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Die Jahrhundertspiele glaubt man zu kennen, aber es warten noch welche auf ihre Einwechslung. Kann man Fan des SC Freiburg sein und sich gleichzeitig immer noch über den VfB ärgern? Welches war das Schlüsselspiel bei der WM 2014? Warum genau schied Deutschland 2018 so früh aus? Spielt der aktuell beste Fußballer der Welt womöglich weder in Barcelona noch in Paris oder Turin? Und wie nah war Dänemark eigentlich einmal am WM-Titel?
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2020
Ulf Engel, geb. 1960 in Stuttgart, ist seit Jahrzehnten vom Fußball fasziniert. Er lebt und arbeitet in Heidelberg.
Die Jahrhundertspiele glaubt man zu kennen, aber es warten noch welche auf ihre Einwechslung. Kann man Fan des SC Freiburg sein und sich gleichzeitig immer noch über den VfB ärgern? Welches war das Schlüsselspiel bei der WM 2014? Warum genau schied Deutschland 2018 so früh aus? Spielt der aktuell beste Fußballer der Welt womöglich weder in Barcelona noch in Paris oder Turin? Und wie nah war Dänemark eigentlich einmal am WM-Titel?
Eine Reise um den Globus Fußball, „gegen die Laufrichtung“.
© 2020 Ulf Engel
Ulf Engel
Cover & Umschlaggestaltung: Liliana Rieß, Lorenz Milla
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-347-20712-7 (Paperback)
ISBN: 978-3-347-21604-4 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt
Eintrittskarte
Ausgekontert
Dabei
Dabei sein – 1972
Meine Kicks
Meine Fußballgeschichte
3:2 – Die Reservebank der Jahrhundertspiele
Ball gegen Besitz: Italien – Brasilien (1982)
Zeit gegen Raum: England – Kamerun (1990)
Magie gegen Mut: Brasilien – Dänemark (1998)
Intuition gegen Genie: Tschechische Republik – Niederlande (2004)
Als der Leitwolf die Künstler fraß, aber nicht den Libero: 1980/81
Wohl und Wehe
Das hässliche Entlein: Deutschland – Algerien 2014
Zsmnbrch
Alte Liebe: Geschichten vom VfB Stuttgart, ein Spiel gegen Offenbach und die schönste Zweitligasaison aller Zeiten
Gegen die Laufrichtung: Wie ich Fan des SC Freiburg wurde
Finals
Als ich einmal Bayern-Fan war
Verdient? München 1974
Das größte Spiel
Anfang
Ist das Sport oder kann das weg?
Quellen
A) Bücher
B) Zeitungen und Zeitschriften
Dank
Eintrittskarte
Ausgekontert
If Japan score here, Belgium are going home.
Die Uhr steht bei +3:29, 31 Sekunden vor dem Ende der Nachspielzeit von vier Minuten, als Heisuke Honda den Eckball von links hereinschlägt. Die Luft brennt in der Rostow Arena. Beim Spielstand von 2:2 scheint eine Verlängerung bevorzustehen, aber gerade in den letzten Minuten haben beide Mannschaften versucht, die Entscheidung vorher zu erzwingen.
Vielleicht liegt es am Spielverlauf: die Tore sind alle in der zweiten Halbzeit gefallen, Japan, der Außenseiter, führte zunächst mit 2:0, dann glich Belgien, das als einer der Favoriten für den WM-Sieg gehandelt wurde, aus. Spieler wie Zuschauer sind emotionalisiert. Gerade hat Belgien noch gedrückt, der japanische Torwart musste innerhalb weniger Sekunden zweimal spektakulär eingreifen. Dann haben die Japaner ihren Angriff, Courtois, der das belgische Tor hütet, verhindert mit Müh und Not ein Eigentor. Kurz darauf lenkt er einen von Honda geschossenen 40-Meter-Freistoß zur Ecke.
Und die fliegt jetzt herein. Japan ist im Aufwind, wie schon in der kurzen Phase, als sie mit zwei Toren vorne lagen. Ein Japaner steht bereit, eine eventuell kurz ausgeführte Ecke anzunehmen; in diesem Moment ist er arbeitslos, aber vier Spieler warten im Strafraum, ein weiterer direkt davor. Insgesamt sieben haben sie also noch einmal vorne. Sie hoffen nicht auf den Zufall, auf einen oder zwei, die irgendwie den Ball erwischen und vielleicht treffen. Sie stehen bereit für mehrere Luftduelle und mögliche zweite Bälle. Sie wollen es gewinnen, jetzt.
Treffen sie, fährt Belgien nach Hause, sagt der Kommentator.
+3:30. Courtois fängt den Ball und rollt ihn umgehend Kevin de Bruyne in den Lauf. Der Massensprint hat schon eingesetzt, aber als de Bruyne den Ball aufnimmt, sind immer noch sechs Japaner hinter ihm; nur vier, jenseits der Mittellinie faktisch nur noch drei japanische Feldspieler müssen sich der Überzahl von fünf heranstürmenden Belgiern erwehren.
Sie haben keine Chance. De Bruyne treibt den Ball im Höchsttempo durchs Mittelfeld und spielt Meunier in den Lauf; dessen Hereingabe lässt der eng bewachte Lukaku einfach durch. Hinter ihm ist Chadli hereingesprintet. Er war im selben Sekundenbruchteil aus dem eigenen Strafraum gestartet wie de Bruyne, hat über achtzig Meter hinter sich; kein Gegenspieler konnte ihn stellen.
+3:43. 3:2 für Belgien, nach einem Weltklasse-Konter.
So könnte man es erzählen. Ich habe jetzt die Bausteine benutzt, die von den Japanern handeln, die als eigentlich doch Unterlegene furchtlos noch in den letzten Sekunden dem Favoriten die Stirn boten, und von den Belgiern, die genau wussten, worauf sie warteten, und schon in dem Moment, als ihr Torwart den Ball herunter pflückte, ihr Ziel vor Augen hatten.
Aber das ist nicht zwingend. Man könnte den Japanern ebensogut bodenlosen Leichtsinn unterstellen und dass sie es einfach zu sehr auf die Spitze trieben, naiv waren, zu viel riskierten und dafür bestraft wurden (man wusste doch, dass die Belgier mit ihren Supersprintern kontern konnten). In dieser Version hätten die Belgier lediglich (zugegeben in ansehnlicher Manier) angebotene Räume genutzt; aber dass sie gegen eine von vornherein massiert stehende Deckung ihre Schwierigkeiten haben und keine Lösungen finden würden, hätte sich dann ja im Halbfinalspiel gegen Frankreich gezeigt. (Auch jenes Spiel kann man selbstverständlich völlig anders erzählen.)
