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In diesem Buch lädt uns Silo in ein spielerisches Theater des Lebens ein. Die Geführten Erfahrungen sind ein Geschichtenbuch für Erwachsene. Die zweiundzwanzig Kurzgeschichten sind in echter Geschichtenbuchtradition zum Vorlesen geschrieben. Zeitlos und doch zeitgemäss sprechen sie auf vielfältige Weise die menschliche Situation in der heutigen Welt an. Mit einer spielerischen Weisheit, die halb vergessene Wahrheiten erweckt, führen uns diese Geschichten zu Geistesblitzen und eröffnen uns die Möglichkeit, tiefgreifende Versöhnungen mit ungelösten Themen der Vergangenheit zu erleben oder eine veränderte, positivere Haltung gegenüber der Gegenwart oder Zukunft zu entwickeln. Als für unsere Zeit bedeutungsvolle Geschichten erwecken diese lebendigen Erzählungen die universellen Themen der menschlichen Erfahrung zum Leben. Anklänge an viele literarische Traditionen helfen, diese Geschichten mit den konkreten Problemen zu verbinden, mit denen wir täglich in unserem Leben konfrontiert sind.
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Edition Pangea
Silo ist das Pseudonym von Mario Luis Rodríguez Cobos. Er wurde am 6. Januar 1938 in Mendoza, Argentinien, geboren, wo er bis zu seinem Tode 2010 lebte. Seine Werke umfassen ein breites Spektrum, das von Philosophie über Psychologie, Soziologie, Mythologie bis hin zur Fiktion und Spiritualität reicht. Er ist u.a. Verfasser der Werke Der Innere Blick (1972), Die Innere Landschaft (1979) und Die Menschliche Landschaft (1980), die später in der Trilogie Die Erde menschlich machen (1989) veröffentlicht wurden. Später verfasste er Geführte Erfahrungen (1989), Beiträge zum Denken (1990), Universelle Wurzelmythen (1991), Der Tag des geflügelten Löwen (1993), Briefe an meine Freunde (1993), Silo spricht (1996), Wörterbuch des Neuen Humanismus (1997), Silos Botschaft (2002) und Notizen zur Psychologie (2006). Seine Schriften erschienen als Gesammelte Werke I und II erstmals 2002 in Mexiko. Er gilt als Gründer der international als Neuer Humanismus (oder auch Universalistischer Humanismus) bekannten Denkströmung sowie als Wegbereiter einer neuen Spiritualität, welche die auf Gewaltfreiheit basierende, gleichzeitige persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Veränderung hin zu einer „universellen menschlichen Nation“ fördert.
Geführte Erfahrungen
Silo
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Experiencias Guiadas
im Verlag Plaza&Janes Editores S.A., Barcelona
Copyright der spanischen Originalausgabe © 1989 Silo
Der Originaltext ist auf www.silo.net erhältlich.
