Gegenangriff - Nadja Niemeyer - E-Book

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Nadja Niemeyer

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Beschreibung

Je globalisierter die Welt, desto verletzlicher die Menschheit. Zwar weiß das der Homo sapiens, und doch macht er weiter wie eh und je. Er isst zu viel Fleisch, verwendet Pestizide, fährt täglich Auto. Doch eines Tages blasen süße Kätzchen, gutmütige Rinder und scheue Eichhörnchen zum Gegenangriff. Die Ereignisse überschlagen sich – und am Ende ist einfach Schluss. Schluss mit lustig, Schluss mit dem alltäglichen Wahnsinn, Schluss mit dem Menschen.

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Nadja Niemeyer

Gegenangriff

Ein Pamphlet

Diogenes

»Weh dem Menschen, wenn nur ein einziges Tier im Weltgericht sitzt.«

Christian Morgenstern

Gemeine Hauskatze

Felis catus

Der Untergang der Menschheit begann mit einem Katzenvideo.

Die Menschen fanden die darin gezeigten Tiere niedlich, und da dies für sie so ziemlich der wichtigste Maßstab war, wurde die Aufzeichnung millionenfach über die sozialen Netzwerke verbreitet. Man hielt das Menetekel an der Wand für ein hübsches Fresko. Als die ersten Betrachter begannen, die Bedeutung des Videos zu begreifen, war es für Gegenmaßnahmen zu spät. Gegen einen Tsunami helfen keine Regenmäntel.

Das Ende der Menschheit begann im Januar 2034 und war schon wenige Jahre später endgültig besiegelt.

Auch wenn einzelne Exemplare, vergleichbar mit den letzten Breitmaulnashörnern, weiterhin eine mühsame Existenz fristeten, kann doch gesagt werden: Im Jahr 2038 war die Gattung Homo sapiens weitgehend ausgestorben oder hatte doch ihre Rolle als führende Spezies ein für allemal verloren. Ihr Verschwinden markierte einerseits den Höhepunkt des massenhaften Artensterbens im Anthropozän, war aber gleichzeitig auch der Beginn eines dringend notwendigen Heilungsprozesses für den Planeten.

Der Mann, der das Video ins Netz stellte, hieß Kevin S. Anderson und war von Beruf facility manager im Biotech-Unternehmen Reviron Inc. in San Francisco, was bedeutete, dass er an sechs Tagen in der Woche durchgebrannte Glühbirnen auswechselte und andere kleine Reparaturen vornahm. Anderson war es auch, der dem Video seinen ursprünglichen Namen gab: Our Clever Cats.

Der später allgemein übliche Titel Doomsday Cats wurde von einem namentlich nicht bekannten Redakteur des Williamsburg Gazette-Journal erfunden. Er benutzte ihn als Überschrift für einen Artikel, in dem seine Zeitung zum allerersten Mal die Möglichkeit in Betracht zog, das inzwischen allgemein bekannte Katzenvideo könnte das Anzeichen einer größeren Veränderung sein.

Das Video stammte aus einer Überwachungskamera im Forschungsbereich von Reviron Inc. Die noch junge Firma gehörte nicht zu den ganz Großen der Biotech-Industrie, hatte aber durch die Entwicklung einer innovativen Therapie für das seltene Beckwith-Wiedemann-Syndrom einen ersten großen Erfolg erzielt und danach bei Venture-Capital-Gesellschaften sehr viel Geld einsammeln können.

Die Überwachungskamera war montiert worden, weil es aus den Schließfächern, in denen die Mitarbeiter während der Arbeitszeit ihre persönlichen Effekten aufbewahrten, mehrmals zu Diebstählen gekommen war. Der Eigentümer einer Schließfachs konnte die Kombination, mit der es zu öffnen war, selbst programmieren und die Tür durch die Eingabe dieser Zahlen und des Zeichens # am zugeordneten Keypad öffnen. Möglicherweise hatte der Dieb seine Kollegen heimlich bei der Eingabe ihrer Nummer beobachtet.