Was spricht für die eingangs erzählte erste Version? Vor allem, dass sie mir besser gefällt als die andere. Vielleicht auch, dass sie das emotionale Auf und Ab, in das auch die Zuschauer involviert waren, eher abbildet als die nüchterne, leicht defizitorientierte Sichtweise.
Welche ist die „richtige“? Mir persönlich ist das egal, in diesem Fall. Nicht immer, und darum geht es. Um das Erzählen von Geschichten vom Fußball. In diesem Buch werden sich, neben kürzeren, viele ausführliche Schilderungen, Nacherzählungen von längst gespielten Spielen finden. Die Geschichte des Fußballs ist in großen Teilen eine perpetuierte Geschichte, in der man voneinander abschaut, kritiklos übernimmt oder etwas in Zusammenhänge einbettet, die man durch die Auswahl der Komponenten doch glatt willkürlich überhaupt erst kreiert. Manchmal liegen Fehldeutungen (und seien sie lediglich einem oberflächlichen Urteil nach Ergebnis geschuldet) geradezu ungeschützt offen. In der Mehrzahl der Fälle folgen die Skripte der Spiele eben nicht einer dramatischen Logik, oder besser: es gibt im Grunde kein Skript; generalisierende Deutungen im Nachhinein haben oft den Schwachpunkt, Details, die der Deutung widersprechen, zu übergehen. In England fällt bisweilen der Satz football is unscripted drama. Dem ließe sich hinzufügen, dass es natürlich auch Verläufe gibt, die einer gewissen Logik folgen, die man aber ignoriert, weil man einfach gerne eine andere Geschichte erzählen will als die, die sich ereignet hat.
Dort hake ich ein. Dazu muss ich in manches Detail gehen, analysieren, und so entstehen dann längere Geschichten und auch ganz neue. Die sich zum Teil erst beim Zuschauen und Schreiben verändern. So wollte ich gerne die tragische Geschichte des brasilianischen Scheiterns 1982 schildern – als ob es darüber nicht genug gäbe; allein das Spiel gegen Italien hat mich Jahre beschäftigt. Es war einer meiner Söhne, der nach 25 Minuten ausstieg und sagte, er wisse gar nicht, was ich wolle mit den tollen Brasilianern, die Italiener sind doch besser. Nun wusste er freilich nichts von dem Kontext, der dieses Spiel umgab; aber seine freche Unbefangenheit erlaubte es mir, noch einmal von vorne anzufangen, und auf einmal hatte ich einen Faden in der Hand (so glaube ich zumindest), der zu einer deutlich verständlicheren Geschichte führte. Und als um die Jahreswende 2014/15 viele Spiele der WM in Brasilien in voller Länge mit englischem Kommentar im Netz zu sehen waren, kniete ich mich vor allem in das Algerien-Spiel der Deutschen hinein und bemerkte verblüfft, wie sehr doch das Urteil an der Perspektive hängt. Auch hier las ich eine Geschichte heraus, die der, die ich zuerst geglaubt habe, widerspricht.
Manche der hier zu findenden Texte haben viele Jahre auf dem Buckel, ohne dass ich ernsthaft an ein Buch dachte. Es ist aber so, dass die lange Zeit dem behandelten Stoff eine Entwicklung erlaubt hat, und das ist ein Gedanke, der mir gefällt. Nur, dass man den Dingen nicht ewig beim Sich-Entwickeln zuschauen kann. Irgendwann muss der Ball ins Tor. Für mich heißt das, jetzt, im Sommer 2020 – schrieb ich schon im Juli; inzwischen ist es November geworden, die eben noch in prallem Gelb hereinleuchtenden Blätter sind abgefallen. Aber jetzt ist auch die Verlängerung vorbei.
Ich habe nur hobbymäßig gekickt. Und ich habe (schon früh mit Brille) gekuckt, das allerdings über 50 Jahre lang. Sehr viele Spiele sah ich vor Ort, im Stuttgarter Neckarstadion (das waren die meisten; in einem von ihnen schauten wir weit in die Zukunft, allerdings durch ein etwas milchiges Glas: Eckball Magath, Eigentor Hitzfeld - inwieweit das den weiteren Verlauf der beiden Biografien vorwegnahm, sei dem Leser überlassen), in Degerloch unterm Fernsehturm (das war der Platz, wo man noch „steil!“ hineinrief, und dann machten die das wirklich), auf Kreisligaplätzen in Stuttgart, Berlin, Heidelberg und Mannheim; Studentenkicks in Mainz; im Berliner wie im Münchener Olympiastadion sowie an der Dreisam in Freiburg; auf dem Betzenberg und in Sinsheim; auch WM-Spiele sah ich im Stadion. Und natürlich unzählige Spiele am Bildschirm; Puristen werden einwenden, das gelte nicht, denn natürlich hat man so gut wie nie den Blick aufs Ganze. Allerdings hat sich die Kameraführung bei Live-Übertragungen seit den Siebzigern doch fundamental verändert, man sieht überwiegend recht große Ausschnitte des Spielfelds, sodass man zumindest näherungsweise nachvollziehen kann, wie auf taktischer Ebene agiert wird.
Zu diesen Seh-Erfahrungen kommen meine Auseinandersetzungen mit einem bisweilen verblüffend runden Spielgerät. Zeit meines Lebens hat mich schiere Begeisterung an dieses Spiel gefesselt, im Wortsinn, konnte und kann ich doch selbst bei einem Grottenkick nicht wirklich wegschauen. Denn selbst der Grottenkick könnte jederzeit einen Jahrhundertmoment im Ärmel haben. Ibrahimovićs Fallrückzieher haut mich ebenso vom Hocker wie eine zwingende und bezwingend schöne Kombination, wie Maradonas berühmtestes Solo, wie eine spektakuläre Rettungstat, wie der sensationelle Sieg des Außenseiters, wie das sich immer wieder ereignende Zusammenwirken zweier Mannschaften, die gegeneinander spielen und doch miteinander ein großes Spiel schaffen und eine große Geschichte erzählen. Ja, das neigt auch zum Kitsch (oder, rundheraus, es ist oft genug welcher), und ich bin anfällig dafür, wovon ich noch ausführlich Zeugnis ablegen werde.
In der Zeit der Corona-Krise mag für manchen auf der Hand liegen, dass der Fußball, vor allem in seiner medial hochgejazzten Version, auch gerne dazu diene, von wichtigeren Dingen abzulenken – „Brot und Spiele“, „Opium fürs Volk“ sind die Schlagworte, die in diesem Zusammenhang oft zu hören sind. So sehr das auf gewisse Menschen und gewisse Zusammenhänge zutreffen mag, so sehr ist auch wahr, dass der Fußball, in den Worten von Klaus Theweleit, ein Realitätsmodell sein kann, und als ein solches hat er, in vielerlei Hinsicht, in diesem zu Ende gehenden Jahr 2020 funktioniert.