Als Vorlage zur Übersetzung diente die Ausgabe von
Virtual Ediciones, Santiago de Chile, 2021
Übersetzung aus dem Spanischen:
Conny Henrichmann
in Zusammenarbeit mit Daniel Horowitz
Lektorat: Ivetta Csongradi
Edition Pangea
Zürich - Berlin - Wien
Oktober 2025
www.editionpangea.ch
Copyright der deutschen Ausgabe: © 2025 Pangea, Zürich
Gestaltung: Mariana Garcia
Umschlag: gdi Kohl
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
ISBN 978-3-90712-727-8
Einleitung zur deutschsprachigen Ausgabe
Geführte Erfahrungen
Erster Teil - Erzählungen
I. Das Kind
II. Mein Feind
III. Mein größte Fehler
IV. Die Nostalgie
V. Mein Idealer Partner
VI. Das Ressentiment
VII. Die Beschützerin des Lebens
VIII. Die rettende Tat
IX. Die falschen Hoffnungen
X. Die Wiederholung
XI. Die Reise
XII. Das Festival
XIII. Der Tod
Zweiter Teil - Bilderspiele
I. Das Tier
II. Das Schneemobil
III. Der Schornsteinfeger
IV. Der Abstieg
V. Der Aufstieg
VI. Die Kostüme
VII. Die Wolken
VIII. Vor und zurück
IX. Der Bergmann
Anmerkungen zu den Geführten Erfahrungen
Vortrag des Autors anlässlich der Buchvorstellung
In diesem Buch lädt uns Silo in ein spielerisches Theater des Lebens ein. Die Geführten Erfahrungen sind ein Geschichtenbuch für Erwachsene. Die zweiundzwanzig Kurzgeschichten sind in echter Geschichtenbuchtradition zum Vorlesen geschrieben. Zeitlos und doch zeitgemäß sprechen sie auf vielfältige Weise die menschliche Situation in der heutigen Welt an. Mit einer spielerischen Weisheit, die halb vergessene Wahrheiten erweckt, führen uns Silos Geschichten zu Geistesblitzen und eröffnen uns die Möglichkeit, tiefgreifende Versöhnungen mit ungelösten Themen der Vergangenheit zu erleben oder eine veränderte, positivere Haltung gegenüber der Gegenwart oder Zukunft zu entwickeln.
Wer dieses faszinierende Buch schnell durchliest, wird eine Reihe kurzer Geschichten mit glücklichem Ende finden, die man einfach mit Vergnügen lesen kann. Die Lesenden können möglicherweise aber feststellen, dass ihnen diese täuschend einfachen Geschichten ans Herz wachsen werden. Leicht an einem Abend zu lesen, können sie uns ein Leben lang begleiten und noch lange nach dem Lesen kommen uns möglicherweise Sätze aus ihnen in den Sinn.
Die interessierten Lesenden werden in diesen Geschichten aber möglicherweise mehr spüren, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Sie haben eine psychologische Dimension, und unter ihrem bescheidenen Stil sind sie durch eine augenzwinkernde Weisheit geprägt, sind zugleich bejahend, herausfordernd und provokant.
Obwohl man sie schnell überfliegen kann, sind sie ergiebiger, wenn man sie tiefer erkundet. In einem sehr einfachen und zugänglichen Stil geschrieben, mögen sie zunächst eher wie Skizzen von Geschichten als fertige Werke erscheinen. Diese bewusste unfertige Qualität spiegelt die Absicht des Autors wider, die Lesenden an den Geschichten teilhaben zu lassen. Mit einer originellen Kombination stilistischer Mittel ermutigt Silo die Lesenden bzw. Zuhörenden, jede Geschichte zu vervollständigen, indem sie sich Elemente aus dem eigenen Leben vorstellen, insbesondere während der Pausen, die in den Geschichten mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet sind. Indem der Autor eine gewisse Mehrdeutigkeit und einen unbestimmten Ton in den Geschichten beibehält, gibt er uns den Spielraum, den Rahmen, den jede Geschichte bietet, um ihn mit unseren eigenen Erfahrungen zu füllen.
Bei einer langsamen und sorgfältigen Lesung passiert etwas sehr Interessantes. Die Bilder erwachen zum Leben und die zuhörende Person versetzt sich selbst in die Hauptrolle und füllt die Geschichte mit ihren eigenen Erlebnissen. Weit davon entfernt, sich zu wiederholen, entwickelt sich die Geschichte beim erneuten Zuhören weiter.
Als für unsere Zeit bedeutungsvolle Geschichten erwecken diese lebendigen Erzählungen die universellen Themen der menschlichen Erfahrung zum Leben. Anklänge an viele literarische Traditionen helfen, diese Geschichten mit den konkreten Problemen zu verbinden, mit denen wir täglich in unserem Leben konfrontiert sind.
