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GegenStandpunkt 1-23 E-Book

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Beschreibung

Die Ukraine wird verwüstet, der Westen kämpft um eine geeignete Fortsetzung Das zweite Kriegsjahr darf beginnen – Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine sind ungefähr so viele russische Soldaten tot oder kaputt, wie vor einem Jahr zur „militärischen Sonderoperation“ angetreten sind. Wofür? Präsident Putin erklärt es, wieder und wieder. Gleich doppelt: für die Wiederherstellung eines intakten russischen Vaterlands; und für die Sicherheit der Nation als strategische Macht gegen ihre existenzielle Bedrohung durch die NATO. – Nach dem ersten Kriegsjahr ist die Ukraine verwüstet; einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil hat die Regierung ihrem Kampf gegen die russische Invasion geopfert. Wozu? Präsident Selenskyj erklärt es täglich in drastischster Form: Ohne standhaftes Töten und Sterben an allen Fronten gäbe es die Ukraine als selbstständigen Staat nicht mehr. Das gilt als unbedingt anzuerkennende Rechtfertigung aller Opfer, als das Nonplusultra eines gerechten Kriegsgrunds. – Nach einem Jahr „Zeitenwende“ registriert der Westen die Kosten seines Einsatzes gegen Russland in der Ukraine: den Schaden für die Weltwirtschaft und auch fürs eigene Wirtschaftswachstum, den er organisiert hat; den absehbar langfristigen Aufwand für Waffen und die Fiktion eines ukrainischen Staatshaushalts; die Fluchtbewegung, die er managt; auch Schäden und Leichen auf ukrainischer Seite kommen vor in der Bilanz. Wofür das alles? Die Zuständigen können es gar nicht oft genug erklären: Mit der Gewalt, die sie mobilisieren, retten sie die europäische und überhaupt die globale Friedensordnung. Was für ein edler Grund! Was für ein Dokument selbstloser Verantwortlichkeit! – Schließlich: Seit einem Jahr beteuern die Macher des Ukraine-Kriegs allesamt unablässig, dass ihre Kriegsführung resp. -beteiligung unbedingt notwendig ist. Warum? Weil die jeweils andere Seite sich in böser Absicht an dem heiligen Gut vergreift, für das man selbst in den Krieg zieht. Jeder reagiert nur auf eine nicht hinnehmbare Bedrohung, eine brutale Aggression. Und wenn es tatsächlich so ist? Nämlich so, dass für jede Partei ihre vitalen Staatsinteressen mit denen der Gegenseite unvereinbar sind? Dass die unabdingbaren Rechte, die jede Partei ihren vitalen Interessen zuspricht, Gewalt bis zum Äußersten nicht bloß rechtfertigen, sondern fordern? Alle Gegner berufen sich auf einen Sachzwang zum Kriegseinsatz, auf ein absolut unverzichtbares Recht darauf, und offenbaren damit tatsächlich das eine: die Unvereinbarkeit der Räson, der sie als Militärmächte folgen – also von Inhalt, Sinn und Zweck dessen, was ihre Nation, ihre Weltmacht, eine ihnen gemäße Weltordnung ausmacht –, mit der entsprechenden Räson ihres Feindes. Aus den ‚guten‘ Gründen, die die kriegswilligen Macht- und Befehlshaber für ihre Militanz geltend machen, ist auf die wirkliche Notwendigkeit des Krieges, seinen Grund in der imperialistischen Natur der engagierten Mächte zu schließen – wenn man aus den in Umlauf gebrachten Begründungen die Affirmation, aus den permanent hergebeteten guten Gründen das ‚gut‘ herausstreicht. Dann versteht man auch die überwältigend zynischen Berechnungen besser, die von den Präsidenten und Kanzlern und ihren Strategen angestellt und im Kriegsverlauf umgesetzt werden – und erspart sich falsches Verständnis wie ebenso verkehrtes Unverständnis.

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Table of Contents
Editorial
Die Ukraine wird verwüstet, der Westen kämpft um eine geeignete FortsetzungDas zweite Kriegsjahr darf beginnen
I. Die Lage in der Ukraine
II. Die Antwort des Westens
III. Der Beitrag der westlichen Führungsmacht: Eskalation, Abschreckung und Ansagen in alle Richtungen
IV. Die europäischen Staaten sehen sich durch den Krieg in der Ukraine doppelt herausgefordert: als NATO-Mitglieder und als Mitgliedsstaaten der Europäischen Union
1. Die europäischen Staaten als NATO-Mitglieder mit Deutschland als europäischer Führungsmacht
Der Hauptakteur und das Hauptobjekt von Kritik: Deutschland mit seiner Führungsrolle
2. Die europäischen Staaten als EU-Mitglieder
a) Die EU macht sich im Schulterschluss mit den USA zum strategischen Subjekt gegen Russland: Sie setzt ihre ökonomische und politische Macht ein, um ihr Regime über Europa zu sichern und auszuweiten
b) Das europäische Bedürfnis nach autonomer Kriegstüchtigkeit – und seine Realität in der EU als Bündnis miteinander konkurrierender Nationen
V. Die Räson des Vereinigten Königreichs im Ukraine-KriegDer Scharfmacher in der westlichen Kriegsallianz verbürgt die Einheit von Europa und USA
Der britische Kriegsgrund ist der allgemeine des Westens: die Verteidigung seines Gewaltmonopols
Die spezielle Herausforderung Großbritanniens durch Russlands Invasion in die Ukraine, der es sich militant stellt: Sicherung der transatlantischen Einheit von Europa und USA
Das Kriegsziel: Vorwärts bis zur vollständigen Niederlage Russlands in der Ukraine
Sachdienliche Auskünfte zur Modernisierung des amerikanischen Imperialismus
I.
II.
„Erstens: Investitionen in unser Wissenschafts- und Technologie-Ökosystem“
„Zweitens: Förderung der besten MINT-Talente“
„Drittens: Schutz unserer Technologievorteile“
„Viertens: Vertiefung und Integration unserer Allianzen und Partnerschaften“
Die Produktivkraft der demokratischen Opposition für Deutschlands „Zeitenwende“
1.
2.
3.
4.
5.
Die Lohnfrage in schweren ZeitenHerrschaftliche Klarstellungen zur Notwendigkeit inflationärer Verarmung
Letzte Generation, Lützerath – Ein radikaler Aufstand des Gewissens trifft auf das gute Gewissen der Herrschaft
Der Appell im Namen der eingebildeten Verantwortungsgemeinschaft
Die Antwort der wirklichen Verantwortungsträger
Katar 2022 Die (un-)beliebteste WM aller ZeitenAngeberei eines arabischen Aufsteigers, ein Kapitel wertegeleiteter Außenpolitik der BRD und deren kritische Begutachtung durch die deutsche Öffentlichkeit
I. Katar gibt sich die Ehre: „Nicht nur eine Quelle von Gas und Öl“
1.
2.
3.
Kleiner Exkurs zur Unfähigkeit der Kataris zu einer Fankultur, wie wir sie mögen
II. Deutschland spielt (nicht) mit: Selbstdarstellung und Selbstbespiegelung einer mächtigen Nation und ihrer anspruchsvollen Öffentlichkeit
1.
2.
3.
Giorgia Meloni: „Io sono Giorgia“ – AutobiografieMeloni sagt dem Land den Kulturkampf an
Für eine Runderneuerung der Sittlichkeit des italienischen Volkskörpers
Sono donna-madre – die natürliche Familie als Kraftquell völkischer Moral
Sono italiana – erfülltes Schaffen für die nationale Gemeinschaft
Sono cristiana – Hilfe beim anständigen Aushalten und ein Kreuzzug gegen den Islam
Sono di destra, patriota – bedingungslose Liebe zum Vaterland
Gegen das kommunistisch-islamistisch-liberalistische Weltfinanzgendertum
Die ersten 100 Tage der rechten Mitte
Einwände zu Konkurrenz der Kapitalisten § 24 Abschnitt „Die Krise in der Sicht der VWL“