Die Schließfächer waren in drei Reihen übereinander angeordnet; das Fach, das in dem Video eine so sensationelle Rolle spielen sollte, befand sich in der mittleren Reihe.

Die tägliche Überprüfung und Löschung der Aufnahmen gehörte zu den Aufgaben des Facility Managers. Bei dieser Tätigkeit stieß Mr. Anderson auf das ungewöhnliche Verhalten der beiden Katzen, bewahrte die Aufzeichnung dieses Tages (10. Januar 2034) auf und lud den entsprechenden Ausschnitt später auf YouTube hoch.

Die beiden »Darsteller« waren ihm wohlvertraut. Es gehörte zu seinem Aufgabenbereich, sie zweimal am Tag zu füttern und regelmäßig die Kiste mit ihrem Kot sauber zu machen. Für die Fütterung bewahrte er in einem freien Schließfach eine große Plastiktüte mit Futterpellets auf. Für das Keypad hatte er, um sich die Zahlenkombination besser merken zu können, den Code 3120# gewählt, nach der Position der Buchstaben des Wortes CAT (3/1/20) im Alphabet.

Die beiden Katzen waren ursprünglich angeschafft worden, weil eine Mitarbeiterin der Reinigungsequipe in einem Büro der Firma eine Maus gesehen haben wollte, eine Sichtung, die sich später nicht bestätigte. Die Tiere wurden in der Firma bald zu allgemein beliebten Maskottchen. Ein Mitglied der Geschäftsleitung machte sogar den nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag, sie ganz offiziell als emotional support animals auf die Lohnliste zu setzen.

Natürlich war den Tieren der Zugang zum Labortrakt mit seinen strengen Hygienevorschriften verboten, aber die dort beschäftigten Wissenschaftler hielten sich von Anfang an nicht konsequent an diese Vorschrift.

Die beiden Katzen gehörten zur speziell für die Jagd auf Mäuse und Ratten gezüchteten Rasse Amerikanisches Kurzhaar: ein kastrierter Kater mit getigertem Fell und ein etwas kleineres Weibchen mit schwarzem Rücken und einem weißen Brustfleck. Der Leiter des Forschungsteams, Dr. del Castro, hatte ihnen mit dem für ihn typischen Humor die Namen Professor Einstein und Madame Curie gegeben.

Die Sequenz, die den ersten dokumentierten Fall der neuen Pandemie zeigte, war vierzehn Minuten lang. Gemäß der eingeblendeten digitalen Anzeige begann die Aufzeichnung um 17:14 Uhr. In der am häufigsten verbreiteten Version waren die Bilder mit einer instrumentalen Fassung des Titelsongs Memory aus dem Musical Cats unterlegt. Die originale Aufnahme enthielt keine Tonspur.

In dem Video war Folgendes zu sehen:

17:17

Die Kamera ist auf die Wand mit den Schließfächern gerichtet. Von vorne links nach hinten Mitte kommt ein auf Rollen befestigter Hocker ins Bild. Zuerst hat man den Eindruck, dass er sich von selbst bewegt, dann sieht man, dass die Katzen Professor Einstein und Madame Curie ihn mit ihren Köpfen schieben.

 

17:18

Der Hocker stößt an die Wand mit den Schließfächern und kommt zum Stehen. Madame Curie läuft nach rechts aus dem Bild.

Professor Einstein springt auf den Hocker. Er sitzt mit dem Rücken zur Kamera, sodass sein Körper das Keypad des Schließfachs mit dem Katzenfutter verdeckt. Es ist deshalb nicht deutlich zu erkennen, was er mit seinen Pfoten macht, aber die Tür des Schließfachs öffnet sich.