Die Geschichten werden durch Anspielungen auf zeitgenössische und klassische Literatur bereichert (siehe die Anmerkungen am Ende des Buches). Bilder von Feuerwehrmännern, die an Ray Bradburys Fahrenheit 451 erinnern, verstärken die anfängliche Spannung in Mein größter Fehler, und die Hochgeschwindigkeitsfahrt in der Blase von Die Reise erinnert an die Reise, die Olaf Stapledon in seinem Sternenschöpfer so großartig erzählt. Rabelais‘ Gargantua und der Mythos von Orpheus und Eurydike erscheinen ganz natürlich in der Suche in Mein idealer Partner, und einzelne Orphische Hymnen und Anspielungen auf Hamlet verstärken die düstere Kulisse in der Erzählung Das Ressentiment. Die Figur der Beschützerin des Lebens ist der zeitlose weibliche Archetyp, der sich derzeit neuer Popularität erfreut, und in Die Wolken werden wir an Aristophanes‘ Komödie erinnert und erkennen Schöpfungsthemen aus der Bibel, dem Rigveda und dem Popol Vuh wieder.
Im Gegensatz zu solchen klassischen Elementen finden wir in anderen Erzählungen – hauptsächlich aus dem zweiten Teil, den Bilderspielen – einen leichteren Umgang mit Bildern, die an Lewis Carolls Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln erinnern. In Die Kostüme erleben die Zuhörenden Verformungen, Ausdehnungen, Verkleinerungen und schließlich Spiegelungen in einem Zauberspiegel.
All diese Elemente dienen zusammen den Zielen der Erzählungen: Das eigene Gedächtnis und die eigene Vorstellungskraft auf der Suche nach größerem Verständnis und echten Versöhnungen anzuregen und neue Handlungsweisen hin zu innerer Einheit zu entdecken.
Die spanische Erstausgabe des Werks erschien 1989 unter dem Titel Experiencias Guiadas im Verlag Plaza & Janés Editores in Barcelona und umfasste 21 Geschichten. Die erste deutschsprachige Übersetzung dieser Originalausgabe wurde 1992 in Düsseldorf im Selbstverlag unter dem Titel Geleitete Erfahrungen veröffentlicht.
Für spätere Ausgaben ergänzte der Autor den ersten Teil des Werks um eine weitere Geschichte mit dem Titel Der Tod, die in dieser Neuübersetzung ebenfalls enthalten ist. Zudem nahm er kleinere Änderungen an einigen bestehenden Geschichten sowie an den Anmerkungen zu den Geführten Erfahrungen vor. Diese überarbeitete Fassung erschien unter anderem 2002 in Mexiko im Verlag Plaza y Valdés (Obras Completas, Vol. 1 – Gesammelte Werke, Band I). All diese Änderungen wurden in der vorliegenden Ausgabe ebenfalls berücksichtigt.
Unser Dank für die vorliegende Übersetzung geht an erster Stelle an Conny Henrichmann, aber ebenso an die Übersetzer und Übersetzerinnen der vorhergehenden Ausgaben der Geführten Erfahrungen: Luz Jahnen, Marita Simon, Gustavo Joaquin und Harald Freyer sowie an die zahlreichen Freiwilligen, die den Geschichten mehrfach zugehört haben und mit ihren Vorschlägen und Anregungen zur Verbesserung der deutschen Übersetzung beigetragen haben. Ebenso bedanken wir uns beim Verlag Latitude Press, dessen englischsprachige Ausgabe Tales for Heart and Mind – The Guided Experiences uns zu dieser Einleitung inspiriert hat.
Am Ende des Buches haben wir auch den Vortrag des Autors anlässlich der Buchvorstellung vom 3. November 1989 in Madrid angefügt, in dem Silo das Buch vom Standpunkt der Ideen aus behandelt, die diesem Werk zugrunde liegen.
Edition Pangea freut sich, dem deutschsprachigen Publikum nun eine Neuübersetzung unter dem Titel Geführte Erfahrungen vorlegen zu können.
