selbstverständlich erinnere ich mich auch daran.«

»Und was, bitteschön, denkst du, dass ich damit bezweckt habe?«

»Erfahren, ob ich mir ein Leben hier draußen vorstellen kann.«

Sie hörte sein leises Seufzen. »Und außerdem?«

»Ob ich mir ein Leben hier draußen mit dir vorstellen kann.«

»Louisa!«

»Es fällt mir sehr schwer, das zu glauben, was ich denke. Oh, Jacques, nun mach es mir doch nicht so schwer.« Ihr Mund war plötzlich sehr trocken und ihr Herz schlug wesentlich schneller als noch vor wenigen Minuten.

»Dann lass mich dir helfen, du unsicheres Geschöpf des Waldes.« Er löste seinen rechten Arm, hob erneut ihr Gesicht zu sich an und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Hast du denn auch nur im Entferntesten eine Ahnung davon, wie viel du mir bedeutest? Weißt du auch nur annähernd, wie sehr ich dich liebe, du Mädchen aus dem See? Ist dir bewusst, dass es dir mit deiner bloßen Gegenwart gelungen ist, die dunklen Schatten meiner Vergangenheit, die allgegenwärtigen Schuldgefühle wegen Sophies Tod zu vertreiben? An manchen Tagen glaube ich, sie hat mir dich geschickt, um mein Leben zurückzubekommen und die Liebe zu finden. Mir ist bewusst, dass ich dich wohl nie nach deinen Gesetzen werde heiraten können, doch das, was ich dir anbieten kann, das tue ich aus ganzem Herzen.« Seine Stimme klang mit einem Mal seltsam rau. »Louisa, willst du meine Frau werden? Mein Vater und unser Häuptling würden uns mit Freuden miteinander verbinden. Denkst du, du kannst mich ein ganzes Leben lang ertragen?«

Sie musste nicht nachdenken, keine Sekunde. »Dieses Leben und alle, die darauf folgen, bis in alle Ewigkeit. Ich habe noch niemals jemanden so sehr geliebt, wie ich dich liebe. Natürlich will ich deine Frau werden, das habe ich doch bereits laut und deutlich verkündet.«

Louisa entdeckte die kleine glitzernde Träne in seinem Augenwinkel sehr wohl, jedoch kannte sie die stolzen Männer inzwischen gut genug, um zu wissen, wann man besser schweigen sollte. Sein Kuss war zärtlich und beinahe scheu, so als könne sie sich in letzter Sekunde noch umentscheiden. Welch ein Irrtum! Noch nie war sie sich bei einer Sache so sicher gewesen, noch nie hatte sie sich so unendlich glücklich gefühlt. Sie grub ihre Hände in sein dichtes, langes Haar und zog ihn noch näher zu sich.

So kam es, dass Maroque und Diana sie eng umschlungen neben dem Pferch stehend fanden, als sie, beide Arme voller duftender Kräuter, zurückkehrten.

»Diana, siehst du, was ich sehe? Man kann sie nicht alleine lassen. Schon vernachlässigen sie ihre Pflichten.« Maroque verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen.

Jacques wandte sich, ohne sie loszulassen, dem Franzosen zu. »Mein lieber Freund, ich tue genau das, wozu ich mich am meisten verpflichtet sehe. Ich halte die Frau, die nun schnellstmöglich die meine werden wird, so fest ich nur kann.«

»Einen kleinen Augenblick bitte. Da ist man nur wenige Minuten fort und schon ereignen sich hier Dinge, die die Welt erschüttern. Was hast du gesagt?« Maroque trat lächelnd einen Schritt näher.

»Ich sagte, dass ich meinen Pflichten sehr wohl nachkäme.«

»Hör zu, du listenreicher Krieger der Lakota, du weißt genau, welchen Teil deiner Aussage ich meinte. Also noch einmal: Wie war das? Ich würde es gerne direkt aus deinem Munde vernehmen.«

Jacques holte tief Luft. »Gut, ich habe Louisa gefragt, ob sie so schnell als möglich meine Frau werden will. Und nun tut bitte nicht so, als ob das eine große Überraschung wäre. Im Grunde ist sie es ja schon lange.«

»Sagt der Mann, der Stein und Bein schwor, sich niemals an eine Frau zu binden. Ich liebe Überraschungen.« Der Franzose warf einen bedauernden Blick auf die Kräuter in seinen Armen. »Schade, nun kann ich nicht einmal begeistert applaudieren.«

»Du reißt dich jetzt zusammen, oder du nimmst dein Abendessen im Wald ein, hast du mich verstanden?« Jacques war eindeutig darauf bedacht das Thema zu wechseln.