 

17:19

Madame Curie kommt, rückwärtsgehend, von rechts. Sie hat die Zähne in ein Plastikgefäß geschlagen, das sie hinter sich herzieht. Sie deponiert das Gefäß direkt neben dem Hocker.

Professor Einstein springt durch die offene Tür in das Schließfach.

 

17:20

Professor Einstein ist nicht zu sehen. Madame Curie kauert in Sprungposition neben dem Hocker und blickt nach oben.

 

17:21

Eine große Plastikpackung mit Katzenfutter kippt nach vorn über den Rand des Schließfachs.

Madame Curie springt mit ausgestreckter Pfote und ausgefahrenen Krallen nach oben. Sie wiederholt den Sprung noch zweimal. Beim dritten Mal gelingt es ihr, einen Riss in die Verpackung zu machen. Ein Strom von Futterpellets ergießt sich in das bereitstehende Gefäß.

 

17:23

Ohne dass wir eine Ursache dafür erkennen können, bewegt sich die Packung in das Schließfach zurück. Es ist anzunehmen, dass Einstein sie mit den Zähnen zieht.

Madame Curie schiebt das Gefäß mit den Pellets nach links aus dem Bild.

 

17:24

Einstein springt aus dem Schließfach auf den Hocker zurück. Auf den Hinterpfoten stehend, schiebt er die Türe zu, bis der Schließmechanismus einrastet.

 

17:25

Madame Curie kommt zurück. Die Katzen schlagen auf den Hinterbeinen stehend ihre Vorderpfoten aneinander. Bei Menschen würde man sagen: Sie klatschen ab.

Dann fressen sie die Futterpellets, die das Gefäß verfehlt haben und auf den Boden gefallen sind.

 

17:26

Wieder mit den Köpfen stoßend, schieben sie den Hocker nach links aus dem Bild.

 

17:27

Das Video zeigt wieder nur das scheinbar unveränderte Regal mit den Schließfächern.

Auf Instagram und anderen Plattformen entwickelte sich schnell eine heftige Diskussion über die Echtheit des Videos. Die meisten User waren der Meinung, dass man es dabei mit einem computergenerierten Fake zu tun haben müsse, wahrscheinlich Teil einer Guerilla-Marketing-Kampagne für Katzenfutter. Dagegen sprach allerdings, dass das Design der Packung schlecht erkennbar und der Markenschriftzug nie im Bild war. Ein professioneller Werber, hieß es in vielen kritischen Kommentaren, hätte das bestimmt anders gemacht.

Neben vielen anderen wurden folgende Haupteinwände gegen die Echtheit des Videos genannt:

Katzen sind zu einer geplanten und koordinierten Zusammenarbeit, wie sie hier scheinbar zu sehen ist, gar nicht fähig.

Es ist unmöglich, dass eine Katze allein durch Beobachtung die Funktion eines Keypads versteht und sich die entsprechende vierstellige oder, zusammen mit der am Schluss zu betätigenden #-Taste, sogar fünfstellige Zahl merkt.

Das »Abklatschen« ist eine typisch menschliche Geste, die sich mit den natürlichen Verhaltensweisen einer Katze in keiner Weise in Einklang bringen lässt.

An jenem 10. Januar 2034 hatte im Konferenzsaal der Firma wie an jedem Freitag um 17:00 Uhr ein sogenanntes Motivation Meeting begonnen, an dem sich die einzelnen Forschergruppen gegenseitig über den Stand ihrer Projekte informierten. Die Teilnahme an diesem Meeting war für alle Mitarbeiter obligatorisch, sodass sich zu diesem Zeitpunkt niemand im Labor befand. Skeptiker hielten es für ausgeschlossen, dass die beiden Katzen den Zeitpunkt für ihren Raubzug derart bewusst gewählt haben sollten.