Abweichende Meinungen zum Krieg in der Ukraine

Die Welt erlebt Krieg in der Ukraine. Sie erlebt, wie Staaten für ihre Selbsterhaltung – wer dieses „Selbst“ ist und was dazu gehört, definieren sie selbst – in großem Stil über Leichen gehen. Und die Menschen, welt- und vor allem europaweit, reagieren: mit bedingungsloser Selbstverpflichtung zu moralischer Parteinahme. Geht’s noch?

Zumindest diese geistigen Missgriffe: den humanitären wie den staatsbürgerlichen und deren gesinnungsmäßig so produktive Kombination, kann man sich sparen – auch wenn es einem weder den Krieg noch die Kriegsbegeisterung empörter Mitbürger erspart. Denn das geht ja immerhin: sich und allen, die bereit sind zuzuhören, den Krieg und seine Gründe, die allgemeinen eines jeden staatlichen Souveräns wie die besonderen weltkriegstauglichen von NATO und Russland, erklären. Angebote stehen in dieser Zeitschrift.

Eine Übersicht über die im GegenStandpunkt erschienenen Artikel zur Ukraine findet sich auf unserer Webseite:

gegenstandpunkt.com/krieg-ukraine

Editorial

— Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine sind ungefähr so viele russische Soldaten tot oder kaputt, wie vor einem Jahr zur „militärischen Sonderoperation“ angetreten sind. Wofür? Präsident Putin erklärt es, wieder und wieder. Gleich doppelt: für die Wiederherstellung eines intakten russischen Vaterlands; und für die Sicherheit der Nation als strategische Macht gegen ihre existenzielle Bedrohung durch die NATO. Im Westen wird beides als absurd zurückgewiesen; nicht mit Argumenten, sondern von dem festen Standpunkt aus, diese – ausgerechnet diese! – Begründungen wären nichts als Rechtfertigungen, die erst gar keine ernsthafte Befassung verdienen.

Ach wenn es nur das wäre! Ernsthaft, beim Wort genommen, sind es klare Offenbarungseide darüber, was „Vaterland“ und „strategische Macht“ für monströse Imperative sind.

— Nach dem ersten Kriegsjahr ist die Ukraine verwüstet; einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil hat die Regierung ihrem Kampf gegen die russische Invasion geopfert. Wozu? Präsident Selenskyj erklärt es täglich in drastischster Form: Ohne standhaftes Töten und Sterben an allen Fronten gäbe es die Ukraine als selbstständigen Staat nicht mehr. Das gilt als unbedingt anzuerkennende Rechtfertigung aller Opfer, als das Nonplusultra eines gerechten Kriegsgrunds.

Und so viel stimmt daran: Der Held der nationalen Verteidigung offenbart, was für eine monströs mörderische Angelegenheit die Herstellung, Wahrung und Rettung einer veritablen Nation ist. Mit dem Vorwurf des „Völkermords“ an die russische Adresse betont er noch eigens, dass die Bewohner seines Herrschaftsgebiets ihre Lebensbestimmung genau darin haben, als Volk vollständig unter die von ihrer Herrschaft definierte und praktizierte „nationale Identität“ subsumiert zu sein.

— Nach einem Jahr „Zeitenwende“ registriert der Westen die Kosten seines Einsatzes gegen Russland in der Ukraine: den Schaden für die Weltwirtschaft und auch fürs eigene Wirtschaftswachstum, den er organisiert hat; den absehbar langfristigen Aufwand für Waffen und die Fiktion eines ukrainischen Staatshaushalts; die Fluchtbewegung, die er managt; auch Schäden und Leichen auf ukrainischer Seite kommen vor in der Bilanz. Wofür das alles? Die Zuständigen können es gar nicht oft genug erklären: Mit der Gewalt, die sie mobilisieren, retten sie die europäische und überhaupt die globale Friedensordnung. Was für ein edler Grund! Was für ein Dokument selbstloser Verantwortlichkeit!

Auch das: Was für ein Offenbarungseid! In der Staatenwelt für Ordnung sorgen ist eine Sache, die der Westen sich nicht nehmen lässt. Nötig ist dafür ein Monopol auf den Einsatz kriegerischer Gewalt, das ohne den rücksichtslosen Einsatz überlegener Militärgewalt gar nicht zu haben ist. Bzw. mit Rücksicht nur auf das eine: dass die Kosten, der Verschleiß, die fälligen Menschenopfer vorzugsweise, möglichst allein von anderen zu tragen sind.