Der Gescholtene zuckte nur die Schultern. »Da ich koche, ist das eine nicht allzu schwerwiegende Drohung.«

Kopfschüttelnd beendete Louisa das Geplänkel der beiden Freunde. »Schluss jetzt. Ich helfe Maroque dabei, das Abendessen zuzubereiten, und du, mein geliebter Ehemann, nimmst deine zukünftige Schwägerin an der Hand und kümmerst dich darum, dass die Pferde versorgt sind.« Um zu zeigen, dass sie keinen Widerspruch duldete, nahm sie Diana deren Ausbeute aus den Armen und eilte zielstrebig ins Haus.

Hinter sich hörte sie noch die Worte des Franzosen. »Ich hoffe, du weißt, was du dir da eingefangen hast. Sanft wie ein Lamm kann ich da nur sagen.«

Sie war sich nicht ganz sicher, ob ihre Schwester wusste, was diese Neuigkeit bei ihr auslöste. Diana freute sich aufrichtig. Wieder ein Schritt in eine glücklichere Zukunft. Könnte es sein, dass auch ihr etwas Derartiges vergönnt sein würde? Ihre Sehnsucht nach Miguel war größer denn je. Seine Gegenwart, sein stilles, ruhiges Wesen, wie gut täten sie ihr. Ob er an sie dachte? Ob auch er in den Nächten ihre Gegenwart herbeisehnte? So viele Fragen und keine Antwort. Tief in ihrem Herzen lebte die Hoffnung, dass er sie nicht vergessen hatte.

Im Augenblick aber zählten nur Louisa und Jacques. Während sie ihrem zukünftigen Schwager folgsam beim Striegeln der Pferde zur Hand ging, versuchte sie sich vorzustellen, wie schön und vor allem romantisch die Hochzeit der beiden werden würde.

»Jacques, ich will ja nicht allzu neugierig erscheinen, aber weißt du schon, wann du meine Schwester heiraten wirst?«

Der große Mann bürstete lächelnd weiter das Fell seines Hengstes und musterte sie sichtlich amüsiert. »Kind, ich habe sie gerade erst gefragt. Ich bin schnell, aber auch ich kenne meine Grenzen.«

»Aber es wird in eurem Lager stattfinden, nicht wahr?«

»Ja, Diana, wir werden im Dorf der Lakota unser Ehebündnis eingehen.«

»Hm.«

»Was genau versuchst du mir mit diesem ‚Hm‘ zu sagen, kleine Schwester?«

Diana schwieg lange. Wie sollte sie einen Wunsch äußern, von dem sie selbst wusste, dass er wohl kaum zu erfüllen sein würde? Und trotzdem, sie musste es einfach versuchen.

»Es ist nur, dass es mich unbeschreiblich traurig macht, dass wohl unsere Mutter am schönsten Tag im Leben ihrer ältesten Tochter nicht an deren Seite sein kann.« Nun war es heraus. Schüchtern sah sie zu dem eindrucksvollen Krieger auf.

Der ließ nun die Bürste sinken und blickte nachdenklich auf den Pferderücken vor seinen Augen.

»Du bist dir dessen bewusst, dass nicht deine Mutter das Problem darstellt, nicht wahr?«

Diana nickte zaghaft. »Ja, ich weiß. Mein Vater ist der Grund. Aber ist es denn nicht himmelschreiend ungerecht, dass Mutter darunter leiden muss?«

Jacques fuhr mit seiner Arbeit fort und schwieg eine Weile. »Es ist zu gefährlich. Denk bitte daran, was dein Vater tun könnte, wenn er erführe, dass seine Tochter einen, ich darf seine Worte wiederholen, Wilden, zum Mann nimmt.«

»Und wenn Mutter sagt, sie würde jemanden besuchen?«

Deutlich überrascht hielt er inne. »Hat eure Mutter denn Freunde außerhalb von Chicago, denen sie einen Besuch abstatten könnte?«

»Eigentlich nicht. Sofern die McLearys noch in Chicago wohnen. Du weißt schon, Malcolms Eltern.« Noch heute dachte Diana oft und gerne an die schönen Tage mit den fröhlichen, freundlichen Schotten.

Jacques warf sich die langen Haare aus dem Gesicht und bändigte sie mit einem Lederband. Mitleidig wandte er sich ihr zu. »Ich kann dich verstehen und deinen Wunsch gut nachempfinden. Auch ich hätte gerne, dass Sophie dabei sein könnte, sie würde Louisa lieben. Aber Sophie ist tot und mir damit die letzte Möglichkeit geraubt, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen. Bei dir ist dein Vater das Problem. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was er alles tun könnte, um diese Heirat zu verhindern. Nein, Kleines, ich denke nicht, dass wir es riskieren können, eure Mutter zu informieren. Es tut mir wirklich sehr leid.«