Wer den Profifußball der reinen Orientierung am großen Geld zeiht, greift doch zu kurz: Einige Wochen lang war die Bundesliga die einzige große Liga weltweit, in der wieder gespielt wurde. Davon ging etwas aus. Zunächst einmal ging es nie darum, den großen Vereinen oder gar den Superverdienern unter den Spielern ihre Pfründe zu sichern. Um den FC Bayern und den BVB musste man ebenso wenig Angst haben wie um Spieler, die schon so viel Geld verdient haben, dass sie zwei-, dreihundert Jahre gar nicht mehr arbeiten müssten. Sprechen wir aber von Vereinen wie dem FSV Mainz 05 oder dem SC Freiburg oder gar von einem Drittligisten wie dem 1. FC Kaiserslautern, dann ging und geht es dort gar nicht um das große Geld, sondern vor allem um das kleine, den Lebensunterhalt der Angestellten vom Platzwart bis zur Leiterin der Geschäftsstelle. Auch um den keinesfalls existenzabsichernden Acht- bis Zehnjahresverdienst eines Drittligafußballers. Vor einer Gesellschaft, die eine Krise zur Umerziehung nutzen wollte, für die Botschaft, dieses oder jenes habe man hoch oder im Gegenteil gar nicht zu schätzen, aber solch sozial relevante Zusammenhänge ignorierte, wäre mir bange.
Dies ist die Stelle für einen Exkurs, mitten hinein in die Frage, was es eigentlich heißt, in einem Boot zu sitzen, nicht zuletzt inmitten einer Krise, die das große Ganze in den Grundfesten erschüttert. Karl-Heinz Rummenigge hat sich dazu im November 2020 eindeutig geäußert: in einem Boot sitzen alle die, die er hineinlässt. Ein offen und hinter niemandes Rücken versandtes Positionspapier von vier Bundesligavereinen an die DFL, in dem es um die mögliche zukünftige Verteilung von Fernsehgeldern ging, bezeichnete er als „hingeworfenen Fehdehandschuh“ und lud die Vertreter dieser Vereine nicht zu einem Treffen der Profiklubs ein (auch einige Zweitligaklubs wurden ausgeschlossen). Dass Rummenigge, unbestritten einer der besten Stürmer aller Zeiten, als Funktionär mehr und mehr in eine Parallelwelt abdriftet, konnte man schon sehen und hören, als er sich mit seinem Eingangsstatement bei der verunglückten Pressekonferenz vom Oktober 2018 – Artikel 1 des Grundgesetzes zitierend – an den Rand des Lächerlichen begab. (Ein anderer plumpste später über diesen Rand.)
Rummenigge, der an Geheimgesprächen über die Schaffung einer europäischen Superliga beteiligt war, bezeichnet einen offen vorgebrachten Denkanstoß als „Fehdehandschuh“; das ist das eine und kommentiert sich von selbst. Das andere ist die Behauptung, mit einer gleichmäßigeren Verteilung der Fernsehgelder würden die Vereine bestraft, die jahrelang gut gewirtschaftet hätten. Ursprünglich sagte das, bereits im Frühjahr, Hans-Joachim Watzke; jetzt sprang ausgerechnet Mönchengladbachs Max Eberl Rummenigge bei. Es ist aber einfach glatt gelogen. Denn dass überhaupt Fernsehgelder fließen, verdankt sich der Tatsache, dass es ein vermarktbares Produkt gibt: einen Wettbewerb. Dieses Produkt würde gar nicht existieren, gäbe es keine relevante Anzahl von Vereinen, die sich an diesem Wettbewerb beteiligen. Dieser Wettbewerb ist das Boot, in dem alle sitzen. Alle. Wenn Rummenigge entscheiden will, wer dazugehört, soll er bitte das kicker-Sonderheft nehmen und seine eigene Tabelle stecken.
Örtlich sind die Vereine durchaus verschiedenen Bedingungen unterworfen, die ihr Wirtschaften bestimmen. Fredi Bobic hat die Frankfurter Eintracht in den letzten Jahren zu einem wesentlichen Anteil mit der Leihe und Ausleihe von Spielern über die Runden gebracht; für die feste Verpflichtung von hochkarätigen Spielern waren die Spielräume nicht da, auch, weil die Berater die Flexibilität, die sich aus einer Leihe ergibt, schätzen. Das Kapital des FSV Mainz 05 setzt sich im Prinzip aus dem Marktwert der Spieler zusammen. Wird nicht gespielt, gibt es irgendwann keinen Marktwert mehr: ein zweiter Lockdown würde die Mainzer wohl direkt in die Regionalliga befördern.
Derlei Dinge unterliegen nicht der freien Entscheidung der jeweiligen Verantwortungsträger. Die Spielräume sind auch Folge eines Rankings, das sich über die Jahrzehnte, in denen der Wettbewerb „Bundesliga“ nun schon läuft, herausgebildet hat. Ja, sie sind auch die Folge sportlicher Resultate. Die Bayern, der BVB, auch Leverkusen und Leipzig operieren unter komfortableren Bedingungen als andere. Ein Fünfjahresvertrag bei den Bayern ist attraktiv, den bekommt man unterschrieben.
Aber dieses Ranking ist ja nicht entstanden, weil die Bayern seit Jahrzehnten gegen sich selbst spielen. Nein, sie mussten sich das in Spielen gegen richtige, real existierende andere Mannschaften erarbeiten, unter ihnen Borussia Neunkirchen (die ihnen einst in einer Aufstiegsrunde das Nachsehen gaben), Rot-Weiß Oberhausen, Eintracht Braunschweig, Kickers Offenbach, Blau-Weiß 90, den 1. FC Saarbrücken, Lautern und die Stuttgarter Kickers. Irgendwann in den Siebzigern sagte Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker, „ein Spiel gegen den VfL Bochum bringt uns nix. Wir brauchen die Europaliga.“ Das bald folgende Auswärtsspiel in Bochum war eines von der Sorte, wo sich der gegnerische Trainer die Motivationsrede sparen konnte: Bochum gewann glatt mit 3:0.
Will sagen: „euer“ Geld, liebe Bayern, liebe Dortmunder und wer auch immer noch meint, er dürfte nicht „bestraft“ werden, „euer“ Geld habt ihr eben nicht im luftleeren Raum erwirtschaftet, sondern innerhalb eines Gewebes, an dem andere mitgeknüpft haben. Wenn man die Äußerungen von Rummenigge, Watzke und Eberl ins Extreme verlängerte, käme eine Sechser- oder Achterliga heraus, mit den Bayern, dem BVB, Leverkusen, RB Leipzig, Wolfsburg und Gladbach, dazu gnadenhalber Hertha (wegen Hauptstadt und so) und Hoffenheim (damit die BVB-Fans, des Revierderbys verlustig, sich weiter abreagieren können). Ich verrate hiermit etwas, was bestimmt niemand vermutet hätte: Diese Mini-Liga würde keinen jucken. Dafür gäb’s kein großes Geld mehr. Um die Kirsche auf die eben servierte Torte zu setzen, Rummenigges Äußerung ist vor dem dargelegten Hintergrund nicht nur halt-, sondern bodenlos. Solidarität ist hier nicht das Verteilen von Almosen; wer die abstürzen lässt, die kleiner wirtschaften und einen Lockdown nicht aus eigener Kraft wegstecken, stürzt mit ab.