— Schließlich: Seit einem Jahr beteuern die Macher des Ukraine-Kriegs allesamt unablässig, dass ihre Kriegsführung resp. -beteiligung unbedingt notwendig ist. Warum? Weil die jeweils andere Seite sich in böser Absicht an dem heiligen Gut vergreift, für das man selbst in den Krieg zieht. Jeder reagiert nur auf eine nicht hinnehmbare Bedrohung, eine brutale Aggression.

Und wenn es tatsächlich so ist? Nämlich so, dass für jede Partei ihre vitalen Staatsinteressen mit denen der Gegenseite unvereinbar sind? Dass die unabdingbaren Rechte, die jede Partei ihren vitalen Interessen zuspricht, Gewalt bis zum Äußersten nicht bloß rechtfertigen, sondern fordern? Alle Gegner berufen sich auf einen Sachzwang zum Kriegseinsatz, auf ein absolut unverzichtbares Recht darauf, und offenbaren damit tatsächlich das eine: die Unvereinbarkeit der Räson, der sie als Militärmächte folgen – also von Inhalt, Sinn und Zweck dessen, was ihre Nation, ihre Weltmacht, eine ihnen gemäße Weltordnung ausmacht –, mit der entsprechenden Räson ihres Feindes.

Die Notwendigkeit des Ukraine-Kriegs, die daraus folgt, ist für die, die sie beschwören und den Krieg dementsprechend machen, ihr guter Grund, über Leichen zu gehen. Was auch sonst: Sie wären ja nicht, was sie sind: die verantwortlichen Exekutoren der existenziellen Interessen ihres Herrschaftsgebildes, wenn ihnen ihre Funktion, darin fraglos eingeschlossen die unbedingte Affirmation dieser Interessen, nicht absolut selbstverständlich wäre. Das unbedingte professionelle Ja zum Rechtsanspruch auf rücksichtslose Durchsetzung des nationalen Daseinszwecks mit aller verfügbaren Gewalt gegen jede Behinderung oder Beeinträchtigung ist die Prämisse ihres Amts und das Prinzip des dazu erforderlichen falschen Bewusstseins, nämlich des patriotischen Verantwortungsbewusstseins, mit dem sie es ausüben. Umgekehrt: aus den guten Gründen, die die kriegswilligen Macht- und Befehlshaber für ihre Militanz geltend machen, ist auf die wirkliche Notwendigkeit des Krieges, seinen Grund in der imperialistischen Natur der engagierten Mächte zu schließen – wenn man aus den in Umlauf gebrachten Begründungen die Affirmation, aus den permanent hergebeteten guten Gründen das gut herausstreicht. Dann versteht man auch die überwältigend zynischen Berechnungen besser, die von den Präsidenten und Kanzlern und ihren Strategen angestellt und im Kriegsverlauf umgesetzt werden – und erspart sich falsches Verständnis wie ebenso verkehrtes Unverständnis.

Darum bemüht sich die Zeitschrift GegenStandpunkt in den vier Nummern des Kriegsjahres 2022. Das vorliegende Heft setzt das fort mit einem Artikel zur Antwort des Westens auf die Phase der Kriegsführung, die die russische Seite im Herbst eröffnet hat.

*

Außerdem in diesem Heft:

— Eine Antwort auf die Frage, die so leider niemand stellt: Wie kriegt eine moderne Demokratie es eigentlich so zielsicher hin, dass ihr Volk alles fürs bürgerliche Gemeinwesen Notwendige so alternativlos mitmacht – sogar die kriegerische Zeitenwende? Wie schafft sie es, die analogen Leistungen geächteter Autokratien selbstbewusst in den Schatten zu stellen?

— Ein Einblick in die – theoretisch verwegenen, in der Sache offenbar zielführenden – Zusammenhänge, die der Sicherheitsberater der US-Regierung zwischen Wissen und Macht herstellt und im Interesse der Sicherheit der amerikanischen Weltmacht deren Chefs ans Herz legt.

— Ein Blick auf die große sportliche Volksbelustigung in Katar und auf die Winkelzüge der populären Kritik an dem Veranstalter sowie auf das Land, das sich mit diesem Großereignis schmückt.

— Eine Befassung mit der aktuellen Verarmung der Mehrheit in den Ländern des westlichen Wohlstands, die gegen Entgelt für das Wachstum des Reichtums arbeitet, der ihr nicht gehört.

— Eine Anmerkung zu dem ohnmächtigen Aufbegehren, der vorläufig letzten Eskalations- oder Schwundstufe des Protests gegen die weltweit wirksame klimaverändernde Konsequenz ebendieses Wachstums, und zu deren demokratischer Verarbeitung.

— Eine Darstellung und Kritik des kritischen Verses, den sich die rechte Wahlsiegerin in Italien schon seit langem auf den von ihr diagnostizierten und skandalisierten Sittenverfall in ihrer Heimat macht.

— Schließlich eine Selbstkritik der Redaktion an der Darstellung der Krisentheorie von Keynes, die im § 24 unserer bruchstückweise veröffentlichten Ableitung der Konkurrenz der Kapitalisten Platz gefunden hat.

© 2023 GegenStandpunkt Verlag

Die Ukraine wird verwüstet, der Westen kämpft um eine geeignete Fortsetzung

Das zweite Kriegsjahr darf beginnen

I. Die Lage in der Ukraine

Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine sieht das Land entsprechend aus.

Zu Beginn des letzten Quartals sind zum bisherigen Zerstörungswerk der beiden Seiten flächendeckende russische Raketen- und Drohnenangriffe auf die ukrainische Infrastruktur dazugekommen. Sie zielen auf die Kampf- und Widerstandsfähigkeit der Ukraine und treffen oft genug, um die Bewohnbarkeit etlicher Teile des Landes, die Funktionsfähigkeit seiner Ökonomie wie seiner Herrschaft infrage zu stellen. 1) Die ukrainischen Streitkräfte hat Russland auf breiter Front in einen Stellungskrieg verwickelt, der kundigen Beobachtern gewisse französische und belgische Ortsnamen in Erinnerung ruft; die Ukraine erleidet zuletzt zwar nur kleine Gebietsverluste im Osten, aber umso größere Verluste an Mensch und Material. 2) Zur Freude der Anhänger ukrainischen Heldenmuts und einer intakten europäischen Friedensordnung verzeichnet zwar auch die russische Armee enorme Todeszahlen und Materialverluste, wenn sie Welle an Welle von frisch mobilisiertem Menschenmaterial in die Schlacht wirft. Sorgen macht freilich der Umstand, dass sie von beidem viel, viel mehr hat als die Ukraine. Ihr militärisches Übergewicht bringen die Russen nun in einer Weise zur Geltung, die nicht bloß weitere ukrainische Offensiverfolge à la Charkiw und Cherson auf längere Sicht ausschließt, sondern die ukrainische Armee an den Rand einer Niederlage bringt.