Daniel Horowitz
September 2025
Ich gehe übers Land. Es ist sehr früh am Morgen und ich fühle mich sicher und fröhlich.
Vor mir zeichnet sich ein alt aussehendes Gebäude ab. Es scheint aus Stein gebaut. Auch das Giebeldach ist wie aus Stein gemacht. An der Vorderseite heben sich große Marmorsäulen hervor. Als ich mich dem Gebäude nähere, sehe ich, dass es eine schwere Metalltüre hat. Von der Seite tauchen plötzlich zwei bedrohliche Tiere auf und stürzen auf mich zu. Zum Glück werden sie von starken Ketten festgehalten und kurz vor mir gestoppt. Ich kann mich der Türe nicht nähern, ohne von den Tieren angegriffen zu werden, also werfe ich ihnen einen Beutel mit Futter zu. Die Bestien verschlingen das Futter hastig und schlafen ein.
Ich nähere mich der Türe und schaue sie mir genauer an, kann aber weder eine Klinke noch sonst etwas finden, um sie zu öffnen. Als ich jedoch vorsichtig gegen einen Flügel der Türe drücke, öffnet sie sich mit einem metallischen Geräusch, als wäre sie seit Ewigkeiten nicht geöffnet worden. Vor mir öffnet sich ein sehr langer, sanft beleuchteter Raum, dessen Ende ich nicht erkennen kann. Links und rechts hängen lebensgroße Gemälde, die bis zum Boden reichen. Jedes stellt eine andere Szene dar. Das erste links vor mir zeigt einen Mann, der hinter einem Tisch mit Karten, Würfeln und anderen Glücksspielen sitzt. Ich betrachte den merkwürdigen Hut, den der Spieler trägt. Ich versuche, mit dem Finger über den Hut im Gemälde zu streichen, spüre aber keinen Widerstand bei meiner Berührung – stattdessen taucht mein Arm direkt in das Gemälde ein. Dann bewege ich zuerst nur ein Bein und schließlich meinen ganzen Körper in das Gemälde hinein. Der Spieler hebt eine Hand und ruft: „Moment mal, Sie dürfen nur rein, wenn Sie Eintritt zahlen!“ Ich krame in meinen Taschen, hole eine kleine Glaskugel heraus und gebe sie ihm. Der Spieler nickt mir zu und ich gehe an ihm vorbei.
Ich bin in einem Vergnügungspark. Es ist Nacht. Ich sehe überall Karusselle und Bahnen voller Licht und Bewegung … aber da ist niemand. Allerdings entdecke ich in meiner Nähe ein etwa zehnjähriges Kind, das mit dem Rücken zu mir steht. Ich gehe auf das Kind zu und als es sich umdreht und mich ansieht, merke ich, dass ich es selbst bin, als ich ein Kind war. (*)
„Was machst du hier?“, frage ich. Das Kind erzählt mir etwas von einer Ungerechtigkeit, die ihm angetan wurde. Es fängt an zu weinen und um das Kind zu trösten, verspreche ich, dass wir gemeinsam Karussell fahren. Aber das Kind beharrt auf der Ungerechtigkeit. Um es besser zu verstehen, versuche ich mich zu erinnern, was für eine Ungerechtigkeit ich in diesem Alter erfahren habe. (*)
Jetzt erinnere ich mich an diese Ungerechtigkeit und irgendwie verstehe ich, dass es der Ungerechtigkeit gleicht, unter der ich bis heute leide. Ich denke darüber nach, aber das Kind weint immer noch. (*)
Also sage ich mir: „Gut, ich werde das Unrecht, das man mir anscheinend immer wieder antut, beheben. Für den Anfang werde ich freundlich zu den Menschen sein, die mich in diese Situation bringen.“ (*)
Ich bemerke, dass das Kind jetzt lacht. Ich streiche ihm über den Kopf und sage, dass wir uns wiedersehen werden. Das Kind verabschiedet sich und geht sehr glücklich weg. Ich verlasse den Vergnügungspark und komme wieder zu dem Spieler, der mir einen verstohlenen Blick zuwirft. Im Vorbeigehen streife ich seinen Hut, woraufhin die eigenartige Gestalt mir schelmisch zuzwinkert. Ich trete aus dem Gemälde heraus und befinde mich wieder in dem langen Raum. Mit langsamen Schritten gehe ich durch die Türe hinaus. Draußen schlafen die Tiere noch immer, und ich gehe ohne Angst zwischen ihnen hindurch.