Der Re-Start im Frühjahr musste sein. Ich gebe zu, dass ich skeptisch war; ich konnte aber bald nicht umhin zuzugestehen, dass dieses kontrollierte Experiment seine Berechtigung hatte. Dazu kommt, dass der Fußball (wie jeder öffentlichkeitswirksam betriebene Sport) entgegen den vermeintlich hehren Statuten der großen Verbände hoch politisch ist, nicht weniger jedenfalls als beispielsweise American Football und die eindeutigen Statements der Mitwirkenden in der NFL zur Gewalt gegen Farbige, und auch um keinen Deut weniger als die Verbände selbst, die unter Berufung auf ihre vermeintliche politische Neutralität bei der Vergabe von Austragungsrechten blind und damit, mit Blick auf die Konsequenzen, erst recht politisch agieren. Und so waren 22 Spieler, die zu Beginn um den Mittelkreis herum für eine Minute die Knie beugten, schon eine beeindruckende Botschaft, die in die Welt hinausging. Im Schlusskapitel komme ich darauf zurück.
Der Fußball hat also in kleinem Rahmen modellhaft gezeigt, wie man der Pandemie ohne kompletten Lockdown begegnen könnte, unter streng zu handhabenden Bedingungen. Nicht alles ist in diesem Zusammenhang geglückt, man hat irgendwann die Grenzen verschoben und so die Idee untergraben. Nationale Ligen sind am ehesten ein geeignetes Experimentierfeld; um den Globus jettende Nationalmannschaften sind es nicht. Internationale Spiele sind derzeit nicht zu rechtfertigen; jetzt, im Spätherbst 2020, haben wir eine neue Situation, die offensichtlich nicht mehr beherrschbar ist. Die Frage, ob man sogar die Ligen schließt, stellt sich von Neuem.
Da man dem Fußball dieses Experiment zugebilligt hat, hätte man es erst recht der Kultur zugestehen müssen. Dort geht es nämlich erst recht um Existenzen, und nicht nur das; es geht auch um das, was die Kulturschaffenden produzieren und in Wirklichkeit ebenso zu unseren Grundnahrungsmitteln zählt wie das, was wir im systemrelevanten Supermarkt kaufen können. Die Bundesregierung ist in dieser Thematik spät erwacht; noch später dran waren Landesregierungen wie zum Beispiel die von Nordrhein-Westfalen, die es bis zum heutigen Tag (Ende Oktober 2020) nicht vermochte, das vom Bund zugewiesene Geld bestimmungsgemäß an die Künstler weiterzugeben.
Hans-Joachim Watzke hat das Hygienekonzept der DFL gelobt und auch die Disziplin der wenigen Zuschauer, die einige Zeit zu den Spielen zugelassen waren. Er mag da recht haben; aber die Hygienekonzepte der Kulturstätten waren ja ebenfalls vorhanden, und dass die Besucher von Konzert- und Theaterveranstaltungen nicht über weniger Disziplin verfügen als Fußballfans, hätte man zumindest in Erwägung ziehen dürfen. So bleibt ein schaler Geschmack zurück: einerseits hat der Fußball eine gewisse Bewährungsprobe bestanden; andererseits hat die offensichtliche und unfaire Bevorzugung eines Bereichs, der ja zunächst einmal Geld produziert und nicht auf Subventionen angewiesen ist, seinem gesellschaftlichen Ansehen geschadet.
Natürlich ist auch das meine persönliche Meinung – meine Geschichte. Geschichten können etwas darüber erhellen, wovon sie zu erzählen vorgeben; aber sie verraten bekanntermaßen am meisten über den, der sie erzählt. Na gut: Die Geschichten dieses Buches sind das Produkt von Teilen, die ich selbst zusammengefügt habe. Reine Willkür, subjektiv, unzuverlässig. Einige gängige Betrachtungsweisen, die den Fußball sowohl in Deutschland als auch international betreffen, fordere ich hiermit heraus, doch am Ende geht es um den Spaß und die Freude, die das Angreifen macht, und zugegeben: Hinten, vorm eigenen Tor, da habe ich Räume frei gelassen. Meine Defensive steht nicht, die treiben sich alle im gegnerischen Sechzehner herum. Schon möglich, dass ich mir, wie die Japaner im Achtelfinale der WM 2018, einen Konter einfange. Welche Geschichte ich erzähle, ist ja auch eine Entscheidung. Meine Entscheidung. Fast wie im richtigen Leben.
Dabei
Dabei sein – 1972
Es ist ganz still. Das Stadion ist ausverkauft: 80.000 sind da. Die meiste Zeit haben sie für eine Geräuschkulisse gesorgt, wie ich sie später nie mehr erleben würde: an- und abschwellender Applaus; oft ein Raunen zuvor; momenteweise kurze Explosionen von Erstaunen, Bedauern und Jubel. Kein Geschrei, kein rhythmisches Klatschen, das später solche Ereignisse prägen sollte. Länger laut wird es nur bei den Laufwettbewerben: Anfeuerung für die Athleten.
Der Stadionsprecher hat vor einigen Augenblicken um Ruhe gebeten. Janis Lusis, vier Jahre zuvor Olympiasieger, konzentriert sich auf seinen letzten Wurf. Es ist seine besondere Stärke, im letzten Versuch noch einmal nachzusetzen. In Mexiko holte er, am Ende eines hochdramatischen Finals, das zwischenzeitlich zwei weitere Athleten im Wechsel vorne sah, mit dem sechsten Versuch die Goldmedaille. Auch in anderen Wettbewerben hat er auf diese Weise gewonnen.
Es könnte heute wieder passieren. Klaus Wolfermann hat ihm im fünften Durchgang mit dem ersten Wurf des Wettbewerbs, der über die neunzig Meter hinausging, die Führung abgenommen. Lusis wird den vorletzten oder vielleicht auch den letzten Wurf liefern, je nachdem, ob er noch einmal in Führung geht, oder ob ihm das nicht gelingt – im letzteren Falle wird Wolfermann wohl nicht mehr werfen.