Nach dem ausgesprochen schmackhaften Essen saßen Louisa, Jacques und Maroque vor dem Haus und unterhielten sich leise. Diana saß in eine dicke Jacke gewickelt auf dem Tor des Pferdepferchs und streichelte in Gedanken versunken Tankas seidenweiches Fell. Ihre Mutter sollte zumindest wissen, dass Louisa und Jacques heirateten. Es war nicht richtig, ihr nicht einmal eine Nachricht zukommen zu lassen. Dass ihrem Vater der Sinn nur nach Reichtum und Ansehen stand, das war ihr bewusst, die Mutter aber liebte ihre Töchter, dessen war Diana sich vollkommen sicher. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie auch, dass Elisabeth wahrscheinlich sogar lieber hier mit ihnen leben würde, anstatt als Gefangene ihres zornigen Gatten. Leider kannte sie jedoch die gesellschaftlichen Regeln zu gut. Ihre Mutter konnte unmöglich davonlaufen. Dass Louisa und sie durch ihre Taten zu Außenseitern geworden waren, wusste sie. Sie war ja nicht dumm oder einfältig. Dass eine erwachsene Frau nicht so einfach ihr sicheres Leben aufgeben und alle Gesetze der Gesellschaft verletzend ihren Mann verlassen konnte, wusste sie auch. All dieses Wissen änderte jedoch nichts daran, dass sie ihre Mutter vermisste und dass sie mit Sicherheit wusste, dass Elisabeth in diesem neuen Leben sehr unglücklich war.

Vorsichtig spähte sie zu den drei sich angeregt unterhaltenden Menschen hinüber. Etwas musste sie tun, sie würde es sich niemals verzeihen, wenn die Mutter nicht wenigstens Nachricht von der anstehenden Hochzeit Louisas erhalten würde. Es musste einfach möglich sein, es vor dem Vater geheim zu halten. Irgendwie.

Diana zermarterte sich verzweifelt den Kopf. Schließlich hatte sie eine Lösung vor Augen.

»Maroque, bitte! Du musst Mama aufsuchen und ihr erzählen, dass Jacques und Louisa im Dorf der Lakota heiraten werden. Sie muss es zumindest wissen, selbst wenn sie nicht kommen kann. Du bist doch mitten in Chicago, bitte.«

Wie sollte er nur reagieren? Dem Flehen des Mädchens nachzukommen, könnte zu Problemen sowohl für ihn als auch für Diana führen. Zwar konnte Maroque sich nicht vorstellen, dass Elisabeth unüberlegt handeln würde, doch konnte man das vorher wissen? Nachdenklich ruhte sein Blick auf Dianas geröteten Wangen.

»Kleines, wenn ich mich nicht sehr täusche, so erzählte doch schon Jacques, dass das unschöne Folgen haben könnte.« Selbst wenn er es nicht erwartet haben sollte, doch der Blick der jungen Frau konnte tatsächlich noch flehender werden. Und schon fiel, auch angesichts des Umstandes, was sie alles hatte erdulden müssen, sein Widerstand in sich zusammen. »Gut, ich werde versuchen, deiner Mutter eine Nachricht zukommen zu lassen. Aber ich kann dir nichts versprechen und schon gar nicht, dass ich sie hierher mitbringe. Hast du das verstanden, Diana?«

Eifrig nickte sie. »Ja, das habe ich und ich bin dir unendlich dankbar, alleine dafür, dass du es versuchst.«

Seufzend strich er ihr über das erhitzte Gesicht. »Schon gut und nun beruhige dich wieder, Kind. Es ist heute ein kalter Abend und du glühst regelrecht.«

Während Diana sichtlich erleichtert zum Haus zurückeilte, in dem Jacques und Louisa schon vor einer ganzen Weile verschwunden waren, sattelte er sein Pferd. Ziemlich angespannt zog er den Sattelgurt fester. Warum musste er sich immer wieder von traurigen Frauenaugen beeinflussen lassen? Lernte er denn nie etwas dazu? Als er seinen geliebten Apfelschimmel fertig aufgezäumt hatte, stieg er auf und ritt ohne weiteren Abschied in die Nacht. Jacques und Louisa kannten das schon. Sie wussten, dass er immer wieder zurückkehrte.

Es war ein langer Ritt und gegen Mitternacht machte er an einem versteckten Gasthaus Halt. Man kannte ihn dort bereits und so bekam er rasch ein kleines Zimmer und ein Glas Wein. Die Zeiten waren gefährlicher geworden und Besserung war nicht in Sicht. Es gab da so einiges, von dem er vor allem den beiden Frauen nichts berichtete. Chicago war in ständigem Wandel begriffen und es wandelte sich nur für einige wenige zum Besseren. Zu diesen gehörte eindeutig Frank Kedleston. Der Kerl schlug nicht nur aus der Tatsache, dass die Eisenbahn stetig ihr Schienennetz ausbaute, seinen Profit. Nein, soweit er wusste, profitierten er und sein noch gierigerer Bruder mittlerweile sogar vom Mexikanisch-Amerikanischen Krieg.