Am Kriegsziel der ukrainischen Regierung hat sich trotz alledem nichts geändert: Die vollständige territoriale Integrität des Landes, die Rückeroberung aller von Russland annektierten und besetzten Gebiete inklusive der Krim bleibt das heilige Recht ukrainischer Nation. Auch die nötige Opferbereitschaft für die Befreiung bzw. Wiedergeburt als ein endlich (russen-)freies, im europäischen Westen vollständig ‚verankertes‘ Volk steht für die Leitungsebene nach wie vor fest. Zur aktuellen Kriegslage steht dieser ehrgeizige Anspruch freilich in einem denkbar eklatanten Missverhältnis. Das weiß niemand besser als Selenskyj selbst, dessen Forderungen an seine Sponsoren im potenten und spendierfreudigen westlichen Werte- und Waffenkollektiv entsprechend dringend und umfassend ausfallen: mehr Munition, mehr Waffen, bessere Waffen. Dazu gehören zwar auch einige völkerrechtlich geächtete, i.e. Streu- und Phosphorbomben, die nicht zu knapp in westlichen Arsenalen lagern, aber vor allem solche mit besserem Leumund, i.e. Kampfpanzer, Kampfjets, Raketen von einer Reichweite und einer Potenz, die es den ukrainischen Streitkräften ermöglichen, die russische Kriegsmacht überall auf ukrainischem Boden sowie auf russischem Territorium wirkungsvoller zu treffen.

Mit alledem fordert Selenskyj von seinen Partnern zugleich mehr, nämlich nicht weniger als den Entschluss, den Krieg der Ukraine im Wortsinne und endgültig zum Krieg des Westens zu machen. Zur einschlägigen Überzeugungsarbeit gehört die Beschwörung – insbesondere bei Hausbesuchen in Washington, London, Paris und Brüssel – eines gemeinsamen Wertehimmels: Die Ukraine kämpft hier nicht nur fürs Recht aller Ukrainer auf eine Wiedervereinigung unter der Herrschaft einer im Westen beheimateten ukrainischen Staatsgewalt, sondern auch für Heiligkeiten des Westens – für seine Friedensordnung, seine freiheitlichen Werte, sogar seinen Lebensstil. Er hilft nach mit Beweisen der gemeinsamen, unmittelbaren Betroffenheit, erklärt den Einschlag einer danebengegangenen ukrainischen Abwehrrakete auf polnischem Boden zu einem gezielten russischen Raketenanschlag aufs NATO-Gebiet sowie den – von Rumänien dementierten – Überflug einer russischen Rakete über rumänisches Territorium zu einem Angriff auf dasselbe... Keine Frage: So lauten die selbstbewussten Argumente einer ohnmächtig abhängigen Kriegspartei.

II. Die Antwort des Westens

Die Antwort, die die Ukraine aus den westlichen Hauptstädten bekommt, lautet nach wie vor:

„Die Ukraine bekommt alles, was sie braucht, solange, wie sie es braucht.“ (z.B. Scholz)

Die Zusicherung zeugt insofern vom fortschrittlichen Zustand westlicher Kommunikationskultur, als kein Empfänger der Botschaft sie als eine Einwilligung des Westens missversteht, sämtliche Materialwünsche der Ukraine vollständig und nachhaltig zu erfüllen. Die Bekundung der ungebrochenen kriegerischen Unterstützungsbereitschaft wird allseits ungefähr genau so gedeutet, wie der Sender sie meint: Die westlichen Sponsoren selbst und niemand sonst – weder die Ukraine noch Russland noch die moralisch aufgebrachte Kriegslust großer Teile der hiesigen Opposition und Öffentlichkeit – machen die Vorgaben dafür, was die Ukraine wann und wie lange braucht. Was der deutsche Bundeskanzler „Besonnenheit“ nennt, heißt im Weißen Haus auch so ähnlich und steht in der Sache für das Beharren darauf, dass die Versorgung der Ukraine mit Kriegsmitteln sich danach richtet, was die Lieferanten vom Abwehrkampf der Ukraine „brauchen“.

Vom Standpunkt der westlichen Solidargemeinschaft aus buchstabiert sich die drastische Wirkung des Abnutzungskriegs auf die Ukraine insofern von Haus aus anders: als eine akute Gefahr für den Fortbestand ihres antirussischen Kriegskalküls, für das sie die Ukraine überhaupt zu einer funktionsfähigen – i.e. zu einer gegen die russische Übermacht kampffähigen – Armee ausgerüstet hat und für das die Ukrainer mit allem nationalistischen Eigenantrieb, also in geradezu idealer Weise kämpfen. Damit wäre das Experiment am Ende, der Atommacht Russland per Stellvertreterkrieg eine Niederlage zuzufügen, von der sie sich nicht ohne Weiteres erholen kann, und zwar auf die imperialistisch gesehen sehr zweckmäßige Tour einer Schlacht auf fremdem Territorium und ohne eigene ‚boots on the ground‘. Der tapfere Kampf der Ukraine – zusammen mit dem großangelegten Wirtschaftskrieg des Westens – hat zwar zu einem erfreulich massiven Verschleiß der russischen Kriegsmacht geführt, 3) aber eben auch zu einem existenziellen Verschleiß des dafür so nützlichen Stellvertreters. Damit der seinen westlichen Sponsoren nicht abhandenkommt, steht eine Rettungsaktion an: Die Ukraine muss dazu befähigt werden, den Abnutzungskrieg weiter auszuhalten, an dem sie gerade zugrunde geht.