Stille, als Lusis anläuft und wirft. In dem Moment, als der Speer seine Hand verlässt, setzt das Raunen ein. Man sieht sofort: es ist ein guter Wurf, der Speer ist sehr lange unterwegs und bleibt knapp hinter der 90-Meter-Markierung im Rasen stecken – fürs Auge des Zuschauers ist nicht zu erkennen, ob Lusis mit Wolfermann gleichgezogen oder ihn gar überboten hat. Aus dem Raunen wird donnernder Applaus. Für eine gefühlte Ewigkeit herrscht vibrierende Unruhe, dann erscheint Lusis‘ Weite auf dem Monitor, der auf dem Rasen steht. Der Monitor zeigt das Ergebnis auf beiden Seiten, aber eben nur auf zwei; dafür dreht er sich. So setzt der befreite Jubel der meisten, die Wolfermann die Daumen gedrückt haben, nicht gleichzeitig ein, wird dafür umso eindrücklicher.
Wolfermann ist Olympiasieger, denn Lusis ist zwei Zentimeter hinter ihm geblieben. Überraschenderweise wirft der Deutsche noch einmal, jedoch mit unbedeutendem Ergebnis. Zuvor hat es fast den Anschein, als würde er sich bei seinem Konkurrenten entschuldigen.
Binnen einer Stunde wird der deutsche Leichtathletikverband mit Hildegard Falcks Sieg über 800 Meter die zweite Goldmedaille des Tages feiern, und als der Geher Bernd Kannenberg durchs Marathontor zur Stadionrunde einläuft, kommt die dritte dazu. Es ist ein Tag der deutschen Leichtathletik, wie er nie mehr wiederkommt.
Ich hätte das alles gerne im Stadion erlebt. Habe ich aber nicht. Mein Vater und mein Onkel hatten sich für den Versuch entschieden, an Tageskarten zu kommen. Mich nahmen sie mit. Wir waren im Olympiapark, schließlich höchstens fünfzehn Meter von den abgesperrten Durchgängen entfernt. Man sah das Zeltdach des Stadions, fast von oben, denn das Stadion selbst befand sich in einem leicht abgesenkten Bereich hinter dem Hügel, auf dem wir uns gerade bewegten. Zu sehen war außer dem Dach nichts. Die Atmosphäre übertrug sich durch das, was man hörte. Und das allein wirkte gewaltig.
Wir waren nicht alleine. Dutzende – Hunderte? – andere hatten die gleiche Idee gehabt wie wir. In all dem Gewühle sah man einzelne Gestalten, die mit Tickets wedelten und mit möglichen Käufern verhandelten. Geldscheine wurden gegen Tickets getauscht. Wir zogen letztendlich unverrichteter Dinge wieder ab. Wir hätten Karten bekommen können: drei für zusammen 150 D-Mark. Weder für meinen Onkel, der als Orchestermusiker sein Geld verdiente, noch für meinen Vater war das machbar.
So erlebten wir das eingangs Beschriebene nicht im Stadion, sondern vor dem Fernseher. Aus der offenen Bühne wird plötzlich ein Guckkasten. Und trotzdem schlug uns, dann insgesamt zu siebt, die letzte Phase des Speewurfwettkampfs völlig in ihren Bann. „Man hört gar nix“, sagte meine Tante, als Lusis zum Anlauf schritt.
Wir hatten zuvor die Ferien auf Baltrum verbracht. Ich las dort Ferien auf Saltkrokan, am Ende etwas abgesetzt von den anderen. Die späte und plötzliche Wendung zum Guten, nachdem alles verloren scheint, packte und bewegte mich. Vielleicht liegt dort der Kern meiner Neigung zu Geschichten verborgen, die durch derartige möglichst späte Wendungen geprägt sind, vielleicht eine Erklärung für dieses Buch.
Unmittelbar hatte ich aus dem Sommerurlaub noch etwas anderes mitgenommen. Der Amerikaner Bobby Fischer hatte dem sowjetischen Titelverteidiger Boris Spasski die Schachweltmeisterschaft entrissen, mitten im Kalten Krieg ein Medienereignis, weil der Titel seit 1948 fest in sowjetischer Hand gewesen war. Die Regeln des Spiels kannte ich schon, seit ich etwa acht war; nun, auf Baltrum, tigerten mein Vater und ich fast täglich zu einem kleinen Laden, der einige Tageszeitungen anbot, wobei man nehmen musste, was man bekam: nicht nur einmal blieb nur die BILD übrig. Mit etwas Glück fanden wir die Notation der aktuell gespielten Partie schon abgedruckt. In der Ferienwohnung spielten wir sie nach und verwendeten dabei ein Spiel, das mein Vater noch aus seiner Jugend, den Vierzigerjahren, besaß. Die Spielsteine waren nicht etwa rund, sondern quasi zweidimensional, schmal und mit einer Vorder- und einer gleich aussehenden Rückseite, dabei grob geschnitzt. Das Brett bestand aus zwei Teilen, die, ineinandergelegt und mit einer hölzernen Schraube verschlossen, den Kasten bildeten.
Nach zehn Partien hatte Fischer drei Punkte Vorsprung und schien seinen Kontrahenten in Grund und Boden zu spielen. Dann kam die elfte Partie, in der Fischer sich mit seiner Dame auf Spasskis Seite des Bretts verrannte und am Ende überhaupt keine Steine des Gegners mehr schlug, sondern irgendwelche sinnlos aussehenden Züge machte. Spasski hatte einen Punkt aufgeholt. Von der Partie träumte ich noch lange Zeit; das Schicksal der schwarzen Dame, die alleine im feindlichen Gestrüpp gejagt wurde und verloren ging, übte eine eigenartige, fast morbide Faszination auf mich aus. Ähnlich erging es mir mit der dreizehnten Partie, der längsten des Matches. Spasski drückte Fischers Spiel zusammen und schien das Brett zu beherrschen; schließlich eroberte er sogar einen Läufer, für den er aber einige Bauern geben musste. In der dramatischen Endphase konnte er die gegnerische Bauernlawine nicht mehr aufhalten. Statt um einen weiteren Punkt zu verkürzen, lag er nun wieder drei zurück; das war praktisch die Entscheidung im Wettkampf. Es waren eindrückliche Bilder, die in den Konstellationen auf dem Brett aufschienen; Fischers viele Bauern auf der einen Seite und Spasskis einzelner, von einer Mehrfigur unterstützt, auf der anderen. Sie fesseln mich noch heute, auch an das Spiel, das ich bisweilen noch selbst im Wettkampf betreibe.