Reviron Inc. verweigerte unter Berufung auf das Geschäftsgeheimnis jede genauere Information über die Art von Forschung, die in diesem Labor betrieben wurde, und teilte nur mit, es werde dort an »biochemischen Neuentwicklungen zur Bekämpfung genetisch bedingter Erkrankungen« gearbeitet. Später, nach dem Zusammenbruch des Regierungsapparats, war dann niemand mehr da, der entsprechende Fragen mit dem nötigen Nachdruck hätte stellen können, selbst wenn aufseiten der Firma noch jemand in der Lage gewesen wäre, sie zu beantworten.

Die These, als Initialzündung für die Entstehung des neuen Phänomens komme eine Kontamination mit einer der im Labor von Reviron Inc. verwendeten Zellkulturen infrage, konnte nie bestätigt werden. Es wurde keine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Erklärung gefunden.

Hausrind

Bos taurus

Einen Monat später, am 4. Februar 2034, erregte ein weiteres Ereignis ein über die Grenzen von Kalifornien hinausgehendes Aufsehen: das sogenannte Schlachthaus-Massaker. Es ereignete sich in Parkf‌ield (Monterey County), etwas mehr als zweihundert Meilen südlich von San Francisco. Später wurde versucht, aus dem zeitlichen und geografischen Abstand zwischen den beiden Geschehnissen Aussagen über die Ausbreitungsgeschwindigkeit der neuen Pandemie abzuleiten, doch es wurde bald offensichtlich, dass die so errechneten Daten weit unter den tatsächlichen Werten lagen. Zum Zeitpunkt des Schlachthaus-Massakers umfasste die Verbreitung des neuen Syndroms schon den ganzen amerikanischen Kontinent, um bald darauf auch auf Europa, Asien und Afrika überzugreifen. Australien und Neuseeland folgten ein paar Tage später.

Die Kette von Ereignissen begann auf einer Rinderweide, die zur kleinen, aber renommierten Menendez-Rinderfarm gehörte. Deren Besitzer, Sam Menendez (43), war ein überzeugter Verfechter der biologischen Landwirtschaft. Seine Herde bestand ausschließlich aus den als besonders gutmütig bekannten Hereford-Rindern, wobei Menendez die genetisch veränderte Zuchtlinie, die Kühe ohne Hörner produzierte, aus prinzipiellen Gründen ablehnte. In Anbetracht der Ereignisse jenes Tages erwies sich das nachträglich als tragischer Fehler. Die auf der Menendez-Ranch aufgezogenen Kühe erhielten kein Silofutter und verbrachten ihr ganzes Leben auf der Weide, was zu einer besseren Fleischqualität führte. Dadurch erzielte Menendez für seine Tiere höhere Preise als seine Konkurrenten, die auf Massenproduktion setzten. In einem Interview in der Livestock Gazette hatte er noch wenige Wochen vor den Ereignissen betont, dass die Rinder in seiner knapp hundert Tiere umfassenden Herde für ihn sehr viel mehr seien als nur Produktionseinheiten. Alle seine Kühe seien auf seiner Ranch aufgewachsen, und deshalb habe er eine ganz persönliche Beziehung zu jeder einzelnen von ihnen. Es tue ihm jedes Mal weh, wenn er sich von den schlachtreifen Tieren trennen müsse, aber die wirtschaftlichen Notwendigkeiten ließen ihm nun mal keine andere Möglichkeit.

Sam Menendez lieferte prinzipiell nicht an die großen Fleischverarbeitungsbetriebe, sondern nur an kleinere, auf organic beef spezialisierte Metzgereien. Der eigentliche Schlachtvorgang fand – gemäß den Hygienevorschriften von Monterey County – im regionalen Schlachthof von Parkf‌ield statt, wo Menendez die von ihm verkauften Tiere jeweils persönlich ablieferte.