Maroque wurde alleine bei dem Gedanken übel, dass es solche Kriege überhaupt geben musste. Dass man sich an ihnen und damit am Elend derer, die dort ihr Leben aufs Spiel setzten, bereicherte, widerte ihn an.

Gedankenverloren trank er seinen Wein, während er sich langsam soweit entkleidete, dass er, sollte sich im Laufe der Nacht etwas ereignen, rasch fluchtbereit sein würde. Selbst hier, in diesem vertrauten Umfeld, fühlte er sich nicht sicher. Die neuen Herren Chicagos und ihre Handlanger kontrollierten immer weitere Bereiche rund um die Stadt und da sie über das nötige Geld verfügten, ließ man sie gewähren. Er dankte dem Himmel, dass auch er sich, gerade noch rechtzeitig, sein Netz an Vertrauten aufgebaut und sich so ein wenig Sicherheit verschafft hatte. Er warf seinem Spiegelbild ein ironisches Lächeln zu. Wer den zwielichtigen Kerlen nicht gefiel, konnte rasch sein Leben aushauchen. Er allerdings wusste viel zu viel über jeden Einzelnen von ihnen. Besitzer der zwei größten und beliebtesten Bordelle der Stadt zu sein, zahlte sich in solchen Fällen doch stets aufs Neue aus.

Allerdings waren diese großspurigen Lebemänner und selbst ernannten Gouverneure derzeit sein geringeres Problem. Er trank den letzten Schluck Wein und ließ sich auf das schmale Bett fallen, seinen Revolver griffbereit direkt neben sich.

Wollte er sein Versprechen halten, dann musste es ihm gelingen, zu Elisabeth vorzudringen. Immerhin war die Bitte, sie über das Wohlergehen ihrer Töchter zu informieren, ja eigentlich von ihr selbst gekommen. Ganz abgesehen von allem anderen, wollte auch er die schöne, elegante Frau mit den traurigen Augen wiedersehen. Er war sich absolut bewusst, dass es nur bei einem »Sehen« bleiben würde. Auch wenn er Elisabeth nur ein einziges Mal getroffen hatte, so bekam er die stolze und doch so verletzlich anmutende Dame nicht mehr aus dem Kopf. Was nun für einen Mann in seiner Position fast schon etwas Erheiterndes hatte. Aber niemand konnte ihm verbieten, zu träumen. Schmunzelnd verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und starrte an die nicht mehr ganz weiße Zimmerdecke. Er lebte so weit außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Konventionen, dass für ihn die Regeln eben jener Gesellschaft nicht mehr galten.

Schon bei Anbruch des nächsten Tages verließ Maroque das Gasthaus und setzte seine Reise fort. Die Ruhe war gut für seinen Kopf gewesen, denn die Lösung, zumindest für einen Teil seiner Probleme, lag nun klar vor ihm.

Es wurde immer schwieriger und langwieriger, in die Stadt zu gelangen. Chicago wuchs wie ein Geschwür. Entlang der Eisenbahnlinien wurden seit Neuestem Rinderherden herangetrieben und in Schlachthöfen, die teils beinahe über Nacht aus dem Boden zu wachsen schienen, geschlachtet. Das Fleisch der Tiere wurde unter anderem auch für die Truppen, die in Mexiko kämpften, verarbeitet. Je näher er kam, desto erbärmlicher stank es. Nach den Tagen draußen in den Wäldern, mitten in Ruhe und frischer Luft, war es hier schier unerträglich.

Es war bereits dunkel, als er die Straße erreichte, in der er auch mit Louisa und den Lakota gewesen war. Hoffentlich stellte sich der junge Schotte McLeary nicht als die nächste Enttäuschung in einer langen Reihe von unnützen Zuwanderern heraus. Maroque band sein Pferd an den eisernen Zaun und stieg langsam aber entschlossen die Treppe zur Eingangstüre hoch. Hinter einigen Fenstern konnte er Licht erkennen, also war jemand im Haus.

Dezentes Klopfen war noch nie seine Art gewesen und so klang sein Begehr um Einlass auch heute eher fordernd. Bald erklangen leise Schritte und die Türe wurde einen Spalt geöffnet. Das Mädchen schien so rasch niemanden zu vergessen und das, obwohl sie ihn damals sicher nur aus dem Augenwinkel erblickt haben konnte, da er es vorgezogen hatte, bei den Pferden zu bleiben.

»Ich kenne Euch, Ihr wart mit Miss Kedleston und den Indianern hier. Was wollt Ihr?«, sagte sie.

»Auch dir einen guten Abend, Kind. Ich muss dringend mit Malcolm McLeary sprechen. Bitte sag ihm, es ginge um Louisa und Diana, das sollte genügen. Ist der junge Herr denn im Haus?«

Er konnte förmlich sehen, wie es hinter der sorgenvoll gerunzelten Stirn der Hausangestellten arbeitete. Ganz offensichtlich wusste sie nicht, wie sie mit ihm verfahren sollte. Die Kleine brauchte dringend etwas Hilfe.