Nun waren wir also seit zwei Tagen während der Zeit der Olympischen Spiele in München zu Besuch. Wir fuhren viel mit der U-Bahn, deren wichtigste Strecken rechtzeitig zum Beginn des Großereignisses fertig geworden waren. Einiges erinnerte mich an Stuttgart, vor allem frisch aufgerissene U-Bahn-Schächte, wobei München nicht nur in dieser Hinsicht einen Vorsprung hatte. Schräge Typen wie den Hippie, der eine sich als waschechter Ozelot entpuppende Katze an der Leine mit sich führte, bekam man in den öffentlichen Verkehrsmitteln Stuttgarts eher nicht zu sehen. Ober- und unterhalb der Erde war zu spüren, wie die Stadt pulsierte und die Spiele mit der Heiterkeit und schieren Freude des Gastgebers umrahmte: das ist der Eindruck, den ich damals unmittelbar aufnahm, ich würde auch im Rückblick noch sagen, dass diese positiven Vibrationen tatsächlich vorhanden und nicht herbeigeredet waren. Bekanntlich setzte der terroristische Anschlag auf die israelische Mannschaft am Morgen des 5. September dem ein Ende, auch wenn die Spiele fortgesetzt wurden.
Jener Sonntag im September 1972 ist mir dennoch im Gedächtnis geblieben. Es kam vieles zusammen: die Stadt und ihre Atmosphäre, das Zeltdach und die Geräusche dahinter, und nicht zuletzt eine Ahnung davon, was großer Sport sein kann. Die noch Jahrzehnte später von Beteiligten gepriesene Fairness des Publikums, beispielhaft verdichtet in der Stille, die dem Konkurrenten des Lokalmatadors gewährt wurde, sprang auch am Bildschirm über. Ich war tief beeindruckt.
Bei den meisten der Sportereignisse, die ich in einem Stadion, auf einem Sportplatz oder auch im Fernsehen und am Radio erlebt habe, gab es etwas, das nicht zwingend unmittelbar mit dem rein Sportlichen selbst zu tun hatte und doch jenes Ereignis überhaupt zu etwas Erzählenswertem machte. Es hing fast immer mit einer Wechselwirkung zwischen den Zuschauern und den Sportlern zusammen, mit einer Verbindung, die beide Seiten dorthin brachte, wohin sie ohne einander nicht gekommen wären. Und oft genug sah man die Athleten dann fassungslos und demütig, wie zum Beispiel Steffi Graf, die sich nach ihrem ersten Sieg in Paris erst einmal in ihr Handtuch vergrub, um sich anschließend in ihrer kurzen Dankesrede bei Martina Navratilova für ihren Sieg zu entschuldigen, ratlos gar und verlegen wie Wolfermann, oft überhaupt nicht strahlend triumphierend. Auch Jimmy Connors, gewiss nicht bekannt für durchgehend einwandfreies Benehmen während seiner Auftritte, wartete in Wimbledon auf Mikael Pernfors, den er, mit 1:6, 1:6, 1:4 nahezu aussichtslos zurückliegend, noch bezwungen hatte. Er wollte sich mit ihm gemeinsam von den Royals verabschieden – die Etikette hätte das nicht verlangt. Aber der stürmische Beifall des Publikums galt beiden Spielern, auch dieser Kampf war in seiner dramatischen Entwicklung ein Werk aller Anwesenden. Connors zeigte sich dessen bewusst und zollte dem Co-Autor seinen Respekt.
Ein Highlight der letzten Jahre war die Kür von Aljona Savchenko und Bruno Massot im Paarlauf von PyengChang 2018. Bruno hatte im Kurzprogramm gepatzt, und das Paar lag vor der Kür auf dem vierten Platz, mit einer gewissen Chance auf Bronze, doch weit entfernt vom Anspruch, um Gold mitzulaufen. Was die beiden dann zeigten, war und ist für mich eine der größtmöglichen menschlichen Annäherungen an so etwas wie künstlerische Vollkommenheit – was mehr, weit mehr umfasst als schiere Perfektion im Sinne von Fehlerlosigkeit. Das Publikum spürte früh, auf welchem Weg die beiden waren, und trug sie mit zur Goldmedaille, die es dann hauchdünn doch noch wurde.
Ein auf die Bedeutung des Ereignisses eingestimmtes Publikum kann der Entstehung großer Geschichten einen guten Dienst erweisen. Annäherungen an künstlerische Vollkommenheit (wie beim Eiskunstlauf) oder auch nur technische Perfektion (wie beim Speerwurf) mag es im Fußball in einigen Augenblicken geben; über ein ganzes Spiel ist es unmöglich, weil man ja gegen- und nicht miteinander spielt. Aus nahezu allen Spielen bleiben auch Szenen in Erinnerung, die individuelle oder auch kollektive Fehlbarkeit zeigen, Schwäche und regelrechtes Versagen.
Umso höher einzuschätzen sind die großen Spiele, die um die vielen Fehler herum und trotz des Widerstandes der jeweils gegnerischen Mannschaft entstehen: auch weil sie von einer Einstellung zeugen, von einem Spirit, dessen Wesen es ist, Fehler zu riskieren, hinzunehmen, wegzustecken. Es von neuem zu versuchen und über all das hinaus, entweder aus dem Nichts oder als Frucht einer kontinuierlichen Steigerung, den magischen Moment zu erschaffen, der ein Spiel in eine Geschichte einbettet oder auch schlicht eine Geschichte vollendet. Und das, daran halte ich fest, ist auf die Dauer ohne Zuschauer undenkbar. Um nicht missverstanden zu werden: selbstverständlich waren und sind die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 in den Stadien und deren Umfeld richtig und notwendig, notfalls auch anzupassen. Auf lange Sicht aber gilt: Die Stille eines anwesenden Publikums kann große Kraft ausstrahlen; ein leeres Stadion ist einfach nur leer.
Meine Kicks
Klar, wir kickten alle auf Bolzplätzen im Umfeld unserer Wohnungen; meine allerersten Fußballspiele bestritt ich zwischen zwei Garagenreihen in der Herschelstraße im Stuttgarter Dürrlewang. Wir kuckten uns willkürlich zwei Garagentore aus, die sich mehr oder weniger gegenüberstanden, vielleicht 25 Meter zwischen ihnen, und dann bolzten wir - anders kann man das, was wir da taten, kaum nennen, abgesehen von den Kunststücken, die ein wirklich begabter Dribbler zelebrierte. Er spielte in der E-Jugend des TSV Rohr, konnte wirklich was mit dem Ball anfangen, und wenn er ihn mal hatte, gab er ihn nicht mehr her, bis er aufs Tor geschossen hatte und meistens auch hinein.
Da schoss ich auch mein erstes Tor. In Gummistiefeln, die interessanterweise die meisten von uns zum Kicken trugen, ich nehme an, weil das das einzige Schuhwerk war, das die Eltern dafür zuließen. Straßenschuhe waren dafür zu wertvoll, desgleichen auch das eine Paar Turnschuhe, das doch fast alle von uns hatten, das aber ausdrücklich nur in der Turnhalle im Sportunterricht angezogen werden durfte. Das Wort „Kickstiefel“ lässt daher auch heute noch als Allererstes ein paar roter oder gelber Gummistiefel vor meinem inneren Auge erscheinen.