Der strahlend helle Tag empfängt mich. Ich kehre über das offene Feld zurück mit dem Gefühl, eine seltsame Situation verstanden zu haben, deren Wurzeln weit zurückreichen. (*)
Ich befinde mich zur Hauptverkehrszeit in der Innenstadt. Eilig laufe ich durch das Gedränge von Menschen und Verkehr.
Plötzlich hält alles an und ist wie erstarrt. Nur ich allein kann mich noch bewegen. Ich beginne, die Menschen genauer zu betrachten und beobachte erst eine Frau und dann einen Mann. Ich gehe ein paar Male um sie herum und betrachte sie ganz aus der Nähe. Dann klettere ich auf das Dach eines Autos, schaue mich um und stelle fest, dass alles ganz still geworden ist. Ich denke einen Moment nach und merke dann, dass ich mit den Menschen, den Autos und allem anderen tun und lassen kann, was ich will. Sofort mache ich mich daran, all die Dinge zu tun, die mir gerade einfallen. Ich bin wie besessen und nach einer Weile bin ich völlig erschöpft. Während ich mich ausruhe, fallen mir neue Dinge ein, die ich machen könnte, sodass ich erneut ohne Hemmungen all das tue, wozu ich gerade Lust habe.
Aber wen sehe ich da! Da ist ja niemand anderes als dieses Individuum, mit dem ich noch ein paar Rechnungen offen habe. Tatsächlich glaube ich, dass diese Person mir mehr Schaden zugefügt hat als irgendjemand anders in meinem ganzen Leben … Da das nicht so bleiben kann, berühre ich meinen Feind und merke, dass jetzt wieder ein bisschen Leben in ihn kommt. Als er die Situation erkennt, sieht er mich entsetzt an, ist aber immer noch gelähmt und wehrlos. Und so sage ich ihm alles, was ich ihm schon immer sagen wollte und verspreche meine sofortige Rache. Da ich weiß, dass er alles spürt, aber nicht darauf reagieren kann, fange ich an, ihn an all jene Situationen zu erinnern, in denen er mich so schrecklich behandelt hat. (*)
Während ich meinem Feind Vorwürfe mache, nähern sich mehrere Leute. Sie bleiben stehen und fangen an, das Individuum scharf zu kritisieren. Es antwortet unter Tränen, dass es bereut, was es getan hat. Auf dem Boden kniend bittet es um Vergebung, aber es kommen noch mehr Leute hinzu, die das Verhör fortsetzen. (*)
Nach einer Weile verkünden die Leute, dass eine solch abscheuliche Person nicht am Leben bleiben darf und verurteilen meinen Feind zum Tode. Sie sind kurz davor, ihn zu lynchen, während das verängstigte Opfer um Gnade fleht. Da sage ich ihnen, dass ich ihm vergebe. Die Menge respektiert meine Entscheidung und die Leute gehen ihrer Wege. Jetzt sind wir beide wieder allein. Ich nutze die Gelegenheit, um mich endlich zu rächen, während mein Gegenüber immer mehr verzweifelt. So sage und tue ich schlussendlich alles, was ich für angemessen halte. (*)
Der Himmel verdunkelt sich bedrohlich und es beginnt, in Strömen zu regnen. Während ich hinter einem Schaufenster Zuflucht suche, beobachte ich, wie die Stadt wieder zum normalen Leben erwacht. Fußgänger rennen, und Autos fahren vorsichtig durch den heftigen, stürmischen Regen. Ständige Blitze und lautes Donnern umrahmen die Szene, während ich weiter durch die Glasscheiben blicke. Ich fühle mich völlig entspannt, als ob ich innerlich leer wäre und beobachte, fast ohne zu denken.