Aber was heißt da eigentlich ‚weiter‘? Angesichts dessen, was ein Jahr Krieg an der ukrainischen Armee angerichtet hat und was ihr russischer Gegner bei allem eigenen Verschleiß immer noch an Kriegsmacht auf die Beine stellt, gebietet schon die bloße Fortsetzung des notwendigen und nützlichen Kriegs eine entschiedene Eskalation.‚Rote Linien‘, die der Westen bei seinen Waffenlieferungen einmal gezogen hat, damit die Entmachtung Russlands auf die soeben erwähnte imperialistisch bequeme Tour, kontrolliert und auf ukrainischem Boden abgewickelt wird, müssen aus dem gleichen Grund überschritten werden, weil auf ukrainischem Boden die Entmachtung Russlands abgewickelt werden soll. Damit die Ukraine diese Leistung erbringen kann, braucht es Boden-Luft-Raketen der leistungsfähigeren Art, Späh-, Schützen- und Kampfpanzer im Verbund samt Luftabwehr, eventuell auch Kampfjets und genug Munition für alles... Im Grunde ist die Aufstellung einer Panzerarmee samt dazugehöriger Luftwaffe geboten. Jedenfalls eigentlich.

Das vergangene Quartal zeugt nämlich zugleich davon, dass das Gebotene sofort Gegenstand von Bedenken und Konkurrenzveranstaltungen wird: Kaum mündet die ach so ewige ‚Hängepartie‘ um Leopard- und andere Kampfpanzer in eine zelebrierte ‚Panzerwende‘, schon geht sie als die Schwierigkeit weiter, auch nur ein einziges Panzerbataillon zustande zu bringen. Die mit diesem Beschluss gestiftete ‚Dynamik‘ führt zwar sofort zu Signalen der Bereitschaft, mit der Lieferung von Kampfjets weiterzumachen, aber nur, um sie sogleich zu relativieren und schließlich zu vertagen. 4) Der Übergang, vor den das aktuelle Kriegsergebnis den Westen stellt, hat offenbar besondere Tücken:

— Die einschlägigen Herausforderungen sind zunächst kriegstechnischer Art: Die Bedienung des edlen Geräts erfordert lange Ausbildungszeiten, eigentlich viel zu lang, um die ukrainische Armee rechtzeitig vor der russischen Frühjahrsoffensive fit zu machen; die Bewältigung der damit verbundenen Logistik (Transport, Betankung, Munitionsnachschub, Reparatur etc.) erfordert mehr oder weniger deren Neugründung auf NATO-Niveau. Das dauert. Das muss aber jetzt sein. 5)

— So dringend die Lieferung von alten und neuen Gerätschaften mitsamt Munition, so fraglich ihre Verfügbarkeit: Das westliche Militärbündnis hat die Ukraine an seinen eigenen Waffen- und Munitionsbeständen schon so großzügig teilhaben lassen, dass manche NATO-Länderchefs darin sogar eine zunehmend inakzeptable Minderung ihrer eigenen Wehrfähigkeit sehen. 6) Was das über das Ausmaß der bisherigen Kriegsbeteiligung von Nicht-Kriegsparteien sagt, ist das eine. Das andere ist die Konsequenz, die für die einzelnen NATO-Mächte wie für ihren Generalsekretär nun daraus folgt: nicht weniger als die Notwendigkeit, ihre jeweiligen Rüstungsindustrien, eigentlich den gesamten westlichen militärisch-industriellen Komplex in den Kriegszustand zu versetzen. 7) Den Schützling als kampffähige antirussische Kriegsmacht aufzubauen und zu erhalten, ohne die Schutzmacht darüber militärisch zu schwächen: dieser Anspruch der NATO-Mächte an das Kriegsprogramm, das sie bislang als die Fiktion eines bloßen Hilfsprogramms abgewickelt haben, gerät damit an eine Grenze. Schon um den massiven Waffenverbrauch der Ukraine zu kompensieren, erst recht um die eigene Kampfkraft darüber nicht zu schmälern, ist der Übergang zu einem Stück Kriegswirtschaft fällig. Mit der fälligen Um- und Aufstellung ihrer Rüstungsindustrien gemäß den Erfordernissen wirklich wahrer Kriegsparteien kommt also eine umso größere Herausforderung an die Haushalte und Ökonomien der NATO-Mächte hinzu; die werden in neuer Schärfe vor die Frage gestellt, welchen Aufwand ihnen der Krieg in der Ukraine eigentlich noch wert ist. Und unabhängig davon, ob und wie viele NATO-Mächte sich zu diesem Schritt entschließen, gilt auch hier: Die Produktion des Benötigten dauert – zu lange jedenfalls für die Rettung des Stellvertreters, für den auch dieser freundliche Übergang zu spät käme.

— Damit stellt der für jetzt sofort geboten gehaltene Eskalationsschritt das Grundprinzip, Motto und Mantra der so überaus ‚besonnenen‘, weil für den Westen so lohnenden Kriegsführung auf eine sehr harte Probe: Die ‚indirekte‘ Kriegsführung der NATO-Nicht-Kriegsparteien, die stets bekräftigte Trennung zwischen Lieferanten und Anwendern westlicher Waffen kollidiert mit der Notwendigkeit, vor die die Notlage des ukrainischen Stellvertreters seine Sponsoren stellt. 8) Diese Notlage gebietet die Ausrüstung der Ukraine mit qualitativ neuen Waffen, was ohne die dazugehörigen technischen Unterstützungsleistungen und Bedienungsmannschaften nicht zu haben ist: ein militärisches Engagement, das den offiziellen Standpunkt des Westens, nicht Kriegspartei zu sein, sondern nur der Ukraine zu helfen, endgültig unhaltbar machen, in die direkte Konfrontation von NATO-Soldaten mit russischen Soldaten münden würde.

Doch das kommt zu Beginn des zweiten Kriegsjahrs offenbar immer noch genauso wenig infrage wie eine Niederlage der Ukraine. Darüber wird die kritische Entscheidung, vor der der Westen steht, zwar nicht weniger dringlich; die schiebt er aber umso entschiedener vor sich her. Er beharrt auf beiden Seiten seines Kriegsprogramms: zum einen auf dem Interesse, Russland so effektiv zu bekämpfen, dass seine Kriegsmacht nachhaltig geschädigt wird, zum anderen auf dem Interesse, diesen Kampf nicht als direkte Kriegspartei zu vollziehen, sondern vermittels des ukrainischen Stellvertreters. Gerade in dem Maße, wie dieses Kriegsprogramm voranschreitet, erweist es sich als zunehmend widersprüchlich, aber zugleich so produktiv und aussichtsreich, dass der Westen davon nicht abrücken will.