»Hör zu, wenn er im Haus ist, dann warte ich hier, achte solange auf mein Pferd und du holst ihn. Wie klingt das für dich?«

Sofort erhellte sich ihre Miene. »Ich gehe und hole Mr. McLeary.«

Immerhin konnte sie sich dazu durchringen, ihm die Tür nicht vor der Nase zuzuwerfen, sondern ließ sie tatsächlich ein wenig offen stehen, während sie mit geschürzten Röcken davoneilte. Lange musste er nicht warten, ehe er den Klang eiliger Männerschritte vernahm. Malcolms dunkler Haarschopf erschien im Türrahmen und auch er erkannte ihn sofort.

»Mr. Maroque, welch eine Überraschung, Sie zu sehen.«

Die Stimme des jungen Schotten klang freundlich und ruhig. Das sah nach einem guten Anfang aus.

»So stehen Sie doch nicht hier auf der Treppe, bitte, kommen Sie herein.«

Mit Nachdruck lehnte er ab. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. McLeary. Halten Sie mich bitte nicht für ungehobelt, jedoch würde ich es vorziehen, wenn wir uns hier draußen in Ruhe unterhalten könnten.«

»Wenn Sie befürchten, dass etwas in falsche Ohren gelangen könnte, darf ich Sie beruhigen, ich bin alleine hier. Meine Eltern sind im Theater und meine Schwester durfte sie begleiten. Wir haben das Haus für uns, also bitte, treten Sie ein. Ich schicke einen Burschen hinaus, damit er auf Ihr Pferd achtet.«

»Das ist etwas Anderes, dann sehr gerne. Wenn es Sie nicht stört, dass ich wahrscheinlich einige Pfund Straßenstaub an mir habe.«

Lachend zog Malcolm ihn in den Flur. »Unsinn, nun kommen Sie schon. Sofern ich richtig gehört habe, bringen Sie Neuigkeiten von den Kedleston-Mädchen? Geht es den beiden gut? Sie müssen mir alles erzählen.« Mit einer einladenden Geste bat er ihn in den Salon.

Maroque wurde mit einem großen Glas Whisky versorgt und musste alles berichten, was sich seit dem Augenblick, in dem sie in jener Nacht im Herbst das Zuhause der McLearys verlassen hatten, ereignet hatte.

So erzählte er von ihrem Besuch bei den Kedlestons, dem anschießenden Überfallkommando in dem zwielichtigen Sanatorium und ihrer Flucht aus der Stadt. Malcolm lauschte mit großen Augen und angespannter Miene.

»Unglaublich! Wir alle waren uns sicher, dass nichts von dem, was Frank über die Geschehnisse behauptete, der Wahrheit entsprach. Dass es jedoch so schlimm war, das konnten selbst wir uns nicht vorstellen. Und das, obwohl wir ihn eigentlich schon lange genug kennen. Was für ein Lügner. Wie kann man auf solche Art und Weise mit seinen Kindern umgehen?«

Maroque zuckte nachlässig die Schultern. »Ich denke, wenn man einmal das Geld und den eigenen Wohlstand über alles stellt, dann lösen sich derartige Fragen und Rätsel ganz von alleine. Ich kenne die Geschichte von Louisa und noch heute gibt sie sich einen guten Teil der Schuld an dem, was geschehen ist. Daran mag ein Körnchen Wahrheit sein, jetzt jedoch ist Louisa ein neuer Mensch, glücklich, fröhlich und zufrieden. Und auch Diana wird es in der Obhut ihrer Schwester und der Lakota bald wieder gut gehen, da bin ich sicher. Sie liebt die Lakota sehr.«

Malcolm stellte sein Glas auf dem Tisch neben dem Kamin ab und lächelte ihn vielsagend an. »Das passt zur Schwarzen Diana. Vom Freibeuterleben zum Indianer ist es für sie nur ein kleiner Schritt.«

»Das mag wahr sein, doch in einem dürften wir der kleinen Freibeuterin wohl nicht helfen können. Es ist ihr größter Wunsch, ihre Mutter bei der Trauungszeremonie dabei zu haben.«

Malcolm schüttelte mit sichtlichem Bedauern, dafür jedoch umso bestimmter den Kopf. »Hier muss ich Ihnen zustimmen. Es ist unmöglich, dass Elisabeth die Stadt verlässt. Was ich Ihnen anbieten kann, ist, dass ich sie – wie schon des Öfteren – zu einer Kutschfahrt abhole und mit ihr das kleine französische Café in der Nähe des Opernhauses besuche. Dort könnte ich annähernd gefahrlos für ein Treffen mit Ihnen Sorge tragen.«

»Französisches Café? Die Aussicht gefällt mir.« Grinsend fuhr Maroque sich durch seine Bartstoppeln. »Ich sollte mich zuvor wieder in ein annähernd menschliches Wesen verwandeln.«