Am 4. Februar war er zusammen mit seinem Sohn Sam Menendez jr. (17) auf die Weide gefahren, um sechs Kühe für den Transport zum Schlachthof abzuholen. Für gewöhnlich war das etwas, auf das er sich – trotz der emotionalen Belastung, von der er in dem Interview gesprochen hatte – jedes Mal freute. Die Arbeit hatte etwas Kontemplatives, weil man sie, egal, wie eilig man es hatte, gemächlich angehen musste. »Kühe lassen sich nicht hetzen«, hatte Menendez seinem Sohn beigebracht.

Der gewöhnliche Ablauf sah so aus: Der vom Traktor gezogene Transportanhänger war mit zwei beweglichen Elementen versehen, die sich ausklappen ließen und dann ein kleines, auf einer Seite offenes Gehege bildeten. Von dort führte eine Planke direkt in den Anhänger. Der offene Zugang auf der anderen Seite konnte durch ein weiteres bewegliches Teil verschlossen werden, sobald sich das gewünschte Tier im Gehege befand.

Da die Kühe daran gewöhnt waren, beim Auftauchen des Traktors eine Handvoll leckeres Futter zu bekommen, kamen sie, ohne dass man sie hätte antreiben müssen, von selbst herbei. Die für den Schlachthof bestimmten Tiere lockte man eins nach dem anderen in das Gehege und trieb sie dann durch ein paar sanfte Stockhiebe – die Verwendung der üblichen elektrischen cattle prods lehnte Menendez aus Tierschutzgründen ab – über die Planke in den Anhänger, wo auf der Einstreu schon ein Haufen frisch gemähtes Gras auf sie wartete. Die Prozedur brauchte zwar Zeit, vor allem, weil sich jedes Mal auch andere Kühe dazu drängten, dafür gerieten die ausgewählten Tiere nicht in Panik, was sich durch die Ausschüttung von Stresshormonen negativ auf die Fleischqualität ausgewirkt hätte.

An diesem Tag schien zunächst alles wie gewohnt abzulaufen. Das Gehege war kaum aufgebaut, als die Herde sich auch schon näherte, allerdings nicht in der üblichen gemächlichen Gangart, sondern in dem hopsenden Galopp, den man sonst nur bei Kälbern sieht, bevor sie sich die würdevolle Gangart der älteren Tiere angewöhnen. Sam Menendez sagte noch zu seinem Sohn: »Die sind heute ganz schön hungrig.« Es waren seine letzten Worte.

Die Leitkuh – sie hieß Betsy Mae, und Sam jr. hatte sie wegen einer Euterentzündung des Muttertiers mit der Flasche aufgezogen – rannte direkt auf die Farmer zu, blieb aber, als sie beim Traktor angekommen war, nicht etwa stehen, sondern drückte Sam Menendez mit ihrem ganzen Gewicht von mehr als einer halben Tonne gegen die Motorhaube, brach ihm dabei mehrere Rippen und trampelte, als er schmerzverkrümmt auf dem Boden lag, auf ihm herum. Eine andere Kuh spießte Sam jr. mit den Hörnern auf, wobei sie mehrmals in seine Herzregion stieß.

Sobald die beiden Farmer tot waren, interessierten sich die Tiere nicht weiter für sie. Die Herde marschierte auf den elektrischen Weidezaun zu, der sich bisher wegen der Stromschläge mit einer Spannung von 10000 Volt immer als unüberwindliches Hindernis für die Tiere erwiesen hatte. Diesmal riss die Leitkuh das Weidezaungerät mit einem Horn aus seiner Halterung, und der jetzt stromlose Draht konnte von den Kühen leicht durchbrochen werden.

Die Herde marschierte in geschlossener Formation zuerst einen Feldweg und dann die Landstraße entlang. Dabei blockierten die Tiere beide Spuren, sodass sich hinter ihnen eine lange Schlange von hupenden Automobilen bildete. Entgegenkommende Wagen, die nicht sofort über den Straßenrand hinaus auf ein Feld auswichen, wurden zur Seite geschoben und dabei teilweise stark beschädigt. Von den Insassen wurde dabei, bis auf ein paar Verstauchungen, niemand verletzt.