Für die Ukraine selbst bedeutet das praktisch: Das Stellvertretermodell wird als die Zumutung an sie fortgeschrieben, als die Kriegsmacht, zu der der Westen sie schon gemacht hat, so lange durchzuhalten, sich mit ihren Kriegszielen und -mitteln so lange einzuteilen, bis ihre Sponsoren sie zu einer Macht von dem Kaliber machen, das in der Lage ist, sich mit eigenen kriegerischen Fortschritten, mit eigenen Offensiven und Rückeroberungen nützlich zu machen. Fürs Erste müssen die russischen Kriegsfortschritte kaputtgemacht werden: durch lokale Gegenoffensiven, durch die die Ukraine aus dem ruinösen Stellungskrieg herauskommt, und an ausgewählten Schauplätzen, die den Zusammenhang der Front für Russland unhaltbar machen. Die einschlägigen Waffen heißen moderne Artillerie, Raketen mit hoher Reichweite – aber in begrenztem Umfang; Kampfpanzer – aber nicht in den modernsten, sprich kampfstärksten Varianten, nicht in einer kriegsentscheidenden Größenordnung und ohne die ergänzenden Kriegsmittel für den Kampf im Verbund, mit denen sie die volle Wirkung auf dem Schlachtfeld entfalten würden. Die Ukraine bekommt mehr Munition, dazu noch Schießunterricht, weil die knappe Ware länger halten muss, sowie strategische Anweisungen in der Frage, wo und wofür ihre Waffen und ihr Menschenmaterial am effektivsten einzusetzen sind, weil auch diese kostbaren Waren länger halten müssen. 9) Es ist ja auch für einen guten Zweck: Auf die Art soll der Krieg für Russland ein Stück kostspieliger, materialintensiver und verlustreicher gemacht, in eine nächste Etappe hinein verlängert werden, die die Verluste auf ukrainischer Seite für das westliche Sponsorenkollektiv brauchbar macht. 10) Kurz: ein kriegerisches Experiment, das im wertneutralen Duktus der Militärwissenschaft so lautet: Die Ukraine muss die russische Kriegsmacht und deren neue Offensive erst einmal ‚absorbieren‘ – mit der hoffnungsvoll verkündeten Perspektive, dass sich so viel ‚strategische Geduld‘ in Form einer erneuten Erschöpfung der russischen Armee bezahlt macht. Dann wäre womöglich sogar eine erneute Gegenoffensive zu haben, mit der die Ukraine mehr ukrainisches Land und die Herzen ihrer westlichen Anhänger erneut erobern könnte.

III. Der Beitrag der westlichen Führungsmacht: Eskalation, Abschreckung und Ansagen in alle Richtungen

Die Regierung Biden tut, was sie für notwendig erklärt hat: Russland die Fähigkeit zu eigenmächtigen Kriegen nehmen. Und sie erklärt, was sie tut, damit die Welt weiß, woran sie ist, wenn Amerika für die Pax Americana sorgt.

Klarstellungsbedarf verspürt sie zunächst nach innen, insbesondere gegenüber den Republikanern im Kongress. Die hegen seit einigen Monaten den Verdacht, Amerika wäre mal wieder dabei, vom Koch zum Kellner zu geraten, von seinem ukrainischen Schützling und seinen europäischen Trittbrettfahrern ausgenutzt und so in einen Krieg verwickelt zu werden, der sich für Amerika nicht lohnt. Der Verdacht ist zwar definitiv ungerecht. Mit der wiederholten Warnung, keinen ‚Blankoscheck‘ an die Ukraine mehr ausstellen zu lassen, wird aber auch bloß offensiv und explizit auf dem bestanden, was ohnehin der grundsätzliche Leitfaden der amerikanischen Kriegsbeteiligung unter Biden ist: Amerika lässt in der Ukraine Krieg führen, hat ihn also stets nach eigenem Kalkül und gemäß eigenen Zielen zu lenken. Angesichts des inzwischen erreichten Ausmaßes dieser Kriegsbeteiligung, ihrer gestiegenen Kosten und Risiken nimmt dieses abstrakte, prinzipielle Bedenken der Opposition neue Schärfe an: Verlangt sind konkrete Beweise, dass Amerika nicht knietief in einem Kriegssumpf steckt, der es daran hindert, breitbeinig über seinen Konkurrenten – und das sind alle anderen – zu stehen. Eine kleine, aber lautstarke und wachsende Minderheit von Trump-Republikanern fordert schon jetzt eine Einstellung der Hilfen für die Ukraine, eine etwas größere Gruppe äußert das konstruktivere Bedenken, ob die USA mit ihrem Kampf gegen Russland in der Ukraine nicht die Hauptsache aus den Augen verlieren: den chinesischen Hauptfeind.

Die Antwort der Biden-Regierung, noch sekundiert durch die Mehrheit der Kongressabgeordneten: Der Krieg in der Ukraine ist der entscheidende Schauplatz für den Kampf der USA um ihre Suprematie. Dort werden die Regeln der Weltordnung verteidigt, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass Amerika sie mit seiner Gewalt garantiert und alle anderen Mächte sich daran halten. Die nennt sich dann ‚internationale Friedensordnung‘. An dieser Bewährungsprobe, vor die der russische Einmarsch die USA stellt, kommen sie nicht vorbei; also muss dafür gesorgt werden, dass Russland an seiner Ruinierung nicht vorbeikommt. Von einer Ablenkung von dem Kräftemessen mit der großen, chinesischen Herausforderung – darauf legt Biden sehr großen Wert – kann keine Rede sein. Erstens deswegen, weil die Biden-Regierung neben dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine sich nun wirklich nicht zu knapp darum kümmert. 11) Zweitens deswegen, weil der Krieg in der Ukraine eben die derzeit entscheidende Schlacht ist in der größeren, epochemachenden, durch China bestimmten Auseinandersetzung um die Regeln der Weltordnung, also um die Autorität, sie zu setzen und durchzusetzen. Das ist schon eine imperialistische Klarstellung sehr grundsätzlicher Art: Für den Beweis von überlegener Fähigkeit und Bereitschaft zur kriegerischen Gewalt – und das ist nun einmal die Gretchenfrage, wenn von ‚Rivalität der Großmächte‘ die Rede ist – gibt es keinen Ersatz für den erfolgreichen Einsatz dieser Gewalt. Das ist – gerade bei einem Gegner wie Russland – zwar teuer, das muss aber sein; den Preis muss Amerika sich abverlangen, das ist es sich als Weltmacht schuldig.