Es verwunderte ihn, dass Malcolm auf diese eigentlich humorvoll gedachte Äußerung eher zurückhaltend reagierte. »Glauben Sie mir, Maroque, Elisabeth ist es denkbar egal, wie Sie ihr gegenübertreten. Sie wird überglücklich sein, von ihren Kindern zu hören.«

»Mag sein, mir jedoch ist es wichtig, wie ich aussehe, wenn ich eine echte Dame treffe.« Maroque zog eine leicht verzweifelte Grimasse. »Und das ist Elisabeth Kedleston.«

»Ja, das ist sie. Aber ich darf Sie warnen. Es geht ihr nicht gut. Das aber müssen Sie mit eigenen Augen sehen. Was halten Sie davon, wenn ich meinen Besuch dort für morgen ankündige und Elisabeth für den nächsten Tag zu einem gemeinsamen Nachmittag einlade? Wenn Sie mir vertrauen, dann würde ich sehr gerne meine Mutter mitnehmen. Bitte haben Sie keine Furcht, dass sie etwas ausplaudern könnte, meine Mutter hasst Frank Kedleston aus tiefstem Herzen und es würde dem Ganzen einen unverfänglicheren Charakter verleihen.«

Maroque sah keinen Grund, warum er dem jungen Mann kein Vertrauen schenken sollte. »Gut, dann sehen wir uns in zwei Tagen wieder? Wann soll ich in dem Café sein und wo genau ist es?«

4.

Das lange Brett, das direkt neben dir liegt. Diana, träumst du?« Jacques warf vom Dach des Blockhauses aus mit einem kleinen Tannenzapfen nach ihr und verfehlte sie nur um Haaresbreite.

»Das ist nicht liebenswürdig. Als mein zukünftiger Schwager stehe ich unter deinem Schutz. Mich anzugreifen ist ungehörig.« Es gelang ihr nur schwer, ernst zu bleiben.

»Hör mir gut zu, du meine zukünftige Schwägerin. Wenn ich das Dach nicht vor dem ersten Schnee gänzlich dicht und sicher bekomme, dann wirst du es sein, der das Eiswasser in ihr hübsches Gesicht tropft. Willst du das?« Jacques grinste von oben aus frech zu ihr herunter.

Er sah heute wieder ausgesprochen verwegen aus. Die langen schwarzen Haare hatte er zu einem hochangesetzten Pferdeschwanz gebändigt und arbeitete mit bloßem Oberkörper, obwohl es wirklich bereits kalt war. Man konnte jeden einzelnen Muskel erkennen, der sich unter der kupferfarbenen Haut bewegte. Binnen weniger Sekunden baute sich vor ihrem fantasiebegabten inneren Auge eine neue Szenerie auf. Jacques in einem schwarzen, geschnürten Hemd, dazu schwarze enge Lederhosen und hohe lederne Stiefel, in der Hand einen funkelnden Degen, an den Ohrläppchen große silberne Creolen. Er wäre ein unglaublich guter Pirat!

»Diana! Das Brett, wenn ich bitten darf.«

»Oh, ich mache ja schon. Hier, bitte sehr.« Heftig errötend streckte sie ihm das Gewünschte in die Höhe und er griff kopfschüttelnd danach.

»Ab und an würde ich zu gerne wissen, wo deine Gedanken sind.«

Er lächelte sie wissend an und nachdem sie ihm das letzte Holzbrett nach oben gereicht hatte und ihm die behelfsmäßige Leiter zum Herunterklettern festhielt, nahm er sie spontan in die Arme.

»Gräme dich nicht, kleine Schwester. Ich freue mich sehr, dass du so denkst und fühlst, wie du es tust – und dass deine Fantasie dich hin und wieder an andere Orte entführt.«

Erleichtert drückte Diana Jacques einen zarten Kuss auf die Wange.

»Weißt du, wann meine Schwester wieder da sein wollte?«, fragte sie dann.

Er zuckte nur ratlos die Schultern. »Sie wollte ein letztes Mal das Wetter nutzen und an unserem Kraftplatz baden. Ich bin sehr stolz auf sie, schließlich ist es schon verflixt kalt. Sie hat Tatanka bei sich, daher fürchte ich auch nicht ernsthaft um ihr Wohlergehen.«

»Denkst du, ich würde sie stören, wenn ich zu ihr ginge?«

»Ich denke, sie würde sich freuen. Geh nur, nimm dir aber etwas zum Abtrocknen mit. Die verbleibende Sonne hat gewiss nicht mehr die Kraft, dich zu trocknen.« Jacques griff nach einem großen, weichen Tuch, das auf der langen Leine hing. »Da, nimm.«

Dankbar nahm sie das Tuch und ein kleines Stück Seife, das neben dem Eingang auf der Bank lag und lief in den Wald. Hier gab es – zumindest zu dieser Jahreszeit – keine Wildtiere und wenn, dann hörte man die Wölfe nur in der Ferne heulen. Die kleinen Tiere wie Biber, Bisamratten und Hasen waren nun nicht wirklich zum Fürchten. Sunk’Palas Erzählungen von den riesigen Bisons in der weiten Ebene waren da schon etwas Anderes gewesen, doch hier jagten sie keine Büffel, sondern mussten sich mit Hirschen und Hasen begnügen.