In diesem Augenblick erscheint mein Feind und sucht ebenfalls Schutz vor dem Gewitter. Er kommt näher und sagt: „Was für ein Glück, dass wir in dieser Situation zusammen sind!“ Er sieht mich scheu an. Ich tröste ihn, indem ich ihm sanft auf die Schultern klopfe, während er nur mit den Achseln zuckt. (*)
Ich fange an, mir in meinem Innern die Probleme meines Gegenübers anzusehen. Ich sehe seine Schwierigkeiten, seine Misserfolge im Leben, seine riesigen Frustrationen, seine Schwächen. (*)
Ich spüre die Einsamkeit dieses menschlichen Wesens, das durchnässt und zitternd an meiner Seite Zuflucht sucht. Ich sehe, wie schmutzig und erbärmlich verwahrlost die Person ist. (*)
Plötzlich ergreift mich ein starkes Gefühl der Solidarität mit diesem Menschen und ich sage: „Ich werde dir helfen.“ Die Person sagt kein einziges Wort, senkt den Kopf und schaut auf ihre Hände. Ich bemerke, dass sich ihre Augen trüben. (*)
Der Regen hat aufgehört. Ich gehe hinaus auf die Straße und atme tief die frische Luft ein. Gleich darauf entferne ich mich von diesem Ort.
Ich stehe vor einer Art Gericht. Der Saal voller Menschen ist still. Überall sehe ich strenge Gesichter. Die riesige Spannung, die sich im Raum aufgestaut hat, wird vom Gerichtsdiener gebrochen, der seine Brille zurechtrückt, ein Blatt Papier zur Hand nimmt und feierlich verkündet: „Dieses Gericht verurteilt die angeklagte Person zum Tode.“ Sofort gibt es einen Aufruhr. Einige Leute applaudieren, andere buhen, und ich sehe, wie eine Frau in Ohnmacht fällt. Schließlich gelingt es einem Beamten, die Ordnung im Gerichtssaal wiederherzustellen.
Der Gerichtsdiener heftet seinen trüben Blick auf mich und fragt: „Haben Sie noch etwas zu sagen?“ Ich antworte mit ja. Alle setzen sich wieder hin. Gleich darauf bitte ich um ein Glas Wasser, und nach kurzer Aufregung im Saal wird es mir gebracht. Ich nehme einen Schluck und nach einem lauten und langen Gurgeln sage ich: „Das war's!“ Jemand vom Gericht rügt mich barsch: „Wie, das war's?“ „Das war’s“, bestätige ich. Aber um ihn zufriedenzustellen, sage ich ihm noch, dass das Wasser hier sehr gut sei, viel besser, als ich erwartet hätte, und fahre mit zwei oder drei anderen Höflichkeiten dieser Art fort …
Der Gerichtsdiener beendet die Verlesung des Schriftstücks mit folgenden Worten: „…und demnach wird das Urteil noch heute vollstreckt, indem die angeklagte Person in der Wüste ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt wird. Vor allem ohne Wasser! Ich habe gesprochen!“ Ich entgegne mit kräftiger Stimme: „Was soll das heißen: Ich habe gesprochen?“ Der Gerichtsdiener bestätigt mit hochgezogenen Augenbrauen: „Was ich gesprochen habe, habe ich gesprochen.“
Bald darauf sitze ich in einem Fahrzeug mitten in der Wüste und werde von zwei Feuerwehrmännern eskortiert. Wir halten an und einer von ihnen sagt: „Raus!“ Also steige ich aus. Das Fahrzeug dreht um und fährt wieder zurück. Ich sehe, wie es immer kleiner wird und zwischen den Dünen verschwindet.