*

Dass die USA mit ihrem jüngsten Eskalationsschritt die atomare Einsatzbereitschaft Russlands neu und schärfer herausfordern – damit kalkuliert die Regierung. Inoffiziell und mit bemerkenswerter Coolness heißt es aus den Außen- und Verteidigungsministerien, Putin blieben eigentlich kaum noch nennenswerte konventionelle Eskalationsmöglichkeiten übrig. Das ist für die US-Regierung erst einmal sehr schön; um die Auszehrung und Überforderung der russischen Militärmacht in der Ukraine geht es ja gerade. Damit fordert sie sich freilich selbst als Nuklearmacht heraus: zur umso effektiveren, glaubwürdigen nuklearen Abschreckung, damit Russland sich auf eine konventionelle Erledigung seiner Kriegsmacht in der und durch die Ukraine festnageln lässt, ohne sich zum – und sei es bloß zum ‚taktischen‘ – nuklearen Ausgang zu begeben. Was dafür alles an diskreten bis geheimen Drohungen auf den Weg gebracht wird, ist das eine; das andere sind die sehr offiziellen Grußworte, die Amerika im letzten Quartal ausrichtet, z.B. in der frisch veröffentlichten Neuausgabe der nationalen „Nuclear Posture Review“:

„Der Einmarsch Russlands in die Ukraine unterstreicht den Fortbestand und die Zunahme von nuklearen Gefahren in einer zunehmend wettbewerbsorientierten und unbeständigen geopolitischen Landschaft. Der unprovozierte und unrechtmäßige Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine im Jahr 2022 ist eine deutliche Erinnerung an die nuklearen Risiken in den Konflikten der Gegenwart.“ (NPR, S. 1)

Woran der russische Einmarsch da „erinnert“, das haben die USA natürlich keine Sekunde lang vergessen. Umgekehrt erinnern sie Russland – und alle anderen – abermals daran, dass es keinen Grund gibt, an der Atomkriegsfähigkeit und -bereitschaft der USA zu zweifeln. Beglaubigt wird die Versicherung erstens durch die angekündigte Modernisierung der gesamten nuklearen Triade, zweitens durch die explizite Absage an Gedankenspiele bezüglich einer Politik des „no first use“ oder „sole purpose“, mit der die USA sich – zumindest „deklaratorisch“ – auf einen nuklearen Zweitschlag beschränken würden. Das Experiment, was diese amerikanische Abschreckungsmacht alles hergibt, wird in der Ukraine auf höherer Stufenleiter fortgesetzt.

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Was Amerika sich als einzigartig überlegene Supermacht schuldig ist; die Bewährungsprobe, vor der es sich sieht: das macht eine Supermacht zur Bewährungsprobe für alle anderen in diese Affäre verstrickten Staaten, also für alle; die lässt sie wissen, was sie Amerika schulden.

Das gilt zuallererst für den chinesischen Hauptrivalen, von dessen Geld und weltpolitischem Gewicht Russland für seine Kriegsfähigkeit nun mehr denn je abhängt. Umso mehr hat China zur Belastbarkeit der Abschreckung Russlands, zur Neutralisierung seiner nuklearen Abschreckungsmacht beizutragen. Die chinesische Verurteilung der russischen Nukleardrohungen auf dem G20-Gipfel im vergangenen November war in der Hinsicht durchaus erfreulich gewesen – als Ergänzung des amerikanischen Abschreckungsregimes, als Beitrag dazu, die Atommacht Russland auf den begrenzten Kriegsschauplatz Ukraine und seine Militärmacht auf ein für sie ruinöses Kräftemessen mit ‚konventionellen‘ Waffen festzunageln. Inakzeptabel ist es aber, dass China seine Parteinahme für den globalen Frieden eben nicht als gutwilligen Beitrag zum Kriegdes Westens leistet. Im Gegenteil wird Letzterem glatt eine Teil-, wenn nicht sogar die Hauptschuld am Unfrieden in Europa, am Bruch der weltweiten Friedensordnung gegeben und für diesen Standpunkt auch noch in der restlichen Staatenwelt agitiert. Das ist für die USA im Grunde schon eine Parteinahme für die falsche Seite in diesem Krieg; die ist gerade deswegen so ärgerlich, weil die USA den kooperativen Willen ebendieser Staatenwelt jetzt besonders strapazieren: durch die Wirkungen ihres globalen Wirtschaftskriegs gegen Russland wie durch die an alle Staaten gerichtete Forderung nach Beiträgen dazu. Für die Erfüllung dieses Anspruchsist zwar kein Staat zu klein und unbedeutend; auch der letzte ‚failed state‘ kann und muss seine nicht weiter gewichtige UNO-Stimme zur Verurteilung eines russischen Verstoßes gegen die internationale Friedensordnung beisteuern. Das gilt aber insbesondere für die wirklich ziemlich mächtigen Partner Russlands im BRICS-Club wie auch für etliche nicht unwichtige ‚Schwellenländer‘: Von denen erwartet sich die ‚indispensable nation‘ entschieden mehr als nur korrektes Stimmverhalten, nämlich auch ökonomische und in manchem Fall – Brasilien z.B. – militärische Beiträge zur Schädigung Russlands. Dass sich gerade diese Länder eine neutrale Stellung zum Krieg in Europa gönnen, bedeutet gemäß dem imperialistischen Anspruch der USA, dass sie die Welt spalten: Sie untergraben die von Amerika längst veranschlagte Einheitsfront gegen Russland. Entsprechend werden sie bearbeitet, bilateral und auf Gipfeltreffen bedrängt; ihnen werden Sekundärsanktionen, manchen aber auch sogar Angebote in Aussicht gestellt.