Der von den blockierten Autofahrern telefonisch alarmierte Deputy Sherif‌f Joseph W. Infante stellte sich den Tieren mit ausgebreiteten Armen in den Weg, in jeder Hand einen Stock. Er war auf einer Rinderranch aufgewachsen und hatte schon als Kind gelernt, dass sich eine Herde auf diese Weise am besten in eine andere Richtung lenken lässt. In diesem Fall funktionierte die Methode nicht. Joseph W. Infante wurde achtundzwanzig Jahre alt.

Drei Tage später nahm der Gouverneur von Kalifornien persönlich an der Trauerfeier teil und beförderte Infante posthum zum Sheriff. In der entsprechenden Urkunde wurden die Worte »Tapferkeit vor dem Feind« verwendet, was wegen der martialischen Formulierung in einigen Kommentaren auf Kritik stieß. Dabei entsprach sie doch nur den Tatsachen.

Nachdem der Deputy Sheriff totgetrampelt war, marschierte die knapp hundertköpfige Herde weiter bis zum Schlachthof von Parkf‌ield, ohne dass auf ihrem Weg noch einmal jemand den Versuch gemacht hätte, sie aufzuhalten.

Um in das Gebäude einzudringen, benutzten die Kühe den Weg, der für die zur Schlachtung angelieferten Tiere vorgesehen war. Ihr erstes Opfer war Mr. Binh Tran, ein ursprünglich aus Vietnam stammender Mitarbeiter, der für die Betäubung der Tiere mit dem Bolzenschussgerät zuständig war. In fast allen Berichten über das Massaker wurde später als interessantes Detail festgehalten, dass das unter seiner Leiche vorgefundene Schussgerät immer noch funktionstüchtig war, wenn es auch wegen der Schließung des Schlachthofs in Parkfield nicht mehr zur Verwendung kam.

Sein Kollege, der bei den betäubten Tieren den Halsbruststich zu setzen hatte, fiel, von zwei Kühen gerammt, auf sein eigenes Stechmesser und blutete aus; eine Ironie, die allen Journalisten, die darüber berichteten, bewusst war, auf die aber aus Gründen der Pietät niemand hinzuweisen wagte. Wie sich nach seinem Tod herausstellte, hatte sich das Opfer, der ebenfalls aus Vietnam stammende Thao Pham, illegal in den USA aufgehalten und hätte deshalb vom Schlachthof nicht angestellt werden dürfen. Die dadurch entstandenen versicherungstechnischen Probleme interessierten aber schon bald niemanden mehr.

Einige Kühe rannten zwischen den Körpern ihrer zum Ausweiden aufgehängten Artgenossen durch und gelangten in die Zerlegerei, wo sie regelrecht Jagd auf die dort beschäftigten Männer machten. Die Ausgänge wurden jeweils von einem Tier versperrt, sodass für die Arbeiter kein Entkommen möglich war. Die Angegriffenen versuchten, sich mit ihren Messern zu verteidigen, aber trotz Hieb- und Stichwunden führten die Tiere ihre Attacken fort, bis sich keiner der Männer mehr bewegte.

Doch diese blutige Episode, die mehr als zwanzig Opfer forderte, war noch nicht das Massaker, das später den Ereignissen dieses Tages den Namen gab. Das ereignete sich erst, als die California National Guard zu Hilfe gerufen worden war.