Es dauerte nicht lange, ehe sie den Kraftplatz der Lakota erreichte. Kurz nach ihrer Ankunft in der Stille und Abgeschiedenheit der Wälder war Wanbli Waste mit ihr hier gewesen. Nur der weise Schamane und sie. In den Kreisen, in denen sie sich einst bewegt hatte, war so etwas eine regelrechte Unaussprechlichkeit. Und für jemanden wie ihren Vater erst recht. Vielleicht waren die Stunden mit dem geduldigen, liebevollen Lakota gerade darum für sie so wertvoll, so kostbar gewesen. Er hatte sie reden lassen, lange und ohne Unterbrechung und ihr dann eine Kräutermischung zu trinken gegeben, die ihren Körper vom Gift der vielen Medizin reinigte, die man ihr im Sanatorium verabreicht hatte. Als er sie unter das seinerzeit schon sehr kalte Wasser scheuchte, hatte sie keinen Augenblick gezögert. Mit dem herrlich klaren Wasser waren die ersten dunklen Schatten von ihr abgefallen. Als sie bibbernd und zitternd, aber auch lächelnd wieder herausgeklettert war, hatte er sie in eine warme Decke gewickelt, ehe er in einer Tonschale getrocknete Kräuter entzündete, deren Rauch sie gehorsam einatmete.

Sie hatte geglaubt, dass Rauch die Sinne vernebeln würde, doch sie sah sich gewaltig getäuscht. Der heilige Rauch scheuchte die alten, festsitzenden Ängste aus ihrem Kopf und half ihr dabei, ihre Situation endlich wieder klar zu erkennen. Was er dann tat, erschien ihr so herrlich verboten, dass sie es zunächst nicht einmal Louisa erzählte. Der Schamane band diverse Kräuter zu einem dichten Bündel zusammen und rieb damit ihren ganzen Körper fest ab. Nach dieser Behandlung prickelte die Haut überall, so wie früher die Hände und das Gesicht nach einer der Schneeballschlachten, in denen sie einst immer den Kürzeren gezogen hatte. Aber nicht nur das, sie duftete wunderbar nach den unterschiedlichen Kräutern und das machte sie herrlich müde, so müde, dass sie in den Armen des Lakota eingeschlafen und erst bei Einbruch der Dämmerung erwacht war.

Nach dieser Behandlung fühlte sie sich wie ein neuer Mensch, so, als habe Wanbli Waste alles Übel aus ihr verjagt. Daher ging sie nun leise und respektvoll auf den kleinen See und den Wasserfall zu. Tatanka, der sie sofort hörte, empfing sie mit einem kräftigen Stupser seiner großen Schnauze und legte sich dann entspannt wieder ins Gras.

Louisa stand, nackt wie Gott sie schuf, unter dem Wasserfall und ließ mit geschlossenen Augen das eiskalte Nass über ihren Körper rinnen. Sie war nicht mehr so schmal und zart wie einst, sie hatte Muskeln an Armen und Beinen bekommen. Reiten und durch die Wälder laufen, dazu die Arbeit im Haus und mit den Pferden war anstrengend. Früher hätte sie lauthals protestiert, heute erledigte sie all das mit einem Lächeln. Dass Jacques an diesem Lächeln absolut nicht unschuldig war, wusste Diana nur zu gut. Ihre Schwester und ein Indianer – wann immer sie darüber nachdachte, freute sie sich über diese wunderbare Entwicklung.

Das schon immer schöne rotbraune Haar Louisas war lang geworden. Die vielen Strähnen, die, wie sie aus Louisas Erzählungen wusste, Little Deer ihr, nachdem Jacques ihre Schwester mehr tot als lebendig aus dem See gezogen hatte, hatte abschneiden müssen, waren schon wieder gut nachgewachsen. Jetzt fiel es ihr nass und glänzend über Schultern und Rücken.

Just als Diana an den Rand des kleinen Sees trat, öffnete Louisa ihre Augen. Zuerst fragend, dann aber mit einem Lächeln musterte sie ihre kleine Schwester.