Was die dabei wichtigste, weil gewichtigste Macht China betrifft: Gerade weil die US-Regierung überhaupt keinen Zweifel hat, vor welche Herausforderungen sie und ihr Militärbündnis mit ihrem aktuellen Eskalationsschritt Russland stellen, eskaliert sie zeitgleich ihre Auseinandersetzung mit China. Die Ächtung von atomaren Drohungen reicht bei weitem nicht; die Volksrepublik hat der russischen Nuklearmacht auch jede konventionelle Militärhilfe zu versagen, eben weil Russland sie mehr denn je brauchen wird. Wenn China das nicht tut und ausgerechnet der Seite Waffen liefert, deren Kriegsmacht Amerika jetzt umso wirkungsvoller verschlissen sehen will, dann mag der chinesische Friedensplan noch so viele Punkte haben: Die Volksrepublik hat offensichtlich keinen Friedenswillen, macht sich damit vielmehr – wer wüsste das besser als die USA? – zur Kriegspartei, die den Krieg willentlich in die Länge zieht.

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Freundlicher, partnerschaftlicher, aber genauso anspruchsvoll tritt die US-Regierung an ihre europäischen Partner heran: Biden unterstreicht die Wertschätzung der Führungsmacht für ihre wichtigsten Verbündeten mit der Ermunterung zu mehr selbstständigem Einsatz im Bündnis, zur Übernahme von mehr Führungsverantwortung für europäische Sicherheit und eine regelbasierte Weltordnung. Das gilt – erstens überhaupt und zweitens bei den besonderen waffentechnischen Anforderungen der jetzt anstehenden Eskalationsstufe – zuallererst für die deutsche Führungsmacht. Die Führung, die Amerika da verlangt, deckt sich vollständig mit der Gefolgschaft, die es von Europa und speziell Deutschland fordert: als gepanzerte Speerspitze für den Eskalationsschritt zu fungieren, den Amerika schon praktisch einleitet. Wenn Biden einige seiner eigenen sonderangefertigten Panzer versprechen und in einem Dreivierteljahr womöglich nachschicken muss, damit Deutschland sich dafür hergibt, dann geht das zwar. Aber gerade die europäische Führungsmacht muss bereit sein, von sich aus und auch auf eigene Rechnung aktiv zu werden. Das ist er, der wieder zum Leben erweckte Geist der transatlantischen Waffenbrüderschaft.

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Es ist also nicht gerade wenig, was das Post-Trump-Amerika – unter Biden zur weltweiten Leadership zurückgekehrt – durch diesen Krieg vorangebracht haben will: ein ruiniertes Russland und eine Staatenwelt, die durch gute, d.h. amerikadienliche Taten beweist, dass sie auf Linie ist. Was das für den ukrainischen Schützling und Stellvertreter heißt, wird durch die im vorigen Kapitel erläuterte Art der Eskalation deutlich gemacht: Er bekommt mehr und bessere Waffen, zugleich Anweisungen, die klarmachen, dass allein die USA – gemäß ihrer politischen Willensbildung und den dazugehörigen Konjunkturen – über Ausmaß und Ende des ukrainischen Kriegseinsatzes entscheiden. Was die Ukraine dafür wie lange braucht, wird ihr rechtzeitig mit- und dann zugeteilt. Das schließt neuerdings die schlechte Nachricht ein, dass die Skepsis unter amerikanischen Machthabern und ihren Wählern wächst; der Selenskyj-Regierung wird daher – zwar inoffiziell, aber unüberhörbar – bedeutet, sie müsse sich zumindest mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr tapferer Kampf zwar keinesfalls mit einer Niederlage, aber auch nicht unbedingt mit einem Sieg nach ihren Maximalvorstellungen, sondern realistischerweise irgendwann mit Verhandlungen zu Ende gehen wird. Die gute Nachricht für Kiew: Auf der feindlichen Seite, bei Putin, will man von Verhandlungsbereitschaft noch partout nichts sehen. Es wird also erst einmal eskaliert. Zu den neuen und besseren Waffen kommen die einschlägigen, demonstrativen Beteuerungen standhafter Solidarität, überbracht vom Chef persönlich, und zum Versprechen ganz viel Gerät, damit die ukrainische Armee für den guten Zweck ihr Land weiter mit verwüsten kann.

1)„‚Wie kann eine Wirtschaft überhaupt funktionieren – bei gleichzeitiger Unterstützung der Kriegsanstrengungen –, wenn die zivile Infrastruktur so stark beschädigt ist? Ich glaube nicht, dass wir so etwas schon einmal gesehen haben‘, sagte Simon Johnson, ein Wirtschaftswissenschaftler am MIT, der mit ukrainischen Beamten in Kontakt steht. ‚Ich kann mich an keine Wirtschaft erinnern, die das jemals versucht hat.‘ ... Der ukrainische Finanzminister Serhij Martschenko war bereits dabei, Finanzministerin Janet Yellen um Milliardenhilfe zu bitten, als er sie zum ersten Mal auf die russischen Bombardierungen der Infrastruktur aufmerksam machte. Die Ukraine, die von Oligarchen beherrscht wird und ständig auf Rettungsmaßnahmen angewiesen ist, war schon lange vor dem Einmarsch Russlands in einem finanziellen Chaos. Ein ausgewachsener Krieg hat die Wirtschaft des Landes ins Trudeln gebracht.“ (Washington Post, 15.12.22)

 Die ukrainische Herrschaft ist zur reinen Kriegsadministration geworden; alles, was sie in Sachen Ökonomie noch leistet, gilt dem Unterhalt, Betrieb und der Fortsetzung ihres Kampfs um Selbstbehauptung; was sie dafür tun kann, verdankt sich vollständig der finanziellen Unterstützung der Westmächte. Was in dem Land an „Haushaltszahlen“ und „Wachstum“ noch zusammengerechnet wird, hat weitgehend eher fiktiven Charakter:

„Die Ukraine braucht einen Multi-Milliarden-Dollar-Kredit, um den Staatshaushalt zu stützen. Dazu wolle die ukrainische Regierung nächste Woche in Warschau Gespräche mit Vertretern des IWF führen, berichtet Reuters. Dies kommt daher, dass die internationale Ratingagentur Moody’s gestern das Länderrating der Ukraine von Caa3 auf Ca herabgestuft hat, in der Erwartung, dass ein Krieg mit Russland langfristige Herausforderungen für die Wirtschaft des Landes schaffen wird. Dieses Rating bedeutet, dass die Schuld wahrscheinlich in Zahlungsverzug oder sehr nahe dran ist.“ (strana.news, 11.2.23)

 Der Zusammenbruch des zivilen Lebens zieht nicht nur die Moral des Volkes in Mitleidenschaft, sondern dezimiert die Mittel, die die Armee für die Fortführung des