Das Tor war ein Zufallsprodukt, ein Schlenzer aus einem Gerangel um eine bunte Plastikpille, die vielleicht einmal in irgendeinem Strandbad an der Nordsee gekauft worden war. Daraus wurde eine Bogenlampe, für die der Sechsjährige, der das gegnerische Garagentor hütete, schlicht zu klein war.
Es war der „Anschlusstreffer“ zum 1:11; der Dribbler spielte in der gegnerischen Mannschaft. Ich war wie von Sinnen – ohne „wie“, wenn ich es recht bedenke –, rannte minutenlang nur hin und her und rief immer wieder „elf zu eins nur noch“. Als die Rauschwirkung abebbte, stand es 17 oder 18 zu 2.
Das war etwa 1969. 1970 versuchten wir, einen Schritt weiter zu gehen, indem wir die auch heute noch freiliegende Wiese im rückwärtigen Bereich der ungeraden Hausnummern als möglichen Fußballrasen ausmachten – zumindest nach der städtischen Mähaktion im Frühjahr ging das einige Wochen lang recht gut. Tore versuchten wir mit Holzstecken zu bauen, wobei es natürlich nie gelang, einen verlässlichen Querbalken zu montieren. Das behinderte den Spielbetrieb nicht ernsthaft, und wir befanden uns sogar im Vorstadium einer Vereinsgründung – „SV Dürrlewang“ wollten wir heißen, mit den Farben schwarze Hosen, weißes Oberteil, rein zufällig an die Nationalmannschaft angelehnt. Das weiße Oberteil war freilich nichts weiter als ein ärmelloses Feinrippunterhemd; so etwas wie ein Fanartikelmarketing existierte damals nicht. (Noch in den späten 70ern waren es die Omas oder die Schwestern, die uns die rot-weißen Mützen für den Besuch des Neckarstadions häkelten.)
1970 zog meine Familie aus dem Dürrlewang weg ins Österfeld. Auf der dortigen Grundschule verbrachte ich ein Jahr; unser Klassenlehrer, der zugleich Sportlehrer der Jungs war, ließ uns stets unter dem Kommando „Links – zwo – drei – vier“ zwei Runden über die Ecken der Turnhalle drehen. Anschließend wurde ein bisschen geturnt und die letzten 20 Minuten fast immer Korbball gespielt. Fußball kam nicht vor. Da im Neubaugebiet noch viele der freien Flächen nicht nutzbar waren (bevor etwa 1972 ein echter Bolzplatz mit Wäschestangentoren und Fanggittern eingerichtet wurde), wichen wir tatsächlich auf die Straßen aus, meist die Othellostraße. Das dürfte kaum mehr etwas mit der einstigen Romantik des Straßenfußballs gemein gehabt haben; allzu oft hatten wir nur drei oder vier Minuten, bevor wir dem nächsten Auto Platz machen mussten. Einmal stellte ich mich, im Schlepptau eines Freundes aus dem Dürrlewang, beim TSV Rohr vor (zu den eigentlich näher gelegenen Vereinen SV Vaihingen oder Georgii Allianz traute ich mich nicht, da spielten einige aus meiner neuen Umgebung, denen ich mich nicht gewachsen fühlte). Der Übungsleiter meinte anschließend, für die Dritte der D-Jugend könnte es reichen. Mein nonverbaler Eingangskanal war verstopft; auf dem Heimweg sagte mein Freund dann leise und vorsichtig, weißt du, wir haben eigentlich keine Dritte. Dennoch versuchte ich im neuen Umfeld eine Zeit lang zu streuen, ich spielte jetzt auch im Verein; selbstverständlich klappte dieses Kartenhaus bald zusammen.
Nach Eröffnung des erwähnten Bolzplatzes im Österfeld und dem Beginn meiner Gymnasialzeit in der Stuttgarter Innenstadt entwickelte ich in fußballerischer Hinsicht zwei Existenzen. Auf dem Bolzplatz war ich meist das, was man heute den klassischen Loser nennt; mein Versuch der Hochstapelei wirkte sich noch lange aus, „constant karma“ könnte man es wohl nennen. Ich wurde meist als Letzter gewählt, zumindest solange nicht noch deutlich jüngere und kleinere Mitspieler zur Wahl standen. Am besten war es, wenn wir mit ungerader Zahl spielten, dann kam ich zu denen, die einer mehr waren, und niemand beschwerte sich.
Auf dem Karlsgymnasium unten im Talkessel lief es anders. Zwar war ich nicht der beste Kicker in meiner Klasse – unerreicht blieb über die ganzen Jahre Uli, der überhaupt unser bester Sportler war und von dem in späteren Jahren einige sagten, wenn er gewollt hätte, hätte er auch Fußballprofi werden können. Er war in fußballerischer Hinsicht komplett, schlug Pässe aus dem Fußgelenk, war nicht auszuspielen, umspielte aber bei Bedarf alle anderen mit der größten Leichtigkeit, konnte Kopfball, war technisch überhaupt überragend und ging sogar ins Tor, wenn es sein musste. Das einzige, was ich nie von ihm gesehen habe, war ein Fallrückzieher; dafür praktizierte er beidfüßig den Scherenschlag – den konnte sonst keiner. Er wurde schließlich Gymnasiallehrer für Deutsch und Sport; als er, schon im zarten Alter von fast 50, beim Kick mit Schülern einen Elfmeter an den Pfosten setzte, unterstellten die Schüler, das müsse er mit Absicht gemacht haben. Aber auch andere waren am Ball klar vor mir, zudem war ich nie der Schnellste.
Aber wir hatten ein tägliches Techniktraining, dessen Wirkung sogar ich mich nicht entziehen konnte. Das „KG“, wie jeder es nannte, verfügte über einen Schulhof, der zum größten Teil aus einem mit Linien abgegrenzten Hartplatz bestand, theoretisch ein Handballfeld mit Siebenmeterkreis und den entsprechenden Toren. Auf der schulhausentfernten Seite war noch mehr Platz und außerdem die Weitsprunggrube.
Auf diesem Schulhof wurde in jeder Pause unablässig gekickt, mit bis zu etwa 12 Mannschaften gleichzeitig, immer nur auf ein Tor – glücklich, wer eins der Handballtore erwischt hatte, aber ansonsten legte man halt irgendwo zwei Jacken hin, die die Pfosten markierten.
Das erwähnte Techniktraining war deswegen speziell, weil das Kicken mit großen Bällen in den Pausen verboten war – aber in jeder Klasse waren schätzungsweise fünf bis zehn gebrauchte Tennisbälle vorhanden. Das reguläre Spielgerät war, zumindest in den Pausen, ein Tennisball. Und damit lernte man im Spiel entweder klarzukommen, oder man bekam einfach keinen Ball. Man sah ihn nicht einmal.