»Na, hat hier noch jemand das Bedürfnis, Kraft aus der Natur zu ziehen? Das Wasser ist allerdings so kalt, dass es auf der Haut schmerzt. Warte, Kleines, ich bin fertig, ich mache dir Platz.«

Schüchtern lächelte sie ihre Schwester an. »Ich wollte dich weder stören, noch dich vertreiben.«

Louisa trat ans Ufer, griff nach ihrem Tuch und wickelte sich fest darin ein. »Du tust keines von beidem, meine bezaubernde kleine Schwester. Ich freue mich, dass du hier bist, dass du dieses Leben so zu genießen scheinst.«

Nun musste sie doch lachen. »Schon irgendwie amüsant, dass du das zu mir sagst. Wer war denn die, die früher immer mit unserer Gesellschaft haderte? Du hingegen sahst dich auf den Bällen in London und Bath zu Hause. Und, falls ich das einmal erwähnen darf, mit jungen Männern, die ein klein wenig anders aussahen als der, den du nun offensichtlich von ganzem Herzen liebst.«

Louisa zog eine sehr seltsame Grimasse. »Ja, ich erinnere mich daran, wenn auch ungern. Die Louisa von damals ist, zumindest zu einem großen Teil, im eisigen Wasser des winterlichen Michigansees zurückgeblieben. Und das ist gut so.«

Langsam und ein wenig zögerlich entledigte sie sich ihrer Kleidung und musterte ihre Schwester sehr ernst. »Ich habe auch diese Louisa geliebt, ich hoffe, das weißt du.«

Sichtlich gerührt schloss die sie in ihre Arme. »Ja, das weiß ich, mein Engel.«

»Soll ich dir noch etwas sagen?«

»Was denn?«

»Du bist eiskalt.«

Lachend gab Louisa sie frei. »Nun, dann sorge dafür, dass du auch unter den Wasserfall kommst. Je tiefer die Sonne sinkt, desto kälter wird es.«

Etwa eine Stunde später saßen sie beide, wieder sauber, erfrischt und warm bekleidet auf dem großen Stein, auf dem vor langer Zeit Jacques gesessen hatte, während Louisa das erste Mal unter dem magischen Wasserfall an diesem majestätischen Ort gestanden und sich ihre eigenen schwarzen Gedanken fortgespült hatte.

»Freust du dich auf die Heirat?«

Louisa wandte sich mit einem nachsichtigen Blick zu ihr um. »Wie oft hast du mich das nun in den letzten zwei Tagen schon gefragt? Die Antwort ist noch immer die gleiche. Ja, ich freue mich sehr. Seit ich Jacques kenne, weiß ich, was Liebe ist.«

»Und du vermisst die ganzen jungen Männer in London nicht mehr? Vor allem den einen, den du zurücklassen musstest, als Vater dich zurück nach Hause beorderte?« Sie musterte Louisa neugierig.

»Nein, ich vermisse sie nicht. Charles Brenwood war ein hübscher und unterhaltsamer Junge. Aber wenn ich heute an ihn denke, dann ist der erste Gedanke, dass er hier draußen keine Woche überleben würde. Dass ich ihm damit unrecht tue, weiß ich sehr wohl, die Frage nach Überleben in der Wildnis stellt sich in den Straßen Londons eher selten. Trotzdem sehe ich ihn heute mit ganz anderen Augen. Abgesehen davon hoffe ich, dass er glücklich ist. Er war ein wirklich netter Mann.«

»Die alte Louisa hätte zuerst an sich gedacht«, warf Diana leise ein.

»Siehst du! Schon haben wir es. Gut, dass es diese Louisa nicht mehr gibt. Von alledem abgesehen, bin ich die glücklichste Frau der Welt.«

»Wäre es denn nicht schön, wenn Mutter dabei sein könnte?«

Louisas Blick war eine Mischung aus Mitleid und Unwillen. »Diana, zum letzten Mal. Es ist gänzlich unmöglich, Mutter auch nur eine Nachricht zukommen zu lassen. Stell dir vor, unser Vater bekäme Wind davon. Was denkst du, würde Frank Kedleston alles tun, um zu verhindern, dass seine Tochter – so gleichgültig sie ihm eigentlich auch sein mag – einen Indianer heiratet? Ein falsches Wort von Mutter, eine unbedachte Bemerkung und wir wissen nicht, was er alles in Gang setzen würde. Weder du noch ich ahnen, wie weit sein Einfluss mittlerweile reicht.«

»Hm, es ist einfach traurig. Du weißt, dass Mutter dich liebt.«

»Ja, natürlich. Aber wir würden sie und uns gefährden. Folglich schweigen wir lieber, es ist das Beste für alle.«

Diana versuchte, ihr Mienenspiel nach den Worten der Schwester einigermaßen in den Griff zu bekommen. Betrachtete sie jedoch die zunehmend besorgten Züge der Älteren, dann misslang ihr das kläglich.

»Diana, ich kenne dich und ich kenne deinen schuldbewussten Blick.« Louisa griff nach ihrem Kinn und drehte ihr Gesicht so, dass sie ihr wohl oder übel in die Augen sehen musste. »Diana, raus mit der Sprache! Was hast du angestellt?«