An den Geschehnissen in der Zerlegerei war nur ein kleiner Teil der Herde beteiligt. Etwas anderes wäre wegen der beengten Platzverhältnisse, die von gewerkschaftlicher Seite oft kritisiert worden waren, auch gar nicht möglich gewesen. Die anderen Tiere machten unterdessen in den anderen Arbeitsbereichen des Schlachthauses Jagd auf die restlichen Mitarbeiter, wobei sie, wie eine spätere Rekonstruktion ergab, äußerst koordiniert vorgingen. Keiner der Männer, die sie dabei aufstöberten, überlebte den Tag. Die einzige Ausnahme war der für die Schlachtkontrolle zuständige Tierarzt, Dr. Phil Peterman, der sich im Kühlraum verbarrikadiert hatte. Er wurde dort zwei Tage später aufgefunden, stark unterkühlt und mit Erfrierungen dritten Grades. (Die Tür des Kühlraums hätte sich auch von innen öffnen lassen, aber ohne Informationen über die Situation im Schlachthaus hatte er den Versuch nicht gewagt.)

Auf welche Weise jeder einzelne Mitarbeiter genau gestorben war und wie sehr er dabei gelitten hatte, ließ sich im Nachhinein nicht feststellen. Nur die Zerlegerei wurde von mehreren Kameras überwacht, »aus Gründen der Optimierung von Abläufen«, wie es offiziell hieß, also zur Verhinderung von Diebstählen. Der slaughterhouse superintendent Luis Gómez Hernández war Alkoholiker, und als er auf seinen Bildschirmen sah, was sich da abspielte, glaubte er zunächst, es handle sich um eine durch zu viel billigen Whiskey hervorgerufene Halluzination. Dann alarmierte er aber doch seinen direkten Vorgesetzten, William Q. Dryden, den Hauptaktionär des Schlachthauses. Der hätte das Ganze, um negative PR zu vermeiden, gern unter dem Deckel gehalten, sah aber bald ein, dass das bei der großen Anzahl von Toten nicht möglich war. Da er als Abgeordneter in der state assembly auch politischen Einfluss hatte, genügte ein Anruf beim Gouverneur, um ein gerade in der Nähe von Parkf‌ield mit Schießübungen beschäftigtes Platoon der National Guard in Bewegung zu setzen.

Die Verhältnisse im Schlachthaus waren unklar, deshalb beschloss der Zugführer, Second Lieutenant Gary D. Thompson III, keinen Versuch zum Eindringen in das Gebäude zu machen, sondern seine Leute zunächst vor den Zugängen in Bereitschaft zu halten. Die achtunddreißig Mann starke Truppe war mit Schnellfeuergewehren des Typs M16A4 ausgerüstet.

Als die ersten Kühe aus der Entladebucht strömten, brachen die guardsmen zunächst in Gelächter aus, weil sie meinten, ein übereifriger Beamter habe sie wegen ein paar entlaufener Rinder in voller Ausrüstung hierher beordert. Ihr Amüsement wandelte sich schnell zu Panik, als Second Lieutenant Thompson von den Hörnern der Leitkuh durchbohrt wurde.

Hinterher konnte nicht festgestellt werden, woher das Kommando zum Feuern gekommen war oder ob es überhaupt so ein Kommando gegeben hatte. Fest steht, dass am Ende einer fast zehn Minuten andauernden Schießerei neben sechs toten und elf verletzten guardsmen sechsundneunzig erschossene Kühe vor dem Schlachthaus lagen. (Von den gefallenen Mitgliedern der National Guard waren zwei von verirrten Kugeln ihrer Kameraden getroffen worden, was aber in den offiziellen Berichten verschwiegen wurde.)

Um das aggressive Verhalten der Herde zu erklären, wurden in den Berichten, die über das Schlachthaus-Massaker erschienen, die verschiedensten Thesen aufgestellt. Die am häufigsten geäußerte Vermutung ging von einer vorher bei Rindern noch nie beobachteten Krankheit aus, die zwar nicht in ihrer Ätiologie, aber doch in ihren Auswirkungen mit der Tollwut bei Füchsen oder Hunden vergleichbar sei.

Von allen befragten Fachleuten vertrat kein einziger die Meinung, dass die Kühe einfach nicht länger bereit gewesen seien, sich widerstandslos abschlachten zu lassen.

Arktisches Zwiesel

Urocitellus parryi

A