Anfang, Mitte der 70er war es besonders schick, den Ball mit dem Außenrist spielen zu können. Beckenbauer, schon damals „Kaiser“, regierte auch die Schulhöfe. Überhaupt galten uns einfache Pässe ohne Effet als primitiv; und Außenrist war besser, weil schwieriger zu praktizieren als Innenrist. Und siehe da, Außenrist konnte ich, sogar ziemlich gut; da ich außerdem gerade den Tennisball gut aus dem Stand lupfen konnte, hatte ich plötzlich den Ruf eines „Technikers“.
1971-1980, das war auch die Zeit der Klassenkicks am KG. Unser erster fand im Sommer 1972 allerdings oben in Degerloch statt, irgendwo dort, wo auch die Stuttgarter Kickers spielten, wir, die 5c, gegen die 5b. Einer von uns hatte den Platz organisiert, weil er in der Gegend wohnte, einen echten Rasenplatz mit echten Toren (es waren noch die „alter“ Machart, eckige Pfosten aus Holz; Netze waren natürlich keine da) und mit echten Markierungen (die schon reichlich blass waren); sogar ein Schiedsrichter war dabei, ein älterer Schüler, so in etwa aus der Neunten.
Wir wollten „richtig“ spielen, elf gegen elf (jede Klasse bot etwa 15 oder 16 Jungs auf), zwei Mal 45 Minuten; nur Abseits, das beschlossen wir sein zu lassen.
Es verlief so dramatisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Uli dribbelte sich unablässig durch die Gegenspieler, spielte ab oder schoss selbst; wir hatten die sprichwörtlichen Chancen für drei Spiele, aber keiner brachte den Ball über die Linie. In der Halbzeitpause Tränen, weil einer mit seiner vorab besprochenen Auswechslung nicht mehr einverstanden war. Etwa 10 Minuten vor Schluss gingen nach einem unübersichtlichen Getümmel in unserem Fünfmeterraum plötzlich die anderen in Führung. Die Zeit verrann, und einige, auch ich, waren schon am Heulen. Dann setzte Uli noch einmal zu einem Solo an, traf mit seinem Schuss die Querlatte, ein anderer stand bereit und schoss den Ball tatsächlich ins Tor. Es war verrückt, wir sprangen meterhoch und schrien uns die Seele aus dem Leib.
Verlängerung. Ja, wirklich. An einem heißen Sommertag im Juli 1972 waren uns 10-, 11-Jährigen 90 Minuten nicht genug. Kein Unentschieden, bitte, nach all dem Aufwand musste es einen Sieger geben.
Wieder ein Solo, noch ein Schuss, und diesmal ging er rein, 2:1 für uns. Kurz darauf kam meine Chance, aufs Spiel Einfluss zu nehmen. Bis dahin war ich kaum am Ball gewesen. Jetzt versuchte ich im eigenen Strafraum, einen hoch hereinfliegenden Ball zu klären. Ich traf aber nicht richtig, der Ball kam zu einem Gegenspieler, 2:2.
Ende. Schluss? Nein – Elfmeterschießen. Die anderen versiebten gleich den ersten, dann hätte ich uns in Führung bringen können. Aber ich schoss den Torwart an. Letztlich trafen wir nur ein-, die anderen dreimal. Wir hatten verloren.
Die allermeisten Klassenkicks in den folgenden Jahren fanden aber am KG im Schulhof statt. Der erste nur wenige Wochen nach Wiederbeginn des Schuljahres, natürlich, da in einem offiziell angemeldeten Spiel, mit einem regulären Fußball. Jetzt als 6c spielten wir gegen die neue 5c, ich denke mit sieben gegen sieben; die Handballtore waren aus einem unerfindlichen Grund flachgelegt, sodass sie effektiv vielleicht 80 oder 90 Zentimeter hoch waren. Unterlegen waren uns die Jüngeren keinesfalls; sie hatten schon richtig gute Leute. Aber an diesem Tag hatte ich mal Glück und schoss unsere beiden Tore zum knappen Sieg.
Ich wurde im Lauf der Jahre besser, war jedoch meistens genau der erste, der nicht in der Startformation spielte. Es reichte immer gerade nicht, und das in Tateinheit mit dem Faktum, dass wir, je älter wir wurden, mit umso weniger Feldspielern spielten, in den obersten Jahrgängen nur noch mit vier. Die Aufstellung lag in der Hand des Sportwarts – das war derjenige Mitschüler, den die Klasse dafür bestimmt hatte, in unserem Fall einstimmig Uli.
Ich schaute also oft zu, zum Beispiel, als Gert ein Spiel in allerletzter Sekunde, mit dem Rücken zum Tor und aus sehr spitzem Winkel, mit einer artistischen Drehung des Fußgelenks entschied. Ich glaube wirklich, der Fuß war das einzige Körperteil, das Gert in diesem Moment bewegte – er war da ökonomisch. Das hatte schon einen Anflug von Gerd Müller.
Elfte Klasse, es wird im Spätsommer 1977 gewesen sein, eine der ersten Schulwochen. Für den Freitag jener Woche stand der vielleicht bedeutendste Vergleich für unsere Klasse an: gegen die Fußballklasse der Schule schlechthin, aus dem Jahrgang über uns. Alle von denen spielten im Verein, sie waren technisch und physisch stark, alle gefühlt einen halben Kopf größer als unsere Leute, dazu kräftiger gebaut. Zwei Tage davor hatten wir Sportunterricht. Wir kickten; im Grunde waren das spätestens ab der Achten unsere Sportstunden: fast nur Fußball. Unser Sportlehrer machte mit, denn Uli hatte ihn gebeten, sich uns mal genauer anzuschauen und Tipps zu geben, wie die Erste am Freitag bestehen könnte.
Bei der internen Wahl kam ich in die Mannschaft, die gegen die stärker besetzte Hälfte deutlich verlor. Aber mir gelangen ein paar Sachen, und unseren einzigen Treffer bereitete ich direkt vor. Im Anschluss gab der Lehrer die klare Empfehlung, mich am Freitag spielen zu lassen. Uli war skeptisch: er arbeitete die ganzen Jahre daran, mich zu mehr Körperlichkeit zu ermutigen. In heutiger Sprache ausgedrückt, machte ich in der Tat oft „den letzten Schritt“ nicht; und in Zweikämpfen mit dem ballführenden Gegenspieler war ich meistens von vornherein passiv und rein reaktiv. Selbst am Ball, kam ich kaum je im Eins-gegen-Eins vorbei; gut war ich im Weiterleiten, und dass mittlerweile viele, nicht zuletzt eben auch Uli, mir gute Übersicht bescheinigten, hieß schon etwas.
Aber es reichte nicht. Uli konnte sich nicht durchringen, ich schaute an jenem Freitag wieder einmal zu, und das erwies sich als die richtige Entscheidung.